Sugar Sugar Rune - Sechs Jahre später (wird aktuell überarbeitet) von Anastasya ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Feuer und Wasser. Licht und Schatten. Angst und Mut. Lachen und Weinen. Himmel und Hölle. So gegensätzlich und doch können sie einander nicht entbehren. Feinde, die zusammengehören. Ein Kampf, bei dem es keinen Gewinner geben kann, nur Verlierer. Wenn du dein Herz schon verloren hast, wenn es jemandem bestimmt ist, dann kannst du es nicht ändern. Du kannst nur verlieren. Doch was ist, wenn du verloren hast? Wie ist es? Manchmal ist es schöner, als das Gewinnen... Wie Feuer und Eis bekämpfen wir einander, tun uns weh, doch können uns nicht loslassen. Was wir tun ist so dumm. Törichter könnten wir kaum sein. Drum sag mir... Warum tun wir das? Weil es das Richtige ist. Darum. Kapitel 1: Erwachen ------------------- Vorsichtig öffnete ich die Augen - vielmehr versuchte ich es. Es fiel mir ungewöhnlich schwer und ich hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht hat Blanca, dieses Mistviech, ja meine Augen zugetackert oder so. Zuzutrauen wäre das dieser kleinen Ratte allemal! Ich blickte in ein helles, geradezu weiß-grelles Licht. Wo war ich? Seit wann sah es bei Lovin so aus? Ich blinzelte mehrmals angestrengt, dann erkannte ich, dass das hier nicht Lovins Haus war, es sei denn, er hat über Nacht einen Doktortitel erlangt und praktiziert jetzt in seinem Haus. Am Bett neben mir standen Leute. Fremde Leute in weißen Kitteln und sie schienen irre aufgeregt zu sein. Ich vernahm die Stimmen: „Puls steigend, ich erkenne Reaktion der Augen.“ All so'n Arztjargon. Mindestens die Hälfte konnte ich gar nicht verstehen. Was zum Teufel sollte das alles bedeuten? Plötzlich wand sich eine der Gestalten mir zu um. „Hey, hier genauso!“ Ich war echt verwirrt. Was wollten die alle nur? Wie die Wilden wuselten sie um mich herum, schlossen Kabel hier und da an, drückten Knöpfe, leuchteten mir mit kleinen Taschenlampen in die Augen. Am liebsten hätte ich um mich geschlagen, aber es war, als hätte ich gar keine Kraft an mir. Ich lag einfach nur da. Im Bett neben mir war auf einmal ein leises Wimmern zu vernehmen. Ich drehte langsam den Kopf, aber leider wurde mir die Sicht durch die vielen Leute verborgen. Und allmählich ging mir ein Licht auf. Anscheinend befand ich mich in einem Krankenhaus; auch wenn ich keinen Dunst hatte, warum. Einer der jüngeren Ärzte faselte was von einem Wunder und dass er so etwas bisher noch nicht erlebt oder auch nur davon gehört hatte. Ich stutze erst, dann meldete ich mich endlich zu Wort. Es kam mir schwierig vor, Worte auszusprechen, aber mittlerweile hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. „Was zur Hölle ist hier los?“, fauchte ich, setzte mich auf und verschränkte grimmig die Arme. Dabei löste sich irgendein dämlicher Schlauch von meinem Handgelenk, aber das war mir wurscht. Ich wollte Antworten! „Warum bin ich hier?“ Der Arzt von eben reichte mir die Hand. „Chocola Kato, es freut mich unglaublich. Es grenzt an ein Wunder, dass Sie und Fräulein Aisu wieder erwacht sind.“ Verdutzt erwiderte ich den Händedruck. Was ging hier bitte ab? War das ein schräger Traum oder so? Moment. Fräulein Aisu? Das war doch Vanilla! Ich wand mich ruckartig wieder zum benachbarten Bett und erkannte sie endlich. Zumindest dachte ich das. Aber das Mädchen, das mir mit großen violetten Augen entgegen glubschte war gut fünf Jahre älter als Vanilla. Moment! Stopp! Rasch sprang ich aus meinem Bett und sah in den Spiegel an der Wand - dann bekam ich einen gehörigen Schrecken! Auch ich sah nicht aus wie elf Jahre. Langsam wurde es wirklich gruselig. Kam das daher, dass ich vor dem Schlafen immer zuviel Süßkram in mich reinstopfte? Ich hatte mal gehört, dass man davon schlechte Träume bekommen konnte. Ich drehte mich zu der kleinen Krankenschwester um, die ich mit meinem abrupten Sprung aus dem Bett über den Haufen gerannt hatte. Sie wirkte ein wenig zerzaust, aber nicht wütend. Vermutlich erlebte sie in ihrem Job noch ganz andere Sachen. „Was ist passiert?“, fragte ich leise und war mittlerweile erheblich blasser geworden. „Sie lagen im Koma, Fräulein Kato. Genau wie ihre Freundin, Fräulein Aisu. Ganze sechs Jahre. Und nun sind Sie beide zeitgleich wieder erwacht. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben.“ Ich starrte immer noch, als hätte mich gerade ein Blitz getroffen. „W-welchen Tag haben wir?“, fragte ich zögerlich, denn ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt glauben konnte oder ob ich hier noch irgendwas hören wollte. „Sonntag, 21. April 2013.“, antwortete sie gehorsam und lächelte sanft. „Sie sollten sich nicht zu sehr aufregen. Schließlich wollen wir Sie erst einmal behalten. Nicht, dass sie ein Schock wieder ins Koma zurückversetzt.“ Starr ging ich zurück in mein Bett und setzte mich auf die Bettkante. 2013... Wie konnte das sein? Vanilla, die auch gerade mit einem der Ärzte im Gespräch war, kullerte eine Träne die Wange hinab. Auch mir war gar nicht wohl, obwohl ich eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Doch dann hörte ich eine Stimme und ich fühlte eine Welle der Begeisterung und Geborgenheit in mir hochsteigen und nie, nie, nie, nie hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, dass ausgerechnet Lovin der Grund für derartige Gefühle sein könnte. Er trat ins Zimmer, glamourös wie eh und je, und zog mich mit einer eleganten Bewegung zu Vanilla, wo er uns beide fest in seine Arme schloss. Und mit fest meine ich wirklich sehr fest. Wollte er uns umarmen oder ersticken? Ich war mir da echt nicht sicher. „Meine Kinder, meine lieben, lieben Kinder.“, säuselte er theatralisch. „Ihr weilt wieder unter uns.“ „Gleich nicht mehr.“, giftete ich heiser und stieß ihn von mir. „Was war denn bitte los? Ich weiß ja, dass ich Langschläfer bin, aber sechs Jahre erscheinen mir dann doch ein wenig unrealistisch.“ Ein kleiner Teil von mir hoffte immer noch, dass ich einfach aufwachte und alles wieder normal war. Lovin beugte sich dicht zu uns und senkte seine Stimme. „Wisst ihr noch, eurer Ausflug an den Strand? Mit all euren Klassenkameraden und so?“ Synchron nickten Vanilla und ich. „Ja, wir waren am Strand und hatten einen ziemlich spaßigen Tag.“, murrte ich nachdenklich. „Ihr hattet einen Unfall. Vanilla ist zu weit aufs Meer hinausgeschwommen und war so erschöpft, dass sie das Bewusstsein verlor. Du, Chocola, bist ihr mit heldenhaftem Leichtsinn nachgeschwommen und wolltest sie retten, aber das Wetter schlug schlagartig um und ein Sturm trieb euch beide fort.“ Stimmt, diese Worte weckten recht lebhafte Erinnerung in meinem Kopf. Da waren mannshohe Wellen und ein grauer Himmel, Wind, der in den Ohren rauschte, wie ein Orkan. „Nach einer Woche vergeblicher Suche wurdet ihr von zwei Spaziergängern am Strand entdeckt und ins Krankenhaus eingeliefert. Seitdem lagt ihr hier im Koma.“ Vanilla traten schon wieder Tränen in die Augen, also legte ich tröstend den Arm um sie. Doch dadurch begann sie nur lauthals loszuschluchzen. „Oh, Choco, du hast nur meinetwegen dein halbes Leben verpasst. Ich bin mal wieder schuld!“ Noch ehe ich etwas erwidern konnte, fiel Lovin auch schon ein: „Ach, papperlapapp, das war ihr freier Wille. Außerdem weiß Chocola doch auch, dass man für Schöneres durchaus Opfer bringen muss.“ Fies zwinkerte er mir zu. Typisch, ich war das freche Rotzgör und Vanilla die wunderschöne und liebenswürdige Königstochter. „Wie dem auch sei“, begann er erneut, „ihr werdet jetzt beide nochmal durchgecheckt und wenn alles okay ist, kommt ihr wieder mit nach Hause.“ Die Untersuchung nahm ich kaum wahr. Ich saß nur da und war nur froh, als ich die Worte „Nun Fräulein Kato, bei Ihnen ist alles tipptopp, Sie dürfen wieder nachhause. Sollten in den nächsten Tagen etwaige Beschwerden auftreten, kommen Sie bitte wieder her.“ vernahm. Geistesabwesend nickte ich. Dann stapfte ich verwirrt aus dem Raum und in den Flur zu Lovin. Vanilla war auch schon da. Ich fühlte mich immer noch seltsam betäubt. Sechs Jahre... Wir hatten soviel verpasst. Ich kam mir vor, wie eine Fremde. Vielleicht war das ja doch nur ein Traum. Aber wenn ja, dann fühlte er sich verdammt echt an. Lovins Stimme riss mich wieder aus meinen Gedanken: „Nun los, meine Lieben. Auf geht's nach Hause!“ Kapitel 2: Willkommen in diesem Leben ------------------------------------- Lovins Villa sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte; groß und protzig, für eine einzelne Person viel zu übertrieben. Aber genau das passte zu ihm. Es wurde erst vor Kurzem beschlossen, dass Vanilla und ich bei ihm wohnen sollten. Hm, 'vor Kurzem'. Also eigentlich, war das jetzt schon ziemlich lange her. Ich konnte immer noch nicht so recht glauben, dass ich sechs Jahre im Koma gelegen haben soll. Das war doch Irrsinn! Automatisch ging ich zu meinem Zimmer. Auch hier war alles unverändert. Das war zwar beruhigend, aber ganz ehrlich? Lovin hätte doch immerhin mal aufräumen können. Er hat schließlich sechs verdammte Jahre lang Zeit gehabt. Als würde ich mich nicht schon genug über ihn aufregen, klang jetzt auch schon wieder seine laute Stimme durchs ganze Haus: „Mädels? Ihr könnt gleich wieder runterkommen. Wir gehen jetzt shoppen!“ Ich stöhnte genervt. Aber er hatte Recht, meine alten Sachen passten kaum noch. Ich sah an mir herunter. Mein Körper hatte sich sehr verändert. Das Kleid, das ich wie ein Shirt trug und die ausgeleierte Hose sahen wirklich merkwürdig aus; als wäre ich ein Riesenbaby. Ich wühlte in meinem Schrank. Irgendwas musste ich doch haben, was halbwegs passte. So, wie ich war, konnte ich nicht raus. Ein Kleidungsstück nach dem anderen schmiss ich achtlos hinter mir ins Zimmer. „Zu klein, zu pink, zu hässlich.“ Plötzlich hörte ich einen kleinen Aufschrei: „Chocola! Da bist du gerade zurück und verhältst dich so schrecklich wie eh und je.“ Duke! Ich lief auf ihn zu und drückte ihn an mich, so gut es halt ging - schließlich ist er ein Frosch. „Oh Duke, ich hab dich so vermisst. Aber ich hab jetzt gar keine Zeit. Lovin stresst schon rum.