Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging von Ixtli ================================================================================ Mit mäßiger Geschwindigkeit oder: Eigentlich ist er ganz umgänglich ------------------------------------------------------------------- "Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie so schnell hier anfangen können." Die Worte, denen man unmissverständlich anhören konnte, dass die Erleichterung dahinter echt war, wurden von einer ebenso eindeutigen Geste begleitet. "So mitten im Jahr und in der Woche ist es nicht unbedingt üblich, sofort Ersatz zu finden." Amüsiert registrierte Julius die schmale Hand mit den bunten – wahrscheinlich selbst kreierten – Ringen, die sich zur Unterstreichung des Gesagten auf seinen Arm gelegt hatte. "Ich freue mich nicht weniger, hier arbeiten zu dürfen." Julius hoffte, nicht unabsichtlich allzu übertrieben zu klingen. Er war froh, diese Stelle bekommen zu haben. Der Lohn war dabei zuerst einmal nebensächlich gewesen, als er wie jeden Tag seine Mailbox abgehört und darauf die Nachricht gefunden hatte, die für ihn ein vorläufiges Ende seines momentanen In- und Gehaltlosen Daseins bedeutete. Er musste sich allerdings auch eingestehen, sich schon ein klein wenig geschämt zu haben, als er noch in der selben Minute zurückgerufen und die Stelle angenommen hatte. Doch die unverhohlene Freude der kleinen quirligen Frau, die ihn in Empfang genommen und sich als Leiterin der Wohngruppe entpuppt hatte, ließ den Moment, in dem seine Selbstzweifel wieder Überhand nehmen wollten, sich in Nichts auflösen. "Wissen Sie, Robert ist ein alter Studienkollege von mir, und er hat Sie mir sofort empfohlen", redete sie munter drauflos und führte Julius dabei durch den hellen, mit selbstgemalten Bildern und Fotos der Bewohner des Hauses dekorierten Flur. "Ich werde ewig in seiner Schuld stehen", fügte sie hinzu. Ihre Augen hinter der randlosen Brille weiteten sich etwas. Noch so ein Zeichen, dass es ihr ernst war, vermutete Julius. "War es denn ein plötzlicher Notfall?", hakte er vorsichtig nach. "Und ob!" Ihre Hand, die nicht auf Julius' Arm lag, machte eine energische Wischbewegung durch die Luft. "Normalerweise sind wir hier zu dritt, aber meine Kollegin ist in den kommenden zwei Wochen unabkömmlich, und der, für den Sie einspringen, musste kurzfristig – weg." Julius entging das kurze Stirnrunzeln der Frau nicht, auch wenn es so schnell wieder verschwunden war, wie es aufgetaucht war. Er beschloss, das offensichtlich heikle Thema vorerst ruhen zu lassen. "Und nächstes Wochenende habe ich selbst einen unaufschiebbaren Termin, was ja kein Problem wäre, wenn dieser – dieser Vorfall nicht dazwischen gekommen wäre... Aber", sie musste kurz Luft holen, "kommen wir zu etwas anderem." Sie blieb kurz stehen und betrachtete sich Julius, der, warum auch immer, ungewollt den Vergleich mit seinem Vorgänger fürchtete. "Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns duzen?" Die Frage überraschte Julius, der eigentlich eher mit einem eindringlichen Ratschlag oder einer Warnung in Bezug auf die Arbeit hier gerechnet hatte. "Nein, natürlich nicht." "Gut", ein herzliches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. "Ich bin Nina." Julius nahm die ihm dargebotene Hand und drückte sie kurz. "Julius", stellte er sich vor. "Herzlich Willkommen im Team, Julius." Ninas Worte klangen so feierlich, dass Julius beinahe aufgelacht hätte. "Die Kinder nennen uns übrigens auch beim Vornamen." Sie ergriff wieder Julius' Arm und bugsierte ihn weiter durch den Flur, bis sie vor einer Tür standen, hinter der Lachen und Stimmengewirr zu hören war, das auf der Stelle verstummte und gebanntem Schweigen wich, als die Tür geöffnet wurde. Fünfzehn mehr oder weniger neugierige Augenpaare sahen ihnen entgegen. "Das ist Julius", stellte Nina ihn den Kindern vor, deren Alter von der fünften Klasse bis hin zur Oberstufe reichten und die ihn mit aufrichtigem Interesse musterten. Er hatte genau einen einzigen ersten Satz, der darüber entscheiden würde, wie ihm die Kinder zukünftig gegenübertraten, und auch wenn Julius sich in diesem Moment wie ein lebendiges Vorführobjekt eines wissenschaftlichen Vortrags fühlte, musste er wohl das richtige gesagt haben, denn kaum hatte er seinen Satz beendet, ging auch schon ein Lächeln reihum von einem Gesicht zum anderen. Eine halbe Stunde später hatte Julius diese erste Prüfung erfolgreich bestanden. Sogar mit Auszeichnung, dachte er nicht ohne Stolz, während sich das gemütliche Wohnzimmer leerte und die Kinder begannen, den Rest des Abends auf ihre Weise zu verbringen. Der letzte, der das Wohnzimmer verließ, war, soweit Julius das anhand von dessen Größe und Aussehen schätzte, der Älteste der Gruppe. Normalerweise hatte Julius ein gutes Namensgedächtnis, aber bei dem Jungen, der sich an ihm vorbei aus dem Zimmer stehlen wollte, fiel ihm weder ein Name noch sonst ein geäußerter Satz ein. Es war, als tauche er in diesem Augenblick erst wieder an der Oberfläche auf. "Wie war dein Name gleich nochmal?", sprach Julius den Jungen freundlich an. "Ich glaube, ich habe ihn eben nicht verstanden." "Ich hatte mich überhaupt nicht vorgestellt", war die prompte Antwort, mit der Julius wegen des vorangegangenen Desinteresses so nicht gerechnet hatte. "Max!", tadelte Nina den Jungen, der die Augen verdrehte. Max also. Julius verbiss sich das Grinsen. "Gibt es sonst noch was?" Max sah Julius ungeduldig an. "Ich müsste noch was für morgen erledigen..." "Nein, ich schätze, wir sehen uns dann zum Frühstück wieder, oder?" Max dachte kurz über eine Antwort nach, seufzte dann aber nur kaum hörbar und ließ Julius kommentarlos stehen. "Lässt sich wahrscheinlich nicht vermeiden", war das, was Julius noch zu verstehen meinte, während Max den Flur entlang trottete. Nina öffnete gerade den Mund, um den Jungen erneut zu tadeln, ließ es aber nach einem Blick in Julius' amüsiertes Gesicht. "Eigentlich ist er ganz umgänglich", entschuldigte sich Nina peinlich berührt. "Ist ja kein Beinbruch", beruhigte Julius seine Kollegin, auf deren Stirn ein paar hektische rote Flecken erschienen waren. Nina atmete erleichtert aus. "Wie wäre es mit einem Kaffee oder Tee? Dabei lässt sich alles viel besser besprechen." "Gerne", erwiderte Julius und folgte Nina in die dem Wohnzimmer schräg gegenüberliegende Küche. Lauschend hob Max den Kopf. Die Schritte gingen an seinem Zimmer vorbei. Er hörte Nina leise etwas sagen und dann die ebenso leise Stimme dieses Julius, oder wie auch immer er sich genannt hatte. Und jetzt zog er in das Zimmer, das gerade erst leer geräumt worden war. Eine Tür wurde geschlossen und dann hörte er wieder Schritte, die vor seiner Tür entlang über den Flur gingen. Dieses Mal in die andere Richtung, wieder hinunter in den Wohnbereich. Jedenfalls schien er sich gut mit Nina zu verstehen, anders als Clemens, der sich jedem gegenüber irgendwie arrogant benommen hatte. Hatte er sich damals eigentlich vorgestellt? Max gab sich die Antwort selbst. Er schüttelte den Kopf. Leise seufzend wandte er sich wieder dem Fragebogen vor sich auf dem Schreibtisch zu. Auf dem Foto war ein unbeschrankter Bahnübergang abgebildet und davor ein Mann in Warnweste mit einer rot-weißen Flagge in der Hand. Wie verhalten Sie sich hier richtig? Gute Frage. Max schob das Ende seines Bleistifts in den Mundwinkel und sah hinüber zu dem beleuchteten Aquarium, in dem ein einsamer Goldfisch zwischen im Wasser wankenden Schwimmpflanzen seine Runden drehte und dabei ab und zu an die Scheibe geschwommen kam, als wolle er draußen nachschauen, wo seine ganzen Kameraden denn nun hin verschwunden waren. Armer Einstein, dachte Max bedauernd. Der letzte Überlebende in seinem 100-Liter-Universum. Noch zwei Wochen und er bekam wieder Gesellschaft. Der würde Augen machen. Genau, wie sie alle heute Abend, als Nina ihnen Julius vorgestellt hatte. Mal sehen, wie sie sich schlagen, die Goldfische – und Julius. Max nahm den Stift aus dem Mund und machte das Kreuzchen bei Mit mäßiger Geschwindigkeit heranfahren und abwarten. Den Kopf voller neuer Gewohnheiten und Gebräuche, die er erst einmal sortieren musste, ehe er sich ans Verarbeiten machen konnte, stand Julius gegen Mitternacht in seinem neuen Zimmer, das außer seinem Koffer, den jemand freundlicherweise heraufgebracht hatte, nur spärlich eingerichtet war und einen unbewohnten Eindruck machte. Julius zog den Reißverschluss des Koffers auf und machte sich daran, seine Habseligkeiten in die vorhandenen Schränke einzusortieren. 6.30 Uhr war Wecken. Um 7.00 Uhr gab es Frühstück, bevor dann um 7.30 Uhr der Bus kam, um die Kinder in die Schule zu bringen. Von 13.30 Uhr bis 14.30 Uhr war es Zeit für das Mittagessen; je nachdem wann die Kinder aus der Schule kamen. Danach blieb eine Stunde Freizeit, ehe die Hausaufgaben erledigt werden mussten. Entweder alleine auf den Zimmern oder im Esszimmer mit einem der Betreuer. War das getan, hatten die Kinder wieder Zeit für sich oder man unternahm gemeinsam etwas. Und an den Wochenenden war alles anders. Julius versuchte, sich an den Ablauf zu erinnern, aber hinter seiner Stirn brannte die Erschöpfung langsam Löcher in sein Gedächtnis und er beschloss, Nina noch einmal nach den Wochenenden zu befragen. Eine Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch stehend saß Nina ihm gegenüber. Ihr Löffel klapperte leise in ihrer Tasse, während sie Julius aufmerksam musterte. "Also", begann sie, "die gute Nachricht ist, dass an den Wochenenden nicht alle Kinder der Gruppe hier sind. Bis auf drei, die immer bleiben, fahren die restlichen an den Wochenenden, in den Ferien und Feiertagen nach Hause, außer sie sind krank oder sonst irgendwie verhindert. Samstags und Sonntags dürfen die Kinder auch etwas länger schlafen. Dann ist das Wecken erst um 8.30 Uhr und Frühstück eine halbe Stunde später." Julius nickte verstehend und versuchte, die Information abzuspeichern. "Danach ist das Haus an der Reihe. Unsere Hauswirtschafterin hat die Wochenenden frei und das heißt, dass die Kinder selbst für alles verantwortlich sind, was sie benutzen. Das Essen wird von uns Erwachsenen zubereitet und die Kinder räumen das Geschirr in die Spülmaschine. Dann haben sie Freizeit, die sie selbst gestalten können oder wir unternehmen alle zusammen etwas. Oh, und was ich gestern vergaß: jeden Tag ist nach dem Abendessen Zimmerkontrolle; bei den Jüngeren gründlicher als bei den Großen, und bei unseren Pappenheimern zweimal pro Tag. Das war's. Vorerst. Und? Immer noch nicht abgeschreckt?" Nina sah ihn gespannt an. "Nein, so schnell nicht", antwortete Julius zuversichtlich. Er klappte sein imaginäres Notizbuch zu und beendete sein Frühstück. Gepolter aus dem ersten Stock, das sich die Treppe hinunterzog, kündigte eine Meute schulfertiger Kinder an, die den Bus erwischen musste. Nina stand auf und bedeutete Julius, ihr zu folgen. "Das musst du dir live und in Farbe anschauen, sonst glaubst du mir das am Ende nicht." Gleich darauf wusste Julius, was Nina gemeint hatte. Einige der Kinder – nicht unbedingt nur die Jüngsten – standen im Flur und hatten mindesten etwas falsch herum angezogen, schief aufsitzen oder sogar ganz vergessen. Nachdem Nina alle, denen etwas fehlte, wieder auf ihre Zimmer geschickt und denjenigen, die aussahen, als hätten sie sich im Windkanal angezogen, die Jacken gerade gerückt hatte, stürmte die lärmende Meute aus der Haustür hinaus und Richtung Bushaltestelle. Zufrieden strich sich Nina die Haare aus der Stirn. "Jetzt kommt der langweilige, aber erholsamste Teil des Tages. Die Büroarbeit. Danach dürftest du alles so weit wissen und dein erstes Wochenende kann kommen." Julius nickte stumm. Wochenende. Das klang noch so weit weg, wenn wie heute erst Mittwoch war. Wie schnell die Zeit tatsächlich verging, merkte Julius erst, als es plötzlich Samstagmorgen war und sich Nina von ihm verabschiedete. "Schaffst du das wirklich alleine?" "Klar doch." Julius gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen und Nina damit ihre Bedenken vergessen zu lassen. Innerhalb von drei Tagen hatte er gemerkt, dass die Gruppe in der Tat relativ gut zu führen war. Bis auf ein oder zwei Meinungsverschiedenheiten hatte es keine Streitereien gegeben. Und bis jetzt hatten sich scheinbar alle mit seiner Anwesenheit hier abgefunden. Hoffentlich nicht nur so lange, bis Nina aus der Tür ist, dachte Julius. "Meine Nummer hast du ja und die von Frau Wagner von der Hauswirtschaft ist im Telefon unter der 3 gespeichert", sagte Nina gerade und suchte gleichzeitig nach ihrem Schlüsselbund, das gut sichtbar neben ihr auf dem niedrigen Flurschränkchen lag. Julius deute auf die Schlüssel. Flink nahm sie Nina an sich. Dann drehte sie sich ein letztes Mal zu Julius um. "Sollte irgendetwas sein, ruf an, egal, zu welcher Uhrzeit." Der Satz klang zwar nicht wie eine Frage, doch Ninas nach oben gezogene Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran, dass sie noch eine Bestätigung haben musste, ehe sie beruhigt aufbrechen konnte. Julius tat ihr den Gefallen. "Dann Hals und Beinbruch." Nina öffnete die Tür. Sie machte einen Schritt nach draußen, wandte sich dann aber doch noch einmal um. "Oder besser nicht", fügte sie zu ihrem vorangegangenen Satz hinzu und zog endgültig die Tür hinter sich zu. Julius blickte auf das Zifferblatt seiner Uhr. Er hatte noch etwa eine halbe Stunde Zeit, bis er wusste, ob seine Befürchtungen wahr werden würden, dass das Chaos ausbrach, sobald er alleine mit den Kindern war. "Wie lange?" Max, der Julius zusah, wie der geduldig einem der Jüngsten dabei half den Geschirrspüler so einzuräumen, so dass mehr als fünf Teller und zwei Töpfe darin Platz fanden, zuckte zusammen, als ihn der Ellenbogen seines Nebenmannes in die Rippen traf. "Was meinst du, wie lange?", wiederholte der seinen Satz. Max hob langsam die Schultern an. "Osterferien, höchstens." Der Junge neben Max schüttelte leicht den Kopf. "Ich gebe ihm bis zu den Sommerferien. Aber vielleicht bleibt er ja auch." "Genau, vielleicht bleibt er ja für immer." Max brachte ein trockenes Lachen zustande. "Abwarten." Die Quadratur des Kreises oder: Ich bin übrigens keine Zwölf mehr ----------------------------------------------------------------- Am Nachmittag hatte Julius die Wochenendgruppe, die dieses Mal aus immerhin sieben Kindern bestand, im großen Wohnzimmer versammelt, das, wie Nina ihm erklärt hatte, vor allem dazu da war, dass sich alle mindestens einmal pro Woche dort trafen, um die Dinge zu besprechen, die so anlagen. Als nach einigen Minuten endlich gespannte Stille herrschte, begann Julius sein Anliegen vorzutragen. "Nachdem wir das Haus von oben bis unten aufgeräumt haben und ich jetzt jedes Eckchen hier drinnen kenne, würde ich vorschlagen, dass wir uns in einer viertel Stunde in warme Jacken gepackt hier wieder treffen, und dann zeigt ihr mir die Umgebung. Einverstanden?" Diese Frage hätte sich Julius sparen können. Eine Antwort bekam er nicht, denn alles, was Füße hatte und nicht gerade zu den Ältesten gehörte, die nicht ganz so begeistert von dem Ausblick auf einen langweiligen Spaziergang waren, stürmte davon. Julius hatte sich, wie sich bald herausstellte, auch zu viele Sorgen wegen seiner Glaubwürdigkeit bei den Kindern gemacht. Selbst die Hartnäckigsten unter den Spaziergangverweigerern konnten nach den ersten hundert Metern ihre aufgesetzten Regenwettergesichter nicht mehr beibehalten. Die warme Herbstsonne tat ihr Übriges und als alle wieder auf dem zum Haus gehörenden Hof ankamen, war die Gruppe allerbester Laune. "Habt ihr hier einen Grill?", wollte Julius wissen. Noch ehe Max, den Julius als den Ältesten der Gruppe angesprochen hatte, antworten konnte, plapperten die restlichen Kinder schon dazwischen und versuchten sich an Lautstärke zu übertreffen. Schuppen und Feuer machen war das, was Julius aus den Redeströmen als wichtig herausfilterte. Er wandte sich wieder an Max und den Zweitältesten der Gruppe und zeigte nacheinander auf sie. "Du und du, ihr holt den Grill und das Zubehör und macht Feuer. Die anderen kommen mit mir ins Haus das Essen vorbereiten." Damit ließ er Max und Lars auf dem Hof stehen und scheuchte seine übrigen Helferlein ins Haus zur Küche hin. Julius war gerade dabei, den Inhalt des Kühlschranks und des Vorratsraumes auf Eignung einer Grillparty zu überprüfen, als sich jemand neben ihm räusperte. Die Arme voll mit allem, was sich zu Salaten und Dips verarbeiten ließ, schloss Julius den Kühlschrank mit einem gekonnten Fußtritt. Max wartete, bis Julius alles auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte und rückte dann mit der Sprache heraus. "Wir haben nichts, womit wir Feuer machen könnten." "Oh", meinte Julius kurz. "Meinst du damit, ihr habt nichts oder hier gibt es nirgendwo ein Feuerzeug oder Streichholz?" "Doch schon, aber die hat Nina weggeschlossen." Max sah Julius an, als hätte er es mit einem Zweijährigen zu tun. "Aus offensichtlichen Gründen..." "So?" Julius musste sich eingestehen, gar nicht so weit gedacht zu haben. Überhaupt wusste er ja noch nicht einmal, ob sich diese offensichtlichen Gründe auf das Rauchverbot beschränkten. "Und wie kommt man an die Feuerzeuge, wenn Nina nicht da ist." Ein wissendes Grinsen machte sich auf Max' Gesicht breit. "Willst du die offizielle Version hören oder die Nina ist nicht da-Version?" "Ähm, dann doch lieber die offizielle Version", antwortete Julius verdattert. Er sah zu den Kindern hin, die den Salat in seine Atome zerpflückten, und wandte sich dann wieder Max zu, als er sicher war, dass ihm niemand außer ihm zuhörte. "Bekommt man für die Nina ist nicht da-Version Ärger? Also, richtigen Ärger, meine ich?" "Du sicher nicht", witzelte Max. "Okay. Dann bleiben wir lieber bei der Offiziellen und von der anderen habe ich nie etwas gehört." Julius sah Max gespannt an. Fehlt ja nur noch, dass er mir verschwörerisch zuzwinkert, dachte Max und verkniff sich nur knapp ein Ich bin übrigens keine Zwölf mehr. Julius' irritiertes Gesicht ließ Max kurz zweifeln. Hatte er das mit der Zwölf laut gesagt? "Du hast die Antwort an deinem Schlüsselbund", sagte Max kurz angebunden, bevor er sich umdrehte und die Küche verließ. Geduldig hatte Max auf Julius' Rückkehr aus Ninas Büro gewartet. "War nicht schwer zu finden, was?", begrüßte er Julius, der ihm das Feuerzeug überreichte. Als Julius und seine Hilfsköche mit dem Essen, den Getränken und dem Geschirr nach draußen in den Hof kamen, mussten sie lediglich alles, was sie dabei hatten, auf dem mittlerweile aufgestellten Tisch abstellen. Das Feuer des Grills war bereits auf die optimale Höhe hinuntergebrannt, so dass nur noch die Würstchen auf den Rost gelegt werden mussten. Auch an Stühle hatten Max und Lars gedacht und während die Kinder den Tisch deckten, kam Max zu Julius, der die Getränke in die Becher ausschenkte, und hielt ihm das Feuerzeug hin. "Hier, damit du kein schlechtes Gewissen gegenüber Nina haben musst." "Danke." Julius ließ das blaue Feuerzeug in seiner Hosentasche verschwinden. "Nicht, dass ich euch nicht traue, aber-" Max winkte müde ab. "Das Thema gab es hier schon so oft, dass es irgendwann langweilig wird." Er sah Julius einen Moment stumm an. "Manchmal glaube ich, ihr Pädagogen habt einen inneren Zwang, uns alles zigmal bis ins kleinste Detail erklären zu müssen, wo ein stinknormales Nein auch reichen würde." Julius grinste. Zum Teil hatte Max einfach recht. Wie sonst hätte er sich bei dessen Worten einen Augenblick lang ertappt gefühlt? "Gehören die Beiden da zusammen?" Max deutete auf eine Rolle Alufolie und eine Schüssel mit rohen Kartoffeln. "Richtig kombiniert." Die Grillwürstchen waren gar und in der Glut schmorten die Folienkartoffeln vor sich hin. Das Essen verlief ungewöhnlich still. Die Kinder mussten völlig ausgehungert gewesen sein. Und als sie das Mahl beendeten, war die Sonne bereits untergegangen. Die Kinder hatten die Stühle im Halbkreis um das Feuer herum aufgestellt und saßen nun dort und sahen zufrieden in die tanzenden Flammen. Mit einem Stock angelte Lars nacheinander die Folienkartoffeln aus der mit weißgrauer Asche überzogenen Glut. Die silbrig schimmernden Kartoffeln rollten ins Gras und blieben dort zum Auskühlen liegen. Julius warf einen Holzscheit auf das kleiner gewordene Feuer, so dass es dankbar aufzulodern begann. Es war gerade viel zu gemütlich hier draußen unter dem sich immer dunkler färbenden Himmel, als dass sie das Feuer schon hätten löschen wollen, und auch wenn manche der Kinder aussahen, als könnten sie die Augen nicht mehr allzu lange offen halten, wollte niemand zurück ins Haus. Die letzten sonnigen Tage hatten begonnen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der erste nächtliche Frost die noch nicht ganz verwelkten Blumen und Sträucher in einen dünnen weißen Pelz kleidete, der sich in der noch wärmenden Herbstsonne zwar nicht lange halten, dafür aber den endgültigen Beginn der kalten Jahreszeit einläuten würde. Wehmütig schweigend sah Max zu, wie die Flammen die Kanten des Holzscheites schwarz färbten. Dünne orangefarbene Glutgirlanden flackerten in der Maserung des Holzes und Funken stoben knisternd in die Luft. Max dachte daran, dass dies der letzte Herbst sein würde, den er hier verbrachte. Im kommenden April wurde er Achtzehn und danach – ja, was eigentlich? Jetzt war er schon so lange hier, dass er bei dem Gedanken daran, dass das tatsächliche Ende seiner Zeit hier so nahe war, dass er beim nächsten Schritt mit der Nasenspitze darauf stoßen musste, erschrak. Praktisch über Nacht musste das passiert sein, denn gestern war das alles noch weit weg gewesen, da war er sich sicher. Er war doch gerade erst angekommen und hatte seine nur halbgefüllte Sporttasche ausgeräumt, was nur deshalb so schnell gegangen war, weil er nicht viel besessen hatte, als man ihn hierher brachte. Die Wut darüber, hier eingesperrt zu werden, war doch noch gar nicht ganz verraucht, und jetzt, wo er sich gerade eingewöhnt hatte, sollte er wieder weg?! Die Ungewissheit, das Was dann?, kribbelte in seinem Nacken und machte sich auf den Weg, den Rest seines Körpers zu lähmen. Seinen Hals schnürte das Was dann? bereits zu, so dass er noch nicht einmal ein weinerliches Ich schaffe das doch nie zustande brachte. Die Ungewissheit lachte heiser und kroch weiter. Bald würde sie sein