“ Ich setzte meinen kleinen Freund auf das chaotische Bett, ehe ich wieder begann, im Kleiderschrank herumzuwühlen. „Zu kurz, zu kindlich, was ist das?“ So ging es weiter, bestimmt zehn Minuten, bis ich plötzlich innehielt. Das lange, enge, grüne Kleid, das ich nun in den Händen hielt, gehörte einst meiner Mutter. Es war eines der Dinge, die sie mir überlassen hatte, bevor sie starb. Ich legte meine Klamotten ab und zog mir das Kleid an. Dabei fühlte ich mich seltsam. Das letzte Mal, dass ich dieses Kleid in den Händen hatte, war es viel zu groß. Und jetzt... Hier und da müsste man es noch ein bisschen enger nähen, aber es sah zugegebenermaßen echt gut aus, besonders zu meinem roten Haar. Lovin würde sicherlich höchst erfreut sein. Jetzt hatte ich nur noch das Problem: Ich hatte keine Schuhe. Aber als würde sie meine Gedanken lesen, kam Vanilla mir zur Hilfe. „Hier.“, mit sanfter Stimme legte sie mir ein Paar Ballerinas aufs Bett. Ich sah sie verwirrt an und schon wieder las sie meine Gedanken. „Meine Mutter. Beeile dich, Choco. Du siehst sehr hübsch aus.“ Ich lächelte und sah sie dann ernst an. Mir spukte das schon die ganze Zeit im Kopf herum und ich wollte es endlich klären: „Vanilla, weißt du noch, vor dem Unfall...“, ich zögerte einen Moment und sah sie erwartungsvoll an. „Ja?“, fragte sie, sichtlich irritiert. „Also, diese Ogul-Sache...“, fuhr ich zögerlich fort, aber Vanilla schien kein Licht aufzugehen. Hatte sie etwa vergessen, dass Pierre sie irgendwie hypnotisiert hatte oder so und sie die schwarze Prinzessin der Ogul war? Es sah ganz danach aus. Sie wirkte wieder wie früher. Also ließ ich das Thema auf sich beruhen. „Ich bin sofort unten.“ Kurze Zeit später polterte ich die breite Treppe hinab. „Damenhafter!“, ermahnte Lovin mich forsch. „Blablabla.“, winkte ich nur ab und stellte mich zu Vanilla. Ihr Haar war enorm gewachsen, meines aber auch. Lovin zückte ein riesiges Bündel mit Geldscheinen. „Erfreulicherweise hatte ich gestern ein Konzert und es war mehr als ausverkauft. Und davon profitiert ihr, meine Lieben. Ihr dürft euch aussuchen, was ihr wollt.“ Vanilla lächelte, aber ich fand shoppen gar nicht mal so spaßig. Oft zog es sich unglaublich in die Länge und war anstrengend und ermüdend. In Lovins schickem Sportwagen fuhren wir in die Stadt. Natürlich durfte Vanilla vorne sitzen, aber sowas kannte ich ja schon. War nix Neues und mir doch eigentlich auch egal. Rasch erreichten wir die sonnige Innenstadt mit ihren unzähligen Geschäften. Die Zeit verging tatsächlich langsam. Verging sie überhaupt? Ich saß im gefühlt hundertsten Schuhgeschäft und Vanilla probierte das hundertste Paar ewig gleicher Ballerinas an. Ich hing völlig erschöpft auf einer Sitzbank, umgeben von tausenden Tüten. Ein Blick auf die große Uhr hinter der Kasse verriet mir: Wir waren wirklich schon fünf Stunden unterwegs. Am Anfang war ich auch noch euphorisch und musste unbedingt dieses Paar Stiefel, jenes Kleid und diesen unglaublich geilen Hut haben. Irgendwo war ich ja auch ein Mädchen. Aber langsam reichte es doch ehrlich mal. Wir hatten jedes erdenkliche Kleidungsstück in diesen Tüten. Man konnte die alle kaum noch tragen. Ich ließ mich nach hinten fallen, stieß aber auf etwas Hartes und nicht, wie erwartet, auf die weiche Sitzbank. Mit einem lauten Fluchen drehte ich mich ruckartig um und was ich dann sah, tja, damit hatte ich echt überhaupt nicht gerechnet. Es war Pierre! Ausgerechnet dieser Junge saß direkt hinter mir. Er starrte mich genauso überrascht an, wie ich ihn. Eine Sekunde verging, dann eine weitere. Es muss echt blöd ausgesehen haben. Eine schrille Frauenstimme riss mich aus meinen Gedanken. „Pierre-Schatz? Was hältst du von denen?“ Unsere Blicke lösten sich abrupt und galten jetzt dieser, mir fremden, Frau. Ihm war sie anscheinend überhaupt nicht fremd, denn er strich über ihre Beine, lächelte sie an und sagte: „Nein, die sind zu flach. Die machen dicke Beine.“ Das Mädchen sah deprimiert aus und Pierre reichte ihr einen Schuhkarton. „Die sind super.“ Wie unhöflich er war, genau, wie in meiner Erinnerung. Die Treter, die die Fremde dann aus dem Karton holte und sich anzog, waren zwar wunderschön, aber auch schrecklich hoch. Pierre hatte sie extra für sie rausgesucht, wollte, dass sie toll aussah. Das war so... Liebenswert. Bah, nein! Ich schüttelte den Gedanken ab, ehe es widerlich werden konnte. Gott sei Dank rief Vanilla mich in diesem Moment und ich schnappte mir alle Tüten und eilte stolpernd auf sie und Lovin zu. Konnten wir nun endlich nachhause? Denkste! Wir sollten noch zum Friseur. Okay, wenn man uns mal ansah, konnte man wirklich sagen, dass das nötig war. Im Krankenhaus waren uns zwar notdürftig die Haare geschnitten worden, aber die Leute dort waren schließlich keine Friseure. Hier mussten wirklich mal Profis ran. So zog sich der Tag um noch weitere zwei Stunden und ich war danach so erschöpft, wie vermutlich noch nie. Als wir schließlich wieder zum Auto zurückkamen, fläzte ich mich auf die Rückbank und musste mich wahnsinnig zusammenreißen, um nicht einfach einzupennen. Dann waren wir endlich wieder zuhause angekommen. Was für ein Segen! Meine prallgefüllten Tüten hatte ich achtlos unten im Foyer stehen lassen und war direkt zu meinem Zimmer geeilt. Dieser Tag hatte mich geschafft. Meine Füße taten weh und mein Hirn hatte immer noch Probleme damit zu begreifen, was passiert war. Von einem Tag auf den anderen hatte sich alles verändert; einfach so. Und ausgerechnet Pierre war ich heute über den Weg gelaufen. Pierre, der soviel älter war und ein fremdes Mädchen an seiner Seite hatte... Ich warf mich auf mein Bett und ehe ich mich versah, war ich schon ins schöne Reich der Träume eingetaucht. Kapitel 3: Alltag Ahoi ---------------------- Am nächsten Morgen wurde ich ziemlich unsanft geweckt; und viel zu früh! Lovin patschte mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Ich murrte ihn an, aber ehe ich zu Wort kommen konnte, giftete er schon los: „Chocola Meilleur! Was ist an 'Aufstehen, Schule' eigentlich so schwer zu verstehen? Immer das Gleiche mit dir.“ Er sollte mich in Ruhe lassen, ich war müde. Kein Mensch konnte von mir erwarten, heute in die Schule zu gehen. Doch Lovin sah das offenbar anders und riss mir die Decke weg. Ich richtete mich auf und sah ihn aus verengten Augen an. Naja, ich sah ihn weniger an, als dass ich ihn mit meinem Blick töten wollte. Wenn ich das doch nur könnte, wäre echt praktisch! Ich wollte meine Ruhe. Aber er ließ nicht von mir ab, seufzte nur ziemlich genervt und schob mich hektisch ins Badezimmer. Ich knallte die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel herum. Argh! War ich nicht quasi noch krank? Man musste freundlicher mit mir umgehen! Soviel Stress war gar nicht gut. Ich sah mich verschlafen um. Dann kam mir eine glänzende Idee: Erstmal noch ein kleines Nickerchen auf dem wundervoll flauschigen Teppich. Der war so dick und kuschelig, er würde ein wunderbarer Bettersatz sein. Ich kniete mich darauf und rollte mich gerade gemütlich zusammen, aber Ruhe schien mir einfach nicht vergönnt zu sein. „Nicht schlafen, Chocola!“, brüllte mein heißgeliebter (nicht) Lovin und hämmerte wie ein wild gewordener Büffel an die Tür. Wie konnte er das wissen? Hatte er hier Kameras montiert? Oder musste ich mir eingestehen, dass er mich doch besser kannte, als mir lieb sein konnte? „Sonst komme ich rein!“, fügte er hinzu und diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Erschrocken sprang ich auf meine Füße und schaffte es irgendwie zu duschen, die Zähne zu putzen und mich anzuziehen. Gerade legte ich mir noch ein bisschen von meinem frisch erworbenem Make-Up auf, da hörte ich zur Abwechslung mal Vanillas liebliches Stimmlein. „Frühstück ist fertig.“, säuselte sie die Treppe hinauf. Und wie es fertig war! Als ich, mehr oder weniger fertig, mein Badezimmer verließ, wehte mir schon der Geruch von frischen, süßen Pfannkuchen entgegen. Es roch so köstlich, dass mir das Wasser im Mund zusammen lief. Ich seufzte zufrieden und ließ mich von dem zauberhaften Duft in die Küche locken. Lovin saß mit übereinander geschlagenen Beinen am Esstisch und las in der Zeitung; seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, über seinen letzten Auftritt. Dann zog das Geräusch von Schritten meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine junge Frau stieg die Treppe herunter, ihre schimmernde Jacke achtlos um den Körper gewickelt. Darunter erkannte ich noch ein knappes Kleidchen. Schnurstracks stolzierte sie auf Lovin zu und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Fast hätte ich brechen müssen. Das war ja widerlich! Lovin wirkte eher unbeeindruckt. „Meine Nummer hast du ja.“, quiekte die fremde Frau begeistert. „Du meldest dich doch, oder?“ Zugegeben: Hübsch war sie ja; welliges braunes Haar, lange, dunkle Wimpern und ihre Haut sah aus, als würde sie sich ganz samtig anfühlen. Aber ich sah ihr auch an, dass sie nicht wirklich die hellste Kerze im Kronleuchter war; also ganz Lovins Beuteschema. Er stand auf, legte eine Hand auf ihren unteren Rücken und führte sie zur Haustür. Dabei wechselten sie einige Worte, die ich aber nicht verstehen konnte. Kurz sah ich den beiden noch nach, dann ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Ich war jetzt schon völlig erschöpft, wie sollte ich den Tag denn überstehen?! Vanilla wuselte in einer hellrosanen, geblümten Schürze um mich herum. Sie hatte eine Servierplatte in der Hand und lud mir einen ihrer wundervoll duftenden Pfannkuchen auf den Teller. Er war ganz frisch und dampfte sogar noch. Ich löste meinen Blick davon und musterte meine Freundin genauer. Sie sah gar nicht aus, als hätte sie sechs Jahre im Koma gelegen, ganz im Gegensatz zu mir. Während ich aussah, wie der aufgewärmte Tod, schwebte sie frisch und fit in ihrer glattgebügelten Schuluniform durch die Küche, das kurze hellblonde Haar in den für sie typischen, fluffigen Locken. Ich fragte mich immer wieder, wie sie das anstellte. Missmutig griff ich nach der Schokoladencreme, um meinen Pfannkuchen großzügig damit zu bestreichen, als Lovin zu uns zurückkehrte und seinen Kaffee weiter trank. Er wirkte zwar etwas müde, aber voll und ganz zufrieden. Ich warf ihm ein herausforderndes Grinsen zu. „Seit wann behältst du deine Frauen denn über Nacht hier?“, fragte ich stichelnd, „Meinst du nicht, das könnte uns verderben?“ Doch Lovin lachte nur, ohne aufzusehen: „Chocola, sei nicht albern, ihr seid nicht mehr elf.“ Eklig, aber damit hatte er Recht. Ich konnte das immer noch nicht ganz fassen. Es war schon merkwürdig, wenn du aufwachst und auf einmal 17 Jahre alt bist. Ich fühlte mich noch nicht so, aber redete mir ein, dass ich mich schon daran gewöhnen würde; denn wie elf kam ich mir auch nicht mehr vor. 17... Das war fast schon erwachsen Ein wenig Bammel vor meinem ersten Schultag konnte ich nicht abschütteln, obwohl mich eigentlich nichts in Furcht versetzen konnte. Dabei hat Lovin uns sogar verzaubert, um unser Wissen und unsere Fähigkeiten unserer Klassenstufe anzupassen. Sonst hätten wir uns wohl wirklich blamiert. Es war echt irre praktisch mit Magie nachhelfen zu können. „Bummel nicht so, Chocola, ihr müsst gleich los.“, ermahnte Lovin mich und ich warf ihm nur einen giftigen Blick zu. „Laff miff meine Fannkuffen effen.“, nuschelte ich. Nicht mal beim Frühstück hatte ich meine Ruhe? Das war hier ja wie im Knast. Lovin rollte nur die Augen und faltete lautstark seine Zeitung zusammen. Dann erhob er sich schwungvoll. „Ich fahre euch.“ Vanilla kam derweil mit zwei prall gefüllten Schultaschen die Treppe herunter und reichte mir eine. „Hier, ich wusste, dass du es wieder vergessen würdest.“, sagte sie. Aber sie klang nicht vorwurfsvoll. Das hatte sie nie getan. Deshalb war sie auch meine beste Freundin. Ich griff nach meiner Tasche und warf sie mir achtlos über die Schulter. Ich hatte wirklich vergessen, meine Schulsachen zusammenzupacken. Aber eines fehlte noch. „Wo ist Duke?“, fragte ich, weniger speziell an Vanilla gerichtet, als einfach so in den Raum gestellt. Suchend sah ich mich um. „Choco-chan.“ Vanilla klang amüsiert und legte mir ihre Hand auf den Arm. „Wir sind jetzt Oberstufenschüler, du kannst in deinem Pult keinen Frosch mehr verstecken.“ „Genau.“, piepste Blanca. Wo war ausgerechnet die denn jetzt wieder hergekommen? Ich blickte mich um und fand die dumme, kleine Maus auf dem Treppengeländer. Genervt streckte ich ihr die Zunge heraus. „Pieps, man sollte meinen, nach sechs Jahren wärst du ein Fünkchen damenhafter.“ Aus ihrer Stimme war der Vorwurf mehr als deutlich zu vernehmen. So war das halt mit uns. Ich mochte sie nicht und sie mochte mich nicht. Das würde sich vermutlich nie ändern, egal, wie viel Zeit verging. „Ich dachte, Ratten würden gar nicht so lange leben.“, erwiderte ich trocken und Blanca huschte schimpfend und piepsend die Treppe hoch, vermutlich zurück in Vanillas Zimmer. Die sah mich jetzt vorwurfsvoll an. „Mensch, Choco, könnt ihr euch nicht einmal jetzt vertragen?“ Dann stolzierte sie zur Haustür und ich folgte ihr, wo Lovin uns schon in seinem Cabrio erwartete. Was konnte ich denn dafür, dachte ich mürrisch, wollte mich aber nicht weiter davon nerven lassen. Schließlich hatte der Tag gerade erst angefangen. Kapitel 4: Kein Kind mehr ------------------------- Lovin setzte uns vor den Toren unserer neuen Schule ab und verabschiedete sich mit einem Winken und brüllendem Motor. Ein paar Leute, die in Grüppchen an der Straße standen, blickten ihm interessiert hinterher. Ich würde wetten, dass der eine oder andere ihn erkannt hatte, immerhin war er ein Promi; ein Star in beiden Welten. Und das versteckte er auch nicht gerade. Schon sein Auto war ja nicht gerade 0815. Vanilla durchwühlte die vielen Zettelagen, die sie im Arm trug: Anmeldeformulare, Lagepläne, Hausordnung, ...Wie immer war sie gut vorbereitet, aber ich merkte, wie flach ihr Atem ging. „Aufgeregt?“, fragte ich mitfühlend und lächelte ihr zu. Schließlich wollte ich heute für sie da sein, so wie ich es immer war. Und ohne sie würde ich mich bestimmt verlaufen. Sie nickte nur stumm und wir liefen auf die Eingangstür des Gebäudes zu. „Woah, es ist echt ganz anders als vorher, oder Vanilla?“, fragte ich und erwartete eigentlich keine Antwort. Ich hoffte nur, Vanilla mit meinem Gequatsche ein wenig beruhigen zu können. „Kaum zu glauben, dass wir soo lange geschlafen haben.“ Ich hätte bestimmt noch weiter irgendein irrelevantes Zeug erzählen können, aber eine Stimme unterbrach uns. Es war eine männliche Stimme, aber sie klang, als wäre der Stimmbruch noch nicht ganz vollzogen. „Vanilla? Chocola?“, fragte sie unsicher und trat an uns heran. Ein schlaksiger, blasser Junge mit schwarzem, stacheligem Haar sah uns aus großen ungläubigen Augen heraus an. Dieser Anblick kam mir doch bekannt vor... „Akira.“, begrüßte Vanilla ihn, freundlich wie eh und je und damit ging auch mir ein Licht auf. Stimmt, Akira Mikado, der uns damals vehement für Aliens gehalten hatte. Irgendwie war es beruhigend, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Auch wenn das Gesicht anders aussah, als noch vor sechs Jahren. Es war weniger kindlich und viel kantiger. Nur die Augen sahen noch genauso aus, wie früher. „Ja, hi.“, schloss ich mich dem allgemeinen Begrüßen an und fügte hinzu: „Akira, altes Haus, wie geht's, wie steht's?“ Er starrte uns noch einen Moment ungläubig an und ich betete innerlich, dass er nicht wieder mit seiner Außerirdischen-Paranoia loslegte. „Ich habe schon nicht mehr geglaubt, dass ihr beiden zurückkommt. Dieser Unfall... Und ihr seid einfach nicht aufgewacht. Ich kann nicht fassen, dass ihr hier seid.“ Ich grinste nur und erwiderte: „Doch, schau, wir sind ganz real.“ Wie um es zu beweisen, zupfte und zerrte ich an meinen Klamotten und machte einen kleinen Sprung. Vanilla sah mit geröteten Wangen zu Boden und sagte kein Wort mehr. Es war merkwürdig, im Klassenraum zu sitzen. Es gab bekannte Gesichter und gänzlich neue. Wobei das nicht wirklich einen Unterschied machte. Fremd waren sie alle irgendwie. Ich kannte sie nur noch von den Genesungskarten und -präsenten, die wir aus dem Krankenhaus hatten. Manche begrüßten uns auch gar nicht, aber das wunderte mich nicht großartig. Für sie war es schließlich auch seltsam und als einfache Menschen waren sie noch viel weniger außergewöhnliches Zeug gewöhnt, als wir Hexen. Der Unterricht zog sich endlos lang hin, genau, wie ich es in Erinnerung hatte. Einfach öde. Die Lehrer siezten uns mittlerweile und die Themen waren viel unangenehmer und ernster, als noch in der Grundschule. Als die Klingel ertönte, die das Ende des Schultages verkündete, warf ich alle meine Sachen in einem Rutsch in meine Tasche und sprang vom Stuhl. „Fräulein Kato!“, ermahnte mich die Mathelehrerin, Frau Kanjuji, erbost. „Setzen Sie sich sofort wieder hin. Ich beende den Unterricht. Wir sind doch nicht mehr in der Grundschule!“ Mürrisch beugte ich mich ihrem Willen. Wenn sie doch nur wüsste, dass ich doch noch ein bisschen in der Grundschule war. Schließlich wurde man nicht von heute auf morgen erwachsen. Vanilla schrieb noch eifrig mit, bis Frau Kanjuji uns in den Nachmittag entließ. „Fräulein Kato, Sie noch nicht, Sie kommen bitte noch einmal zu mir.“ Genervt stöhnte ich und quälte mich zum Lehrerpult, während meine Mitschüler dem Klassenraum den Rücken kehren konnten. Frau Kanjuji ließ sich Zeit. Sie deutete auf einen Stuhl neben ihrem Pult und ich setzte mich darauf. Dann stapelte sie in aller Ruhe ihre Papiere und räumte Schreibuntensilien zusammen, bis wir schließlich alleine waren. Auch das Gelärme auf den Fluren wurde immer leiser. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, verschränkte die Finger ineinander und sah mir fest in die Augen. „Fräulein Kato, ich habe ja Verständnis für Sie und Fräulein Aisu, aber ich erwarte doch ein Mindestmaß an Benehmen. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Fräulein Aisu. Sie zeigt viel mehr Engagement und Manieren, als Sie. Verhalten Sie sich also, wie die fast erwachsene Frau, die Sie sind.“ Sie hatte eine ganz ernste, aber bedachte Stimme aufgesetzt, doch ich sagte nichts, sondern murrte nur leise. Ich wollte mich erheben, aber sie hielt mich zurück. „Ich möchte Ihnen nichts Schlechtes. Beherzigen Sie meinen Rat. Dann wird schon alles werden. Und wann immer Sie Hilfe brauchen, können Sie sich an mich oder meine Kollegen wenden.“ Sie wollte eine Reaktion von mir, das machte sie mehr als deutlich. Und ich tippte, dass es kein genervtes Augenrollen war. „Okay.“, entgegnete ich ruhig. „Werde ich.“ Sie nickte und dann trottete ich ein wenig niedergeschlagen in den Schulflur und aus dem Gebäude hinaus. Himmel, es war wirklich nicht so einfach, wie sich das alle vorstellten; vor Allem nicht für mich. Ich hatte damals schon schnell gemerkt, dass ich in der Menschenwelt sehr oft aneckte und das hatte sich offenbar nicht geändert. Jetzt eckte ich höchstens noch mehr an, weil ich sechs Jahre meines Lebens verpasst hatte. Zeit, in der ich hätte lernen können, mich hier zurecht zu finden. Wie sollte denn einfach alles wieder seinen Gang gehen? Das kam mir vor, wie eine unmögliche Aufgabe. Der Schulhof war schon relativ leer; leer und groß. Nur wenige Menschen liefen noch herum und alles war grau betoniert. Es gab keine Schaukel, kein Klettergerüst und keine Wippe, wie in meiner vorherigen Schule; nur einige Sitzgelegenheiten. Bänke und Tische reihten sich nebeneinander auf und ich konnte auch drei Tischtennisplatten entdecken. Die massive Größe des Schulhofs wunderte mich nicht im Geringsten, immerhin lagen die Oberschule und die Hochschule direkt nebeneinander und teilten sich diesen Platz, der durch zwei Tore, soweit ich das wusste zumindest, zu erreichen war. Aber vermutlich waren es nicht die einzigen Eingänge zu dem riesigen Schulzentrum. Es war keine Menschenseele mehr zu sehen, und ich war wohl so sehr in meine Gedanken versunken, dass ich nicht zu dem Tor der Oberschule, sondern quer über den Schulhof gewandert war. Und jetzt stand ich vor der großen Universität und starrte das kahle Gemäuer mit den vielen Fenstern an. Die tief stehende Sonne spiegelte sich in einer Scheibe und ich starrte einfach nur. „Das dauert wohl noch ein wenig.