Herz erreicht haben. Max schrak aus seinen wolkenverhangenen Gedanken auf, als ihm etwas knisterndes in die Hand gelegt wurde, das seine eiskalten Finger mit einer unvermuteten, angenehmen Wärme ausfüllte. Wie ein trockener Schwamm sogen seine Hände die Wärme der Folienkartoffel in sich auf und schickten sie Hautschicht um Hautschicht bis in die letzten eisstarren Winkel. Jemand hatte die Kartoffel zur Hälfte aus der Folie gewickelt und die schwarze Haut darunter aufgebrochen, so dass das gelbe Fleisch der Kartoffel eine duftende Dampfwolke freisetzte, die Max in Nase und Augen stieg. "Salz?" Julius hielt ihm abwartend den Salzstreuer hin. Max nahm den Streuer, der die Form eines schlafenden Elefanten hatte, und ließ ein paar Salzkörner aus dem Rücken des Elefanten auf die Kartoffel herabrieseln. "Danke", krächzte er heiser und gab den Salzstreuer zurück an Julius. "Pfeffer?" Eine zum schlafenden Elefanten passende, ebenfalls schlafende Maus, die sich, wenn man sie zusammenstellte, an den Elefanten lehnte, tauchte in Max' Gesichtsfeld auf. Max verneinte und die Porzellanmaus drehte weiter ihre Runde. Gegen zehn Uhr war auch die letzte Kartoffel verspeist und als das erste der Kinder sich mit den von den schwarzen Kartoffelschalen gefärbten Finger rabenschwarze Streifen über die immer schwerer werdenden Augenlider gemalt hatte, fand Julius, dass es nun an der Zeit war, das Grillen zu beenden. Jeder nahm etwas, das er zurück ins Haus trug, und trottete damit auf die Terrassentür zu. Max sammelte den Müll in eine große Tüte und Lars kippte den Eimer Wasser, der in der Nähe des Feuers bereit gestanden hatte, über die schwach glimmende Asche, die mit einem erleichterten Seufzen erlosch und als letztes Lebenszeichen eine weiße Säule aus Wasserdampf und Rauch in den dunklen Himmel entließ. "Hat Spaß gemacht", murmelte jemand mit matter Stimme und Max nickte gedankenverloren. Ja, hatte es. Völlig erschöpft lag Max wenig später in seinem Bett. Sein letzter Gedanke an diesem Abend galt Julius und der Wette, von der er auf einmal dachte, dass er sie wahrscheinlich doch verlieren würde. "Guten Morgen", wurde Max am nächsten Tag fröhlich begrüßt. Julius und die Meute saßen am Esstisch und hatten das Frühstück schon begonnen. "Morgen", murmelte Max leise und setzte sich auf seinen Platz. Er hatte trotz seiner Erschöpfung nur wenig geschlafen und wenn er endlich eingeschlafen war, schrak er kurze Zeit später wieder auf. Das Ergebnis, die Kopfschmerzen, die sich direkt nach dem Aufstehen eingestellt hatten, erstickten jeden aufkommenden Funken guter Laune bereits im Keim. "Wir waren gerade dabei, den Tag zu planen", begann Julius das Gespräch. "Aha", erwiderte Max zwischen zwei Bissen in seinen Toast. Wie schaffte es Julius nur so gut gelaunt zu sein, obwohl er wirklich jeden Tag – egal ob in der Woche oder am Wochenende – um fünf Uhr in der Früh aufstand, um dann eine Stunde draußen herumzurennen? "Bis jetzt steht es Unentschieden zwischen Kino und Schwimmbad. Du bist also das Zünglein an der Waage." Julius lachte über seinen eigenen Witz. Bitte keine weiteren Metaphern mehr so früh am Morgen, dachte Max gequält und aß den Rest seines Toasts. "Kann ich mich enthalten?" "Auf keinen Fall", kam der sofortige Protest. "Jedenfalls nicht, so lange niemand zufällig über Nacht auf die Idee gekommen ist, Kino und Schwimmbad miteinander zu kombinieren. Also?" Max seufzte. "Kino." Dort konnte er wenigstens versuchen, den versäumten Schlaf nachzuholen. Dass er so schnell keinen Schlaf nachholen konnte oder sonst etwas geschah, das seine Laune hob, merkte Max, als sie zu Acht vor dem Kino standen und sich ratlos die Auswahl der gezeigten Filme betrachteten. "Tja", kommentierte Julius knapp die beiden Filme, einen Animationsfilm und einen Actionstreifen, die alles waren, was das kleine Kino zu bieten hatte. "Das macht uns die Entscheidung jedenfalls ziemlich leicht." "Wieso?", hakte Max interessiert nach. "Sollten wir jetzt nicht genauso demokratisch entscheiden, wie heute Morgen?" Julius deutete zuerst zu den ausgehängten Filmplakaten und dann zu der Gruppe. "Da wir Kinder dabei haben, die noch nicht alt genug sind, brauchen wir keine Abstimmung." Die Ältesten murrten verstimmt. Julius zog entschuldigend die Schultern in die Höhe. "Habt ihr einen anderen Vorschlag?" "Ja", rief Lars. "Warum teilen wir die Gruppe nicht auf?" Nachdenklich strich sich Julius über die Stirn. Was sprach gegen den Vorschlag? Kaum etwas. "Also schön", gab sich Julius nach einer Denkpause geschlagen. "Die Jüngeren gehen in den Kinderfilm und die Älteren eben in den anderen." Max, Lars und der dritte Älteste im Bund wollten zur Kasse, als sie Julius wieder zurück rief. "Da gäbe es noch was zu klären." Julius sah die drei Großen der Reihe nach an. "Max, du gehst mit den Kleinen in den Kinderfilm und ihr beide kommt mit mir." Das Das ist aber nicht fair blieb Max vor Verblüffung im Halse stecken. Julius dachte anscheinend nicht im Geringsten daran, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Er ging zur Kasse und kam kurz darauf mit den Eintrittskarten zurück. Jeder durfte sich noch ein Getränk kaufen und etwas von der Snackbar aussuchen, dann verschwand die aufgeteilte Gruppe in zwei verschiedenen Kinosälen. Max machte sich nicht die Mühe, seine üble Laune vor Julius zu verbergen, als sie nach dem Kino alle zusammen in dem Van der Wohngruppe saßen und zurück nach Hause fuhren. Das schlimmste an dem Kinderfilm war nicht der Film selbst gewesen, sondern die nervenden Kinder, die den Kinosaal bevölkert hatten. Ständig hatte irgendwo eines der Bälger gequatscht, oder es wurde mit Tüten geraschelt und alle paar Minuten hatte sich die Tür des Saales geöffnet, weil einer der Quälgeister aufs Klo gemusst hatte. Müde war Max also immer noch und sein Kopfweh hatte beschlossen, noch etwas länger dazubleiben. Julius hatte alle Gesprächsversuche mit Max irgendwann aufgegeben. Zu Hause angekommen, verschwand Max wortlos in seinem Zimmer. Als Max wieder nach unten in den Wohnbereich kam, war es draußen bereits dunkel. Das Abendbrot war abgeräumt und die Jüngeren lagen schon in ihren Betten. Aus der Küche hörte Max Geschirr klappern. Es war Julius, der die Spülmaschine aus- und das saubere Geschirr wegräumte. Ohne Julius eines Blickes zu würdigen ging Max zum Kühlschrank und nahm die Butterdose heraus. Er schnitt sich zwei Scheiben Brot ab und setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche. Julius stapelte die Teller der Größe nach aufeinander. Hin und wieder warf er einen Blick zu Max hinüber, der seine beiden Scheiben Brot zuerst mit Butter und dann mit Nuss-Nougat-Creme bestrich, und dachte darüber nach, was er loswerden wollte und vor allem, wie. Ließ er die Sache mit dem Kino wie eine Entschuldigung klingen, erreichte er vermutlich das genaue Gegenteil. Anders gesehen, konnte er die Angelegenheit auch nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen. Max schien es als Strafe aufgefasst zu haben, was ja nicht so gedacht gewesen war. Seelenruhig aß Max die erste Scheibe Brot und sah dabei Julius zu, dem Nina offensichtlich vergessen hatte zu sagen, dass das mit Blumenranken verzierte Geschirr nicht mit dem normalen weißen, das sie jeden Tag benutzten, zusammen in den Schrank geräumt wurde. Mit jedem Teller mehr, den Julius falsch in den Schrank einsortierte, meldete sich Max' Gewissen eindringlicher. Alle Kinder aus der Gruppe hatten Julius von Anfang an gemocht, ohne dass er sich dafür hätte großartig anstrengen müssen. Und ihm war es auch nicht anders ergangen, musste sich Max eingestehen, was ihn in diesem Augenblick allerdings ärgerte, weil er noch immer nicht wusste, was er Julius getan hatte. Langsam bemerkte auch Julius, dass etwas mit dem Geschirr nicht stimmte. Es passte einfach nicht mehr in den Schrank, egal, wie viele Möglichkeiten der Anordnung er auch ausprobierte. Wahrscheinlich war der Schrank geschrumpft. Oder das Geschirr gewachsen. Oder- "Das gemusterte, gute Geschirr gehört übrigens raus in die Vitrine im Esszimmer und nur das Weiße bleibt hier in der Küche", belehrte Max Julius schließlich gnädig. Er erhob sich von seinem Sitzplatz, stellte sein benutztes Geschirr in die Spülmaschine und verließ die Küche. "Kannst es mir bei Gelegenheit ja wieder zurückzahlen, wenn du möchtest." Perplex sah Julius Max nach, bis auch dessen Schatten auf dem Boden verschwunden war. Er ärgerte sich darüber, die Gelegenheit verpasst zu haben, mit Max über den Kinobesuch zu reden, aber so einen Dämpfer hatte er bei allem, was passiert war, trotzdem nicht verdient. Zu allem Überfluss gab sich Julius seit dem Kinobesuch und dem Abend in der Küche große Mühe, keine Missverständnisse mehr aufkommen zu lassen, und zwar so, dass es Max vorkam, als ginge Julius ihm nun aus dem Weg. Was für eine pädagogische Maßnahme das nun wieder sein sollte, war ihm absolut schleierhaft. Julius hatte zwar keinen Fluchtreflex entwickelt, sobald er Max auch nur hörte oder sah, aber er mied ihn, was, seit Nina wieder da war, noch nicht einmal großartig auffiel. Nina war nach ihrer Rückkehr so stolz wie eine Vogelmutter, deren Kinder den ersten Flug von dem höchsten Baum des Waldes heil überstanden hatten. Den ersten Tag war es besonders schlimm gewesen. Sie hatte für alles, was in der Zeit ihrer Abwesenheit – was lediglich zwei Tage waren – nicht zu Bruch gegangen oder verschwunden war, ein lobendes Wort für Julius und die Kinder übrig. Manchmal fürchtete Max, dass Julius nicht einmal mehr bis zu den Osterferien blieb, wenn es so weiter ging. Er musste sich wie in seiner eigenen Comedy-Serie fühlen. Einerseits hatte er sich unabsichtlich in ein gerade bereitstehendes Fettnäpfchen gesetzt und auf der anderen Seite wurde er mit Lob überhäuft, dass es selbst für ihn irgendwann zu viel des Guten werden musste. Und Max sollte recht behalten. Julius hielt noch genau dreieinhalb Tage durch. Sein und Sollen oder: Du hast Schiss vor Nina, was? --------------------------------------------------- Am Morgen hatte er Julius noch wie immer gehört, wie er – möglichst leise – versucht hatte, die alte Holztreppe hinunter zu schleichen. Mittlerweile hatte Max ein Gehör für die kleinsten Geräusche entwickelt, wie etwa das, wenn die Haustür sich öffnete oder schloss. Das erstickte Schleifen des Zugluftstoppers über die Bodenfliesen des Flurs hatte er sonst nie wahrgenommen, erst seit er morgens um die gleiche Zeit wie Julius wach wurde und dann mit flachem Atem den Geräuschen lauschte, die im stillen Haus plötzlich so laut klangen, dass es unmöglich schien, dass sonst niemand davon wach wurde. Als sich die Haustür mit ihrem schwachen Seufzen geschlossen hatte, schwang Max die Beine aus dem Bett und stand auf. Er ging zu seinem Fenster und schob mit dem Zeigefinger zwei Lamellen des geschlossenen Rollos auseinander, so dass er einen Blick nach draußen in den langsam dämmernden Tag werfen konnte, ohne dabei selbst entdeckt zu werden. Julius würde sich zuerst aufwärmen – das dachte sich Max jedenfalls, denn sehen konnte er das von dieser Seite des Hauses aus nicht – und nach ein paar Minuten würde er langsam um die Ecke gelaufen kommen, auf dem Kopf eine grüne Mütze und, wenn es so kalt war wie heute, mit Handschuhen an den Händen. Er würde noch einen Blick auf seine Armbanduhr werfen und dann, begleitet von dem im Takt seiner Schritte knirschenden Kiesweg, der um das Haus führte, in Richtung Feldweg laufen. Erst wenn Julius den schmalen Steg über den Bach genommen hatte und dann hinter dem nebligen Hügel, auf dem in den warmen Monaten Schafe grasten, verschwunden war, verließ Max seinen Platz am Fenster und begann, sich für den Tag fertig zu machen. Den Zeitpunkt, wann Julius wieder zurückkam, kannte er mittlerweile auch, ohne dass er noch auf die Uhr gucken oder sich großartig beeilen musste, damit er ihn nicht verpasste. Als erstes sah man Julius' hellgrüne Mütze hinter dem Hügel auftauchen, begleitet von den weißen Atemwolken, die er wie eine alte Lok, die sich einen Berg hinauf quälte, in den klirrend kalten Himmel ausstieß. Und sobald er wieder das rhythmische Knirschen von Julius' Schuhen auf dem Kiesweg hören konnte, wusste Max, dass er noch genau fünf Minuten Zeit hatte, um zu entscheiden, ob er Julius über den Weg laufen wollte, oder nicht. Heute entschied er sich dagegen. Max nahm die Dose mit dem Goldfischfutter aus dem Regal und öffnete den Deckel. Einen der Sticks zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, tauchte er vorsichtig seine Fingerspitzen ins Wasser. Einstein, der nur auf die Bewegung an der Wasseroberfläche gewartet hatte, schoss aus seiner Totenkopfhöhle hervor und beeilte sich, die Hand mit dem Futter zu erreichen, ehe sie etwa wieder verschwinden konnte. "Guten Morgen", begrüßte Max den orange-roten Fisch, der ungeduldig an dem Stick zupfte, um ihn aus den Fingerspitzen seines Herrchens zu befreien. Vor seiner Tür hörte er Julius vorbeigehen und noch ehe er das Rauschen der Dusche hören konnte, verließ Max sein Zimmer. Am Mittag dieses Freitags lief Max Julius dann noch einmal unverhofft im Hausflur über den Weg, als dieser gerade zur Tür hinaus wollte. In einer Hand hielt er seinen Schlüsselbund und unter den anderen Arm hatte er einen großen Plastikkorb geklemmt. "Was – wo willst du denn hin?", platzte es unwillkürlich aus Max heraus, noch ehe ihm sein Verstand beruhigend auf die Schulter klopfen konnte. Stumm deutete Max auf den Korb, weil es ihm nach diesem ersten erschrockenen Satz vor Überraschung die Sprache verschlagen hatte. "Noch ein paar Sachen erledigen", erwiderte Julius lapidar. "In der Stadt", fügte er hinzu, weil er sich auf einmal zu einer Erklärung genötigt sah. "Kann ich mit?" Max wartete nicht erst die Antwort ab, sondern quetschte sich an Julius vorbei aus der Haustür hinaus. Max saß bereits im Auto, als Julius gerade erst die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. "Willst du abhauen, oder warum hast du es so eilig?" Julius ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen. "Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen." Das erste Mal seit Tagen hatte Julius ein Lächeln für Max übrig. Erleichtert atmete Max innerlich auf. Niemand lächelte, wenn er nicht gerade insgeheim Mordgedanken hegte. Aber Julius und Mord? Nie im Leben... Für die nächsten Kilometer schwieg Julius. Allerdings tat er es nicht auf diese unangenehme Art und Weise, die andere Anwesende unruhig und zappelig werden ließ. Er wirkte gelassener, je weiter sie sich von dem alten Bauernhof entfernten, auf dem sie alle mehr oder weniger lange miteinander lebten. Auch Max begann, sich zu entspannen. Die Alarmbereitschaft, in die er sich versetzt gefühlt hatte, seit er Julius verdächtigt hatte, ihm aus dem Weg zu gehen, fiel von ihm ab. "Du dachtest, ich wollte dich damit bestrafen, oder?" Max sah zu Julius hinüber, der konzentriert auf die Straße blickte. "Eigentlich nicht, nein – oder: doch. Ja, aus Versehen. Tut mir leid." Julius seufzte auf. "Weißt du, ich habe dich mit den Kleinen in den Film geschickt, weil ich wusste, dass sie auf dich hören. Bei deinen Freunden war ich mir nicht so sicher..." "Warum nicht? Du kennst sie genauso gut wie mich, oder nicht?" "Ich meinte, dass es mir nicht so lieb war, euch Große alleine weg zu schicken..." Julius setzte den Blinker und bog auf den Parkplatz eines Großmarktes ab. Als es er wagte, zu Max hinüber zu sehen, grinste der ihn an. "Du hast Schiss vor Nina, was?" "Quatsch", murmelte Julius ertappt. "Das Geschirr hast du seitdem aber nie wieder falsch eingeräumt." "Das nennt man Dazulernen." "Natürlich", entgegnete Max triumphierend, wobei er jede Silbe deutlich betonte. Sein Grinsen wurde noch um eine Spur breiter. "Na, warum hast du so einen Heidenrespekt vor Nina? So weit ich weiß, habt ihr die gleiche Ausbildung." Julius wand sich sichtlich auf seinem Sitzplatz. Man sah ihm an, dass er am liebsten aus dem Auto gesprungen wäre. "Wir haben das gleiche studiert, ja, aber anders als Nina, bin ich gerade erst damit fertig geworden und das hier ist meine erste richtige Arbeitsstelle." "Schön, du hast ja Recht", gab sich Max großzügig. "Und außerdem", begann Julius, "außerdem weiß ich noch immer nicht, was aus meinem Vorgänger geworden ist. Das ist schon ein bisschen seltsam, oder?" Was Julius als Scherz gemeint hatte, kam bei Max anders an. Das Grinsen war von einer Sekunde auf die andere wie aus seinem Gesicht gewischt und nun war er es, der den Türgriff in der Hand hatte, um die Tür zu öffnen und nach Draußen zu gelangen. Max biss sich nervös auf die Lippe. "Nina hat dir also noch nichts darüber gesagt?" Julius, der gerade beschlossen hatte, ab sofort vorsichtiger mit dem zu sein, was er sagte, schüttelte leicht den Kopf. "Ich wusste nicht, dass das ein Geheimnis bleiben sollte. Kündigungen kommen vor. Ich habe mir da keine großartigen Gedanken gemacht." Max stieß abfällig die Luft durch die Nase aus. "Es war viel zu offensichtlich, als dass es hätte noch als Geheimnis durchgehen können." Das war das Letzte, was Max dazu sagte. Er sprang aus dem Auto und schlenderte zur Eingangstür des Großmarktes hin, die sich mit einem Zischen öffnete und hinter Max mit dem gleichen Zischen wieder schloss. Julius fand Max vor einem riesigen Regal, das die aktuellsten Weihnachtsartikel anpries, die in den normalen Geschäften noch nicht zu kaufen waren. Zwischen meterlangen blinkenden Lichterketten, Christbaumkugeln, die so groß wie Fußbälle waren und singenden Plüsch-Rentieren in Lebensgröße wirkte Max selbst wie ein Spielzeug. Julius, der einen Wagen vor sich her schob, versuchte, sich einen Überblick über das vor ihnen liegende Regallabyrinth zu verschaffen. "Kennst du dich hier aus?" "Was brauchst du denn?" "Moment", Julius kramte die Liste, die ihm Nina aufgeschrieben hatte, aus seiner Jackentasche und las die ordentlich verfassten Notizen laut vor. "Blumenkohl, Orangen, Kaffee, Kakaopulver, Tee, Brot, Milch, Butter, Gemüse in Konserven und Nudeln." Max dachte einen Moment nach. Er versuchte, sich an normale Supermärkte zu erinnern und wie die Waren dort angeordnet waren. "Das hört sich an, als hätte sie dir alles so aufgeschrieben, wie es im Laden steht." Julius sah auf die Notizen und dann wieder zu Max. "Ich glaube, du hast recht." "Nina halt", witzelte Max und nahm die Einkaufsliste an sich. Der Reihe nach fanden sie alles so vor, wie Nina es ihnen aufgeschrieben hatte. Julius schüttelte mehrmals den Kopf, während er sich die irrwitzigen Größen ansah, in denen die Waren angeboten wurden. Drei-Kilo-Packungen Kaffee? Teebeutel im 100er-Pack? Julius kam sich vor wie Jack im Land der Riesen. "Normalerweise wird das ganze Zeug ja zu uns geliefert." Gerade wuchtete Max ein Päckchen Kakaopulver, das man eher als Sack Kakaopulver bezeichnen musste, auf den Wagen. "Was hat Nina denn geplant? Gab es eine Katastrophenmeldung?" Julius hakte den Kakao in der Liste ab. "Sie meinte, dass sie lieber genug zu Hause habe, weil sie nicht einfach so mal zm Einkaufen kommt, wenn ich weg bin und Kerstin noch nicht da ist." "Wie, wenn du weg bist?" Max klang erstaunt. "Freie Tage - ist das nicht so üblich bei euch?" Max zuckte mit den Schultern. Er konnte Julius unmöglich sagen, dass er das Wegsein womöglich anders interpretierte. "Für mich sowieso nicht. Ich bin ja einer der Glücklichen, die das große Los gezogen haben und jedes Wochenende da bleiben dürfen." "Oh", erwiderte Julius unoriginell. Was sollte er dazu auch sagen? Die Frage nach dem Warum brannte ihm auf der Zunge, aber gleichzeitig fürchtete er, dass das Thema keines war, das man in einem Supermarkt vor dem Kaffeeregal besprach. Er nahm zwei Pakete Tee aus dem Regal und wägte ab, welche Sorte sie nehmen sollten. "Pfefferminz oder Fenchel?" "Wir haben übrigens eine Wette laufen", sagte Max, ohne scheinbaren Zusammenhang. Julius ließ seine Hände sinken. Die Teebeutel raschelten leise im Innern der sich neigenden Packungen. "Eine Wette?" "Ja, eine Wette." Max tat, als lese er interessiert die Nährstofftabelle auf einer der buntbedruckten Packungen. "Wie lange du bleibst." Julius stand vor Max wie ein Pantomime, der eine Statue nachahmte. Irgendwann räusperte er sich. "Eure Erzieher haben Mindesthaltbarkeitsdaten?" "Manche schon." "Und ihr stützt eure Annahmen auf Erfahrung?" Max nickte. "Ich war für die Osterferien." Atemlos wartete er auf den großen Knall. Darauf, dass Julius wütend wurde oder zumindest betroffen. Doch Julius tat nichts davon. Er legte die Packung Pfefferminztee zu ihren anderen Einkäufen und stellte die Packung Fencheltee zurück ins Regal. Ganz normal. Julius schien in Wirklichkeit statt eines Namens ein Synonym für Integrität zu sein. "Da habe ich aber Glück, dass das noch in ferner Zukunft liegt." Seelenruhig schob Julius den Wagen ein Stück weiter. "Es hätte ja auch Weihnachten sein können." Langsam schloss Max wieder zu Julius auf, der vor der momentanen Frage stand, ob er Vollkorn- oder Toastbrot nehmen sollte. Max nahm ihm die Wahl ab und legte beides auf den Wagen. "Ich habe mich aber, denke ich, geirrt, was das Datum angeht." Max sah Julius zu, wie der nacheinander drei 12er-Paletten Milch auf den Wagen wuchtete und ihm dabei lediglich einen kurzen Blick zuwarf. "Ich glaube, du willst schon früher weg, habe ich recht?" Julius hielt in seiner Bewegung inne. Erschüttert sah er sein Gegenüber an, das seinen Blicken auswich. "Wie kommst du denn darauf?" "Es kommt mir vor, als wäre unsere Gruppe nicht das, was du dir auf Dauer antun möchtest", erklärte Max der 20er Packung vorgebackener Croissants, die vor ihm im Regal stand. Julius stützte die Hände in seine Hüften. Ein amüsiertes Lächeln bog seine Mundwinkel nach oben. "Dann schätze ich, dass ihr eure Thesen noch einmal überdenken solltet, ich hatte nämlich nicht vor, nach Ablauf meines Haltbarkeitsdatums zu verschwinden – oder davor." "Und warum dann dieses Unsichtbarmachen?" Aus dem Augenwinkel heraus, sah Max Julius' Lächeln, das nach diesem Satz einen Moment wie eingefroren wirkte. "Ich mache mich nicht unsichtbar. Und ich habe nicht vor, zu kündigen." Julius pausierte kurz. "Sagen wir es mal so, ich bin dabei, die Route neu zu berechnen." Max sah ehrlich irritiert drein. "Das verstehe ich jetzt nicht. Ist das wieder so ein Pädagogen-Ausdruck?" "So weit ich weiß, kommt der Ausdruck aus der Nautik." Julius hakte Milch und Brot von der Einkaufsliste. "Das war jetzt aber auf jeden Fall Pädagogen-Gequatsche..." Julius, der Liste nach dem nächsten Punkt absuchte, hob den Blick. "Ich scheine nicht mit allen meinen Ideen gut anzukommen und deshalb tue ich gerade das, was du mit Unsichtbarmachen meintest", erklärte er mit einem leichten Seufzen. Vorsichtig wie eine Katze, die die Entfernung zwischen zwei Dächern abzuschätzen versuchte, ehe sie den Sprung wagte, versuchte Max nun in Julius' Gesicht abzulesen, ob das, was er gesagt hatte, ernst gemeint war. Er könnte Julius natürlich auch darüber aufklären, dass er sehr wohl gut ankam und zwar bei der ganzen Gruppe, was eine Seltenheit war. Jetzt schien auch der richtige Augenblick zu sein, doch statt diesen einen Satz zu sagen, der vielleicht Julius' Bedenken in wenigen Worten vom Tisch wischen würde, schob Max den immer schwerer werdenden Wagen weiter zur Kühlabteilung hin. Er hatte das Gefühl, schon viel zu viel gesagt zu haben. "Meinst du, es ist zu früh?", brach Julius schließlich den stummen Bann. Er sah hinüber zu Max, der vor dem Kühlregal stand. "Zu früh wofür?", stieß Max perplex aus. "Ist September noch zu früh für Lebkuchen?" "Lebkuchen?", wiederholte Max verwirrt über den Ausgang ihres Gesprächs. Julius betrachtete sich den mannshohen Stapel aus Päckchen mit Schokoladeüberzogenen Herzen, Sternen und Brezeln, der zwischen dem Brotregal und der Kühlabteilung aufgebaut war. "Ob wir einfach ein Päckchen zwischen die anderen Einkäufe schmuggeln?" Max half Julius, die Einkäufe aus dem Wagen ins Haus zu tragen. Die Heimfahrt war weitestgehend unspektakulär verlaufen. Jedenfalls, wenn es um das ging, über das sie im Laden gesprochen hatten: Mindesthaltbarkeitsdaten und Julius' Verbleib in der Gruppe. Nina stürzte sich freudestrahlend auf den Lebkuchen und packte gleich eines der Päckchen aus, um eine Schale davon auf den niedrigen Tisch im großen Wohnzimmer zu stellen. "Darauf warte ich schon seit letzten Ostern. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass das Zeug immer nur ein halbes Jahr lang haltbar ist?", kommentierte Nina den Einkauf des Gebäcks, nachdem sie ein Stück aus einer Brezel gebissen und mit verträumtem Blick genossen hatte. "Hattest du vor, heute schon zu fahren?" Die Frage ging an Julius, und Max, der vom Flur aus die Frage ebenfalls mitangehört hatte, wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort. "Eigentlich wollte ich erst morgen früh los, oder frühestens heute nach dem Abendessen." "Wie du willst." Nina aß den Rest der Lebkuchenbrezel. "Bis wann sollte ich spätestens wieder hier sein?" "Sonntagabend reicht." Max hörte, wie sich Julius' und Ninas Stimmen entfernten. Er wartete, wohin sie gingen und ging dann selbst in die entgegengesetzte Richtung davon. Bis das Abendessen vorbei war, hatte Max wie auf glühenden Kohlen gesessen. Wenn es um einen Termin ging, zu dem man offiziell kein genaues Datum festlegen wollte und stattdessen heute oder morgen sagte, war in den meisten Fällen das heute die exakte Angabe und das oder morgen nur dazu da, um dem Gesprächspartner zu suggerieren, dass er sich noch ein wenig in Sicherheit wiegen konnte. Als sich Julius mit den Worten, er müsse noch ein paar Sachen zusammenpacken, verabschiedete, musste sich Max zusammenreißen, um nicht sofort aufzuspringen und Julius zu folgen. Nervös half er dabei, den Tisch abzuräumen und alles in die Küche zu tragen, doch insgeheim hoffte er auf eine Gelegenheit, zu verschwinden. "Räumst du bitte die Spülmaschine ein?" Nina benötigte einen zweiten Anlauf mit ihrer Frage, bis Max gemerkt hatte, dass er damit gemeint war. Mist! Genau das, was er jetzt nicht brauchen konnte. "Ja." So leise es nur irgendwie ging, räumte Max das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Er durfte Julius nicht verpassen, wenn er denn wirklich heute schon nach Hause fahren wollte. Eine viertel Stunde später stieß Max die Tür des Geschirrspülers zu. Etwa im gleichen Augenblick hörte er Schritte auf der Treppe. Also fuhr er doch schon heute Abend. Max hastete auf den Flur. Es war tatsächlich Julius, der einen kleinen Rollkoffer hinter sich her zog und einen Rucksack über der Schulter hängen hatte, den er jetzt auf dem Boden abstellte, um seine Straßenschuhe anzuziehen. "Oh, mein persönliches Verabschiedungs-Komitee", begrüßte Julius Max gutgelaunt, als er ihn im Türrahmen zur Küche erblickte. Max stieß sich vom Türrahmen ab, gegen den er sich haltsuchend gelehnt hatte und schlenderte möglichst gefasst auf Julius zu. "Was ist los?" Julius nahm seinen Rucksack wieder auf. Dann grinste er Max amüsiert an. "Sag bloß, du denkst immer noch, ich komme nicht wieder zurück?" Max wollte das im ersten Reflex abstreiten, auch wenn es wahr war, entschied sich dann aber dagegen. Heute oder morgen. Osterferien oder Sommerferien. Julius bleibt oder er geht. Julius hörte auf zu grinsen. Max' reglose Miene hatte etwas an sich, das seinen Scherz plötzlich ernst wirken ließ. "Ich kenne mehr Gründe, am Sonntag wieder zurückzukommen, als solche, die mich davon abhalten könnten", bemühte sich Julius, Max davon zu überzeugen, dass seine Angst unbegründet war. "Und was, wenn deine wenigen Gründe trotzdem mehr Gewicht haben?" Max' Stimme schwankte. "Außerdem kenne ich nur Gründe, weswegen ich hier so schnell wie möglich weg möchte, statt zu bleiben." Mit einem mal fühlte sich Julius schlecht. Max war bleich und auch wenn das Licht im Flur warm von den gelbgestrichenen Wänden reflektiert wurde, schien es nicht in seine Haut durchdringen zu können, um sie mit Lebendigkeit zu füllen. "Wahrscheinlich kommt dir das so vor, weil du momentan noch keine Wahl hast." Max hob resigniert die Schultern. "Wie lange noch?" "April", antwortete Max promptund klang dabei ein wenig verstimmt, so ausgedörrt war seine Kehle. Julius hatte nicht erst erklären müssen, was er mit der Frage gemeint hatte. Bereits nach zwei Silben - dem Wie und dem la - hatte er gewusst, was Julius hatte fragen wollen. Und er hatte antworten wollen. So schnell wie möglich. Julius musste schließlich Bescheid wissen. Für alle Fälle... Ein Lächeln, das Max wahrscheinlich aufmuntern sollte, breitete sich auf Julius' Gesicht aus. Es funktionierte wohl, denn zeitgleich ließ auch Max' angestrengte Mimik nach. Hinter Max' Schläfen pochte es zwar immer noch, als säße dort etwas, was unbedingt hinaus wollte, aber wenigstens klebte ihm seine Zunge nicht mehr so trocken am Gaumen. Und als Max den ersten Schritt nach vorne tat, auf den gleich der zweite folgen sollte, hatte Julius noch immer keine Ahnung, wovon er genau noch zwei Sekunden entfernt war. "April also – wie stehen die Wetten?", zog Julius Max auf – oder hatte es jedenfalls so geplant, denn nach April brachte er kein Wort mehr hervor, weil Max einen Schritt auf ihn zumachte und ihn kurzerhand küsste. Julius' Rucksack rutschte ihm von der Schulter und fiel hinab. Seine Armbeuge fing das herabfallende Gepäckstück auf, was Julius kurz aus dem Gleichgewicht brachte und ihre Lippen voneinander trennte. "Ich wusste nicht, dass auch ein Abschiedskuss zu deinem Repertoire gehört", stammelte Julius irritiert. "Der war exklusiv." Max spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Na, wenn das mal keine Überraschung war, lachte der Teil des Inneren Max, der für solche Kurzschlusshandlungen wie diese zuständig war. Der andere Teil, der gerne von sich behauptete, der Vernünftigere von ihnen zu sein, raufte sich die Haare. Du Idiot, was, wenn du jetzt das Gegenteil erreicht hast?! Kurzschluss-Max winkte lässig ab. Stell dich mal nicht so an, erstens ist es schließlich Julius und zum Zweiten ist es jetzt sowieso schon zu spät. Julius zog sich den Schultergurt des herabgerutschten Rucksacks wieder über seine Schulter. Wie kam er jetzt aus dieser Situation raus? Für einen lockeren Witz war dieser Augenblick nicht geeignet, aber sich umzudrehen, Tschüs zu sagen und einfach aus der Tür zu spazieren, war auch keine Option. Max beobachtete jede Bewegung, die Julius tat. Jedes Blinzeln, jede noch so winzige Regung in seinem Gesicht konnte von Bedeutung sein. Was hatte er gleich nochmal damit bezweckt? Ach ja, er hatte Julius einfach noch einen Grund für seine Rückkehr geben wollen. Das war alles. Und wenn er Pech hatte, dann hatte er ihn damit verjagt. Dann hatte er ihm damit erst den Grund geliefert, zu Hause zu bleiben und noch exakt ein einziges Mal hierher zurückzukommen – und zwar um seine restlichen Sachen mitzunehmen. Max atmete tief aus. Julius' Mimik ließ auf nichts schließen. Dann verließ allmählich der Schreck seine geweiteten Augen, die Max direkt ansahen, statt seinen unsicher forschenden Blicken auszuweichen, und seine Mundwinkel bogen sich – ganz ganz leicht nur, aber sie bogen sich tatsächlich nach oben. "Also bis Sonntag dann." So vorsichtig, als wäre dieser Satz aus zerbrechlichem Glas, das durch eine allzu heftige Bewegung in tausend Splitter zerbrach, nickte Max. "Bis Sonntag." Er glaubte ihm kein Wort. Kein einziges. Jetzt erst recht nicht mehr. Das Dreikörperproblem oder: Vielleicht habe ich ja eine Ananas-Vergiftung ------------------------------------------------------------------------- "Kann ich heute früher gehen?" Max musste schreien, um die lärmende Spülstraße hinter sich zu übertönen, auf deren Band das saubere und noch dampfend heiße Geschirr zur Abnahmestelle fuhr. Der Mann in der Kochkleidung, der gerade einen Stapel schmutziger Servierplatten brachte, zuckte mit den Schultern. "Ist dein Lohn, nicht meiner." "Nächstes Mal bleibe ich länger", versprach Max. Er streifte sich die Schürze über den Kopf und verließ die Spülküche. "Bist du nicht gerade erst gekommen?" "Ist was Dringendes", erklärte Max dem jungen Mann, den er beim Verlassen der Spülküche beinahe über den Haufen gerannt hätte. "Deinen Job hätte ich gerne", seufzte der Kellner und sah Max nach. "Willst du ihn?", rief Max über seine Schulter dem jungen Mann zu, ohne dabei seine Schritte zu verlangsamen. "Bist du irre, dann kann ich ja gleich mein Bett hier in der Küche aufschlagen." Das entsetzte Gesicht des Kellners blieb Max erspart. Er war bereits auf dem Weg zur Umkleide. Warum sollte Julius zurückkommen? Weil Max ihn geküsst hatte? Weil sie so tolle Kumpel waren, statt Kein Kind aber trotzdem noch nicht so erwachsen, dass er Kreuze auf Wahlzettel malen durfte und dessen Aufsichtsperson, deren neutrale Konstellation zueinander er einfach mal so nebenbei mit diesem Kuss neu gewürfelt hatte? Warum sollte Julius ihn jetzt noch ernst nehmen, wenn er das selbst nicht einmal mehr noch konnte? Max' Bauch rumorte. Er hatte seit dem Abendessen am Freitag kaum etwas heruntergebracht. Und jetzt war Samstagabend und nach der verkürzten dreieinhalb Stunden Schicht in der Hotelküche war er kurz vorm Verhungern. Zumindest war sein Magen dieser Meinung. Reine Zeitverschwendung! Er hatte was Besseres zu tun. Seine Augen brannten wegen des kalten Windes, der ihm um die Ohren pfiff, und von dem ständigen Starren auf das hell erleuchtete Viereck im dritten Obergeschoss, das er nun schon seit Mittag nicht aus dem Blick ließ. Die brennende Lampe an der Decke war das einzige, was er von der Wohnung hinter dem Viereck erkennen konnte. Manchmal tauchte ein Schemen hinter dem Fenster auf und jedes Mal erschrak Max und trat einen Schritt zurück, so dass ihn der Windfang eines geschlossenen Cafés, in dessen Eingang er Schutz gesucht hatte, verdeckte. Warum nur musste ausgerechnet heute der erste richtig kalte Tag sein? Na, um zu deiner düsteren Stimmung, deinen kreiselnden Gedanken und den ganzen nagenden Ängsten zu passen, beantwortete sich Max die Frage selbst und schob die kalten Hände in seine Jackentaschen. Das Licht brannte noch immer unverändert. Gott, wenn er es wirklich tut? Wenn er nicht mehr zurückkommt – was dann? Wenn - Wenn er nicht - Wenn er nicht mehr zurück kommt. Nicht - Nicht zu dir. Moment - Zu dir? Träum' weiter... Sein eigenes selbstbemitleidendes Mantra verfolgte Max den ganzen Weg nach Hause. Es folgte ihm auf Schritt und Tritt. Als er den Bus zurück zum Wohnheim betrat, war es ganz nah bei ihm und atmete ihm seinen kalten Hauch ins Ohr, der seinen ganzen Körper in eine Eisskulptur verwandeln wollte. Den Weg zum Bauernhof hinauf schmiss es ihm zu seiner Selbstbelustigung ein paar Stolpersteine in den Weg. Und dann, als er sich mit noch immer leerem Magen ins Bett gelegt hatte und todmüde auf den Schlaf wartete, ließ es sich neben ihn auf die Matratze fallen und quatschte ihm die ganze Nacht die Ohren voll. Der Türöffner summte leise und von oben hörte Julius, wie kurze Zeit später unten die Eingangstür wieder schwer ins Schloss fiel. Quietschende Schuhsohlen, die die Treppe hinauf eilten, hallten im ansonsten stillen Flur wider. Julius ließ seine Wohnungstür ein Stück offen stehen und das Licht im Flur brennen. "Herein", rief er aus dem Nebenzimmer, als es zögerlich an der Tür klopfte. "Das ging ja schnell." Mit seinem Geldbeutel in der Hand kam Julius zurück in den Flur und hätte eben jenen beinahe fallen lassen, als er das Gesicht erkannte, das ihm schuldbewusst aus der Öffnung der über den Kopf gezogenen Kapuze entgegen blickte. "Max?" Julius starrte sein Gegenüber in dem einen Spalt breit offenstehenden Türrahmen an, als hätte er einen Geist vor sich. Und wie ein Geist sah er auch aus, oder eher wie jemand, der ziemlich lange in der Kälte gestanden hatte. Seine Wangen und Nasenspitze waren gerötet und er klapperte mit den Zähnen, was er erfolglos zu unterdrücken versuchte. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, stand Max mit hochgezogenen Schultern vor Julius und war sich offensichtlich nicht sicher, was nun passieren mochte. Er zitterte als Folge der Unterkühlung. Oder er zitterte, weil er Angst hatte. Oder er hatte Angst und wartete darauf, dass Julius ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Oder er hatte Angst und wartete darauf, dass Julius ihn zuerst zur Schnecke machte, ehe er ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Als nichts geschah, ließ Max seine Schultern sinken und stammelte ein verlegenes "Hallo". Julius, der nicht zu wissen schien, was er tun sollte, tat das Naheliegendste. Er zog die Tür auf und bedeute Max mit einem schnellen Nicken, hereinzukommen. Dann schloss er die Tür hinter dem Jungen, der nach drei Schritten betreten schweigend mitten im Flur stehen blieb. Julius musterte sein Gegenüber, das unbeweglich dastand und mit ungläubigen Blicken seine neue Umgebung bestaunte. Max machte den Anschein, als wäre er geradewegs mit seinem Raumschiff vom Himmel gefallen und zufällig hier im Flur gelandet. Und, was in den Nachrichten wohl für Hysterie sorgen würde, wenn ein Gefährt, so groß wie ein Fußballstadion und in seinem Innern grüne Männchen beherbergend, landete, war für Julius, auch wenn das Unbekannte Flugobjekt hier nur Max-Format hatte, nicht unbedingt weniger problematisch. Es war ein U. P. O. - ein Unbekanntes Problematisches Objekt sozusagen, auch wenn unbekannt in diesem Falle relativ war, nämlich relativ egal. Problem blieb Problem. "Warum bist du hier?" Die Frage ließ Max großzügigerweise unbeantwortet. Vor allem, weil er fand, dass sie sich selbst beantwortete, und auch Julius schien nach kurzem Sammeln seiner Gedanken der gleichen Meinung zu sein. Was für eine dämliche Frage. Natürlich wusste er, warum Max hier war. Nervös sah Julius zwischen Max und der geschlossenen Wohnungstür hin und her. Und jetzt? Himmel, wenn ihn jemand gesehen hatte, wie er das Haus betreten hatte, in dem Julius wohnte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? "Komm", Julius deutete auf eine Tür in der Mitte des Flurs. Er ließ Max vorgehen und folgte ihm in die Küche. "Trägst du bei den Temperaturen echt nur ein Kapuzenshirt?!" "Es sind zwei", murmelte Max entschuldigend, als würde das seine Situation besser machen, und zog sich die Kapuze vom Kopf. "Setz dich." Julius nickte zum Küchentisch hin. Max führte die Aufforderung einfach aus, ohne großartig darüber nachzudenken. Denken war noch nicht möglich. Er war noch immer überrascht, dass er einfach getan hatte, was er dem quatschenden Mantra, das sich bei ihm hatte einnisten wollen, dafür geboten hatte, dass es endlich still war. Auch daran, dass er Julius und sich selbst in Schwierigkeiten bringen konnte, hatte er nicht gedacht. Er war einfach nur froh gewesen, endlich schlafen zu können, ohne ständig das Er kommt nicht wieder zurück im Hinterkopf haben zu müssen. Julius setzte sich gegenüber von Max an den Tisch und betrachtete ihn eine Weile stumm, während Max seinen Blicken auswich. Hatte Julius gerade den Kopf geschüttelt? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Was hing da an der Wand? Ein Kalender? Ob Julius da etwas eingetragen hatte? Vielleicht j- "Möchtest du was trinken?" Max' umherwandernde Blicke kehrten zu Julius zurück. Er nickte. So langsam fühlte er sich wohl. Nur Julius schien noch nicht so ganz kapiert zu haben, was sich da gerade abspielte, dabei war es doch das Normalste auf der Welt. Eine typische Abendbrot-Szene eben, wie sie sich vielleicht jeden Abend abspielen könnte. In den Hauptrollen: Max als MAX und Julius als JULIUS. Erster Akt, erste Szene AUFBLENDE: JULIUS' WOHNUNG – KÜCHE – FRÜHER ABEND Max und Julius beim Abendbrot. JULIUS: Möchtest du was trinken? MAX: Klar, danke. Willst du lieber Toast oder Roggenbrot? JULIUS: Toast ist mir lieber. Schnitt auf den Toaster, der zwei goldbraun geröstete Scheiben Toast in die Höhe schleudert. Die Kamera zoomt auf die beiden glücklich lächelnden Hauptakteure. ABBLENDE. Verwirrt über Max' unerklärliches Grinsen stand Julius auf und ging zum Kühlschrank. Die Flaschen in der Kühlschranktür klirrten leise und der kalte Hauch, der aus dem Kühlschrank zog, ließ Max wieder zu Sinnen kommen. Der Streifen in seinem persönlichen Kopfkino hatte einen abrupten Filmriss und alles, was auf der Leinwand noch zu sehen war, waren wirr wandernde Balken und flirrende Rauten, die sich wie Irislose Alienaugen öffneten und schlossen. Jetzt war er hier bei Julius, schön, aber genau genommen, war das auch kein Fortschritt. Sie saßen hier nicht privat. Das hier war keine Abendbrot-Szene. Wenn sie beide wieder zurück in der Wohngruppe waren, dann, ja dann konnte er sicher sein, dass Julius sein Versprechen hielt. Oder – seine Sachen packte. Max schnappte nach Luft, als ihm bewusst wurde, dass er den Atem angehalten hatte. Ihm wurde schwindelig und er musste sich mit einer Hand an der Tischkante festhalten. Irgendwo ganz tief in ihm lachte ihn jemand lauthals aus und es war nicht der Kurzschluss-Max, der ausnahmsweise mal kleinlaut in der anderen Ecke kauerte. "Was ist los?" Der plötzliche Wandel von Max' Gesichtsfarbe von gesund zu ernsthafte Kreislaufprobleme, hatte Julius in seinem Tun, den Verschluss der Flasche aufzudrehen, inne halten lassen. Er stellte die Flasche ab und machte sich bereit, Max, der aussah, als kippte er gleich vom Stuhl, festzuhalten. "Was ist los?", fragte Julius noch einmal besorgt. "Nichts", antwortete Max heiser. Bis jetzt war noch nicht viel los, doch Julius' Hand auf seinem Arm war gerade dabei, das zu ändern. Max rückte ein Stück weg, bis Julius' Fingerspitzen keinen Kontakt mehr zu seinem Arm hatten. Julius ließ die Hand sinken und sah ihn noch einige Augenblicke lang an, bis er Max endlich glaubte. Er nahm die Flasche und öffnete sie. Das Wasser ergoss sich gluckernd in das Glas, das Julius vor Max auf die Tischplatte gestellt hatte. Dann fuhr er damit fort, Max prüfend zu mustern. "Ich glaube, es ist nichts", beteuerte Max noch einmal, während sich sein Magen gerade schmerzhaft verkrampfte. Sofort hielt er den Atem an, um keinen gequälten Laut von sich zu geben, und wartete, bis das Gefühl, durch den Fleischwolf gedreht zu werden, wieder nachließ. "Ich bin mir aber nicht ganz sicher..." Ein unmissverständliches Knurren aus Max' Magengegend erklang und zeitgleich öffnete jemand die Wohnungstür und rief: "Rate mal, wen ich unten vor der Haustür getroffen habe! Und dann rate, was in den beiden Kartons ist, die er mir erst geben wollte, nachdem ich ihm sechzehn Euro dafür gezahlt hatte!" Julius schwankte zwischen Lachen und Entsetzen über die beiden Ereignisse. Das Lachen gewann. "Magst du Pizza?", fragte Julius Max, der mit vor Verblüffung offenem Mund den Mann ansah, der hinter Julius in der Küchentür erschien und zwei flache Kartons in den Händen trug. Da hatte er die Abendbrot-Szene. Genau vor seinen Augen. Nur dass einer der beiden Hauptakteure nicht MAX hieß, sondern SIMON. Doch bis auf die Frage nach dem Toast, war alles gleich. Statt Toast oder Roggenbrot war die Frage eben Hawaii oder Diavolo? Zwischensequenz AUFBLENDE: Die Kamera zoomt auf das betretene Gesicht des neuen, zukünftigen Kabelträgers Max. ABBLENDE. Fasziniert von dem privaten Julius, den er an diesem Tag kennenlernte, konnte Max später auf dem Nachhauseweg im ersten Moment nicht einmal mehr sagen, welchen Belag die Pizzen gehabt hatten, die sie kurzerhand durch Drei geteilt hatten. Er meinte, sich an etwas Süßes zu erinnern, war sich da aber gar nicht mehr so sicher. Er war zu abgelenkt gewesen, nicht nur von Julius oder von Simon. Seine eigenen Gedanken hatten begonnen, alles, was bisher geschehen war, in scheinbaren Einklang miteinander zu bringen, bis nur noch eine Frage zu klären blieb, deren Beantwortung ihm Julius noch schuldig war. Und da Julius es offensichtlich weiterhin nicht nötig fand, nahm Max nun eben selbst die Klappe in die Hand, um den Beginn des Drehs der letzten Szene seiner Dokumentation zu starten. Julius entdecken: Wo er wohnt und wie er lebt Zweiter Akt, Szene Eins AUFBLENDE: STADTAUTOBAHN – SIMONS AUTO – ABEND Julius, der sich von Simon das Auto geliehen hat, um Max nach Hause zu bringen, fädelt sich in den abendlichen Verkehr ein. Neben ihm auf dem Beifahrersitz: der zum Kabelträger degradierte und heimlich in Julius verliebte Idiot Max, der kurz zuvor den Korb seines Lebens bekommen hatte. Julius schweigt, auch wenn ihm nicht entgangen sein kann, dass er seinem Nebenmann, der wie auf glühenden Kohlen dasitzt, eine Antwort schuldig ist. Ein Auto hupt. Die Ampel schaltet auf Rot. ABBLENDE. "Was ziehst du denn für ein Gesicht?" Julius bremste das Auto an der roten