“, stellte eine kühle Stimme hinter mir fest und ich wand mich erschrocken um. Ich kannte diese Stimme. Ich kannte sie nur zu gut. Aber das konnte doch jetzt nicht wahr sein? Das war doch nicht etwa...? Ich hoffte, dass ich mich täuschte. Ein kleiner Teil von mir wollte das zwar nicht, aber der hatte nichts zu melden. Doch ich hatte mich nicht verhört, das wusste ich ganz genau. Jede Faser meines Körpers wusste es und ich brauchte mich gar nicht bemühen, mir etwas anderes einzureden. Das Universitätsgebäude befand sich nun hinter mir und mit weit aufgerissenen Augen starrte ich völlig entgeistert Pierre an. Kapitel 5: Der neue Junker von Eis und Schnee --------------------------------------------- Als wäre ich zu Eis erstarrt stand ich bloß da, als Pierre mit geschmeidigen Schritten auf mich zukam. Ich konnte meinen Blick kaum lösen. Er trug, nicht wie ich eine Uniform, sondern eine dunkle Hose und ein strahlend weißes Hemd. Das stand ihm wahnsinnig gut, aber... Was zur Hölle sollte das eigentlich?! Da war ich sechs Jahre ohne Bewusstsein im Krankenhaus und kaum kam ich da raus, begegnete ich gleich zweimal diesem - diesem - arroganten Chauvi. Er, der Unhold, der damals... Ach, lassen wir das! „Meiner Meinung nach, dürfte das noch viel länger dauern.“, erwiderte ich unwirsch und verschränkte reflexartig die Arme vor der Brust. Alles in mir war auf Abwehr geschaltet. Der Kerl hatte mich einfach kalt erwischt; zum zweiten Mal. Ich betrachtete Pierre noch einen Moment lang. Zwar hatte ich ihn schon gestern gesehen, aber das war nur kurz gewesen. Daran hatte ich schließlich auch gar kein weiteres Interesse gehabt. Das zumindest redete ich mir unaufhörlich ein. Trotzdem fühlte ich mich flau, als ich daran dachte, wie sich unsere Blicke getroffen hatten... Er sah immer noch gut aus. Sogar besser als damals. In dieser Hinsicht blickte ich wohl mal nicht durch die Augen einer Elfjährigen. Sein Haar war noch immer silberblond, perfekt gescheitelt und rahmte sein außergewöhnlich blasses und ausdrucksloses Gesicht ein, aus dem mich seine eisblauen Augen nicht weniger ausdruckslos ansahen. Sie strahlten eine wohlbekannte Kälte aus. Er war groß und nicht mehr so schlaksig, wie mit 14. Der Muskulöseste war er aber auch nicht, eher schlank. Zu viele Muskeln würden ihm vermutlich auch gar nicht stehen. Sein Blick ruhte wie eingefroren auf mir und machte mich ehrlich nervös. „Is' was?“, blökte ich ihn an. Dieses Angestarre machte mich noch wahnsinnig; hatte es schon immer. Er hatte ärgerlicherweise irgendwie die Fähigkeit, meine Coolness und Abgebrühtheit, die mich doch eigentlich so kennzeichneten, einfach verschwinden zu lassen. Puff. Und anscheinend hatten auch die sechs Jahre Koma nichts daran geändert. „Schön, dich wieder wach zu sehen.“, antwortete er nach einer kleinen Pause in einem Tonfall, den ich nicht einordnen konnte. Moment mal! Wach? Sollte das heißen, er war im Krankenhaus gewesen? Mein Gesicht wurde warm. Nun, er hatte immerhin sechs Jahre Zeit gehabt und wir hatten damals ja auch dieses Date. Mhh... Tatsächlich hatte das aber wohl nur stattgefunden, weil er geplant hatte, mich auszuschalten. Und trotzdem war ein Date doch ein Date. Und es konnte ja wohl niemand leugnen, dass irgendwas zwischen Pierre und mir war... Ich schüttelte die Gedanken rasch von mir und sah ihn mit feixendem Blick an. „Dabei war ich immer der Meinung, dass du nicht gerade an meinem Wohlergehen interessiert warst!“ Mein Tonfall klang verletzter, als beabsichtigt und ich hoffte, dass Pierre das nicht merken würde. Aber um ehrlich zu sein, hegte ich da keine allzu großen Hoffnungen. Pierre war zu berechnend, als dass ihm sowas entging. Vor meinem geistigen Auge erschien wieder die junge Frau, die ich gestern mit ihm in diesem Schuhladen gesehen hatte und mir wurde übel. Schon wieder ein Gedanke, den ich loswerden wollte. Er starrte mich - wieder - nur an und sagte kein Wort, verzog nicht die kleinste Miene. Warum glotzten wir ständig nur, das war doch dämlich. Dann plötzlich lächelte er. Nur ganz leicht, aber es war ein Lächeln. „Vielleicht“ Er setzte zu seiner Antwort an. „könnten wir ja mal wieder ausgehen. Nur als alte Freunde, versteht sich. Wobei man sich mit dir mittlerweile wirklich draußen sehen lassen kann.“ Die Worte echoten in meinem Kopf; und Pierre verschwand einfach; marschierte schnurstracks in das Universitätsgebäude und ich war wieder alleine. Immer noch ungläubig zückte ich mein Handy und schrieb Vanilla mit zittrigen Fingern eine SMS: 'Hey, ich komm später nachhause, du brauchst nicht warten.' Vermutlich stand sie schon eine ganze Weile am Tor der Oberschule. Sie war viel zu umsichtig, um ohne mich nach Hause abzuhauen. Aber ich hatte gerade wirklich keinen Nerv auf Gesellschaft, nicht einmal auf meine beste Freundin. Ich musste alleine sein und meine Gedanken ordnen. Ziellos trottete ich durch die Stadt. Ich passierte Straße für Straße und ließ mich schließlich auf einer Bank am Flussufer nieder. Dort war es schön. Man konnte das Treiben der Stadt beobachten, saß aber trotzdem irgendwie abseits im Grünen. Ich benutzte meine Tasche als Schemel für meine Füße. Was war das nur für ein erster Tag? Ich war jetzt schon völlig überfordert, dabei hatte ich noch nicht einmal erfahren, wie es in der Zauberwelt aussah. Schließlich konnten weder Vanilla, noch ich den Thron besteigen. Bisher hatte Lovin noch kein Wort dazu gesagt und auch sonst war niemand aufgetaucht, um uns mal auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen. Vielleicht herrschte noch Vanillas Mutter Candy? Vielleicht wurde jemand völlig anderes auserkoren? Ich hatte gar keine Ahnung. Alles war so ungewiss. Ach Mann, bei dem Gedanken daran wollte ich gar nicht mehr nach Hause zurückkehren, obwohl ich meine Heimat immer geliebt habe. Erschöpft lehnte ich mich zurück. Was meinte Pierre eigentlich mit 'mittlerweile kann man sich mit dir wirklich draußen sehen lassen'? War das sein verdammter Ernst?! Ich war doch kein hässliches Sumpfmonster. Und wieso wollte er sich überhaupt mit mir sehen lassen? Was hatten wir uns noch groß zu sagen? Er konnte sich doch wohl mit seiner dickbeinigen Freundin mehr als genug sehen lassen, pah! Eigentlich war sie gar nicht dickbeinig. Sie war generell eher hübsch. Schlank, mit langen, rotblonden Locken, die ihr über die Schultern fielen. Vielleicht nicht die Klügste, aber wie konnte man das auch sein, wenn man sich mit Pierre einließ? Schon wieder stiegen Übelkeit und Trauer in mir hoch. Ich musste gerade reden. Und sogar Vanilla hätte dieser Schuft beinahe verdorben. Wahrscheinlich war es besser, wie es war. Durch die sechs Jahre Distanz war ich eigentlich auch gar nicht mehr an Pierre interessiert. Das redete ich mir nicht nur ein, das war auch so! Es war halt nur komisch, ihn wiederzusehen. Nach all der Zeit und allem, was passiert war. Das konnte mir echt keiner absprechen. Und überhaupt: Eigentlich hatte ich im Moment doch ganz andere Sorgen. Da konnte ich ihn mit seinen eisblauen Augen gar nicht gebrauchen. Höchstens als alten Freund, wie er so schön gesagt hatte. Und nicht mal davon war ich überzeugt. Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, mich auf die Geräusche um mich herum zu konzentrieren. Was brachte es schon, die Gedanken sinnlos im Kreis rotieren zu lassen? Es führte zu nichts, so kam ich einfach nicht weiter. Ich hörte Vögel. Sie zwitscherten fröhlich ihre Lieder und kündeten den Frühling an, genauso, wie die tief stehende Sonne, die ihre Strahlen auf mein Gesicht legte. Die Wärme streichelte meine Haut. Der Fluss plätscherte leise und harmonisch vor sich hin, Motoren brummten eine wirre Melodie und Stimmengewirr verfeinerte diese. Irgendwie hatte all das was Beruhigendes an sich. Es wirkte fast, wie mein persönliches Schlaflied und es gelang mir doch tatsächlich, all das wirre Zeug, das mir gerade durch den Kopf spukte, einfach mal beiseite zu lassen. Was für eine Wohltat! Ich merkte, wie sich eine bleierne Schwere über mich legte, einer massiven Wolldecke gleich, die mich vor allem verbarg und mich gemütlich einlullte. Gerade war alles schön friedlich. Langsam begann ich mich zu entspannen und alles trat in den Hintergrund. Außer, diese Augen, diese unverkennbaren, eisblauen Augen... Kapitel 6: Männertipps per Anhalter ----------------------------------- Die Sirene eines Krankenwagens zerriss die angenehme Stille und ich schreckte auf. Lalü, lalü. Ich lungerte immer noch auf der Bank am Fluss, aber es dämmerte schon stark. Die Sonne stand nicht mehr am Himmel. War ich etwa eingeschlafen? Ich hatte doch nur einen Moment gedöst. Aber offenbar war dieser Moment erheblich länger gewesen. Etwas irritiert erhob ich mich, griff meine Tasche und stakste die Böschung zur Straße hinauf, wo sich schon die ersten Straßenlaternen einschalteten. Ich war tatsächlich eingenickt. Doch ich konnte mich nicht weiter darüber wundern, denn das Handy in meiner Rocktasche vibrierte energisch und ich holte es hervor, um auf das Display zu sehen: Zehn entgangene Anrufe von Vanilla, zwölf von Lovin und sechs ungelesene Nachrichten. Ich öffnete sie und mir schwante Übles. Alle, bis auf eine, waren von Vanilla. Lovin schrieb: 'Chocola Meilleur, wo bleibst du? Melde dich sofort!!!' Vanillas Nachrichten waren sehr viel netter formuliert. Es waren etwa fünf Versionen von 'Choco, wo bist du denn, wir machen uns Sorgen, bitte komm heim :'(' Vermutlich saß sie in dieser Sekunde heulend auf ihrem Bett und kriegte sich gar nicht mehr ein. Vanilla war schon immer nahe am Wasser gebaut. Eilig antwortete ich auf ihre letzte SMS, versicherte, dass ich nur die Zeit vergessen hatte und auf dem Rückweg war. Lovin schrieb ich nichts. Erstens, weil Vani ihm sowieso sofort Bescheid geben würde und Zweitens, weil er garantiert fuchsteufelswild war; darauf konnte ich gut verzichten. Ich musste jetzt schnell zurück; quasi sofort! Kurz entschlossen hielt ich meinen Daumen raus und schlenderte in die Richtung meines Zuhauses. Vielleicht würde ja irgendjemand Freundliches anhalten und mich ein Stück mitnehmen. Ansonsten wäre ich bestimmt noch 'ne gute Stunde unterwegs. Klar, ich könnte Lovin anrufen, damit er mich abholte, aber da würde ich lieber sterben. Und das Schicksal meinte es doch tatsächlich gut mit mir und ich hatte mal Glück. Nur wenige Minuten vergingen, bis eine alte Dame neben mir bremste, anhielt und mich zu sich ins Auto einlud. Es war ein edler, schwarzer Wagen und er war von außen und innen wie geleckt. Auf der Mittelkonsole saß ein kleiner, gescheckter Hund, der mich neugierig begutachtete, als ich auf den Beifahrersitz kletterte und meine Tasche in den Fußraum stopfte. Es roch seltsam, nach einer Mischung aus sterilem Leder und fragwürdigen Parfüms. Hatte der Hund auch welches aufgelegt? Ich musterte die hechelnde Kreatur unauffällig. „Wo soll es denn hingehen, meine Kleine?“, krächzte die alte Dame zuvorkommend und fuhr langsam wieder an. „Ehm, ich müsste ein gutes Stück die Straße runter, zum Stadtrand.“, antwortete ich ungewohnt höflich. Mir war gar nicht klar, dass ich zu sowas in der Lage war. „Ah, wunderbar.“, erwiderte die Dame und fuhr fort: „Ich muss auch aus der Stadt raus. Ich wohne hier nämlich gar nicht. War nur ein paar Besorgungen machen. Diana brauchte dringend neues Futter, das Alte mochte sie nicht mehr.“ Sie warf einen raschen Seitenblick auf ihr kleines Hündchen und bedachte es liebevoll. „Tja, nichts ist mir lieber, als mein kleiner Engel. Deshalb sind wir extra nach außerhalb gezogen. Diana liieebt das Land. Dort kann sie viel besser rumtollen, als hier und für meine Gesundheit ist es ja auch viel besser - weniger Smog und mehr Ruhe. Hach.“ So plapperte sie weiter. Zum Glück erwartete sie keine Antworten oder Kommentare meinerseits. Manchmal nickte ich oder machte ein zustimmendes Geräusch und das schien ihr voll und ganz zu genügen. Nach einer Weile - ich hatte wirklich keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war - unterbrach ich sie und deutete auf eine imposante Auffahrt. „Dort können Sie mich rauslassen.“ „In Ordnung, mein Kind“, krächzte die Alte daraufhin und lenkte ihren Wagen vor das verschlossene Tor. „Wow, ganz schön dekadent.“, sie pfiff beeindruckt durch die Zähne. „Mir ist ja das einfach Leben lieber. Diana und ich brauchen nicht viel. Kleine Zwei-Zimmer-Holzhütte. Natürlich in bester Lage und mit großem Grundstück.“ „Aha.“, erwiderte ich nur und stieß die Tür auf. „Danke für's Mitnehmen.“, fügte ich relativ emotionslos hinzu, da sagte sie noch etwas, was mich aufhorchen ließ. „Ach Kindchen, gerne doch, aber lächle mal wieder. Der Kerl ist es bestimmt nicht wert und in deinem Alter kommt bald der Nächste. Und ob der es dann wert ist, bleibt auch noch abzuwarten.“ Ich warf ihr einen sichtlich verwirrten Blick zu, aber sie grinste nur schief, zog die Beifahrertür von innen zu und brauste davon. Einen kurzen Moment blieb ich noch stehen, dann zwängte ich mich durch das schmiedeeiserne Tor, das die Auffahrt zu Lovins Villa versperrte. Die Eisenstäbe waren weit genug auseinander, sodass ich einfach hindurch steigen konnte. Ich sah noch Licht in den Fenstern, nicht eines war dunkel. Das kam mir bescheuert vor. Warum sollte jeder Raum beleuchtet sein? Es gab mehr als ein Zimmer, in dem sich im Grunde nur ein Sofa befand. Als ich einige Schritte getan hatte, aktivierten sich auch die Laternen und tauchten die riesige Auffahrt in helles Licht. Ich seufzte und wappnete mich schon mal gegen einen Schwall von Beschimpfungen von Lovin und eine erleichterte Heulattacke von Vanilla. Und es kam, wie ich es prophezeite; zumindest fast. Die Haustür wurde aufgestoßen und Vanilla rannte mit hochrotem Gesicht auf mich zu, gefolgt von Lovin, der mich finster musterte. Allerdings konnte ich auch bei ihm einen kleinen Hauch Erleichterung erkennen. „Oh, Choco.“, jammerte Vanilla und fiel mir um den Hals. „Wo warst du denn, ich war soo in Sorge. Ich dachte, man hätte dich entführt, dir was angetan!“ Ich drückte sie auch leicht und zog sie dann mit mir Richtung Haustür. „Ich hatte einfach nur die Zeit vergessen.“, wiederholte ich die halbherzige Entschuldigung aus meiner SMS. Der aufgebrachte Lovin scheuchte uns ins Haus und schloss die Tür hinter uns. Vanilla hatte sich mittlerweile von mir gelöst und mir dann ganz fürsorglich meine Tasche abgenommen. Anschließend eilte sie in die Küche und kam mit einer dampfenden Tasse Tee wieder heraus – Schoko-Himbeer, lecker – die sie mir sofort in die Hand drückte. Dankbar nahm ich das Getränk entgegen. Es war zwar nicht richtig kalt draußen, aber schon noch ein wenig frisch, wenn man nur in Schuluniform auf einer Bank im Freien einnickte. Wider Erwarten ließ Lovin keine Schimpftirade auf mich los. Anscheinend sah ich wirklich zerknirscht aus. Die alte Frau eben hatte das ja auch schon bemerkt. Nun gut, wer konnte mir meine Abgeschlagenheit schon verübeln, schließlich hatte ich erst kürzlich sechs Jahre geschlafen und jetzt prasselten so viele neue Dinge auf mich ein; neue und alte. Ich war wirklich dankbar, dass Lovin nicht auch noch über mich herfiel. Dabei hätte ich alle meine neuen Kleider darauf verwettet, dass er mir die Hölle heiß machen würde. Ich war fest darauf eingestellt gewesen. Aber heute noch ein Streit? Darauf hatte ich gar auch so gar keine Lust. Zu dritt setzten wir uns auf die Couch im Salon. Lovin wollte etwas besprechen und bei mir kehrte wieder ein flaues Gefühl in der Magengegend ein. Er wirkte wirklich ernst. Wie so oft schlug er die Beine übereinander und legte seine Fingerkuppen aneinander. Sein Blick glitt zwischen Vani und mir hin und her. Er wirkte fast ein wenig lauernd. Vielleicht war ich ja doch noch nicht aus dem Schneider. Sein Schweigen zog sich in die Länge und ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu schütteln. Doch bevor ich noch verrückt werden konnte, begann er mit ruhiger, aber sehr ernster Stimme: „Es gibt nämlich Neuigkeiten für euch, überaus wichtige Neuigkeiten.“ Kapitel 7: Neues Spiel ---------------------- Lovin hielt einen Moment inne. Bestimmt tat er das nur, um uns zu ärgern. Mir war, als hätte man die Luft greifen können, so schwer und drückend war sie. Die Zeit schlich entsetzlich langsam voran, fast gar nicht. Jede Sekunde tickte die große Uhr an der Wand und war dabei unnatürlich laut. Oder kam mir das nur so vor? So oder so war es ziemlich nervtötend. Mindestens genauso so sehr, wie Lovin, der uns unnötig auf die Folter spannte. „Ihr wisst bestimmt noch, warum ihr hier in der Menschenwelt seid; wie könntet ihr das vergessen. Die nächste Thronfolgerin sollte ermittelt werden. Bedauerlicherweise kam dann dieser Zwischenfall.“ Wieder machte er so eine ätzende Kunstpause. Vielleicht würde ich ihn doch noch anfallen, wenn er nicht aufhörte, meine Nerven zu strapazieren. „Und nun sind wir hier. Candy ist immer noch die Königin.“ Den letzten Satz berichtete er vor Allem mir. Vanilla wusste es bestimmt schon. Immerhin hatte sie am ersten Tag nach ihrem Erwachen wohl schon Kontakt mit ihrer Mutter gehabt. Dann stutzte ich. Warum war Königin Candy eigentlich noch nicht hergekommen? Zumindest kurz? Immerhin war ihre Tochter nach sechs Jahren wieder aus dem Koma erwacht. Natürlich gab es die Möglichkeit, dass sie heute Nachmittag hier gewesen war, aber irgendwie hielt ich das für unwahrscheinlich. Müsste sie nicht vor Glück völlig wahnsinnig sein und stundenlang mit Vanilla quatschen wollen? Sie umarmen, ihr berichten, was so passiert war; sowas halt. Mein Blick glitt zu meiner besten Freundin. Und müsste Vani es nicht mindestens genauso gehen? Lovin fuhr fort: „Sie hat sich all die Jahre geweigert, einen anderen Nachfolger auszuwählen. Dabei waren schon andere Kandidaten im Gespräch. Niemand wusste, ob ihr je wieder erwachen würdet und Candy kann ja nicht für immer im Amt sein. Auch sie wird älter. Manche hatten schon Sorge, dass es irgendwann keine Nachfolge mehr geben würde. Sie wollten vorsorgen. Aber Candy blieb bei ihrer Meinung. Es müsse eine von euch sein, hat sie immer gesagt. Deshalb ist sie auf dem Thron geblieben und hat sich nicht beirren lassen. Sie hat die Hoffnung nie aufgegeben.“ Ich fiel ihm nicht einmal ins Wort, sondern nickte nur kaum merklich. „Aber jetzt weilt ihr wieder unter uns und es musste beschlossen werden, wie es weitergeht. Wie ihr euch vorstellen könnt, gab es reichlich Diskussionen. Schließlich passiert so etwas nicht jeden Tag. Und ich werde euch nun das Ergebnis verkünden.“ Ich würde ihn umbringen! Er spannte uns doch extra lange auf die Folter. Es war wirklich nicht zum Aushalten. Dabei musste ich einfach wissen, wie es jetzt weitergehen sollte. Was auch passiert war, dieser Wettbewerb war mir wirklich wichtig. Früher wollte ich auch schon unbedingt Königin werden, hatte mich aber nie ausreichend darum gekümmert, mich nicht genug angestrengt. Stattdessen hab ich immer irgendeinen Unsinn angestellt und mich nach der Zauberwelt zurückgesehnt. Wahrscheinlich bin ich einfach noch zu jung gewesen. Aber jetzt war das anders. Ich wollte das erreichen, was meiner Mutter nicht gelungen war. Das war mir nach dem Aufwachen aus dem Koma relativ schnell klar geworden, auch, wenn ich mich bislang noch nicht getraut hatte, diesen Wunsch so deutlich zu formulieren; und sei es nur in meinem Kopf. Ich wollte Königin werden und so alle stolz machen. Endlich mal beweisen, dass Cinnamons Tochter auch was konnte. Dass sie sehr wohl nach ihrer Mutter kam. Ich wollte es den überheblichen Besserwissern am Hof unter die Nase reiben, Lovin und meinem Großvater; einfach allen! Und wer weiß, vielleicht könnte sich dann ja sogar mein Großvater vielleicht mal ein Lächeln abringen. „Ihr werdet erneut im Wettkampf gegeneinander antreten. Alle Herzen, die vorher gesammelt wurden, zählen nicht mehr. Ich startet wieder bei Null. Darüber gab es lange Debatten, aber so wurde es am Ende beschlossen. Also geht es für euch wieder von vorne los. Sammelt die Herzen der Menschen. Bis zu den Sommerferien solltet ihr mindestens 2000 Ecru gesammelt haben, um euch für alles Weitere zu qualifizieren.