Ampel ab und sah sich Max von oben bis unten an, als wäre irgendetwas nicht so, wie es sein sollte. "Du machst das schon den ganzen Abend." Mehr als ein dümmliches Ach ja? brachte Max zuerst nicht raus. Ach ja, Hawaii und Diavolo waren es gewesen. Komisches Paar. "Vielleicht habe ich ja eine Ananas-Vergiftung." "Ananas-Vergiftung?!" Vor Schreck würgte Julius fast den Motor ab. "Soll ich rechts ranfahren?" "Das hilft auch nichts..." Mit verkniffenen Lippen blickte Max aus dem Seitenfenster. Regen rann Tränen gleich die reflektierende Seite des Außenspiegels hinab. Zumindest einer, der sich an das Drehbuch hielt. Natürlich hatte er eine Ananas-Vergiftung, auch wenn die nicht unbedingt von dem süßen Belag selbst herrührte. Diese verdammte Pizza Hawaii. Verdammte Ananas. Verdammter Simon! "Warum kommst du nicht doch schon heute Abend zurück, wie es abgemacht war?", presste Max schließlich atemlos hervor. Julius zuckte nur kurz mit den Schultern. "Es kam noch was dazwischen." Max verkniff sich das Und was? Simon? Der elektrische Fensterheber summte leise, als Max sein Fenster ein Stück weit öffnete. Die klare Luft tat gut. Sie kühlte angenehm seine Haut, unter der ein Steppenbrand zu wüten schien, seit Hawaii-Simon im Türrahmen gestanden hatte. Diavolo? Max grinste. Dabei hatte er Julius eher für den Hawaii-Typ gehalten. Da schlummerten wohl unbekannte Vorlieben in dem artigen Julius... "Was ist jetzt schon wieder los?" Die ständigen Wechsel zwischen dem zu Tode betrübten Max und dem heiter fröhlichen Max machten Julius langsam zu schaffen. "Nichts", entgegnete Max belustigt und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Da war doch noch was gewesen? Richtig: Verdammter Simon! Augenblicklich verging Max das Lachen. Er wandte sich Julius zu, der auf das nächste unvorhergesehene Ereignis wartete. "Was findest du an Pizza Hawaii eigentlich so toll?" Julius' Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. "Ich hatte keine Pizza Hawaii." "Wäre eine Pizza Hawaii ein Grund für dich, nicht mehr zu uns zurück zu kommen?" Langsam dämmerte es Julius. Er seufzte leise und hatte plötzlich wieder diesen unergründlichen Gesichtsausdruck von damals drauf, als er, wie er später meinte, die Route neu am Berechnen gewesen war. "Ich mag keine Pizza Hawaii", begann Julius, ohne den Blick vom Verkehr zu lassen. "Und wir wohnen auch nur temporär zusammen; jeder in seiner eigenen Schachtel- in seinem eigenen Zimmer, meine ich." Max schämte sich einen winzig kleinen Augenblick dafür, dass sich Julius genötigt sah, sich zu erklären, und er schämte sich ein kleines bisschen mehr dafür, dass er selbst froh über diese Antwort war. "Das war eben die beste Lösung, bis ich einen festen Job habe." Julius sah kurz zu Max hinüber, der auf dem Beifahrersitz saß und nicht mehr ganz so bleich aussah, wie zuvor, als er vor Julius' Tür gestanden hatte. Vor ihnen tauchte die Straße auf, die sich zum Bauernhof hinauf schlängelte. Julius' Fingerknöchel traten weiß unter seiner gespannten Haut hervor, als er das Lenkrad fester packte. Max würde ihn nach dem nächsten Satz hassen. "Es wäre besser, wenn über alles, was seit Freitag passiert ist, kein Wort mehr fallen würde." Julius sah nach, wie Max reagierte. Der saß still da und betrachtete sich das im Armaturenbrett eingestanzte Airbag. Max hasste ihn nicht. Konnte er nicht. Irgendetwas hatte sich nach Julius' Vorschlag in seinem Inneren geöffnet und alles, was dazu gedacht war, Empfindungen zu erkennen und an die richtigen Orte weiterzuleiten, war einfach aus ihm herausgeflossen. Ob das Resignation war oder Vernunft, war ihm nicht ganz klar. Vermutlich waren es zu 45% Vernunft, 30% Resignation – und 25% enthielten sich irgendeiner Meinung. Es war wie ein Spaziergang über einen zugefrorenen See, über dem eine dünne Schicht Schnee lag. Man lief darüber und konnte sich nie ganz sicher sein, ob das Eis einen weiter tragen würde, oder ob man mit dem nächsten Schritt durch die gefrorene Schicht brechen und in dem kalten Wasser versinken würde. Doch sobald man am sicheren Ufer angekommen war, war diese Angst mit einem Mal weg und man drehte sich zu dem See um und betrachtete sich stolz die eigenen Fußspuren, die man in dem Schnee hinterlassen hatte. Eine ganze Weile war Max so über diesen See spaziert, hatte inne gehalten, wenn das Knacken unter dem Eis zu laut wurde, etwa, weil er nicht hatte widerstehen können und an Julius' freien Tagen wieder heimlich zu dessen Wohnung gefahren war – allerdings hatte er bisher nie wieder geklingelt –, und er war weiter gegangen, sobald sich das Eis wieder beruhigt hatte. Das lange Wochenende hatte begonnen und die halbe Stadt schien seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen zu sein, um die letzten Einkäufe zu erledigen. Der Strom der Passanten riss kaum ab. Seit dem Morgen eilten sie an ihm vorüber und hatten – wenn überhaupt – kaum mehr als einen flüchtigen Blick für den Jungen übrig, der auf der Treppe eines im Winter geschlossenen Eiscafés saß. Die längeren Blicke, die ihn streiften, waren meist skeptisch, so als ob er im nächsten Moment aus seiner sitzenden Position auf die Beine springen und sie um ein paar ihrer sauer verdienten Kröten anbetteln würde. Und genau diese Blicke kannte er zur Genüge; diese Blicke aus den Augenwinkeln, die ihn förmlich auf den Boden nageln sollten und die meistens von überheblich verzogenen Mundwinkeln begleitet wurden. Geh' doch arbeiten, du faules Schwein, sagten sie. Und: Steh bloß nicht auf, Schmarotzer, von mir kriegst du nämlich nichts, außer ein paar aufs Maul. Als der nächste Passant vorüber ging, senkte Max den Kopf und betrachtete sich seine Schuhspitzen. Auch Julius war auf den Beinen, wenn auch später wie sonst und nicht in seiner obligatorischen Laufkleidung. Gerade eben hatte er mit einer Sporttasche über der Schulter das Mehrfamilienhaus verlassen und war zur nahegelegenen Straßenbahnhaltestelle gegangen. Er hätte ihn sicher nicht so angesehen, wie einige der Passanten das ganz unverhohlen taten, dachte Max und verspürte augenblicklich ein Gefühl von tausend tanzenden Ameisen in seinem Bauch. Julius käme so etwas wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn. Für ihn war nicht jeder ein Penner, der auf der Straße herumlungerte. Und auf einmal wusste es Max ganz genau, warum es Julius war. Weil er nicht wertete. Er verpasste keine Stempel. Nina und Kerstin auch nicht, aber Julius eben anders auch nicht. Julius war es wert, dass sich Max hier den Arsch auf der eiskalten Treppe abfror. Nichts konnte ihm gerade etwas anhaben, weil die Wärme, die mit jedem Gedanken an Julius, in seinem Magen entfacht wurde, jeden kalten Hauch augenblicklich dahin schmelzen ließ. Auch, wenn er ihn nicht gerne wegfahren sah, wartete Max geduldig, bis die ankommende Straßenbahn mitsamt Julius weiterfuhr. Und nach weiteren zehn Minuten erhob er sich von seinem kalten Sitzplatz vor dem Café und streckte kurz seine schmerzenden Glieder. So langsam kam er aus der Übung. Seelenruhig schlenderte er auf das Haus zu, das Julius gerade eben verlassen hatte, und klingelte. Ich-Du-Wir oder: Wie ist es so, wenn einem jemand aus der Hand frisst? ---------------------------------------------------------------------- "Julius ist nicht hier", wurde Max am oberen Treppenabsatz von einem gutgelaunten Simon begrüßt. "Du hast ihn knapp verpasst." "Ach, Mist." Max gab sich Mühe, nicht allzu gekünstelt zu klingen – und vor allem nicht so, dass sofort klar war, dass er wusste, dass Julius weg war. Er tat, als denke er kurz nach, was er nun weiter tun sollte. Auf die Lippe beißen kam immer gut. Das wirkte so herrlich betreten. "Kann ich auf ihn warten", kurze Kunstpause, "oder dauert es zu lange, bis er wieder zurück ist? Hast du noch was vor?" Er sah Simon direkt in die Augen. Da widersprach kaum jemand. "Nö, komm rein." Treffer! Max ließ sich nicht lange bitten und folgte Simon in die Wohnung. Simon, der zum Wohnzimmer marschierte, warf Max einen kurzen Blick über die Schulter zu. "Wenn es dich nicht stört, dass ich alle zehn Sekunden fluche, soll's mir recht sein, wenn du mir Gesellschaft leistest." "Was gibt es denn zu fluchen?" Simon seufzte theatralisch. "Das da", sagte er und deutete auf einen Haufen Bretter, der mitten im Wohnzimmer auf dem Boden lag. "Julius meinte, er komme erst wieder zurück, wenn das da aussieht, wie ein Schreibtisch..." "Dann wird er wohl länger wegbleiben", kommentierte Max trocken das Chaos aus Brettern, Schrauben und nicht identifizierbaren anderen Dingen. "Ja, sieht so aus", grummelte Simon und schob den Haufen auseinander, um darunter einen zerknitterten Zettel hervorzuholen. Er richtete sich auf und hielt Max den Zettel hin, auf dem in schlechtem Deutsch und mit ausreichenden, aber verschwommenen Bildern eine Bauanleitung für einen Schreihbtishc beschrieben stand. "Kannst du Heimwerker-Latein?" Heimwerker-Latein kannte Max zwar nicht, aber nachdem sie das Ausschlussverfahren angewandt hatten, kamen sie schließlich zu einem Ergebnis, das tatsächlich wie ein Schreibtisch aussah. "Über den Schreibtisch wird sich Julius aber freuen", sagte Max nicht ohne Stolz, das Biest bezwungen zu haben. Simon nickte zustimmend. "Es sind sogar noch ein paar Schrauben übrig, damit könnten wir glatt noch einen bauen." "Schmeiß' die besser weg", murmelte Max beschwörend. "Julius lässt uns sonst das Teil auseinander- und dann wieder neu zusammenbauen und zwar so lange, bis alle Schrauben dort sind, wo sie hingehören..." "Ich glaube, du hast recht, Julius kann ganz schön pingelig sein." Simon versteckte die übrigen Schrauben in dem zerknüllten Plastikhaufen und raffte alles sorgfältig zusammen, so dass keine einzige der Schrauben eine Chance hatte, zu entkommen und Gefahr lief, entdeckt zu werden. "Bin gleich wieder zurück. Wenn ich das hier liegen lasse, lässt er mich wieder die ganze kommende Woche das Bad putzen..." "Soll ich helfen?", bot Max höflich an. "Ich werde mir schon keinen Bruch an dem Zeug hier heben." Simon verschwand mit dem Plastikmüll zur Wohnungstür hinaus. "Du kannst dir ruhig was zu trinken nehmen. Von mir aus auch was zu essen." "Danke", rief Max, obwohl er wusste, dass er das nicht tun würde. Er hatte noch etwas zu tun, bevor Simon wieder zurück war. Oder schlimmer: bis Julius wieder da war, dem würde es nämlich garantiert nicht gefallen, wenn er sehen konnte, dass Max sich in seinem Zimmer umsah. Einfach so. Ohne richtigen Grund. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen stand Max vor Julius' Zimmertür. Sie war nur angelehnt, was fast schon eine Einladung war. Wenn er zufällig daran stieße und die Tür zufällig ein Stück weit aufginge, war das doch kein Grund, sauer zu werden, oder? Er würde die Tür nur schließen müssen und dabei zufällig einen oder zwei Schritte ins Zimmer machen müssen. Wie sollte er sonst an die Türklinke kommen? Die Tür schwang leise quietschend auf und Max hielt automatisch die Luft an. Hoffentlich war das nicht bis auf den Flur zu hören gewesen. Er schluckte den riesigen Kloß in seinem Hals hinunter und warf einen ersten neugierigen Blick in Julius' Zimmer. "Was hat dich eigentlich schon so früh hierher verschlagen?" Simon schloss die Tür schwungvoll. Zu früh war gut... Viel zu früh, dachte Max enttäuscht. Simon war viel zu früh zurückgekommen. Er hatte es gerade einmal geschafft, einen einzigen Blick in Julius' Zimmer zu werfen. Und dann hatte er bereits Simons Schritte im Treppenhaus gehört und hatte gerade noch so viel Zeit gehabt, die Tür wieder zu schließen und in die Küche zu gehen. "Ich wollte Freunde für Einstein zu besorgen." "Einstein?" Simon nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und bot Max auch einen an. "Braucht der noch Freunde?" Max biss in den roten Apfel, den er von Simon bekommen hatte und nickte, während er kaute. "Einstein ist mein Goldfisch. Er ist im Moment alleine." "Und ich dachte schon..." Simon tippte sich bedeutsam an die Stirn und grinste. "Habt ihr Haustiere?" Max biss noch ein Stück vom Apfel ab. Simon, der damit beschäftigt war, seinen eigenen Apfel auf Hochglanz zu polieren, ehe er ihn zu essen gedachte, überlegte kurz. "Wenn man Julius glauben kann, dann haben wir hier ein Ferkel, ein Wildschwein und einen Ochsen, aber da ich weder das eine noch das andere davon gesehen habe, gehe ich davon aus, dass Julius mich damit gemeint hat." Beinahe hätte er sich an dem Apfelstück verschluckt, so sehr hatte ihn Simons Satz in Kombination mit seinem Gesichtsausdruck zum Lachen gebracht. "Wo dreht Julius denn seine Runden? An Land?" "Nein, heute mal zu Wasser." Simon entschloss sich, den polierten Apfel doch lieber zu schälen. Er zog ein kleines Messer aus dem Messerblock und schälte eine lange Apfelschalen-Girlande von der rotwangigen Frucht ab. "Und wann ist er damit fertig?" Max sah auf die Uhr. Er war schon seit zweieinhalb Stunden hier. Leider war Simon viel zu nett, sonst wäre er schon längst wieder gegangen. Er wünschte sich, dass Julius noch etwas länger bliebe, oder dass er zumindest nicht sauer war, Max hier anzutreffen. Egal wie, am liebsten würde er noch viel länger bleiben, hier bei Julius, der zwar gerade physisch nicht anwesend war, aber athmosphärisch. Selbst ihre Unterhaltungen drehten sich irgendwann um Julius, ohne dass er das eigentliche Anfangsthema gewesen wäre. Und dennoch lief es immer auf ihn hinaus. "Kann nicht mehr lange dauern", beantwortete Simon Max' vorangegangene Frage. Die Apfelschalen-Girlande war zu einem kleinen Häufchen angewachsen, das vor Simon auf der Tischplatte thronte. Er viertelte den Apfel und schnitt sorgfältig die Kerngehäuse heraus. "Geht es dir wieder besser?" "Wieso?" Max war verwirrt. "Julius meinte was von einer Ananas-Vergiftung." Julius... Was hatte er Simon noch erzählt? Max merkte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. "Hatte nichts mit der Ananas zu tun..." "Dann ist ja gut, ich lag die ganze Nacht wach, weil ich dachte, ich hätte mir auch 'ne Vergiftung eingefangen." Simon biss ein Stück seines Apfels ab und kaute, als ihm etwas siedendheiß einfiel. "Scheiße, ich bin mit kochen an der Reihe." "Ich glaube, ich gehe dann mal lieber. Auf einen hungrigen Julius kann ich verzichten", lachte Max. "Bitte nicht", flehte Simon. "Ich brauche dich als Alibi, sonst denkt er, ich hätte einen Handwerker engagiert, um den Tisch aufzubauen, und hätte mir dann einen schönen Tag gemacht." "Hast du das nicht auch?" Ein breites Grinsen erschien auf Max' Gesicht. "Selbst wenn nicht, würde es Julius schaffen, es so hinzubiegen, dass es genau so aussieht..." Schnell aß Simon den Rest seines Apfels und klaubte dann die Schalen vom Tisch. "Was kann dir schon passieren?" Simon, der gerade im Begriff gewesen war, die Apfelschalen in den geöffneten Mülleimer fallen zu lassen, stockte und warf Max einen Blick zu, als hätte der den Verstand verloren. "Du hast ja keine Ahnung. Du hast ja keine Ahnung, du armes Schaf..." Max, dem eine Erwiderung auf der Zunge lag, hielt inne, als ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde. Die Tür schloss sich leise und dann erklang ein dumpfes Geräusch, als fiele etwas Schweres zu Boden. Julius' Tasche. "Und los geht’s." Simon verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und sah gebannt zur Küchentür. Ehe Max nachhaken konnte, was denn nun losgehen sollte, stand Julius auch schon in der Küche. Das Hallo, zu dem er gerade angesetzt hatte, blieb ihm im Halse stecken, als er Max sah, der den Blick auf seine in seinem Schoß gefalteten Hände senkte. "Was soll das?" "Ja, schon gut, ich hab's vergessen", entschuldigte sich Simon lautstark und mit flehend erhobenen Armen. "Kannst du mir dieses eine Mal noch verzeihen?" "Was?" Julius sah entgeistert zu Simon hinüber, der tat, als raufe er sich die Haare. "Dich meinte ich nicht, du Spinner." Verblüfft ließ Simon seine Hände sinken. "Oh, Okay – Glück gehabt, was?" Er sah grinsend zu Max hinüber, der geknickt dasaß und weiterhin Julius' Blicken auswich. "Was machst du hier?" Julius' Stimme klang eigentlich nicht ganz so wütend, wie er befürchtet hatte. Er wirkte eher, als stünde er einem Waldbrand gegenüber, den er mit einem einzigen Glas Wasser löschen sollte. "Freunde für Einstein kaufen", antwortete Simon anstelle des beharrlich schweigenden Max. "Wer ist Einstein?" Simon verdrehte die Augen. "Ein Goldfisch", belehrte er Julius. Dass Julius aber auch so begriffsstutzig sein musste. "Welcher Goldfisch?" Julius wandte seine Blicke, die er beharrlich auf Max' geheftet hatte, von diesem ab und hin zu Simon. "Jetzt erzähl mir nicht, du hast dir schon wieder irgend so ein Vieh gekauft? Wir wissen ja noch nicht einmal, was aus dem Hamster wurde..." "Einstein gehört mir", meldete sich Max das erste Mal seit Julius' Erscheinen zu Wort. Auf Julius' Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. "Du hast einen Goldfisch? Das wusste ich ja gar nicht." "Woher auch? Du warst ja noch nie in meinem Zimmer", konterte Max und freute sich, wie einfach das plötzlich wieder ging. Allmählich schwand der erste Schreck über Julius' Reaktion darauf, Max in seiner Küche vorgefunden zu haben. "Das war bisher auch noch nicht nötig", murmelte Julius zerknirscht. "Liegt die Betonung auf bisher und noch?" Langsam fand Max wieder zu seiner alten Form zurück. Er schaffte es sogar, den sichtlich schockierten Julius anzusehen und ihn herausfordernd anzugrinsen. "Bitte, Max, du kannst Julius doch nicht so erschrecken", tadelte Simon Max. "Gib ihm noch ein halbes Jahr, dann schafft er es sicher bis vor deine Zimmertür." "Simon!" Julius Wangen überzog ein leichter Rotschimmer. "Und wo sind Einsteins Freunde nun?" "In der Tierhandlung", erwiderte Simon ungefragt, weil Max wieder nachdenklich schwieg. "Ja, und dort werde ich sie jetzt wohl besser abholen." Max stand auf. Er nahm seine Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte, und hob verabschiedend eine Hand. "Bis dann", murmelte er und verließ die Küche. Julius sah ihm aus zusammengekniffenen Augen nach. Wenig später hörten sie die sich öffnende und gleich darauf wieder schließende Wohnungstür. "Bist du bescheuert?", fuhr Julius Simon an, als er sicher war, dass Max bereits zur Tür hinaus war. Simon ließ sich davon nicht beeindrucken. "Warum? Weil ich deine Freunde besser kenne, als du selbst?" "Er ist kein Freund von mir!" Julius hielt kurz inne. Simon sah ihn gespannt an. Dass er die Sache nicht ernst nahm und fand, dass Julius übertreibe, war ihm förmlich an den Augen abzulesen, die Julius von unten herauf im Blick hatten. "Max ist aus der Wohngruppe, in der ich arbeite." Simons belustigter Gesichtsausdruck machte bei dieser unerwarteten Offenbarung einem bestürzten Platz, als er zu verstehen begann. "Heilige-" "Danke für dein Verständnis", unterbrach Julius Simon und verließ die Küche. Mit einem scheinbar mitleidigen Seufzen glitt die Haupttür hinter Max ins Schloss, der mit einem ähnlichen Seufzen an der Fassade des Hauses hinauf sah. Experiment Lerne Julius besser kennen fehlgeschlagen, dachte er geknickt. Ebenso das eigentliche Vorhaben, herauszubekommen, ob das mit der WG stimmte. Er wusste immer noch nicht, wie Julius' normaler Alltag aussah. Julius ohne Abendbrotszene mit Max und ohne Pizza-Szene mit Simon. Einfach nur Julius. Alleine. Was tat er, wenn er Freizeit hatte? Nicht das Herumrennen oder Schwimmen. Was tat er als erstes, wenn er heimkam, egal wie nebensächlich es auch war? Schlief er auf dem Bauch oder lieber auf der Seite? Schlief er überhaupt alleine? Auf keine einzige dieser Fragen hatte Max eine Antwort bekommen. Er hatte sich viel zu sehr von Simon ablenken lassen, statt dem ersten Impuls zu folgen und sofort nach seinem halb gescheiterten Versuch, sich in Julius' Zimmer umzusehen, zu gehen, bevor Julius wieder zurückkam. Einen Moment lang dachte Max daran, sich auf die Stufen des Cafés zu setzen, entschied sich dann aber dagegen und machte sich stattdessen auf den Weg in die Altstadt. Auch wenn das mit den Fischen keine Ausrede war, hätte Julius, sollte er die Fische nicht besorgen, nach seiner Rückkehr Grund zur Annahme, dass Max ein leichtes Problem mit ihm hatte, auch wenn er wohl nicht wirklich eine Ahnung davon haben konnte, wie groß das Problem mittlerweile tatsächlich für Max geworden war – und damit hätte er sein Ziel um ungefähr die gleiche Wegstrecke, die der Abstand zwischen Erde und Jupiter betrug, verfehlt. Möglich, dass er sich mit dieser kopflosen Aktion ohnehin schon von ganz alleine aus dem Julius-Sonnensystem befördert hatte, wie ein aus seiner Bahn geratener Asteroid. Julius' Reaktion hatte nämlich so gewirkt; er hatte ihn regelrecht rausgeworfen. In diesem Fall, war es sowieso zu spät und Max konnte sich weitere Bemühungen sparen, herauszufinden, was Julius eigentlich dachte; über ihn hauptsächlich. Vermutlich würde er das gar nicht mehr wissen wollen... Eine hektisch läutende Klingel über der Ladentür begleitete Max, als er die Tierhandlung betrat. "Kannst du meine Sachen mitwaschen?" "Schmeiß sie zu meinen Klamotten." Simon platzierte die Ordner, die ihr bisheriges Dasein auf dem Fußboden des Wohnzimmers gefristet hatten, auf dem neuen Schreibtisch. Er wartete, ob etwas wackelte, doch der Tisch schien trotz einiger fehlender Schrauben fest zu stehen. "Danke." "Bügeln kannst du deinen Kram aber selbst", rief Simon Julius zu, der in seinem Zimmer dabei war, seine leere Tasche mit frischer Kleidung zu befüllen. Wagemutig stellte Simon noch drei der gut gefüllten Ordner zu den anderen drei. "Warum wäschst du dein Zeug eigentlich nicht selbst? Keine Zeit?" "Genau das." Mit einem Ruck zog Julius den Reißverschluss seiner gepackten Reisetasche zu. "Kann ich das Auto haben?" "Kommt drauf an." Simon betrachtete sich den Schreibtisch aus zwei Schritten Abstand. "Auf was kommt's an?" "Brauchst du es als Fluchtauto?" "Was? Warum sollte ich? Du kommst auf Ideen..." Julius, der seine Tasche im Flur abgestellt hatte, stand nun neben Simon und beäugte sich ebenfalls den Schreibtisch. "Ist der schief?" "Blödsinn!" Simon machte eine Abwehrende Handbewegung. "Das liegt am Licht – zu viele harte Schatten oder so..." Er sah zu Julius hin, ob der ihm seine Begründung abkaufte. "Du hast auch einen Schatten, Simon." Eine skeptische Falte bildete sich zwischen Julius' Augenbrauen. Er öffnete den Mund, um Simon