“ 2000 Ecru... Das wären zwei pinke Herzen. Vermutlich war es uns jetzt auch möglich, violette zu bekommen. Irgendwie eine erschreckende Vorstellung. Ich dachte an Lovin und seine vielen Frauen und schüttelte mich kurz. Bääh. Mit meinen Pisseherzen, davon hatte ich beim letzten Mal die meisten, würde ich nicht so weit kommen, die waren jeweils nur fünf Ecru wert. Ich brauchte also eine gute Strategie. „Möge die Bessere gewinnen!“ Mit diesen Worten riss Lovin mich aus meinen ratternden Gedanken. Einen Moment lang war es komplett still. Niemand sagte etwas. Dann quiekte Vanilla begeistert los und umarmte mich stürmisch. „Supi. Das ist doch toll, oder Choco?“ Sie sah mich erwartungsvoll an und ich nickte. Das war es wirklich. Es war also noch nicht zu spät. Ich hatte noch eine Chance! Dann reichte Lovin uns unsere Zauberstäbe und ich drückte meinen fest an mich, strich über die Herzspitze und konnte mein Glück kaum fassen. Es war natürlich ätzend, dass Vanilla und ich wieder Konkurrentinnen waren. Aber wir waren jetzt reifer und ich war mir sicher, dass wir nicht wieder solche Probleme haben würden, wie früher. Vani verschwand, fröhlich mit ihrem Zauberstab wedelnd, und mit den Worten „Ich mache jetzt Abendessen für uns alle.“ in die Küche und ließ Lovin und mich alleine zurück. Er lächelte mich an. Viel freundlicher, als sonst immer. Erst stimmte mich das misstrauisch, aber in diesem Moment merkte ich, dass er mich vielleicht doch genauso gern hatte wie Vanilla. Auch, wenn ich das verzogene, burschikose Rotzgör war; zumindest noch. Jetzt hatte ich meine zweite Chance bekommen. Und ich würde sie nutzen. Da war ich mir sicher! Duke kam quakend in den Raum gehüpft und sprang auf meinen Schoß. „Also, dann ist das Spiel ja von Neuem eröffnet - quak.“ „Ja.“ Ich lachte und tätschelte seinen kühlen, glatten Körper. Er musste mir unbedingt helfen, einen guten Plan auf die Beine zu stellen. Vielleicht konnten wir ja nachher noch mit unseren Überlegungen anfangen. Lovin sah streng zu mir herüber. „Ja, Chocola und vielleicht machst du diesmal dem Namen deiner Mutter mehr Ehre.“ Ich streckte ihm die Zunge heraus. So schnell war alles wieder beim Alten, wieder so vertraut. Das erste Mal fühlte es sich okay an, 17 zu sein. Denn jetzt gerade war alles, wie es sein musste. Mein kleiner, glitschiger Duke, den ich streichelte, wie eine Katze. Blanca, die mich ständig kritisierte. Lovin, der es ihr ähnlich tat, aber trotzdem auf seine ganz eigene Weise ein guter Mentor war, Vanilla, die eine bessere beste Freundin als Konkurrentin und immer für mich da war. Und doch war auch alles anders. Ich war wirklich erleichtert, wie es gekommen war. Und dass ich noch die Chance hatte, das zu erreichen, was meine Mutter der von Vanilla überlassen hatte. Dieses Mal wollte ich sie stolz machen. Das nahm ich mir ganz fest vor. Zweimal die gleichen Fehler zu machen, kam für mich nicht in Frage. Ich war so entschlossen, wie noch nie! Lovin erhob sich und fächerte sich mit der Hand Luft zu. „Hach, riecht das gut. Wenn Vanilla genauso gut Herzen sammelt, wie sie kocht, sehe ich schwarz für dich, Chocola.“ Er grinste mich feixend an und ich verengte die Augen zu Schlitzen. Als Antwort fauchte ich nur: „Jajaja.“ Jetzt war also alles wieder beim Alten. Wir hatten Klarheit und eine Aufgabe. Mögen die Spiele erneut beginnen! Kapitel 8: Plötzlich Pyjamaparty -------------------------------- Nach dem Essen war ich direkt in mein Zimmer verschwunden. Nicht, ohne mir von Vanilla das Versprechen abnehmen zu lassen, dass wir morgen nach der Schule was unternehmen würden. Das war eine gute Idee. Ich freute mich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Einfach mal wieder wir beide. Beste Freundinnen, die einen spaßigen Nachmittag miteinander verbrachten. Vani und Lovin blieben noch unten, aber ich war froh, als ich mich endlich auf mein Bett werfen und mein Gesicht im Kissen vergraben konnte. Was für ein anstrengender Tag. Es gab so viel zu verarbeiten. Die Begegnung mit Pierre und was das in mir ausgelöst hatte. Aber auch Lovins Neuigkeiten. Das alles riss mich hin und her zwischen Euphorie und Wut. So lag ich eine Weile da und fluchte hin und wieder leise ins Kissen, bis ich plötzlich ein Klopfen am Fenster vernahm. Bildete ich mir das nur ein oder was kam jetzt noch? Ehrlich, für einen Tag war genug passiert! Das Kissen immer noch fest umklammert, richtete ich mich mit einer Bewegung auf und starrte an die Scheibe. Na, hol mich doch der Teufel, da waren Houx und Saule! Meine bittere Miene wich einem breiten Grinsen und ich stolperte hastig zum Fenster, um es zu öffnen und meine beiden besten Freunde hereinzulassen. Sie brachten eine Woge kalter Nachtluft mit, aber das kümmerte mich nicht und ich fiel ihnen beiden gleichzeitig um den Hals. Es endete mit einem Sturz und ungelenkem Gruppenkuscheln auf meinem Teppich. Hoffentlich hatte Lovin nichts gehört, sonst würde ich heute doch noch meine Moralpredigt bekommen. Dann stieß ich die beiden Jungen von mir und grinste frech. „Verdammte Scheiße, hab' ich euch vermisst. Wie ist es euch ergangen?“ Ich verschränkte meine Beine zum Schneidersitz und lehnte mich nach vorne. Es tat so gut die beiden wiederzusehen, vor Allem wenn man bedachte, wie der Tag heute gelaufen war. Auch sie hatten sich verändert; sahen so viel erwachsener aus. Trotzdem waren es noch ganz eindeutig die Zwillinge, die ich seit meiner frühesten Kindheit kannte. Saule knuffte mich in die Seite und strahlte. „Na, jetzt auf jeden Fall viel besser. Als wir von Lovin gehört haben, dass ihr wieder aufgewacht seid, sind wir sofort in die Menschenwelt gekommen.“ Ich knuffte ihn zurück. „Natürlich haben wir jetzt wieder einen Anlass öfter herzukommen.“, fügte Houx hinzu und ich knuffte auch ihn. Ich war so glücklich gerade. Die beiden hatten mir wahrlich den Abend versüßt; um nicht zu sagen, den Tag gerettet. Also, zusätzlich zu der Nachricht, dass der Wettstreit fortgesetzt werden würde. Aber warum waren die beiden eigentlich erst heute aufgekreuzt? Hatten sie die Nachricht vielleicht gar nicht sofort erhalten? Vielleicht wurde in der Zauberwelt beschlossen, erst zu entscheiden, wie es weitergehen sollte, bevor man die Neuigkeiten öffentlich machte. Das konnte schon sein, Politik war manchmal komisch. Ach, aber eigentlich war mir das doch völlig schnuppe. Sie waren hier, was anderes zählte nicht. Ich erzählte ihnen von der großen Neuigkeit. Also, dass der Wettbewerb von vorn losgehen würde und dass Vanilla wieder normal war, keine düstere Ogul-Prinzessin mehr. Wie ungewohnt es war, auf einmal 17 Jahre alt zu sein. Von meiner scheußlichen Mathelehrerin und der neuen Schule. Pierre verschwieg ich. Das ging schließlich nur mich was an. Außerdem wollte ich mir nicht schon wieder die Laune vermiesen. Houx und Saule berichteten mir von den Tumulten in der Zauberwelt. Was es für ein Drama war, dass die beiden Königin-Anwärterinnen durch einen dubiosen Unfall im Koma lagen. Wie Königin Candy - gütig und klug wie eh und je - darauf beharrte, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Dass mein Großvater noch griesgrämiger geworden ist, als er es vorher war. Dass das möglich sein sollte, hätte ich vorher nie geglaubt. Er war doch immer schon so ein alter Murrkopf gewesen. Dass es das Gerücht gab, dass meine Familie verflucht sei, weil alle Frauen viel zu früh dahin gerafft wurden und dass bestimmt ein Ogul die Macht an sich reißen würde. Ein Quaken drang durch die Tür zu uns und ich rollte mich ungeschickt dorthin, riss die Tür laut auf und ließ Duke herein. Er sah uns vorwurfsvoll an. „Müsst ihr nicht schlafen? Morgen ist Schule, Chocola. Du solltest fit sein oder willst du direkt den ersten Tag der Herzenjagd verschwenden?“ Ich hob ihn auf und besänftigte ihn. „Machen wir ja gleich. Gönn' mir doch ein bisschen Freude.“ Behutsam trug ich ihn zu meinem Kleiderschrank und legte meinen kleinen Begleiter hinein. Er sah mich noch einmal mahnend an und warf einen Blick auf Houx und Saule, die immer noch hinter mir auf dem Boden hockten. Allerdings sagte er nichts. Das rechnete ich ihm hoch an. Er wusste, dass die beiden quasi meine Familie waren und wenn er uns bei Lovin verpetzte, würde der die Jungs hochkant rausschmeißen. „Hier kannst du in aller Ruhe schlafen.“, flüsterte ich freundlich und machte dann mit diesen Worten die Schranktür zu; natürlich so, dass mein kleines Fröschlein mit einem kräftigen Sprung immer noch raus konnte, wenn er das wollte. Aber ich hoffte auch, dass die Tür ihn soweit abschirmte, dass er ein wenig Ruhe bekam. Denn ehrlich gesagt, war mir gar nicht mehr nach Schlafen zumute, ich war viel zu aufgekratzt. Rasch setzte ich mich wieder zu Houx und Saule. Wir plauderten und plauderten und als ich das nächste Mal auf den Wecker sah, blinkten mir vier Zahlen fast schon vorwurfsvoll entgegen: 02:34. Ich schluckte schwer. In knapp vier Stunden musste ich wieder schon aufstehen. Wie sollte das denn gehen? Hilfesuchend sah ich Houx und Saule an. Houx gähnte und streckte sich und auch Saule wirkte nicht mehr so fit wie am Anfang. Dann war ich ja immerhin nicht die Einzige. Das Gähnen steckte an und ich lehnte mich an den Schrank. „Ich bin so müde.“, meinte ich und gähnte gleich noch einmal. Saule nickte zustimmend. „Frag' mal.“ Etwas wackelig auf den Beinen erhob ich mich und Houx sprang auf, um mich zu halten. „Geh' weg, du Spinner.“, piesackte ich ihn und schob ihn von mir. Schließlich war ich kein gebrechliches, kleines Mädchen. „Wenn ihr wollt, könnt ihr hier schlafen.“, verkündete ich. „Das Bett ist ja groß genug.“ Mit diesen Worten ließ ich mich auf das zwei Meter breite Ungetüm fallen und kickte meine Schuhe von den Füßen. Houx und Saule standen auf; fast synchron, das sah echt ulkig aus, und taten es mir gleich. Jeder der beiden ging an eine Seite des Bettes und legte sich dort hin. „He, warum muss ich in die Mitte?“ Das war der schlechteste Platz, weil man die wenigste Bewegungsfreiheit hatte. „Wir müssen dich doch beschützen, Choco-chan.“ Ach, die Leier wieder. Das war ja auch damals schon auch ihr Vorwand gewesen, um überhaupt in die Menschenwelt zu kommen. Houx und Saule, die Beschützer von Chocola Meilleur. Mit einem Seufzer beugte ich mich ihnen. Na gut, so konnte ich immerhin nicht aus dem Bett fallen. Das war doch auch was Gutes. Es war ein wahnsinnig vertrautes Gefühl, neben Houx und Saule einzuschlafen. Es war wie damals, als wir alle noch Kinder waren. Wie oft waren wir bis tief in die Nacht wach geblieben und manchmal an den unmöglichsten Orten eingepennt. Mehr als einmal hatte es dafür gehörigen Tadel gegeben. Aber es ist immer lustig gewesen. Und mit diesen letzten Gedanken entschwand ich ins Reich der Träume. Kapitel 9: Der Morgen vertreibt weder Kummer noch Sorgen -------------------------------------------------------- Als um sieben Uhr der Wecker das zweite Mal schellte, richtete ich mich unbeholfen auf und schlug mit der flachen Hand auf die Schlummerfunktionstaste. Unmöglich, ich konnte noch nicht aufstehen, ich fühlte mich wie gerädert. Es war, als wäre ein Lkw mehrmals über mich rüber gerollt. Auch der halbherzige Versuch, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben, half da nicht viel. Wie gerne würde ich mich einfach wieder in die Laken werfen, aber ich hörte schon Schritte die Treppe hochkommen und so energisch, wie sie klangen, konnte es sich nur um Lovin handeln, der bereit war, mich wieder unsanft aus den Federn zu schmeißen. Ich murrte und trat erst Houx und dann Saule mit dem Fuß. Als würde ich die beiden einfach friedlich weiter schnarchen lassen. Wieso sollten die weiterschlafen dürfen, wenn ich es nicht konnte? Wir saßen im selben Boot, was hieß: Gleiches Recht für alle. Mitgefangen, mitgehangen! Irgendwie rollte ich von der Matratze runter und stakste ins Badezimmer. Bevor ich durch die Tür trat, drehte ich mich noch einmal um, griff mir einen Comic von einem nahegelegenen Regal und warf es beherzt aufs Bett. „Aufstehen, ihr Kameradenschweine!“ Die Schritte, die ich eben auf der Treppe gehört hatte, entfernten sich wieder. Immerhin das blieb mir erspart. Ein, nein besser zwei Hände Wasser ins Gesicht und es ging mir... Nein, immer noch nicht besser. Vielleicht würde ja ein kleiner Snack helfen. Im Pyjama quälte ich mich irgendwie die Treppe runter und ließ mich auf einen Stuhl am Küchentisch plumpsen. Vanilla war natürlich - wie eigentlich immer - schon wach und begrüßte mich fröhlich. „Guten Morgen, Choco. Hast du gut geschlafen?“ Ich sah sie nur mürbe an. Im Backofen garten Croissants und Brötchen und Vanilla drapierte Butter, Käse und Marmelade auf der Tischplatte und setzte eine Kanne Wasser auf. „Ohje, du siehst ja ziemlich erledigt aus.“ Ich nickte kraftlos. „Ich bin bestimmt krank. Ich sollte wohl besser zuhause bleiben.“ „Nein, solltest du nicht.“, kam prompt die Antwort, aber nicht von Vanilla, sondern von Lovin, der in diesem Moment in die Küche spaziert kam. „Aber ich bin krank!“, jammerte ich. Lovin tat das nur mit einer kurzen Handbewegung ab und erwiderte: „Unfug, du bist einfach nur viel zu spät ins Bett gegangen.“ Ich murrte, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Versuch gar nicht erst, dich raus zu reden, ich weiß doch, dass Houx und Saule immer noch in deinem Bett liegen.“ Mist, hatte er mich also doch ertappt. So konnte ich das Zuhausebleiben wohl endgültig knicken. Na, großartig! Vanilla hielt inne und sah mich an. „Houx und Saule sind wieder hier?“, fragte sie und fügte dann flüsternd hinzu: „Und sie sind in deinem Bett?“ Aus ihrer Stimme klang blanke Empörung. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. „Ja und ja. Aber so, wie du das sagst, klingt das, wie etwas Schlimmes.“ Was dachte sie nur? Es ging hier immerhin nur um Houx und Saule. „Schön, dass sie das sind.“, stellte Vani fest und lächelte ein wenig. Fast schon zu viel, wenn man mal bedachte, dass sie mit Houx und Saule nie so gut befreundet war, wie ich; eigentlich sogar gar nicht. Dafür war Vanilla immer viel zu schüchtern und ängstlich gewesen; und zu behütet. Ich mochte ihre Mutter, sie war eine gute Königin und Mutter, aber auch bevormundend. Und das merkte man Vanilla wirklich an. Na ja! Lovin setzte sich auf einen freien Stuhl und blätterte wieder mal in der Zeitung. Seit wann las er die eigentlich so regelmäßig? Man konnte fast denken, dass er ein vernünftiger Erwachsener war. Ich beobachtete ihn ungläubig und pustete auf den Tee, der vor mir stand, um ihn abzukühlen. Am liebsten hätte ich einen schnippischen Kommentar fallen gelassen, aber ich war wirklich zu erledigt. Da musste ich meine Kräfte schonen. Schließlich bestand so gut wie keine Chance, dass Lovin mich zuhause lassen würde. Wir frühstückten, wobei ich mir eher auf Zwang ein Brötchen in den Mund schob und es mit dem Kräutertee hinunterspülte. Dann musste ich mich nochmal ins Bad kämpfen. Was Duke gestern gesagt hatte, stimmte schon. Ich konnte meinen ersten Tag nicht verschwenden, ich musste heute mindestens ein Herz ergattern und am besten kein olles, gelbes. Schuluniform angezogen, Haare gebürstet, Zähne geputzt. Ich betrachtete einen Moment lang meine Schminke, dann lies ich von dem Gedanken ab und lachte nur. Ne, das war heute wirklich nicht drin. Und wenn ich dadurch kränklich aussah, bestand ja zumindest die Chance, dass ich von den Lehrern früher nach Hause geschickt wurde. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt! Ich fasste mein Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und band es dann zu einem lockeren Dutt. Ich trug es nicht viel anders, als vor meinem Koma. Darauf hatte ich beim Friseur bestanden, sonst hätte ich mich vermutlich gar nicht wiedererkannt. Also fiel mir das rot-orange Haar noch immer in langen, glatten, roten Strähnen bis über die Hüfte. Ich hatte nur irgendwie das Gefühl, dass es ein wenig dunkler war, als damals, aber da war ich mir nicht sicher. Vielleicht irrte ich mich auch. Ich zuckte nur mit den Schultern und verließ das Badezimmer. Houx und Saule saßen immer noch verschlafen auf meinem Bett. Es war nur ein kleiner Fortschritt, aber immerhin hatten sie die Augen offen und sich ein Stückchen aufgerichtet. „Ich muss jetzt los. Vielleicht solltet ihr nicht zu lange bleiben, Lovin weiß, dass ihr hier seid.“ Sie sahen mich erschrocken an. „Oh Mist.“, murmelte Saule und stieß dann seinen Bruder an. Beiden sah ich deutlich an, dass auch sie keine Lust auf Ärger mit ihm hatten. „Okay, wir melden uns später.“, sagte Houx matt. „Ja, bis später, Chocola.“, ergänzte Saule noch und die beiden rafften sich nun endgültig auf. Ich winkte und verließ dann mein Zimmer. Vanilla kam mir entgegen. Sie duftete nach Vanille-Parfüm und sah viel fitter und gepflegter aus, als ich. Vor unserem Friseurbesuch waren ihre hellblonden Locken schulterlang gewesen, aber auch sie orientierte sich eher an der Vergangenheit und schnitt es wieder fast so kurz, wie vor dem Koma. Ich hatte das Gefühl, wir haben da beide nicht lange überlegt, sondern einfach gehandelt. Zusammen verließen wir das Haus und stiegen in Lovins Auto. „Mehr Motivation, Mädels.“, feuerte er uns an und dann verließen wir den Hof. Heute war es bedeutend kälter, als gestern, aber Lovin ließ das Dach trotzdem auf. „Das weckt vielleicht deine Lebensgeister, Chocola.“, meinte er. Dann sprach er ein anderes Thema an. „Also meine Mädchen, bald könnt ihr ja selber fahren. Wird Zeit, dass wir euch in der Fahrschule anmelden.“ Ich stöhnte ungläubig. „Was bitte? Wir sind Hexen. Wieso sollen wir Menschen-Autos fahren?“ Aber Vanilla unterbrach mich - ungewöhnlich für sie. „Mensch, Choco, wir müssen uns doch hier integrieren. Außerdem können wir doch nicht erwarten, dass Lovins uns immer fährt.“ „Aber wir könnten doch zum Beispiel fliegen!“, schlug ich vor, aber Lovin tat das mit leicht verärgerter Stimme ab. „Chocola, sei nicht immer so widerborstig. Warum kannst du nicht mehr wie Vanilla sein?“ Ich knurrte leise und verschränkte die Arme. Pff, jetzt war ich froh, dass ich gleich in der Schule sitzen konnte, wo ich mit keinem reden musste, sondern einfach stumm an meinem Pult hocken konnte. „Ich hol' euch später aus der Stadt ab. Ruft mich an, ja?!“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und fuhr davon. Mir fiel auf, dass er offenbar nicht nach Hause fuhr, sondern in die entgegengesetzte Richtung, weiter in die Stadt. Wahrscheinlich hatte er ein Date oder sowas. Vanilla stupste aufmunternd meinen Arm. „He, Choco-chan, lach doch mal! Nur sechs Schulstunden, dann können wir was Schönes in der Stadt unternehmen.“ Kapitel 10: Aller guten Dinge sind drei? oder: Vanilla legt vor --------------------------------------------------------------- Die ersten Unterrichtsstunden zogen sich irre in die Länge. Es fiel mir wahnsinnig schwer, die Augen offen zu halten. Während die Minuten so dahinkrochen, stützte ich meinen Kopf in die Hände und wurde immer wieder von Sekundenschlaf durchgeschüttelt. Außerdem war mir schrecklich kalt. Vermutlich würde ich jetzt echt krank werden und dann war nur Lovin daran schuld. Es klingelte zur großen Pause und ich hatte wirklich das Gefühl, gleich vom Stuhl zu kippen. Vanilla kam an mein Pult und musterte mich besorgt. „Hey Choco-chan, alles ok?“ Ich nickte nur in dem vollen Bewusstsein, dass hier gar nichts okay war. Ich musste irgendwas tun! „Mensch, Vanilla, ich muss kurz zum Kiosk und mir 'nen Energy-Drink oder so holen, sonst penne ich gleich einfach ein. Ich bin sofort wieder da.