darüber aufzuklären, dass der Schreibtisch sehr wohl schief war und zwar genau an der Stelle, an der die ganzen Ordner standen, doch ehe er auch nur ein weiteres Wort hervorbrachte, hatte ihn Simon, der Julius' skeptischen Blicken gefolgt war, bereits unterbrochen. "Du kannst das Auto haben, so lange du willst." Flink schob Simon eine Hälfte der Ordner zur anderen Seite hinüber, um das Gleichgewicht auf dem Möbelstück wieder herzustellen. Dann kramte er in seiner Hosentasche und zog die Autoschlüssel daraus hervor. "Du musst aber noch tanken." "Ja, war klar." Julius fing die Schlüssel auf, die ihm Simon zuwarf. "Man könnte meinen, du wartest mit dem Tanken immer so lange, bis ich das Auto mal brauche. Was ist, wenn ich es wirklich mal als Fluchtauto bräuchte? Tut mir leid, Julius, aber vor dem Bankraub müsstest du noch schnell tanken..." Simon schnaubte empört. "Da irrst du dich aber, mein Lieber." Julius wollte dem noch etwas hinzufügen, ließ es allerdings sein. Er ließ Simon mit seinem Schreibtisch alleine und sammelte auf dem Weg zu Wohnungstür seine Tasche ein. "Ruf mich an, wenn du das Auto früher brauchst." "So verrückt müsste ich sein", murmelte Simon vor sich hin. Prüfend wackelte er an einer Ecke des Schreibtischs. Alles stabil. Was Julius nur immer hatte... "Das sind Goldfische?" Max sah auf, direkt in ein Gesicht, das auf den ersten Blick nur aus verschwommenen Konturen bestand, und erschrak, als er die Person erkannte, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Aquariums stand: Julius. "Die sehen gar nicht aus wie Goldfische." Sachte tippte Julius mit einer Fingerspitze gegen das Glas des Aquariums, in dem sich etwa ein Dutzend Fische tummelten, die vor der Bewegung an der Scheibe zurückwichen. "Sollten die nicht goldener sein, statt Weiß und Schwarz?" "Es gibt verschiedene Varianten", meinte Max vorsichtig. Er musterte Julius misstrauisch, der tat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, hier mit Max Fische auszusuchen – nach allem, was heute schon vorgefallen war. "Warum bist du hier?" Julius zuckte leicht mit den Schultern. "Ich wollte nicht dabei sein, wenn Simons schiefer Tisch in sich zusammenfällt. Das ist alles." "Da war meine Ausrede aber besser." "Ach, es war also doch eine Ausrede, dass du zufällig bei uns in der Nähe warst? Zum zweiten Mal..." Julius lenkte seine Aufmerksamkeit von den Fischen hin zu Max. "Du hast es echt geschafft, mir das mieseste Gewissen seit Menschengedenken einzureden, obwohl ich mir hundertprozentig keiner Schuld bewusst bin." Mit einem verlegenen Ich sag mal schnell Bescheid wandte sich Max von Julius ab und machte sich eilig auf die Suche nach dem Verkäufer. Seine Wangen brannten und als er einen Blick über seine Schulter warf, sah er, dass Julius ihn nicht aus den Augen ließ, bis er aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Die ganze Zeit über, während der Verkäufer die ausgesuchten Fische eingefangen und transportfähig hergerichtet hatte, bis hin zu der Minute, als sie endlich in Simons Auto saßen, war Max Julius ausgewichen. Nicht, dass er sich nicht gefreut hätte, Julius so unverhofft gegenüber zu stehen, doch so plötzlich hatte er auch wieder nicht damit gerechnet und auf einmal saßen sie mit nur noch vierzig Zentimetern Abstand zwischen ihren Schultern da. Beim Einsteigen fiel Max' erster Blick auf die Rückbank, auf der Julius' gepackte Reisetasche lag, die ungefähr die gleiche Größe wie eine gewöhnliche Sporttasche hatte. Julius gab Max keine Chance, irgendetwas zu fragen. "Bevor du denkst, ich wandere aus: nein, tue ich nicht." "Das sehe ich selbst", antwortete Max unverblümt. "Heißt das, du fährst heute schon mit nach Hause – mit zur Gruppe, meine ich..." "Ja", bestätigte Julius knapp. "Wo ist dein Koffer? Und der Rucksack?" "Ich dachte, ich reise in Zukunft mit leichterem Gepäck, damit es nicht immer so dramatisch wirkt, wenn ich mich für meine freien Tage von euch verabschiede." Eine Weile hing Max seinen eigenen Gedanken hinterher. Was war das jetzt für eine Masche? Julius' Benehmen wirkte wie sein eigenes. Irgendwie planlos. Oder gehörte es etwa zum Plan, es genau so aussehen zu lassen? "Du bist ziemlich oft in der Stadt, kann das sein?" Aus den Augenwinkeln warf Max einen Blick zu Julius hinüber. Er nickte, als Julius ihn ansah. "Ich habe dort einen Job, weil ich Geld für den Führerschein brauche." Prompt hellte sich Julius' Gesicht auf. "Und wie weit bist du?" "Ich habe gerade erst damit angefangen." Mit jeder Kurve, jedem Abbremsen und jeder Beschleunigung des Autos schwappte das Wasser in dem Transportbeutel sachte darin hin und her. Die Fische konnten es sicher kaum abwarten, endlich zu Hause zu sein – genau wie Max. Jetzt, wo Julius dabei war, war ja auch alles in Ordnung. Also hatte es sich letztendlich doch ausgezahlt, etwas zu riskieren. Guter Anfang, dachte Max zufrieden und klopfte sich innerlich selbst gratulierend auf die Schulter. Julius, der vollauf mit dem Samstagabend-Verkehr beschäftigt war, entging das triumphierende Lächeln auf dem Gesicht seines Beifahrers. "Durftest du schon fahren?" "So ähnlich – fahren konnte man das nicht gerade nennen..." "Ist das nicht bei jedem so?" "Weiß nicht." Max bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst nebensächlichen Unterton zu verleihen. "Wie war es denn bei dir? Vor – vor wie vielen Jahren war das gleich nochmal?" Julius lachte. "Willst du wissen, wie alt ich bin? Wenn ja, war das ein ziemlich lahmer Versuch." Natürlich wollte er endlich wissen, wie alt Julius war! Vom Aussehen her ließ er sich so schwer einschätzen. Er konnte nur wenig älter als Max sein – was sich allerdings durch sein abgeschlossenes Studium, so fern er kein hochbegabtes Genie war, schon selbst disqualifizierte –, genauso gut konnte er aber auch in Ninas Alter sein, das vor zwei Jahren in die, wie Nina es mit düsterer Stimme genannt hatte, empfindliche Zone übergegangen war. Also irgendetwas zwischen 18 und 800. "Wie lange ist deine Führerscheinprüfung denn nun her?" Julius lächelte nichtssagend. "Wenn ich sage, es war vor sieben Jahren, woher willst du wissen, wie alt ich damals war?" Das stimmte, aber Max war trotzdem nicht bereit, so schnell klein beizugeben. "Du musst ja ganz schön alt sein, wenn du so ein Geheimnis daraus machst." "Und das war Lahmer Versuch Nummer Zwei." "Ich könnte Nina fragen." "Nummer Drei." Max setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. "Ich sage ihr einfach, dass wir dich zum Geburtstag überraschen wollen und wissen müssten, wie viele Kerzen auf den Kuchen gehören." "Der war gut." Julius konnte sich das erneute Grinsen nicht länger verkneifen. "Trotzdem nur Nummer Vier. Nina wird eher denken, dass das irgendein Streich werden soll. Gibst du auf?" "Auf keinen Fall. Es gibt ja noch die Nina ist nicht da-Möglichkeit, um herauszufinden, was in deiner Personalakte steht." Mit dem letzten Satz erreichte Max genau das, was er sich erhofft hatte. Julius schwieg perplex und ging, wenn man nach dem angestrengten Gesichtsausdruck schließen konnte, in Gedanken durch, ob und wie Max das wohl anstellen könnte. Beim Grillen im Garten hatte er diese Methode das erste Mal erwähnt, aber da ging es nur um ein Feuerzeug in einer abgesperrten Schreibtischschublade. Wie sah das bei Personalakten aus? "Na, gibst du auf?" Julius stieß die Luft durch die Nase aus. "Da musst du dir schon mehr Mühe geben." "Werde ich, keine Sorge." Dessen war sich Julius auch sicher, aber bisher schien seine Taktik, sich nicht mehr von Max – sichtbar! – aus der Ruhe bringen zu lassen, voll auf. Es hielt bis zu Max' Zimmertür. Immerhin. "Was ist los? Möchtest du unbedingt Simons These bestätigen?" Max genoss Julius' Unentschlossenheit, ob es wirklich gut war, ihm in das Zimmer zu folgen. "Denkst du, ich falle über dich her, sobald du drin bis?" "Gott, nein", stieß Julius atemlos aus. "Na also, dann komm rein." Max wartete, bis Julius an ihm vorüber gegangen war, ehe er ihm folgte. Die Zimmertür ließ er gnädigerweise offen. "Selbst wenn ich vorhätte, über dich herzufallen, wärst du der Erste, der das merkt, immerhin analysierst du ja jeden meiner Schritte und jedes Wort, das ich sage." "Das tue ich nicht!", stritt Julius empört ab. Tat er doch, gestand er sich still ein. "Kannst du das mal festhalten?" Ohne auf die Antwort zu warten, drückte Max Julius den Transportbeutel mit den Fischen in die Hand. Er ging zu einem Regal, das natürlich an der am weitesten von der Tür entfernten Wand stand, und öffnete den Deckel des dort stehenden Aquariums. Ohne allzu deutliches Interesse durchblicken zu lassen, sah sich Julius in dem unbekannten Zimmer um. Es war das wohl am sorgfältigsten aufgeräumte Jugendzimmer, das er je gesehen hatte. Jetzt wusste er auch, warum Max nicht zu den Kandidaten gehörte, deren Zimmer zweimal am Tag kontrolliert werden mussten und warum er nichts von dem Goldfisch geahnt hatte. "Julius?", rief Max ihm zu. "Könntest du bitte den Beutel vorsichtig öffnen und mir einen der Fische zuwerfen, damit ich ihn ins Wasser setzen kann." "Zuwerfen?" Julius sah zwischen dem Beutel voller Fische in seinen Händen und Max hin und her. "Ob das gut für die Fische ist?" "Das war ein Witz." Max schüttelte den Kopf und seufzte. "Aber wenn du nicht endlich herkommst, wirst du sie mir wirklich zuwerfen müssen." Das flaue Gefühl in Julius' Bauch verstärkte sich, als er sich endlich in Bewegung setzte und zu Max ging, der eine Plastikschüssel aus dem Schrank nahm und sie auf den freien Platz neben das Aquarium stellte. "Setz sie vorsichtig hier rein." Max zeigte auf die Schüssel. Julius öffnete den Beutel und goss den Inhalt vorsichtig in die Plastikschüssel. "Und jetzt?" "Jetzt müssen wir warten, alle paar Minuten Aquariumwasser dazuschütten und wieder warten." Interessiert sah Julius zu, wie Max einen Messbecher mit Wasser aus dem Aquarium füllte und einen Teil davon zu den Fischen in die Schüssel goss. Ein orangefarbener Fleck im Aquarium neben ihm ließ Julius aufschauen. "Ist das Einstein?" Er deutete auf den Fisch, der aus einer Höhle guckte, die wie ein moosbewachsener Totenschädel aussah. "Ja, das ist er. Hier." Max gab Julius einen Futterstick in die Hand. "Wenn du ihm das ins Wasser hältst, kommt er zu dir." "Okay." Julius lachte ungläubig. Dressierte Fische? "Probier's aus." Julius tauchte Daumen und Zeigefinger, die den Stick hielten, ins Wasser und wartete ab. Nach etwa fünf Sekunden kam Einstein aus seiner Höhle geschossen und hielt geradewegs auf Julius' Finger zu. "Der kommt ja wirklich", murmelte Julius verblüfft, während Einstein um das Futter schwamm und nach der besten Stelle suchte, um seine Mahlzeit zu beginnen. Amüsiert sah Max Julius zu, dem es offensichtlich Spaß machte, Einstein mit dem Futter zu necken. "Und wie ist es so, wenn einem jemand aus der Hand frisst?", witzelte Kurzschluss-Max. Einstein zuckte erschrocken zur Seite, als ihm der Futterstick auf den Kopf fiel. Seine Reaktionen kehrten allerdings schneller zurück, als bei Julius, der vorsichtig die nun leere Hand aus dem Wasser zog, sie langsam an seiner Hose abtrocknete und dabei Max keine Sekunde aus den Augen ließ. Währenddessen hatte sich Einstein blitzschnell um seine eigene Achse gedreht und sich den Futterstick geschnappt. Wie war das gleich nochmal mit Ruhe bewahren gewesen? Julius konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern. Sein Hals war wie ausgetrocknet und er versuchte, sich möglichst vorsichtig zu räuspern. Max lachte leise vor sich hin und goss weiter Wasser in die Schüssel. "Möchtest du sie einsetzen?" Max hielt Julius einen Kescher hin. "Mach du das mal schön selbst", wehrte Julius das Angebot ab. Kurz darauf schwammen alle Fische im Aquarium. "Bekommen die auch Namen?", wollte Julius wissen. Max zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf einen Fisch mit orangefarbenen, weißen und schwarzen Flecken, der in ihrer Nähe herumschwamm. "Der heißt Julius." Julius schnappte unwillkürlich nach Luft. "Das finde ich nicht so... lustig." "Schon gut", besänftigte ihn Max. Er nahm die Futterdose und ließ ein paar Flocken davon auf die Wasseroberfläche rieseln. "Dann heißt er eben Max." Julius fand das noch immer nicht sonderlich beruhigend, dennoch ließ er die neuere Namenswahl unkommentiert. Ein zweiter Fisch näherte sich dem frischgetauften Max-Fisch. Als der sich umdrehte, um sich den Neuankömmling zu betrachten, flüchtete sich der Namenlose zwischen die Wasserpflanzen, von wo aus er scheinbar ängstlich jeden der anderen Fische im Auge behielt. "Das ist Julius", sagte Max trocken. Eine Weile betrachtete sich Julius stumm seinen Namensvetter, der nur sehr langsam auftaute und sich zu den anderen Fischen gesellte, und dann hatte auch Julius den ersten Schock über die Wahl des Namens verwunden. "Max?" Mit zusammengepressten Lippen ignorierte Max Julius. Er kannte diesen Tonfall. Neutral. Verständnisvoll. Köpfchentätschelnd. Er wollte nicht das Köpfchen getätschelt bekommen, verdammt! Er wollte ernstgenommen werden und nicht so als leide er an einer schweren Form mangelnder Intelligenz. Noch einmal startete Julius einen zögerlichen Versuch, dieses Mal mit festerer Stimme. "Max, wir sollten-" "Wenn das eine Lüge wird, dann will ich sie nicht hören", unterbrach Max ungewohnt schroff Julius' begonnenen Satz. Diese elf Worte saßen und Julius musste sich erst kurz sammeln. "Wie kommst du darauf, dass ich dich belügen wollte?" "Ich meinte auch nicht mich." Max schraubte den Deckel der Futterdose zu und stellte sie zu dem restlichen Aquariumzubehör. Er sah Julius abwartend an, der betreten schwieg. Wortlos nahm Max die Plastikschüssel, die den Fischen als Übergangsheim gedient hatte, und verließ damit das Zimmer. Julius, der alleine vor dem Aquarium zurückblieb, betrachtete sich die Fische, die sich alle langsam miteinander anzufreunden begannen – zumindest sah es so aus, aber woher sollte er schon wissen, was Fische dachten und welche sozialen Gefüge sie bildeten? Es war ja nicht wie bei Max, von dem er zwar wusste, was er dachte, aber dennoch keine Möglichkeit sah, das Thema endlich anzupacken, ohne dass es in einer Katastrophe endete. Einfach weil es sich dabei nicht um begrenzten Raum, wie den eines Aquariums handelte, sondern um eine Galaxie hinter der sich weitere, unzählige Galaxien anhäuften, die sich aber erst dann offenbarten, wenn man eine durchquert hatte. Vorher blieben sie nur schemenhafte Gebilde, die in weiter Ferne lagen und alles mögliche sein konnten. Und was tat man, wenn der Blickwinkel nicht mehr stimmte? Man trat ein paar Schritte zurück, um das Ganze zu erfassen, bis man eine optimale Distanz dazu hatte. Der erste, der damit begann, war überraschenderweise Max. Optimale Distanz oder: Du Idiot ------------------------------- Julius wartete noch eine Weile. Er sah hinüber zum Aquarium, in dem Einstein und seine neuen Kumpel ein Wettschwimmen durch die Pflanzen veranstalteten. War er wirklich dabei gewesen, sich selbst zu belügen, wie Max ihm vorgeworfen hatte? Julius sah zur offenen Zimmertür hinüber, doch Max kam nicht mehr zurück, was Julius sagte, dass das Gespräch wohl beendet war. "Oh, Hallo! Du bist schon hier?", wurde Julius von Kerstin begrüßt, die in dem Moment zur Haustür hereinkam, als Julius die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg. "Ja, ich hatte noch etwas zu erledigen und war früher damit fertig." Und weiter ging es mit den Ausreden... Hoffentlich wurde er jetzt nicht rot. "Das ist gut", Kerstin hing ihre Jacke an die Garderobe und bedeutete Julius, ihr in die Küche zu folgen. Julius schüttelte verneinend den Kopf, als ihm Kerstin einen Kaffee anbot. "Nina und die Kinder sind auch gleich zurück", setzte Kerstin ihr begonnenes Gespräch fort. Sie lehnte sich gegen den Küchenschrank und sah zu Julius, der ihr gegenüber am Küchentisch Platz genommen hatte. "Wir könnten das Teamgespräch vorverlegen, wenn du nichts dagegen hast. Es gibt da ein paar Themen, die wir dringend besprechen müssten." Julius gab sich Mühe, den Schreck, der ihm bei Kerstins Worten in den Magen gefahren war, zu unterdrücken. "Welche Themen denn?", fragte er schließlich und hoffte, dass Kerstin das Schwanken in seiner Stimme nicht bemerkte. "Weihnachten hauptsächlich", Kerstin goss Milch in ihren Kaffee und nahm einen vorsichtigen Schluck davon. "Und-" Julius wurde immer nervöser, je länger Kerstin das Gespräch hinauszuog. "Und Max", beendete Kerstin den Satz. Sie sah verwundert zu Julius, der kurz die Augen aufriss, sich dann aber wieder fing. "Okay", sagte Julius schließlich und schluckte. Ausgerechnet Max... Das Gespräch verlief nicht so, wie Julius befürchtet hatte. Zuerst ging es eigentlich nur um die Aktivitäten an Weihnachten und einen Ausflug, den man jedes Jahr mit den Kindern veranstaltete, die nicht nach Hause fuhren. Dabei kam Julius auch die Idee, dass der Ausflug die Gelegenheit war, die Strategie mit der optimalen Distanz anzupacken, nachdem er mit seiner immer mit der Ruhe-Strategie ja kläglich gescheitert war. Und er wusste auch schon, wie er das umsetzen konnte, ohne dass Max Verdacht schöpfte, dass da etwas faul ist, oder andere – Julius – sich dabei ertappt fühlen konnten, dass das stimmen könnte. Und dann kam das Thema auf Max zu sprechen und Julius sah sich wieder mit Sachen konfrontiert, die er hatte vermeiden wollen. Hätte er doch bloß nicht gefragt... Max war der erste von ihnen, der im kommenden Frühjahr aus der Gruppe ausziehen würde. Was eigentlich eine gute Nachricht war – zum einen für Max, weil er endlich die Selbständigkeit bekam, die er sich wünschte, und zum anderen war es für die Gruppe ein ebensolcher Erfolg, weil es bewies, dass das Konzept funktioniert hatte. Max, der an seinem Schreibtisch saß und wieder für die Führerscheinprüfung lernte, hob den Kopf, als er die Kieselsteine vor dem Haus knirschen hörte. Er sah aus dem Fenster und musste zweimal hinsehen. Julius trug seine Laufkleidung und war gerade dabei den üblichen Weg entlangzujoggen. Nicht ungewöhnlich für Julius, aber ungewöhnlich, weil es nicht seine übliche Zeit war. Julius lief morgens noch vor dem Frühstück, statt wie jetzt, abends. Irgendetwas sagte Max, dass Julius nicht alleine der Kondition wegen lief. Er grinste und wandte sich wieder seinen Prüfungsfragen zu. Schon nach hundert Metern bekam Julius ein schmerzhaftes Ziehen in die Seite. So unkonzentriert wie heute war er noch nie gelaufen. Julius verlangsamte seine Schritte, bis daraus ein Gehen geworden war. Nicht der Sinn, den das Joggen sonst für ihn gehabt hatte. Aber das Teamgespräch hatte ihm zu schaffen gemacht, wie er zugeben musste. Weniger das Weihnachtsthema, sondern etwas, was mit Max zusammenhing. Julius spazierte nun langsam Richtung Wald und dachte über den Ausgang des Teamgesprächs nach und darüber, welchen Einfluss es ab sofort auf ihr Miteinander haben würde. Julius hatte Mitleid bekommen. Mitleid war schlecht. Mitgefühl ging in Ordnung, weil es hilfreich war, aber Mitleid verwischte die Grenzen zwischen hilfreicher Objektivität und dem, was in Julius zu nagen begann und daran schuld war, dass ihm diese Objektivität langsam aber sicher aus den Händen glitt: er wusste jetzt, warum Max vor Jahren in die Gruppe gekommen war und er hatte keine Ahnung, wie er Max jetzt noch möglichst neutral gegenübertreten sollte. Das Stechen in seiner Seite hatte aufgehört und Julius beschleunigte seine Schritte wieder. Weihnachten war ganz in Ordnung gewesen, wie Max fand. In seiner Vorstellung hatte es schlimmer ausgesehen. Immerhin hatte er es sogar geschafft, Julius ein Geschenk zu geben, das dieser, anders als befürchtet, auch angenommen hatte. Und er hatte auch eines zurück bekommen, das er seitdem hütete, als wäre es das Wertvollste, was er je besessen hatte; was es auch war – für ihn. Und er kannte die Bedeutung des Geschenks, die Julius absichtlich oder unabsichtlich beim Aussuchen nach eben diesem Geschenk hatte greifen lassen. Das wirklich Schlimme kam aber erst mit der Woche nach Weihnachten, in der die drei Unglücksraben, die immer in der Gruppe blieben, mitsamt Nina, Kerstin und Julius in die Ferien fuhren und sich am Tag der Abreise herausstellte, dass Julius nicht mitkam. Und Max war offenbar der Letzte, der davon erfuhr, denn außer ihm schien es niemanden zu überraschen. "Brauchst du nicht auch Gepäck?", fragte Max Julius, der ihnen beim Einräumen der Koffer und Taschen half. "Ich fahre nicht mit", war Julius' bedächtig gewählte Antwort. Er hielt Max' forschenden Blicken nicht lange stand und griff sich kurzerhand einfach den nächsten Koffer. "Mein Magen – ich habe ihn mir wohl verdorben..." "Sag bloß..." Max wuchtete seine Reisetasche, nach der Julius gerade griff, selbst in den Kofferraum. "Und mit was? Ananas?" Julius überhörte großzügig den Spott. Er schloss den Kofferraum und drehte sich dann Max zu, der neben dem Auto stand und ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. "Schöne Ferien", sagte Julius zu Max und trat einen Schritt vom Auto weg. Ohne etwas zu erwidern und mit versteinerter Miene bestieg Max das bestellte Großraumtaxi. Nachdem alle auf ihren Plätzen saßen, alle Türen geschlossen waren und der Motor angelassen wurde, musste jemand den Verschluss für die Schleuse in Max' Innerem gefunden und zugedreht haben, die seit Julius' Vorschlag, den Kuss und das Wochenende zu vergessen, offen gestanden hatte, denn er spürte, wie sich Enttäuschung und Traurigkeit in seinem Bauch zu sammeln begannen, bis er das Gefühl hatte, gleich überzulaufen. So lange sie so hatten tun können, als wären der Freitag, der Samstag und der Sonntag ihr Geheimnis – denn über etwas kein Wort zu verlieren, war ein Geheimnis, meinte Max –, war alles in einer seltsamen Art in Ordnung gewesen, aber mit diesem Entschluss hatte Julius Max nun indirekt zu verstehen gegeben, dass er den Kuss und alles, was danach an diesem Wochenende geschehen war, bedauerte. Julius versuchte, Max' schockierte Blicke beiseite zu schieben, als das Taxi vom Hof fuhr. Er hätte es ihm früher sagen können, aber er war sich auch sicher, dass alles, was er gesagt hätte, wie eine Ausrede geklungen hätte, auch wenn es ehrlich gemeint war. So ist es besser, sprach sich Julius selbst Mut zu. Er drehte sich zum Haus um und verbannte Max' enttäuschtes Gesicht aus seiner Erinnerung, was ihm mehr als schwer fiel. Aber nur so funktionierte Optimale Distanz. Still saß Max auf seinem Platz und ließ die winterlich kahle Landschaft draußen an sich vorbeiziehen. Und während Nina und Kerstin ihre Pläne für die Fahrt durchgingen, verbrüderten sich in Max' Innerem diejenigen, die sich der Stimme enthalten hatten mit der Resignation und zusammen traten sie der Vernunft in den Hintern. Julius saß am Schreibtisch des gemeinschaftlichen Büros und heftete Papiere ab, denen er keine weitere Beachtung mehr schenkte. Er tat das ohnehin nur, um sich vom Nachdenken abzuhalten. Lange funktionierte das natürlich nicht und immer mal wieder gingen seine Blicke durch das Fenster nach draußen, wo dicke Schneeflocken wie weiße Federn zu Boden taumelten. Irgendwann waren ihm kurz nach der Abreise der Gruppe Einstein und seine neuen Freunde eingefallen und er hatte beschlossen, nach ihnen zu sehen, obwohl er sich komisch vorgekommen war, Max' Zimmer zu betreten. Er hatte es sogar geschafft Max' Zimmer zu betreten, obwohl er sich komisch vorgekommen war, es zu tun, ohne dass der davon wusste. Der Filter summte leise vor sich hin und vermischte sich mit dem Plätschern des Wassers, das ständig durchlief. Das Aquariumlicht war ausgeschaltet. Zeitschaltuhr, dachte Julius. Er schaltete die Lampe auf Max' Schreibtisch ein und guckte sich das Aquarium genauer an. Die Fische schwammen träge in dem Glaskasten hin und her. An der Seite kroch eine Schnecke behäbig die Scheibe hinauf und aus dem rechten Auge eines Plastiktotenkopfes linste ein neugieriger Goldfische hervor. Es war der Orange-Rote. Das musste Einstein sein, wenn er das noch richtig in Erinnerung hatte, dachte sich Julius. Mittlerweile wusste er auch, warum Max den Fisch ausgerechnet Einstein getauft hatte: wegen des Goldfisch-Rätsels, bei dem es darum ging, herauszufinden, zu welcher Person und zu welchem Haus der Goldfisch gehörte. Weil Max wohl auch wie der Goldfisch war, der sich fragte, wo er wohl hingehörte. Der Max-Fisch kam angeschwommen und in seinem Schlepptau war der Julius-Fisch, der wohl gar nicht mehr so schüchtern war wie an dem Tag, als sie hier eingezogen waren. Julius schüttelte leicht den Kopf. "Kannst du nicht alleine schwimmen?", schimpft er mit dem Julius-Fisch, der davon unbeeindruckt weiterhin seelenruhig dem Max-Fisch folgte. Selbst wenn das mit den Namen nur ein Witz gewesen war – dessen er sich gerade gar nicht sicher war – bekam er sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. Triumphierend schwammen die beiden vor Julius' Nase entlang. Julius seufzte. Statt den Futterflocken oder den Sticks klemmte an der rückseitigen Scheibe ein einige Zentimeter großer Block aus gepresstem Fischfutter, an dem sich die Fische bedienen konnten, wann sie wollten. Hoffentlich hatte Max Frau Wagner, die in zwei Tagen hier auftauchen wollte, Bescheid gesagt, das Aquarium sauber zu halten. Eine Woche ohne Pflege hielten die Fische sicher nicht aus, und damit, dass Julius hierblieb, konnte er nicht gerechnet haben. Und nach dem schockierten Gesicht zu urteilen, das Max gemacht hatte, als ihm Julius gestanden hatte, nicht mitzufahren, hatte er definitiv damit gerechnet, dass Julius mitkam. Vermutlich hatte sich Max auf die Zeit gefreut, die sie außerhalb der Gruppe gehabt hätten. Nur Julius hatte sich nicht darauf gefreut. Julius schüttelte den Kopf, als könnte er den Gedanken an Max so loswerden. Er ignorierte den Max-Fisch, der nahe an der Scheibe schwamm und nach draußen zu Julius glotzte. Demonstrativ wandte sich Julius ab und entdeckte einige selbstklebende Zettel, die an der von den Regalwänden halb verdeckten Seite des Aquariums klebten. Vermutlich Anweisungen, die etwas mit den Fischen zu tun hatten, dachte Julius. Er zog einen der Zettel ab und las stumm, was darauf stand Es war der Name eines der Fische einschließlich seines Ankunfts-Datums, mitsamt einem kleinen hingekritzelten Bild. Zu jedem Fisch gab es einen solchen Zettel, wie Julius gleich darauf feststellte, nachdem er die anderen Zettel abgezogen und gelesen hatte. Bis auf den gefleckten Max- und den gestreiften Julius-Fisch, die einen gemeinsamen Zettel und ein gemeinsames Bild teilten, auf dem sie wie ihre echten Vorbilder nebeneinander her schwammen - und sich außerdem auch noch an den Flossen hielten... Julius' erster erschrockener Reflex war, den Zettel 'verschwinden' zu lassen, dann aber musste er über die Bildchen lachen. Er hing den Zettel zurück an seinen alten Platz und erhob sich. Julius wollte schon die Schreibtischlampe ausschalten, als er sich doch noch einmal umsah. Er drehte ein Buch, das mitten auf dem Schreibtisch lag um und las, was auf dem Buchrücken stand. Dann fielen seine Blicke auf das Weihnachtsgeschenk, das er Max am Heiligabend gegeben hatte. Er würde Max' Blicke wohl nie mehr vergessen, als der realisiert hatte, dass Julius ihm tatsächlich etwas schenkte. Schmunzelnd blätterte Julius durch den Kalender mit den schwarzen Seiten, bei dem man die kreisförmigen Tage herausdrücken musste. Darunter kam dann auf buntem Papier der jeweilige Tag zum Vorschein. Neugierig blätterte Julius weiter. Die Januar-Seite war schwarz, obwohl schon drei Tage vergangen waren. Er blätterte weiter bis zu dem Monat vor, von dem er hoffte, dass Max den Wink mit dem Kalender verstanden hatte. Hatte er auch, wie Julius sah, als er den April aufklappte. Max hatte aus den ganzen Tagen des Monats schon einige herausgedrückt, so dass Julius nun ein Smiley entgegen grinste. Zwei Augen und ein mit nach oben gebogenem Mund. Julius musste unwillkürlich lachen. Er hatte zwar für alle Kinder und auch für Nina und Kerstin etwas gehabt, doch das Geschenk für Max war, ohne dass er sich dessen damals bewusst gewesen wäre, anders. Es war egoistisch. Er hatte nicht einfach im Geschäft gestanden und schnell irgendeinen Schnickschnack aus einem der überladenen Regale genommen, sondern hatte eine Ewigkeit vor dem Regal gestanden und überlegt, ob das, was ihm als erstes in den Sinn gekommen war, auch angemessen war, ob sich Max darüber freute, wenn er es bekam. Und es war ihm wichtig gewesen, dass Max verstand, was er da bekommen hatte. Was Max wohl hatte, wenn er sich das lachende Gesicht ansah. "Du Idiot", murmelte Julius. Er war wirklich ein Idiot, ohne es zu merken. Er tat genau das, was Max ihm vorgeworfen und was er selbst dann abgestritten hatte. Er analysierte alles, was Max tat oder sagte. Egal, wie klein die Mücke auch war, Julius suchte beharrlich den Elefanten dahinter. Eigentlich hatte er mit einer größeren Erleichterung gerechnet, sobald Max weg war, doch das Gegenteil war der Fall. Ernüchtert schaltete Julius das Licht aus und ging zurück ins Büro. Den gelben Klebezettel in seiner Hand, auf dem zwei Fische flossenhaltend schwammen, und den er in einem von seinem Verstand unbeobachteten Moment von der Aquariumscheibe genommen hatte, steckte er sorgsam zwischen die Blätter seines Terminplaners. Als es endlich dunkel wurde, hörte er auf, die Unterlagen mit dem Locher, dem Tacker und dem Klebstreifen zu malträtieren. Aber eigentlich versuchte er mit jedem Hieb auf den Tacker nur die Gedanken an Max zu vertreiben, an dessen Familie und die Lebensumstände, wegen denen man Max schließlich nach langem Hin und Her dort rausgeholt hatte. Jetzt erklärte sich so einiges. Vor allem, warum Max so schrecklich penibel war, was sein Zimmer anging. Nichts, wirklich gar nichts hatte dort am falschen Platz gelegen. Die Vorhänge waren glattgezogen, der Boden sauber und seine sparsamen Habseligkeiten waren ordentlich weggeräumt. Nicht einmal Julius schaffte es, so pedantisch zu sein, obwohl er laut Simon schon einen Tick hatte. Doch selbst bei ihm stand irgendwann mal etwas herum und seien es auch nur ein paar getragene Kleider. Aber er hatte ja auch nicht mit Mutter und altem, gebrechlichem Opa jahrelang in einem Haus leben müssen, in dem es nur einen Fußbreiten Weg durch meterhoch aufgetürmten Müll gegeben hatte. In seinem Zimmer hatten keine Ratten ihre Nester gehabt und er hatte nie Angst haben müssen, dass im Schlaf unzählige Insekten über ihn hinwegkrabbeln würden. Und er hatte nie lieber tagelang draußen auf der Straße verbracht, statt zuhause, wo ihn Dreck und Gestank erwarteten. Das leere Gefühl kehrte in Julius' Magen zurück, als er an das Teamgespräch dachte, bei dem er sich arglos nach Max' Vorgeschichte erkundigt hatte und ihm Nina alles erklärt hatte. Und eigentlich war es nicht das, was er wollte. Max war unterwegs und hatte vielleicht sogar Spaß. 'Lügner', dachte Julius beschämt. Julius packte die Papiere weg, löschte das Licht im Büro und ging hinüber in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Julius platzierte sein Brot auf einem Teller und wartete, bis der Wasserkocher fertig mit dem Erhitzen seines Teewassers war. Der Teebeutel sank, eine dunkelrote Spur hinter sich herziehend, im heißen Wasser auf den Grund der Tasse. Ein Blick auf die Uhr sagte Julius, dass die Truppe mittlerweile fast an ihrem Ziel sein musste. Nina wollte sich melden, um Bescheid zu geben, dass sie angekommen waren und sich gleichzeitig nach seinem Magen erkundigen – dem es übrigens sehr gut ging, dachte Julius beschämt. Ein paar hell erleuchteter Scheinwerfer kündigten ein Auto an, das in die Einfahrt des Bauernhofes einbog und vor der Haustür zum Stehen kam. Julius, der niemanden erwartete, ging zur Tür und öffnete sie. Der Motor des Taxis erstarb und im gleichen Moment öffnete sich die Beifahrertür. Heraus stieg Nina, die Julius mit einem zögerlichem Lächeln begrüßte. "Hallo, tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber wir hatten auf halber Strecke einen Notfall." "Einen Notfall?" Alarmiert horchte Julius auf. "Ja." Nina nickte zum Heck des Taxis, wo sich eine der hinteren Türen öffnete und Max ausstieg. "Ihm wurde während der Fahrt schlecht und wir mussten anhalten." Julius verschränkte die Arme vor seiner Brust. "So", murmelte er leise vor sich hin und sah Max dabei zu, wie er zum Kofferraum ging und seine Tasche herausholte. Neben Julius stellte Max seine Tasche ab. "Ich muss mich wohl bei dir angesteckt haben", log Max scheinheilig und ohne dabei rot zu werden. Julius schüttelte kaum merklich mit seinem Kopf. Er konnte Nina nicht einmal sagen, was wirklich mit Max los war, ohne sich dabei nicht selbst zu verraten. Da hatte er sich mit seiner eigenen Lüge ja ganz schön in die Nesseln gesetzt. "Ähm, ich hätte da eine Frage an dich." Julius löste seine Blicke langsam von Max, der sich das triumphierende Grinsen verbeißen musste. Er wandte sich Nina zu, die nervös an ihrem Batikschal zupfte. "Könnte ich ihn hier bei dir lassen?" "Natürlich", erwiderte Julius, der zu Max hin blickte, der, von Nina ungesehen, nun endlich die Kontrolle über seine Mundwinkel verlor und breit grinste. Nina schien noch nicht überzeugt zu sein. "Wirklich? Aber nur, wenn du das schaffst. Wenn du etwas anderes vorhattest, wenn du zu dir nach Hause wolltest, sag es mir bitte, dann werden wir schon eine andere Lösung finden." "Nein, nein", Julius hob abwehrend eine Hand. "Ich muss ja selbst noch meinen Magen auskurieren." Sein Gesicht kribbelte, als ihm das Blut in die Wangen zu steigen begann. Eine Lüge zog die nächste gleich hinter sich her, wie man so schön sagte. "Außerdem soll es heute Nacht noch schneien." Das war zumindest keine Lüge. "Vielen, vielen Dank, Julius!" Nina wollte Julius umarmen, besann sich aber, da sie sich nicht auch noch anstecken wollte, und lächelte ihn stattdessen nur dankbar an. Sie wandte sich Max zu und sah ihn eindringlich an. "Max, benimm dich bitte, ja, und wenn es euch bis übermorgen nicht besser geht, dann fahrt ihr zum Arzt, verstanden?" "Machen wir", antwortete Max pflichtbewusst für sich und Julius, der ihn mit säuerlicher Miene beobachtete. Endlich war Nina überzeugt, alles ihr Mögliche getan zu haben. Sie winkte den beiden 'Patienten' zu und öffnete die Beifahrertür des Taxis. "Zum Bahnhof, bitte", wies sie den Fahrer an und schloss die Tür. Der Schnee knirschte unter den Rädern des Autos, als es vorsichtig wendete und im Anschluss langsam vom Hof fuhr. "Das war hinterhältig", brummelte Julius leise. "Danke, gleichfalls", erwiderte Max gutgelaunt. Einsteins Goldfisch oder: Wie fandest du den Kuss? -------------------------------------------------- Julius brauchte bis nach dem Abendbrot, bis er sich mit der neuen Situation abgefunden hatte, dass Max offenbar eine andere Vorstellung von Optimaler Distanz hatte, als er. Jetzt saßen sie im großen Wohnzimmer und guckten sich irgendeine Komödie im Fernsehen an. Eigentlich war er selbst schuld daran, wie es gelaufen war, sinnierte Julius, während im Fernsehen gerade etwas zu Bruch ging. Er hatte mindestens eine Möglichkeit gehabt, sich mit Max wegen allem, was vorgefallen war, auszusprechen. Aber was hatte er stattdessen getan? Den Kopf in den Sand gesteckt. Aus Überforderung. Ja, Max hatte ihn überfordert. Punkt. Auch damit, weil er in einer Sache richtig gelegen hatte: Julius hatte Schiss vor Nina, wie es Max so treffend ausgedrückt hatte. Aber das Schlimmste war, dass er die Fronten gleich nach dem Kuss nicht so weit geklärt hatte, wie es besser gewesen wäre. Wie es in Ninas Augen sicher besser gewesen wäre. Nicht unbedingt in seinen eigenen. Punkt, Punkt, Punkt. "Er hat gestohlen." Julius fuhr erschrocken zusammen, als Max ihn so unvermutet ansprach. "Wer hat was gestohlen?" Julius fuhr sich über seine müden, brennenden Augen und unterdrückte ein Gähnen. "Clemens, der Typ, der vor dir hier gearbeitet hat." Julius gab sich Mühe, den Namen mit irgendetwas in Verbindung zu bringen, fand aber nichts. Der Name war in seinem Beisein nie gefallen. Man hatte wohl wirklich ein Geheimnis daraus gemacht. "Zuerst hat er sich nur an unserer Gemeinschaftskasse bedient und auch immer nur ein bisschen was davon genommen." Max biss sich auf seine Unterlippe. Seine Augenbrauen hatten sich so weit zusammengezogen, dass eine steile Falte dazwischen erschienen war. "Dann wurde es mehr. Irgendwann hat er sogar Geld aus Briefen genommen, die manche von ihren Eltern geschickt bekamen. Und als es nach einer Weile auffiel, hat er uns beschuldigt." Julius' Müdigkeit war mit einem mal verschwunden. Er hatte sich gerade hingesetzt und hörte Max aufmerksam zu. "Nina hat ihm geglaubt", fuhr Max fort. "Er hat dann für ein paar Monate damit aufgehört, weil Nina alles mit Argusaugen bewachte, aber anscheinend konnte er es sich irgendwann doch nicht mehr verkneifen. Okay, zugegeben, wir hatten ihm eine Falle gestellt." "Warum wundert mich das nicht?" Julius grinste. Er konnte sich die Bande gut vorstellen, wie sie gemeinsam einen Plan schmiedeten, um den Dieb zu überführen. "Das Dumme daran war nur, dass es nicht ganz so funktionierte, wie gedacht." Max schwieg für einige Augenblicke nachdenklich. "Und das Ende vom Lied war jedenfalls, dass Clemens mit gebrochener Nase hier ausziehen musste und ich von den paar Kröten, die ich mir dazuverdiene, das neue Glas für die Vitrine im Esszimmer und ein oder zwei oder mehrere Tassen und Teller des guten Geschirrs bezahlen musste." Mit offenem Mund saß Julius da und musste seine Gedanken zuerst sammeln, ehe er auch nur ein Wort hervorbrachte. "Dem habt ihr's aber gegeben..." Max musste über Julius' Formulierung lachen, weil sie so herrlich artig war. "Du meinst wohl eher, dem habe ich die Scheiße ordentlich aus dem Schädel geschlagen?" "Ja, genau das sagte ich doch." Jetzt musste Julius auch lachen. Weniger wegen der hässlichen Situation und den Folgen, sondern mehr darüber, dass Max trotz dieser Horrorstory sich endlich einmal so locker und unbeschwert benahm, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Und wie er befürchtet hatte, dass er ihn nach dem berühmt berüchtigten Sonntag bei Julius Zuhause auch nie erleben würde. "So, und jetzt bist du an der Reihe." Max imitierte Julius' gespannte Körperhaltung, die er während Max' Erzählung angenommen hatte, und trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf die Armlehne des Sofas. "Mit was bin ich an der Reihe?", hakte Julius unschuldig nach. "Der brave Julius hat sicher auch ein paar Leichen in seinem Keller", behauptete Max und machte eine auffordernde Geste in Richtung seines Gegenübers, der tat, als wisse er nicht, um was es gerade ging. "Na komm, zeig sie schon her!" "In meinem Keller wirst du außer ein paar Spinnweben nichts finden. Erst recht keine Leichen." Max schnaubte abfällig. "Wahrscheinlich sind deine Leichen schon zu Staub zerfallen, oder du hast sie richtig tief begraben..." "Das wirst du nie erfahren." Julius erhob sich von seinem Platz. "Wenn es dir nichts ausmacht, aber ich bin müde und werde jetzt schlafen gehen. Gute Nacht." Max gähnte unwillkürlich. "Okay, überredet", gab er sich geschlagen. "Vorerst." "Vielen Dank." Es war Julius, der am nächsten Morgen entgegen seiner Gewohnheit als Letzter wach wurde. Er hatte so tief geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Max, der keine Lust gehabt hatte, alleine zu frühstücken, hatte auf ihn gewartet. Er sah gerade aus dem Küchenfenster, als Julius das Zimmer betrat. "Da ist ganz schön was runtergekommen. Das Laufen kannst du dir heute sparen." Julius stellte sich neben Max an das kleine Fenster und sah ihm über die Schulter nach draußen, wo die dünne Schneedecke von gestern Abend um zwanzig Zentimeter angewachsen war. Das Laufen konnte er sich tatsächlich sparen, der Weg war nämlich nicht mehr zu sehen. "Das heißt wohl, wir können gleich nach dem Frühstück Schnee wegräumen?" "Sieht so aus, wenn wir das Auto mal brauchen sollten." Max sah Julius fragend an. "Bei dem Wetter?", entgegnete Julius zweifelnd. "Willst du etwa die ganze Zeit hier oben in dieser Hütte hocken?" "Warum nicht?" Julius hob die Schultern. Er sah Max an, der sich Mühe gab, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. "Schön, dann frühstücken wir jetzt wohl besser schnell, dann sind wir auch schneller mit der Arbeit fertig", scheuchte er Max vom Fenster. Der Schnee knirschte schwer unter ihren Schuhsohlen, als sie zum Schuppen hinüber gingen, um die Schneeschaufel und das Streusalz zu holen. Julius sperrte die große Holztür auf und zog sie so weit auf, wie es der Schnee davor erlaubte. Es war düster in dem Verschlag, der früher wohl mal ein Stall gewesen sein musste, und ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. In der Mitte thronte der eingestaubte Grill zwischen Klappstühlen, Blumenkästen und dem Rasenmäher. Es sah so aus, als hielten sie dicht aneinander gedrängt ihren Winterschlaf. Zielsicher ging Max zu einer Ecke des Schuppens und kam gleich darauf mit einer verbeulten und zerkratzten Schneeschaufel, deren beste Tage bereits vergangen waren, in der einen Hand und einem Eimer in der anderen Hand zurück zu Julius, der an der Tür gewartet hatte. Bis zum Mittag hatten sie die Einfahrt freigeräumt und Salz auf die nun freien Flächen gestreut. Nach einem schnell gekochten Mittagessen, das sie wie zwei ausgehungerte Wölfe verschlangen, versuchte Max, Julius zu einem Ausflug zu überreden. "Hast du mal nach draußen gesehen?" Julius sah Max ernst an, der stumm die dichtfallenden Schneeflocken verfluchte, die den Blick aus dem Bürofenster verhinderten. "Ich werde heute keinen Fuß mehr nach draußen setzen. Was ist, wenn wir unterwegs stecken bleiben und nicht mehr nach Hause kommen?" "Hast du nicht noch ein Zuhause?", trumpfte Max auf. "Dann bleiben wir eben dort." "Und was, wenn Nina hier anruft, um sich nach uns zu erkundigen? Was ist mit Frau Wagner? Die weiß sicher Bescheid, dass wir hier sind." Julius schüttelte den Kopf. "Vergiss es, ich fahre heute kein Auto." Max seufzte leise. Gelangweilt sah er Julius dabei zu, wie der alte Ordner durchging, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Nina hatte sich nicht besonders gewissenhaft um die Büroarbeit gekümmert. Sie war lieber mit den Kindern unterwegs gewesen, oder hatte sonst etwas mit ihnen unternommen. Der Schreibkram kam bei ihr meist an letzter Stelle. Dass darunter jetzt ausgerechnet Max zu leiden hatte, hätte er nie gedacht. "Okay, du hast es geschafft", gab Julius nach einer Weile auf, in der Max noch mindestens dreißig Mal theatralisch geseufzt hatte. "Du bist alleine schlimmer, als die ganze Gruppe zusammen." "Ich seh' das mal als Kompliment", witzelte Max. In seinen Augen blitzte es tatendurstig. "Was tun wir jetzt?" "Was weiß ich?" Julius klappte die Ordner zusammen und fuhr den Computer herunter. "Mach du doch einen Vorschlag." Max grinste listig. "Der wird dir nicht gefallen..." Julius horchte aufmerksam auf. "Warum nicht?" "Na, weil du ja meintest, dass du das nicht möchtest", neckte Max Julius, dem man bestens ansehen konnte, dass ihm gerade die schlimmsten vorstellbaren Dinge durch den Kopf gingen, die Max wohl meinen könnte. Er war blass geworden. "Gehen wir raus", erlöste Max schließlich gnädig sein bleiches Gegenüber. Die Erleichterung, mit der Julius Max ansah, war fast schon komisch. "Gute Idee." Der eiskalte Wind sauste ihnen heulend um die Ohren und sie hatten ganz schön mit den Schneeflocken zu kämpfen, die ihnen mit jeder Windböe in die Augen, Nasen und Münder wehten, während sie dem Feldweg folgten, der sich von ihrem Hof aus zu einem kleinen Wald hin schlängelte. Im Wald wurde es stiller. Die Bäume hielten den Wind größtenteils ab und die Flocken, die es durch die Astkronen schafften, fielen sanft zu Boden. Eine ganze Zeit lang stapften sie schweigend nebeneinander über den kaum sichtbaren Waldweg, bis Julius irgendwann die Stille durchbrach. "Habe ich dir schon erzählt, dass ich den schlechtesten Orientierungssinn seit Odysseus habe?" "Du hast mir so gut wie gar nichts über dich erzählt", hielt Max Julius grinsend vor. "Aber bleib schön in meiner Nähe. Wenn unsere Fußspuren erst einmal zugeschneit sind, wird es schwer, hier wieder rauszukommen." Julius lachte. "Und deshalb habe ich auch immer etwas zu essen dabei. Nur für den Fall." "Im Ernst?" "Ja." Max hörte, wie Julius in seiner Jackentasche kramte. Es knisterte und dann hielt ihm Julius eine buntbedruckte Plastiktüte unter die Nase. "Lakritze-Katzen?" Max lachte Julius lauthals aus. "Und damit willst du alleine im Wald überleben?" Julius betrachtete sich die kleinen schwarzen Gummikatzen, die dichtgedrängt in der Tüte aneinander klebten und mit hohlen Augen durch das durchsichtige Plastik nach draußen starrten. "Ein paar Tage schaffe ich damit bestimmt, wenn ich sie mir gut einteile." Er sah zu Max hinüber. "Ich weiß nur noch nicht, ob ich sie teilen würde..." "Ja, ja, iss du nur schön deine Lakritze-Katzen, am Ende bin ich es, den man als letzten Überlebenden findet!" "Und wie stellst du das an, so ganz ohne Nahrung? Willst du den Eichhörnchen die Nüsse klauen? Oder mit den Rehen um die Baumrinde kämpfen?" Max ließ Julius stehen und schlenderte seelenruhig davon. "Ich werde einfach den Mann essen, der es geschafft hat, zwei Tage mit Lakritze-Katzen zu überleben. Na, was sagst du dazu?" Max drehte sich zu Julius um, der gar nichts dazu sagte, sondern zur Antwort einen Schneeball warf, der Max exakt in der Mitte seiner Stirn traf. Überrascht von seinem Treffer und dem entgeisterten Gesicht des Getroffenen, begann Julius schallend zu lachen. "Oh warte", stieß Max zischend aus. Ein Schneeklumpen löste sich von seiner Stirn und rieselte herab. "Das bekommst du zurück, Lakritze-Katzen-Mann!" Statt Julius zu folgen, der schon auf dem Sprung war, um vor ihm zu fliehen, bückte sich Max und schob mit den Händen äußerst gefasst und ruhig den Schnee vor sich zusammen, bis er soviel hatte, dass er daraus einen Ball formen konnte. Er erhob sich und drückte den Schnee in seinen Handflächen fest zusammen. "Das ist aber ein kleiner Schneeball", zog Julius Max auf. "Wird der noch größer?" "Muss er nicht." Max presste seine Hände fest zusammen und folgte Julius langsam, der nun auch misstrauisch geworden war und Max nicht aus den Augen ließ; und erst recht nicht den Schneeball, den Max so fest zusammengedrückt hatte, dass er eisig zu glänzen begann. Der würde wehtun, wenn er traf, dachte Julius schockiert und versuchte abzuwägen, ob nun Flucht oder doch Angriff die beste Strategie war. Die Flucht gewann und Julius sah sich hektisch nach einem geeigneten Versteck um. "Das ist nicht dein Ernst?" Mit großen Augen starrte Julius Max an, der ihm noch immer ohne Eile folgte und dabei den Schneeball, der mittlerweile ein Eisball war, weiter drückte. "Und ob das mein Ernst ist." Max war fertig mit der Bearbeitung seines Balls. Er warf ihn einige Male probehalber in die Luft und fing ihn wieder auf, um sein Gewicht und die Flugfähigkeit zu testen. Dann sah er Julius an, der neben dem Stamm einer schmalen Tanne stand, um rechtzeitig dahinter zu verschwinden, sollte Max den Eisball tatsächlich werfen. Obwohl 'dahinter verschwinden' mehr als positiv gedacht war, denn ganz würde er sich nicht hinter dem dünnen Stamm verbergen können. Max war endlich stehen geblieben. Er kniff ein Auge zu, um zu zielen, und bewegte seinen Arm mit dem Ball in der Hand nach hinten, um der Kugel für ihren Weg zu Julius ordentlichen Schwung zu geben. "Es tut mir leid, dass ich dich ausgelacht habe", flehte Julius nun um Gnade. "Und der Schneeball tut mir auch leid. Kann ich es irgendwie wieder gut machen?" "Zu spät, Lakritze-Katzen-Mann..." Max' Arm schnellte nach vorne und der Eisball schoss aus seiner geöffneten Hand. Mit einem Pfeifen, das nichts Gutes verhieß, flog er durch die Luft, direkt auf die Tanne zu, hinter der Julius sich nun duckte, um zumindest den Kopf aus der Schusslinie zu haben. Julius wartete auf den Schmerz, den er gleich an der getroffenen Stelle merken würde, und war erstaunt, als nichts geschah. Der Eisball war viel zu hoch geworfen und sauste über ihn ins Geäst. "Daneben! Daneben!", höhnte Julius und bekam sich kaum noch ein vor Lachen. Max grinste zufrieden. "Wart's ab." Es raschelte über Julius und in dem Moment, in dem er innehielt und über sich in die Tanne guckte, fiel der ganze Schnee, der sich auf den ausladenden Ästen gesammelt hatte, hinab und bedeckte Julius' Kopf. Jetzt war es an Max, schallend zu lachen. Julius hustete und wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. "Du hast gewonnen", krächzte er und versuchte, den Schnee aus seinem Jackenkragen herauszubekommen. Ein nicht gerade kleiner Teil davon war genau in seinen Halsausschnitt gefallen und rutschte nun eisig kühl seinen Rücken und Bauch hinab. "Das wollte ich hören." Mit hoch erhobenem Haupt stolzierte Max davon. Als Julius zu Hause seine Jacke auszog, sah Max erst den ganzen Schaden, den sein Schneeball in die Tanne angerichtet hatte. Große nasse Flecken zierten Julius' Pullover dort, wo der Schnee hingerutscht und geschmolzen war. "Wenn ich jetzt krank werde, muss ich mir wegen der früheren Lüge jedenfalls keine Sorgen mehr machen." Max bekam auf der Stelle ein schlechtes Gewissen. Sie waren noch eine Stunde draußen herumgelaufen, ohne dass sich Julius beschwert hatte. Julius bemerkte Max' Blicke. "Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich jetzt zuerst mal auftauen. Essen gibt es später." Julius lächelte Max zu und stieg die Treppe hinauf, um sich in seinem Zimmer umzuziehen. Wenig später kam Julius wieder hinunter in den Wohnbereich und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. "Was für ein Service", kommentierte Julius das bereitstehende Essen, das Max in der Zwischenzeit vorbereitet hatte. "Ist doch nur Brot und der ganze Kram, der dazu gehört", antwortete Max bescheiden und drückte Julius einen gefüllten Teller in die Hand. "Ich hätte nicht erwartet, nach der Lakritze-Sache überhaupt noch etwas zu bekommen." Julius folgte Max ins Wohnzimmer und nahm ihm gegenüber am Wohnzimmertisch Platz. Wenn Nina jetzt sehen könnte, dass sie hier aßen... Max grinste still vor sich hin. Jetzt hatte er also doch noch seine richtige Abendbrotszene bekommen, wie die, auf die er wegen Simon so eifersüchtig gewesen war. Und ihm fiel auf, dass Julius mit Simon wohl wirklich nicht gelogen hatte. Kein einziges Mal hatte Max mitbekommen, dass Julius Kontakt zu Simon gehabt hätte. Anscheinend war da also wirklich nichts zwischen ihnen, freut sich Max und genoss weiter ihre Mahlzeit. Nach dem Essen rief Nina tatsächlich noch an und in der Zeit, in der Julius mit ihr telefonierte, räumte Max die Sachen in die Küche. "Ich werde nie wieder lügen", seufzte Julius, als er sich zu Max ins Wohnzimmer setzte. Nina war wirklich besorgt wegen ihnen gewesen und ihr dann erzählen zu müssen, es ginge ihnen wieder 'besser', war gar nicht so einfach gewesen. "Nie wieder?", wiederholte Max. "Nie wieder", bestätigte Julius und hob zwei Finger zum Schwur. Max wandte sich wieder dem Fernsehprogramm zu. "Wie fandest du den Kuss?", fragte er mit möglichst beiläufiger Stimme. "Bereust du ihn?" Max sah aus den Augenwinkeln zu Julius hinüber, der scheinbar konzentriert ins Fernsehen starrte, obwohl es dort außer eines dümmlichen Werbespots zu irgendeinem Reinigungsmittel nichts Interessantes zu sehen gab. Daran, dass Julius die Aussage auch verweigern konnte, statt keine Lüge zu erzählen, hatte er gar nicht gedacht, überlegte Max still bei sich. "Nein." Zuerst sah es so aus, als unterhielte sich Julius mit dem Fernseher, weil er noch immer dorthin starrte und Max auswich, aber das war eigentlich auch alles, was er hatte wissen wollen. Zufrieden merkte Max, wie diese unterschwellige Angst, etwas falsches zu sagen oder zu tun, die ihn die ganze Zeit über begleitet hatte, obwohl sich Julius ihm gegenüber ganz normal verhalten hatte, von ihm abfiel und er sich augenblicklich leichter fühlte. "Er war gut", sagte Julius plötzlich wie aus heiterem Himmel. "Dafür, dass er nur zwei oder drei Sekunden gedauert hat, war er gut." Max errötete unwillkürlich. Seine Mundwinkel bogen sich zu einem breiten Lächeln, das er erfolglos zu unterdrücken versuchte. Den Rest des Abends schwiegen beide. Julius peinlich berührt, wegen seiner Antwort und Max' Grinsen darauf, und Max, weil er noch eine Weile darüber nachdachte, ob er Julius vielleicht doch noch ein bisschen weiter ausfragen sollte. Aber er ließ es. Man musste sein Glück ja nicht überstrapazieren. Als Max erwachte, lag er auf dem Sofa und der Fernseher lief noch immer. Es war zwei Uhr morgens und, wie er mit einem schnellen Blick zu dem Sofa gegenüber feststellte, waren sie beide wohl irgendwann eingeschlafen. Julius lag, das Gesicht der Rückenlehne des Sofas zugewandt, auf der Seite und schlief tief und fest. Max schaltete den Fernseher aus, dann stand er auf und ging leise zu dem Schlafenden hinüber. "Julius?" Er berührte ihn an der Schulter und rüttelte ihn leicht. "Julius?" "Hm?", kam es so leise von dem Angesprochenen, dass Max es beinahe überhört hätte. "Willst du nicht lieber in dein Bett?" Max wartete auf eine Regung, doch Julius war bereits wieder eingeschlafen. Er hob die Hand, um Julius noch einmal an der Schulter zu rütteln, und war alles andere als erstaunt, dass sie dort nicht stoppte, sondern erst auf Julius' Wange zur Ruhe kam. Die hellblonden Bartstoppeln kitzelten unter seinen Fingerkuppen, als er Julius sachte ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Max' Atem stockte in seiner Brust. Langsam beugte Max den Kopf zu Julius' Ohr hinab, bis sein Mund nur noch einen, höchstens zwei Millimeter über der Ohrmuschel schwebte. Er könnte jetzt- nein, er sollte, korrigierte Kurzschluss-Max und lachte schallend über Max, der sich nicht traute, auszuatmen und stattdessen die Schläfe des Schlafenden anstarrte, wie das Kaninchen die Schlange. Max ignorierte sein lachendes Unterbewusstsein. Er könnte Julius alles sagen, was er wollte. Jetzt. Alles, was er, wenn er wach war, vermutlich nie über die Lippen brachte. Und Julius wüsste davon nicht einmal was. Aber er ging es erst mal langsam an. "Wir könnten auch einfach hier bleiben und ich lege mich zu dir. Okay?" "Okay", wisperte Julius im Halbschlaf. Das war die Gelegenheit, kam es Max prompt in den Sinn. Und Julius konnte hinterher nicht einmal abstreiten, ihm die Erlaubnis gegeben zu haben. Ein Lachen stieg in Max' Kehle auf. Sein Atem kitzelte Julius im Ohr, der seine Hand hob, um das störende Objekt dort wegzuwischen. Zeitgleich, während seine Fingerspitzen Max' Mund berührten, schlug Julius die Augen auf. Er drehte sich auf den Rücken und starrte direkt in Max' Gesicht, der, noch immer über ihn gebeugt, vor dem Sofa kniete und lächelnd auf den bis eben noch Schlafenden hinabsah. Es war totenstill im Haus. Julius konnte Max' Atem hören und ihn gleichzeitig auf seinem Gesicht fühlen, so nah war er ihm. Sein Mund war zu einem leichten Lächeln gebogen, das Julius innerhalb weniger Sekunden einzuordnen versuchte, während Max' Atem weiter über seine Wangen strich. "Ist-ist was?", stotterte Julius verwirrt. "Nein, alles in Ordnung." Das Lächeln blieb unverändert. "Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich jetzt zu Bett gehe." "Gut-", Julius räusperte sich verlegen, "Gute Nacht." "Gute Nacht", entgegnete Max und sah, wie sich Julius' angespannte Mimik löste, als er sich schon in Sicherheit wägte. Bevor Max sein Vorhaben jedoch endgültig in die Tat umsetzte, beugte er sich weiter zu Julius hinunter und presste seine Lippen so vorsichtig wie möglich auf Julius' Mund. Julius erwiderte den Kuss unbewusst, was Max sofort registrierte. Sein Mund öffnete sich ein wenig und Max war kurz versucht, das, wenn auch unwillkürliche Angebot anzunehmen. Im gleichen Moment wurde auch Julius bewusst, was er da getan hatte und er schloss seinen Mund sofort wieder. "Schlaf schön", sagte Max, ohne seine Lippen von Julius' zu lösen. Dann stand er auf und ließ Julius alleine im Wohnzimmer zurück. Julius wartete, bis Max' Schritte auf der Treppe verklungen waren. Erst dann setzte er sich auf, strich sich durch seine Haare, als könne er mit dieser eigentlich sinnlosen Geste seine durcheinander gewirbelten Gedanken ordnen, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Schlaf schön? Er musste zuerst noch diese Leiche richtig richtig tief in seinem Keller vergraben, ehe jemand Wind davon bekam... Progressive Abstraktion oder: Ungewohnt harsche Worte -----------------------------------------------------     Eine Weile saß Max nun schon nahezu bewegungslos an seinem Schreibtisch. Die rotleuchtenden Zahlen seines Weckers behaupteten, es sei kurz vor Drei, aber Max fühlte sich alles andere als müde. Er wollte jetzt nicht schlafen. Er wollte nicht, dass etwas den Nachhall der letzten halben Stunde unterbrach, so lange er diesen Moment noch als lebhafte Endlosschleife abspielen konnte. Die eingeschaltete Schreibtischlampe vor ihm goss einen See aus sanftem Licht auf die Tischplatte, über den die Schatten seiner Finger wie Vögel dahinglitten. Er hatte den Kalender, den er an Weihnachten von Julius geschenkt bekommen hatte, vor sich liegen und drückte einen der vorgestanzten Punkte aus seinem Platz. Das heutige Datum und ein kurzer Satz standen da, den Max bereits vergessen hatte, noch ehe er ihn ganz zu Ende gelesen hatte. Seine Gedanken schweiften ständig ab. Zu Julius. Wohin auch sonst?! Julius, wie er sich auf dem Sofa zu dem davor knienden Max umgedreht und ihn zuerst erschrocken angesehen hatte, weil er nicht gewusst hatte, was da gerade vorgefallen war. Dabei war da noch gar nichts vorgefallen. Das kam erst, als Max' Mund Julius' Lippen berührten und der diese sich vorsichtig nähertastende Berührung ohne nachzudenken und ohne seinen Blick abzuwenden angenommen und erwidert hatte, bis ihm tatsächlich bewusst wurde, was er da tat. Armer Julius, der jetzt gerade ein Stockwerk tiefer saß und Max nun hoffentlich nicht zum Teufel wünschte. Ändern konnte er es jetzt auch nicht mehr.   Max' ziellose Blicke irrten durch das Zimmer und blieben wie von selbst am Aquarium gegenüber des Schreibtischs hängen. Das eingeschaltete Nachtlicht durchzog das Wasser mit grünschimmernden Schleiern, die sich tänzelnd um Einstein schlängelten, der aus seiner Totenkopfhöhle herausgeschwommen kam, um nachzuschauen, was da um diese ungewöhnliche Uhrzeit seltsames außerhalb seines Aquariums vor sich ging. Von seinen beiden Gefährten war keine Spur zu sehen. Der Max- und der Juliusfisch waren wohl lieber unter sich. Nachdenklich kniff Max die Augen etwas zusammen. Irgendetwas, was normalerweise in diesem Blickwinkel lag, war verschwunden. Da war eine kleine, Notizzettelgroße Lücke direkt an der Außenwand des Aquariums, was nur auffiel, wenn man wusste, dass dort zuvor etwas gehangen hatte, das jetzt definitiv verschwunden war. Max grinste wissend. Er senkte seinen Blick auf seine Hände, die noch immer den Kalender hielten. Noch einmal las er den Spruch, der in der runden Aussparung stand, aus der er den schwarzen Kreis herausgedrückt hatte, und dieses Mal behielt er ihn im Gedächtnis: Das Schwierigste ist es, weniger zu nehmen, wenn man mehr bekommen kann. Das konnte Max gerade aus tiefstem Herzen bejahen. Die Chance, Julius klarzumachen, dass es ihm absolut ernst war, hätte er sich nie entgehen lassen. Weder heute, noch an irgendeinem anderen Tag. In dem Moment, als er nur noch einen Hauch von Julius' Lippen entfernt gewesen war, hatte er den ganzen Film sehen wollen, statt nur den Trailer. Max setzte den schwarzen Kreis wieder an seinen Platz und stellte den Kalender schräg vor sich. Er knipste die Schreibtischlampe aus und kroch in sein Bett. Die Arme hinter seinem Kopf verschränkt wartete er darauf, die knarrenden Treppenstufen unter Julius' Schritten zu hören.   Schlaf schön - Max' letzter Satz hallte in Julius' Erinnerung nach wie eine mit aller Kraft angeschlagene Glocke, die sich nicht mehr beruhigen wollte. Mit jedem Schwung schlug sie die Erinnerung wieder an, die dann wieder zitternd in seinem Kopf tönte und mit ihrem unzähligen Echo alle anderen Reflexe überlagerte. Julius saß noch immer auf dem Sofa in exakt der gleichen Position, die er, seit Max' Schritte über ihm verstummt waren, nicht geändert hatte. Seine Handflächen bedeckten seine Schläfen, hinter denen sein Puls wie ein außer Kontrolle geratener Schnellzug raste. Er presste sie so fest dagegen, wie nur möglich, als ließen sich so die Gedanken dahinter festhalten. Es brachte nichts. Wie Sandkörner flossen sie ihm zwischen den Fingern hervor. Jetzt hatte er wohl doch eine Leiche im Keller. Die erste und gleichzeitig die schlimmste aller vorstellbaren Leichen, die man so in seinem Keller haben wollte, und es war nicht einmal Max' alleinige Schuld... Reglos starrte Julius aus dem Fenster, vor dem ein Schneegestöber tobte. Weiße Schneeflocken rasten in ihrem chaotischen Tanz vor dem nachtschwarzen Hintergrund. Nichts schien sie aufhalten zu können, genauso wie den Wind, der schneidend scharf um die Hausecken herum heulte, während in Julius' Kopf das Gegenstück dazu tobte. Es lag nicht an Max, dass er ihn ständig in solche Situationen brachte. Es waren auch keine Tests, um zu sehen, was passierte. Das erste Mal war vielleicht so ein Test gewesen, aber über dieses Stadium waren sie beide schon lange hinaus. Es war, wie man sehen konnte, nicht mehr nötig, etwas beweisen zu müssen. Die einzige Schwierigkeit war, wieder genügend Abstand zu bekommen, ohne einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Und Julius musste nur den Weg aus dem Labyrinth aus schwankenden Regalen finden, die bis zum Himmel mit leicht zerbrechlichen Dingen beladen waren, ohne etwas davon umzustoßen.     Völlig übernächtigt betrat Max am nächsten Morgen die Küche. Er nahm den Wasserkocher und füllte ihn, ehe er ihn zurück auf die Station stellte und anschaltete. Von Julius war nichts zu sehen oder zu hören. Er selbst war gestern abend eingeschlafen noch ehe er Julius auf der Treppe hätte hören können. Vielleicht war er auch unten im Wohnzimmer geblieben? Sicher aus Angst, Max oben noch einmal begegnen zu müssen, dachte Max amüsiert und nahm zwei große Tassen aus dem Schrank. Dabei hatte er gar nicht vorgehabt, ihn abzufangen oder sonst irgendwie zu konfrontieren. Wenn das im Wohnzimmer nicht gereicht hatte, dann half sonst auch nichts mehr. Das Wasser im Wasserkocher begann zu brodeln und im gleichen Augenblick sah Max, wie Julius in voller Laufmontur vor dem Küchenfenster vorbeischlenderte und sich dabei seine grüne Mütze zurechtrückte. Das war ja vorherzusehen, dachte Max kopfschüttelnd. Nicht einmal die frisch gefallenen zehn Zentimeter Neuschnee, die letzte Nacht den freigeschaufelten Hof erneut in eine unberührte Schneefläche verwandelt hatten, konnten Julius von seinem morgendlichen Laufritual abhalten – von dem, was gestern abend im Wohnzimmer passiert war, ganz zu schweigen... Nach einem prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und ohne sich zum Haus umzudrehen, setzte sich Julius in Bewegung. Max folgte ihm mit den Blicken, bis er um das Haus herum war. Julius konnte das noch so oft Joggen nennen, wie er wollte, er lief eigentlich nur davon. Aber Max hatte da noch eine Frage und die musste er Julius stellen. Wie die Antwort ausfiel, war relativ egal, er wollte noch nicht einmal eine Antwort darauf haben - nicht heute. Er musste die Frage nur in Julius' Kopf hineinbekommen, damit sie sich dort einnistete und Wurzeln schlug. Und dazu musste er Julius unbedingt einholen.   Es war ein eisiger Morgen. Der Himmel war wolkenlos blau und die Luft kristallklar. Schneidend kalt brannte sie auf Julius' Gesicht, so dass er nach einigen hundert Metern kaum noch etwas spürte. Zum Glück war die Mimik nicht wichtig beim Laufen. Julius ausgestoßener Atem wirbelte vor seinem Mund in dichten weißen Wolken auf. Die Kälte, die er mit jedem Luftzug einatmete, schien in Teile seiner Lunge zu geraten und zu durchfluten, von deren Existenz er bis heute nichts geahnt hatte. Wenn er doch nur einfach so weiter laufen konnte. Ohne Ziel. Ohne das Wissen, dass er sich nach dem Stehenbleiben mit seiner Leiche im Keller auseinandersetzen musste. So lautete sein Plan. Bis er die Schritte im Schnee hörte, die sich ihm knirschend näherten. Seine Kellerleiche war nämlich ein besonders lebendiges Exemplar. Julius hatte gerade den höchsten Punkt eines Hügels erreicht, der in einem weit auslaufenden Tal endete, als Max ihn eingeholt hatte. "Kann ich mitlaufen?" "Klar." Schweigend näherten sie sich dem Waldrand, der sich an das Tal schmiegte. Es war der gleiche Wald, in dem sie gestern spazieren waren, erinnerte sich Max. Er hatte den Schneeball tatsächlich mit der Absicht, Julius zu treffen, geworfen. Nicht, weil er wütend war. Max war enttäuscht gewesen, wie Julius auf den ersten Kuss reagiert hatte. Im ersten Moment hatte er gedacht, dass Julius den Schneeball verdient hatte. Oder zumindest einen Anstoß brauchte, um endlich mal zu reagieren. Die Reaktion war dann ja auch gekommen; um zwei Uhr nachts im Wohnzimmer. Immerhin.   "Eigentlich rennst du doch nur davon", begann Max unerwartet ein Gespräch, von dem Julius gleich ahnte, wo es hinführen würde. "Du kannst das noch so oft joggen nennen, wie du willst, ich kauf' dir das nicht mehr ab." Unwillkürlich kam Julius aus dem Takt. Als ob er es geahnt hätte... Er blieb stehen. Eine Todsünde des Laufsports, aber er musste etwas loswerden. Das Ziehen in seinen Muskeln ignorierend, wartete Julius, bis er relativ normal atmen und dabei sprechen konnte. "Das ist Sport", widersprach er Max. "Einfach nur Sport, kein Davonlaufen. Nur meine Art, den Kopf wieder freizubekommen." Max öffnete den Mund, doch Julius war noch nicht fertig. "Du kannst mich gerne begleiten, wann immer du willst", fuhr Julius fort, "wenn du aber nur mitkommst, um mir zu sagen, dass ich Konfrontationen aus dem Weg gehe, dann tust du mir Unrecht. Das hier ist einfach nur der falsche Zeitpunkt. Okay?" Erstaunt schwieg Max einen Moment. Das waren ungewohnt harsche Worte von Julius, musste er sich eingestehen. "Und wann ist der richtige Zeitpunkt?", hakte Max prompt nach, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. Julius wich seinen Blicken aus und Max wusste, dass Julius sich gerade bewusst geworden war, dass er sich, statt aus diesem Dilemma hinaus, nur noch weiter hinein befördert hatte. "Warum kannst du mir nicht ein einziges Mal zeigen, dass ich mich hier nicht zum Deppen mache?" "Kann ich eben nicht", erklärte Julius reserviert. Dummer Fehler, dachte er noch, als er das verhaltene Grinsen sah, das über Max' Gesicht huschte. "Warum kannst du nicht?" Max stand vor Julius, die Hände in die Seiten gestemmt, blickte er ihn herausfordernd an. "Hältst du dich denn für einen Deppen?" Max verzog den Mund und rollte mit den Augen. "Das ist wieder typisch erwachsen, was? Fragen mit Fragen beantworten..." Julius seufzte kurz. So einfach kam er hier wohl nicht mehr weg. "Denkst du – jetzt mal hypothetisch betrachtet-", Julius gab sich Mühe, Max' kurzes Auflachen bei hypothetisch zu überhören. "Denkst du wirklich, dass du das, was du dir erhoffst, hypo- abgesehen davon, ob von meiner Seite aus das gleiche für dich existiert, auch haben könntest? Hier?" Das war selbst für Max überraschend. So langsam schien Julius' Fassade zu bröckeln wie hundert Jahre alter Mörtel. Aber es wirkte schon wieder so erzwungen. Genau das, was er nicht hatte haben wollen. Julius war noch immer nicht böse, auch wenn Max sich eingestehen musste, dass er es wirklich darauf angelegt hatte. Wie mit dem Schneeball gestern. Julius wirkte verzweifelt, wie es vielleicht Galilei gewesen sein musste, als er damals versucht hatte, die Leute davon zu überzeugen, dass die Erde eben keine Scheibe ist. Natürlich war Max klar, dass ihre Erde hier eine Kugel war und sie sich nicht treffen konnten. Er hatte nur aus Julius' Mund hören wollen, dass er wusste, was Max meinte. Und dass er es vielleicht nicht vergaß. Dass er ihn hier nicht einfach vergaß, wie seine Mutter, deren Briefe mit der Zeit immer weniger geworden waren. "War das alles?" Julius hatte den Kopf leicht schiefgelegt und wartete tatsächlich auf eine Antwort seines Gegenübers. Max nickte stumm. "Laufen wir weiter, bevor wir ganz ausgekühlt sind." Julius lächelte Max aufmunternd an und sie setzten ihren Weg fort. Es tat ihm selbst leid, dass er nicht exakt die Worte dafür hatte, die Max vielleicht gerne hören wollte. Er nahm es ihm auch nicht krumm, wie Max versuchte, Antworten zu bekommen. Er war nur froh, dass Simon in diesen Momenten nicht anwesend war. Simon mit seiner großen Klappe... "Schneeballschlacht?", riss Max Julius aus seinen Gedanken. "Vergiss es", lehnte Julius ab. Sie liefen weiter, bis der einsetzende Schneeschauer ihnen langsam die Sicht zu nehmen drohte. Eine Stunde später standen sie wieder vor dem Haus. Max war beeindruckt. Er fühlte sich gut, wenn auch völlig durchgefroren, weil er, anders als Julius, keine wettertechnisch abgestimmte Laufklamotten trug, sondern einfach das, was er eben so an normaler Sportkleidung besaß. Aber Julius hatte recht gehabt. Sein Kopf war frei. Wahrscheinlich, weil der Rest seines Körpers damit beschäftigt war, nicht zu erfrieren oder genügend Sauerstoff zu bekommen, aber ihren Zweck hatte diese Rennerei tatsächlich erfüllt. "Frühstück?", fragte Julius mit winterroten Wangen und klaren Augen. Er wirkte keine bisschen aus der Puste und Max beneidete ihn kurz um seine Kondition. Er selbst brachte nicht mehr als ein stummes Nicken zustande.     Max' erste Befürchtung, seine Zehen könnten ihm das Laufen im Schnee übel nehmen, hatte sich nach zehn Minuten unter der heißen Dusche in Wohlgefallen aufgelöst. Mit glänzenden Augen saß er nun Julius gegenüber am Küchentisch und hielt die heiße Tasse Tee unter seine Nase. Julius hatte sich offensichtlich ganz gut von ihrem Gespräch erholt. Seelenruhig schnitt er ein Brötchen in zwei Hälften und bestrich eine davon mit Butter. "Hast du eine Ahnung, wo der Zettel von meinem Aquarium hin ist?", unterbrach Max scheinbar unschuldig die Idylle. Julius, der in dem Moment ein Häufchen Marmelade auf seinem Messer zu seinem Brötchen hin balancierte, zuckte kurz zusammen, so dass der glibberige Berg auf der glänzenden Klinge mit ihm zuckte. "Welcher Zettel?", erkundigte sich Julius vorsichtig. Der Marmeladenberg wackelte bedrohlich. "Einer der Zettel, die sonst an der Seite meines Aquariums hängen, ist weg." Max musste sich dazu zwingen, die Blicke weiter in seiner Tasse zu versenken, anstatt Julius anzuschauen. Er hätte sonst unwillkürlich lachen müssen. "Keine Ahnung", log Julius tonlos. Er atmete innerlich auf, als der Klecks Marmelade endlich sicher auf seinem Brötchen landete, bevor ihn Max weiter so löcherte. "Ausgerechnet der Zettel von Max & Julius fehlt. Schon komisch, oder?" Max hob seine Tasse vor sein breites Grinsen. "Ja, echt komisch." Julius' Löffel klapperte hörbar in seiner Tasse, während er den schwarzen, ungesüßten Kaffee darin unnötigerweise umrührte. "Hast du mal auf dem Boden nachgesehen?" "Guter Tipp, danke", witzelte Max mit Tränen in den Augen. "Werde ich gleich tun..." "Gern geschehen", antwortete Julius großzügig, obwohl er und Max sehr wohl wussten, dass das mehr als unnötig war.   "Ich rufe noch schnell Frau Wagner an und sage ihr ab", beendete Julius eine halbe Stunde später ihr gemeinsames Frühstück. "Muss ja nicht sein, dass sie bei dem Wetter hier rauf kommt." "Okay." Max stellte die Butter, die ihm Julius hinhielt, in den Kühlschrank. "Heißt das, wir müssen selbst putzen?" "Schlimm?" Julius packte die restlichen Brötchen in den Brotkasten. "Nur wenn ich das Obergeschoss übernehmen muss." Dort waren die ganzen Toiletten und Duschen. Aber auch Julius' Zimmer. Max' Gesicht erhellte sich. "Ach was, ich nehme das Obergeschoss", entschied Max gönnerhaft und räumte die Brotaufstriche in den Vorratsschrank. Julius schien den Braten nicht zu riechen. "Wenn du mich suchst, ich bin in Ninas Büro." "Lass dir Zeit", rief ihm Max nach.   Als Max die Treppe ins Erdgeschoss hinunterkam, konnte er aus der angelehnten Bürotür das eifrige Tippen der Tastatur hören. Vorsichtig schob er die Tür weiter auf und streckte den Kopf ins Zimmer. Julius blickte konzentriert auf den Bildschirm und schrieb. Als er Max in der Tür bemerkte, schloss er schnell das Schreibprogramm, ganz so, als wollte er nicht, dass Max lesen konnte, was er geschrieben hatte. "Schon fertig?" Julius verschränkte die Arme im Nacken und lächelte. "So weit schon", antwortete Max matt. Das Obergeschoss war echt nicht sein Lieblingsgeschoss, wenn es ums Putzen ging, hatte er heute spontan entschieden. "Ist sonst noch was zu erledigen?" "Nicht, dass ich wüsste." "Gut." Max beobachtete Julius, der etwas nervös zum Bildschirm hinsah und dann wieder zu Max. "Den Zettel habe ich leider nicht gefunden", informierte er Julius, der zuerst ertappt dreinsah, um dann gleich darauf wieder sein Pokerface aufzusetzen. "Der taucht sicher irgendwann wieder auf, wenn du nicht mehr daran denkst." "Na klar." Max grinste schief. Er zog die Bürotür hinter sich bei und schlenderte Richtung Wohnbereich. Er hatte das Wohnzimmer gerade betreten, da hörte er schon den Drucker in Ninas Büro.     Julius war heilfroh, als Nina, Kerstin und die Kinder wieder nach Hause kamen. Max ließ er das natürlich nicht merken, aber als die kleine Meute zuhause mit all ihren Erzählungen über ihre Erlebnisse im Urlaub begannen, spürte Julius, wie die Anspannung abfiel, die ihn sich wie einen Seiltänzer ohne Sicherheitsnetz über dem Gran Canyon hatte fühlen lassen. Das plötzliche Wegfallen dieses Gefühls, über Glasscherben zu laufen, hinterließ bei Julius eine angenehme Schwerelosigkeit. Er schaffte es endlich wieder, sich in Max' Gegenwart so neutral zu fühlen, wie zu Anfang seiner Zeit hier. Julius zuckte noch nicht einmal mehr zusammen, wenn Max, wie jetzt gerade, am offenstehenden Büro vorbeiging, in dem Julius mit Nina saß, und den beiden schnell zunickte. Julius konnte den Gruß wieder so locker wie früher erwidern, ohne etwas dahinter zu vermuten, was Max eventuell sonst meinen konnte. "Ist das dein Ernst?" Nina sah Julius gebannt an. Ihre Hand spielte nervös mit einem Stift, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Der Stift drehte sich im Kreis, bis er unter der Tastatur stecken blieb. "Ich meine, bleibt es dabei?" Julius atmete einmal tief ein und aus und lauschte dabei seinem Atem. Ein letztes Mal ging er in Gedanken durch, was selbst Nina nicht glauben konnte. "Ja, es bleibt dabei", antwortete Julius mit Nachdruck. Der allerletzte verkrampfte Muskel löste sich. Nina seufzte leise. "Schade", kommentierte sie Julius' Entscheidung.   Max versuchte unkonzentriert, Lars' sicher unheimlich spannender Geschichte über irgendeinen Ausrutscher auf der Skipiste zu folgen, doch seine eigentlichen Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt. Er merkte noch nicht einmal, dass Lars irgendwann von der Treppe, auf der sie saßen, aufstand und wegging, nachdem er auch beim siebten Mal keine Antwort von Max erhalten hatte. In Max' Kopf sprangen die Fragen darüber, was Julius wohl bei Nina gewollt hatte, wie Ping-Pong-Bälle hin und her. Das erste Mal hatte er richtig Angst, dass er Julius so genervt hatte, dass er beschlossen haben könnte, Nina davon zu erzählen. Das würde seinen ertappten Gesichtsausdruck von eben erklären. Und wenn er richtig lag, dann konnte sich Max gleich auf 'ne Menge Ärger gefasst machen. Ihm wurde eiskalt. Wenn es noch schlimmer kam, musste er wohl in eine andere Gruppe. Da wäre er zwar nicht der Erste, aber ausgerechnet jetzt, so kurz vor seinem offiziellen Auszug hier, war das schon suboptimal. Und dann noch die Folgen für Julius, den er ja praktisch ins kalte Wasser gestoßen hatte. Das hatte er eigentlich nicht beabsichtigt... "Du hast mir gar nicht von deiner theoretischen Prüfung erzählt." Max fuhr auf, als die Stimme neben ihm erklang. Irritiert sah er Julius an, der vor ihm stand und ihn anlächelte. "Stimmt- ja- fand ich nicht so wichtig...", stammelte Max tonlos und betete, dass er jetzt nicht rot wurde. Julius hob eine Augenbraue. "Nicht wichtig finde ich jetzt ein bisschen untertrieben." Da Julius grinste, lockerte sich auch Max' Anspannung. Er zuckte mit den Schultern. "War ja nicht so wild." Was wollte Julius noch hier? Und wo zur Hölle war Lars? Max warf einen hastigen Blick die Treppe hinter sich hinauf. "Hast du Lust, morgen ins Kino zu gehen?" Eine riesige unsichtbare Faust traf Max in den Magen. Sein Kopf fuhr herum zu Julius, der die Frage so locker in den Raum geworfen hatte. Stand der unter Beruhigungsmitteln? Und wenn ja, unter welchen? "Was soll ich denn alleine im Kino", übernahm Kurzschluss-Max die Aufgabe, des gerade zu verblüfften Halters aller gedanklichen Ping-Pong-Bälle, die wie auf Kommando zu Boden fielen. "Mit mir", erklärte Julius immer noch grinsend. Mann, das musste gutes Zeug sein, das er genommen hatte. Kurzschluss-Max nickte anerkennend. "Wir beide oder wir beide mit dem Rest der Gruppe?" "Ersteres", fuhr Julius fort. Das konnte nicht sein. Kein einziges Stammeln. Kein nervöses Blinzeln mit den Augen. "Wir- wir beide?" Max musste sich bei Julius mit dem Stammeln angesteckt haben. Julius nickte lächelnd. "Ist das ein Date?", fragte Kurzschluss-Max, nachdem selbst er einige Momente gebraucht hatte, um wieder in seine gewohnte Form zu finden. Julius lachte auf. "Das war ich dir ja noch schuldig." "Ok, klar", presste Max mühsam hervor. "Gut, dann treffen wir uns dort", fügte Julius hinzu, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. Max rückte etwas zur Seite und ließ Julius an sich vorbei die Treppe hinaufsteigen. Wo war nur der Haken? Gehirn im Tank oder: Was für ein seltsamer, surrealer Moment ------------------------------------------------------------       Max suchte den Haken noch immer, als sie schon längst im Foyer des Kinos in der Schlange an der Kasse standen. Aber er war tatsächlich hier direkt neben ihm. Nicht der Haken, Julius! Total relaxt, wie Max ihn noch nie erlebt hatte, kramte er gerade nach seinem Geldbeutel. Er war gestern abend nach Hause gefahren, wie sonst auch an seinen freien Wochenenden, und vor einer viertel Stunde hatte er vor dem Kino auf Max gewartet, ganz so, wie sie es einen Tag zuvor abgemacht hatten. War das zu glauben? Bis zu dem Zeitpunkt, als er aus der Straßenbahn gesprungen und um die Straßenecke gebogen war, hinter der das Kino lag, hatte Max das dumpfe Gefühl begleitet, dass das alles nicht wahr sein konnte. Dass er sich keinen Film anschauen würde, sondern selbst in irgendeiner virtuellen Realität weit weg von hier vor sich hinträumte. Doch dann hatte er Julius gesehen, der, die Hände in der Jackentasche, vor dem Kino in der Kälte stand und auf den nassglänzenden Bürgersteig vor sich blickte. Beinahe wäre Max auf einer vereisten Schneematschfläche ausgerutscht, so abrupt war er stehengeblieben. Nur mit Mühe hatte er sein galoppierendes Herz beruhigen können. Mit zittrigen Händen hatte er dagestanden und wäre am liebsten wieder umgekehrt, um diesen Moment erneut zu erleben. Nur um ganz sicher zu sein. Die Leuchtreklame des Kinos hatte Julius' eine Körperhälfte in bunte Schimmer getaucht, die ihn an Einstein erinnerten, wenn er in seinem beleuchteten Aquarium umher schwamm und das Licht der Neonröhre schillernde Flecken auf seine Schuppen warf. Vielleicht war das aber auch nur der Schnee gewesen, der in Max Augen fiel und dort schmolz, während er Julius anstarrte. Ja, nur der Schnee. Sonst nichts... Möglichst gefasst war Max auf Julius zugegangen, der prompt den Kopf gehoben und ihm ein wirklich ehrliches Lächeln zugeworfen hatte. Selbst jetzt wusste er noch jede Einzelheit davon. Wie sich Julius' Augen verengt hatten als das Lächeln dort ankam – nicht so, wie die Male davor, als er mit geweiteten Augen wie ein erschrockenes Kaninchen vor der Schlange vor Max gestanden hatte, wenn der ihn mal wieder mit irgendeinem Unsinn kompromittierte.   Julius war ganz froh, als endlich das Licht im Kinosaal ausging und die ersten Werbefilme über die Leinwand dröhnten. Max hatte ihn kaum aus den Augen gelassen. Er ahnte wohl, dass da irgendwas nicht wie sonst war. Max nahm einen Schluck seiner Limo und beobachtete gleichzeitig Julius aus den Augenwinkeln, möglichst ohne Julius in Verlegenheit zu bringen. Er wusste ja, wohin das führte... Gerade nahm Julius die zerknüllte Eintrittskarte aus seiner Hosentasche und hielt sie ein wenig schräg zur Leinwand hin, so dass etwas von dem schwummrigen Licht darauf fiel. Die Augen zusammenkneifend versuchte er den Text zu entziffern, was ihm nicht gelang, da in diesem Moment die Leinwand dunkel wurde. Max verschluckte sich fast an seiner Limo. Er beugte sich zu Julius hinüber und half ihm gnädigerweise auf die Sprünge, welchen Film sie sich hier anschauten. Julius bedankte sich knapp, bevor er wieder tat, als sei alles wie immer. Er schaffte es immerhin, Max' breites Grinsen zu ignorieren. Nach dem ersten Drittel des Films beugte sich Julius endlich zu Max hinüber, der sich das erleichterte Aufseufzen gerade so verkneifen konnte. So langsam hatte ihn Julius mit seiner unterdrückten Nervosität angesteckt. Er hatte schon damit begonnen, den Strohhalm seiner Limo in eine möglichst kleine Spirale zu drehen. "Du hattest recht", war das erste, was Julius zu Max sagte, der fast schon mit der Frage gerechnet hatte, ob er noch was zu trinken haben möchte. "Womit?", hakte Max verblüfft nach. Trotz des Geschreis aus den Lautsprechern, hörte Max Julius leise seufzen. "Mit allem", war dann die Antwort. "Die ganze Zeit hattest du recht", fügte Julius nach einer weiteren Atempause hinzu. Seine Blicken gingen nachdenklich zur Leinwand hin, auf der Indiana Jones den scheinbar zweimillionsten Abhang hinunter fiel. Geduldig wartete Max, welche Erklärung ihm Julius gleich liefern würde. Es musste was wichtiges sein, wenn er damit gewartet hatte, bis sie von der Gruppe weg waren. Daran, dass das hier ein normales Date sein sollte, hatte Max die ganze Zeit nicht geglaubt. Ganz kurz dachte er daran, dass er vielleicht auch gar nicht wissen wollte, was Julius ihm zu sagen hatte. Er schluckte die Zweifel hinunter und wartete darauf, dass Julius endlich weiter sprach.   Julius sah sich schnell um und beugte sich dann wieder zu Max hinüber. "Ich habe dich ständig analysiert und-" Auf der Leinwand flog irgendetwas in die Luft. "Und ich hab mich selbst die ganze Zeit über analysiert - jeden Schritt in Frage gestellt und korrigiert. Und selbst wenn da überhaupt nichts war, habe ich es getan, aus Angst, dass da jemand irgendwas sehen konnte, was ich nicht wollte." Max nickte mit offenem Mund. Für Julius war das ein riesiges Geständnis und für Max ein gewaltiger Dämpfer, den er erst mal kurz verdauen musste. Angst hatte er Julius ja nicht machen wollen. "Hast du ja auch nicht", war Julius' Antwort auf Max' unbewusst laut ausgesprochene Erklärung. "Ich habe mir wohl selbst am meisten Angst gemacht." Er wollte Julius' zögerliches Lächeln erwidern, aber seine Mundwinkel wollten ihm einfach nicht gehorchen. Wie eine Sturmflut schlug die Lautstärke des Films in Dolby-Surround über ihnen zusammen. Grollend kündigte sich irgendein Spektakel an. Bevor es sie erreichte, öffnete Julius endlich wieder den Mund. Max hing förmlich an seinen Lippen. Kein einziges Wort wollte er verpassen. "Du hast dich auch nicht zum Deppen gemacht." Da war es. In 3D, ohne Stuntman, ohne Special Effects. Indiana Jones schwang sich behende über den nächsten Abgrund und landete sicher auf der anderen Seite. "Das hat mir nur gezeigt, dass ich mich selbst zum Deppen mache." Der geknickte Strohhalm rutschte aus Max' Hand und verschwand irgendwo im Dunkeln unter seinem Sessel, als sich Julius noch ein Stück weiter zu ihm hinüber beugte. Als sich ihre Schultern berührten, war das wie ein Peitschenschlag, den der Held des Tages gerade auf der Leinwand einen nach dem anderen an seine Gegner austeilte. Julius' kühle Hand legte sich auf Max' in Flammen stehende Wange und zähmte so ein wenig das darunter liegende Lodern. Er war heilfroh, dass er schon saß, sonst hätte ihn Julius' sachter Kuss ganz sicher von den Füßen gehauen. Dabei war er so vorsichtig. Sein Mund presste sich so sanft auf Max', als hätte er Angst, dass dieser gleich wie eine Seifenblase platzte. Max fühlte, wie ihm der Magen in die Knie sank und sich der nun leer gewordene Fleck mit glühender Lava zu füllen begann. Er traute sich kaum, sich zu bewegen. So musste sich Julius gefühlt haben, dachte Max perplex. Damals, als er ihn im Flur das erste Mal geküsst hatte. Und jetzt war er selbst in dieser Position. "Gehen wir?", haute Julius auch schon den nächsten Knaller raus. "Oder bin ich der Einzige, der nicht mehr weiß, um was es in dem Film überhaupt geht?" Er lächelte Max so treuherzig an, dass Max wusste, wenn er jetzt aufstand, würde er auf der Stelle in sich zusammenfallen und mit einem leisen Puff einfach so verschwinden. Zum Glück war Julius da. Er hielt Max' Hand sicher in seiner und zog ihn im Aufstehen kurzerhand mit sich hoch. So vorsichtig wie möglich schlängelten sie sich an fremden Beinen vorbei zum Mittelgang und huschten leise durch den dicken Samtvorhang aus dem Kinosaal hinaus. Indiana Jones rief ihnen auf ihrer Flucht noch etwas gutgemeintes nach, was sie allerdings schon nicht mehr hören konnten.   Auch draußen ließ Julius seine Hand nicht los. Zusammen schlenderten sie den Gehweg entlang, ohne irgendein wirkliches Ziel zu haben. Max konnte es kaum fassen. Es war also tatsächlich ein Date gewesen, mit allem, was dazugehörte. Mitsamt schweigendem nebeneinander Hergehen und ineinander verschlungener Finger. Max protestierte noch nicht einmal, als Julius ihn zur Straßenbahn brachte. Er war kein bisschen enttäuscht, immerhin hatte er mehr bekommen, als er gedacht hatte. "Wir sehen uns." Max' Knie wurden augenblicklich weich. Er nickte und wusste insgeheim, dass er womöglich wie ein Trottel dabei aussehen musste. Und es war ihm so egal, wie ihm nur selten etwas egal gewesen war.   Mitsamt seinen Klamotten fällt Max auf sein Bett. Er würde nie mehr wieder einschlafen können, denkt er aufgekratzt – und schläft noch während dieses Gedankens ein.   ABBLENDE     Ninas Stimme zerrte an einer Stelle in Max' Unterbewusstsein, wo er bitte schön nicht gestört werden wollte. Vergeblich. Was zur Hölle war hier passiert? "Haltet doch mal eure Klappen!", fuhr Max seine Sitznachbarn an. "Ich bitte um Ruhe", kam ihm Nina diplomatischer, aber nicht weniger nachdrücklich zur Hilfe. "Stimmt das?", hörte Max eine zitternde Stimme das aussprechen, was ihm, seit Nina sie heute morgen alle ins große Wohnzimmer gerufen hatte, durch den Kopf ging. Er nahm noch nicht einmal wahr, dass er selbst diese Frage gestellt hatte, deren Antwort er eigentlich überhaupt nicht hören wollte. Nina nickte und versuchte erneut, die aufkommende Unruhe unter der Gruppe zu beschwichtigen. "Bitte, lasst mich doch erst einmal aussprechen. Fragen könnt ihr am Schluss stellen." "Was ist denn passiert?", fragte jemand. "Hatte er einen Unfall? Geht es ihm gut?" "Nein, nein", Nina hob die Hände, "Julius geht es gut. Aber er hat gekündigt." "Aber-aber wann denn? Und warum?", piepste eines der jüngeren Kinder dazwischen. "Am Freitag schon", gab Nina zu und man sah ihr an, dass sie sich unwohl fühlte. Max schwieg wie betäubt. Sein Mund fühlte sich taub an und seine Zunge lag schwer wie Blei in seinem Mund. Er wusste die Antworten auf die ganzen Wie's und Warum's, die nun aufkamen. Er hatte es sich denken können, dass da was im Busch war. Nein, falsch, er hätte es sich denken müssen. Anscheinend war er der letzte gewesen, der Julius nach seiner Kündigung gesehen hatte. Er war noch zu ihm gekommen und hatte ihm zur bestandenen Prüfung gratuliert und war dann hoch in sein Zimmer gegangen und hatte seinen Rucksack für sein freies Wochenende gepackt. Julius war hier weggegangen, wie er hier angekommen war. Ohne großes Theater. Ihm fiel das erste Wochenende ein, das sie mit Julius hier verbracht hatten. Das Lagerfeuer im Garten, die Folienkartoffel und das Salz, das er ihm angeboten hatte. War das nicht der lächerlichste Augenblick, um das erste Mal von jemandem so eingenommen zu sein, dass man nie mehr wieder eine Folienkartoffel von jemand anderem annehmen wollte? Was für ein seltsamer, surrealer Moment, um sich zu verlieben, oder?     Letzer Akt, Szene Eins:   AUFBLENDE:   JULIUS' EHEMALIGES ZIMMER – SONNTAG MITTAG   Max' Blicke schweifen durch das leergeräumte Zimmer. Die Bettwäsche ist abgezogen. Bettdecke und Kissen liegen sorgfältig zusammengelegt am Fußende des Bettes. Der Nachtschrank ist leer. Max hat alles abgesucht. Doch Julius hat keine Spur seiner Existenz hier hinterlassen. Nicht einmal den verschwundenen gelben Notizzettel mit dem aufgemalten Max-Fisch und dem Julius-Fisch. Was auch immer Julius' Plan gewesen war, er hat das erreicht, was er dafür gebraucht hat. Max war drei Tage lang still gewesen. Bewegungslos bleibt Max im Türrahmen stehen und schaut zurück ins Zimmer.   ABBLENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)