“ Und mit diesen Worten peste ich auch schon los und ließ Vani einfach stehen. Wie automatisch trugen meine Füße mich raus aus dem Schulgebäude und runter vom Schulhof. Ich rannte wie eine Irre. Ein kleines Stück rechts die Straße runter, war eine kleine Tankstelle und durch die gläserne Eingangstür trat ich ein. Zielstrebig stellte ich mich vor das Regal mit den Energy-Getränken und griff mir wahllos vier Halbliter Dosen. Ich nahm einfach die billigsten. Schließlich wollte ich keinen speziellen Geschmack, sondern einfach nur nicht mehr so krass durchhängen. Dankbar nahm ich dem Verkäufer die Dosen ab, als er sie abkassiert hatte. Er wirkte noch ziemlich jung, vielleicht 19. Ich nahm ihn aber nur am Rande wahr, bis mir etwas auffiel: Sein Herz leuchtete orange. Es war ein helles Orange, aber es war orange. Ich musterte ihn genauer. Er lächelte und druckste irgendwie rum, während ich noch immer etwas verdattert vor ihm stand. Dann fragte er mich, ob ich nicht einmal mit ihm ausgehen wolle. Ich blinzelte überrascht. Was sollte ich dazu sagen? Ich wusste es nicht so recht und wollte gerade sein Herz einsacken, da hielt ich inne. Vielleicht sollte ich wirklich mit ihm ausgehen. So könnte vielleicht mehr als ein orangenes Herz für mich rausspringen. Kurzentschlossen lächelte ich ihn an und nickte. „Klar doch.“ Ich griff unbekümmert nach dem Kulli und einem der Lottoscheine, die auf dem Verkaufstresen auslagen und kritzelte meine Handynummer mit meinen Namen darauf. Dann drückte ich ihm den Schein in die Hand. „Bis dann.“, meinte ich noch keck und schritt gelassen zur Tür. Da hatte sich dieser kleine Ausflug ja direkt doppelt gelohnt. Doch, als ich durch die sauberen Scheibe des Eingangs blickte, geriet mir etwas ins Sichtfeld, was mich kurz aus den Latschen riss. Pierre! Schon wieder! Verfolgte er mich oder warum lief er mir ständig über den Weg? Das war doch nicht mehr normal. Wollte irgendeine höhere Macht mich hier verarschen? Pierre war nicht alleine, sondern offensichtlich mit einigen Kommilitonen unterwegs. Darunter auch das Mädchen, mit dem ich ihn beim Schuhekaufen gesehen habe. Sie klammerte sich an seinen Arm und lachte schrill, das hörte ich sogar durch das Glas. Klang wirklich bescheuert, total übertrieben. Sie kamen auf die Tür der Tankstelle zu und wollten offensichtlich rein. Ähmm, wie war das mit dem Verarschen? SOS, SOS! Ich wurde panisch und sah mich um. Scheiße, es gab nur diesen einen Ein- und Ausgang. Ich tat, als müsste ich meinen Schuh zuschnüren und bückte mich auf den Boden. Die Dosen stellte ich vor mir ab. Der Verkäufer reckte den Hals und musterte mich mit einer Miene irgendwo zwischen Irritation und Sorge. Der sollte jetzt bloß keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Glastür sich öffnete. Wenn sie jetzt reinkamen, dann konnte ich doch bestimmt unerkannt hinausschlüpfen. Ich richtete mich auf, stieß aber aus Versehen eine meiner Dosen weg. Sie rollte über den blanken Boden, bis sie schließlich von einem braunen Schuh gestoppt wurde. Mein Blick wanderte weiter hoch, über ein Hosenbein und dann erkannte ich einen von den Jungs, die eben mit Pierre über die Straße gelaufen waren. Mürrisch sah ich auf und griff danach. „Nimm deine Latschen weg!“, motzte ich ihn an und runzelte verärgert die Stirn, aber vermutlich wollte er mir gar nichts Böses, sondern eigentlich nur nett sein. Pff, konnte mir ja egal sein! Pierre, der den Arm um seine Freundin gelegt hatte, sah mich amüsiert an; nicht auf die nette Weise, eher als wäre ich eine erbärmliche Kakerlake. Ich überlegte kurz und wägte meine Möglichkeiten ab. Sollte ich einfach weglaufen oder stehen bleiben? Mich entschuldigen oder weiter wettern? Ich konnte gerade wirklich nicht beurteilen, was das Klügste war. Es war, als wäre mein Hirn im Stand-By-Modus. Aber ich konnte hier nicht einfach dämlich rumstehen. Fast automatisch machte mein Mund einfach, was er für das Richtige hielt. „Wenn man was aufheben will, macht man das entweder richtig oder man lässt es.“, fuhr ich Pierres Kumpel weiter an, schnappte mir die entflohene Dose und schlang meine Arme dann fester um meine Getränke. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt, ohne von Pierre Notiz zu nehmen und versuchte, dabei eher würdevoll, als flüchtend zu wirken. Ob es mir gelang konnte ich wirklich nicht beurteilen. Ich war wahnsinnig froh, als ich in den Klassenraum zurückkehrte. Vanilla saß mit schüchternem Blick auf ihrem Pult und war von einem Pulk von Jungs umringt. Ich kämpfte mich durch die Gruppe hindurch, bis ich vor meiner besten Freundin stand und meine Dosen auf ihre Tischplatte knallte. „Abflug.“, befahl ich den Jungs barsch. Unzufrieden murrend zogen sie ab. War auch besser für sie. Vanilla strahlte mich an. „Choco, ich hab schon zwei orangene und ein violettes Herz. Damit hab ich schon die 2000 Ecru-Marke geknackt!“ Mist, dann hatte sie ja schon 3100 Ecru; und ich noch gar keine! Ich versuchte krampfhaft zu lächeln, schließlich war es ja schön für Vanilla. Ich freute mich für sie. Sogar ein lilanes Herz, wow. Vor unserem Koma hatten wir das beide noch nie. Bisher hatte ich das auch nur bei Lovin gesehen. Das war also tatsächlich ein Vorteil, wenn man 17 und nicht mehr 11 Jahre alt war. Mit 11 war leidenschaftliches Begehren noch kein Thema, jetzt dagegen schon. Schließlich war auch Sex allgegenwärtig. Besonders in unserem Alter. Ich musste mich unbedingt reinhängen, um nicht wieder meine Qualifizierung zu gefährden. Vielleicht bot sich ja eine Chance, wenn ich nachher mit Vanilla in die Stadt ging. Ich trank eilig eine Dose Energy leer, dann die zweite. Wie von Sinnen kippte ich mir das Gesöff, das offen gesagt nicht sonderlich gut schmeckte, in die Kehle und hoffte, dass es einfach schnell wirkte. Gleich hatten wir wieder wieder Mathe und gerade bei Frau Kanjuji wollte ich nicht schon wieder allzu negativ auffallen. Kapitel 11: Déjà-Vu ------------------- Auch der Rest der Schulstunden schlich nur so vor sich hin. Aber die Dosengetränke halfen mir ein wenig. Nur fühlte ich mich irgendwie seltsam zittrig. Ich drehte Däumchen oder starrte angestrengt aus dem Fenster, um vielleicht irgendwas Interessantes zu sehen. Aber da war nichts. Nicht einmal ein Vogel flog vorbei. Das war doch nicht normal! Ich wollte Vanilla mitteilen, wie sehr mir gerade alles auf den Geist ging, aber sie tauschte Zettelchen mit einem der Jungen. Wenn ich mich nicht irrte, war das Yuto. Der verknallte sich etwa dreimal am Tag in Vanilla. Kein Wunder, dass sie soviel Ecru hatte. Genervt verdrehte ich die Augen. Wieso nur lief es bei ihr so gut und bei mir so gar nicht. In der nächsten Pause eilte ich aufs Klo. Ich musste echt wahnsinnig doll pinkeln. Daran war sicher dieser Energy schuld. Erleichtert trat ich dann wieder in den Flur und sah auf einmal jemanden, mit dem ich hier nicht gerechnet hatte; genau genommen zwei Personen: Houx und Saule! Was machten die beiden Spinner denn hier? Oh Gott, war das hier ein verdammtes Déjà-Vu? Ich mochte die beiden ja sehr, aber diese Ritter-Nummer – schon wieder - musste doch wirklich nicht sein. Ich zurrte meinen Haarknoten fest und schritt energisch auf sie zu. "Houx! Saule!", fauchte ich die Zwillingsbrüder an und drängelte die Mädchen beiseite, die sich um sie herum scharten. Es war doch jedes Mal das Gleiche! „Choco!“ Saule fiel mir strahlend um den Hals und ich zog eine grimmige Schnute. „Na, weißt du noch? Wir müssen dich beschützen!“, flüsterte er mir verschwörerisch zu. Ich seufzte und löste mich von ihm, ehe ich losmeckerte. „Zur Hölle, bin ich nicht mittlerweile alt genug? Ich bin doch erwachsen genug. Ich dachte ihr liegt noch in meinem Bett und pennt weiter!“ Eine kichernde Mädchenstimme unterbrach mich und verkündete laut: „Die Neuen waren heut' Nacht in Chocolas Bett!“ Was sollte der Aufruhr? War doch nichts Neues? Wir drei haben schon oft nebeneinander geschlafen. Vanilla hatte letzt auch schon so komisch reagiert. Houx tätschelte mir das Haar und lächelte besänftigend. „Die wissen doch alle nicht, dass wir deine Kindergarten-Freunde sind. Die denken jetzt, du wärst 'ne ganz schöne Aufreißerin.“ Suuuper. Ich rollte wieder mit den Augen. Ja gut, damit musste ich mich jetzt arrangieren. Ändern konnte ich es sowieso nicht. „Moment, was meinte sie mit 'die Neuen'? Ihr wollt mir doch hoffentlich nicht erzählen, dass ihr euch wieder an meine Schule geschmuggelt habt?“ Houx lächelte mich verschmitzt an: „Wir sind 19, wir studieren nebenan. Aber du weißt ja... Wenn man neu ist, verläuft man sich manchmal.“ Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Er lächelte weiter sein dämliches Lächeln weiter, während Saule sich zufrieden in der Aufmerksamkeit der Mädchen sonnte. Typisch! Genervt zog ich eine Augenbraue hoch und lehnte mich erschöpft gegen Houx. Er lachte nur. Also war alles wie gehabt. Ich kehrte in die letzten beiden Schulstunden zurück und wie durch Zauberhand, waren sie irgendwann vorbei. Es war ein Segen, ich hatte es geschafft! Mein Kopf knallte auf die Tischplatte, was allerdings von der Schulglocke übertönt wurde. Ich fegte die leeren Getränkedosen in meine Tasche. Ich war jetzt nicht mehr so müde, wie heute früh, aber richtig wohl fühlte ich mich auch nicht. Irgendwie aufgedreht und als würde ich neben mir stehen. Vanilla holte mich in die Realität zurück und fragte mit sanfter Stimme, wo ich denn am liebsten hingehen wolle. Unschlüssig richtete ich mich auf und sah meiner besten Freundin in die Augen. "Keine Ahnung.", erwiderte ich schulterzuckend und lächelte zurück. Vanilla fuhr fort. "Wir könnten ja erst einmal in die Stadt gehen. Dann können wir ja dort sehen, wonach uns ist. Und vielleicht kann ich dir ja bei deiner Herzenjagd helfen." Ach ja, da erinnerte sie mich an was. Ich musste wirklich die Hacken in den Teer hauen. Und bei meinem Glück würde ich nicht über die Pisse-Herzen hinaus kommen, wenn ich mich nicht anstrengte. Und die brachten nur 5 Ecru, was heißt, dass ich davon mindestens 400 sammeln musste. Was für tolle Aussichten. Doch ich erhob mich und schlenderte mit Vanilla los. Trübsal blasen brachte ja auch nichts! Uns kamen die ersten Geschäfte entgegen und Vani deutete in ein Schaufenster. "Schau, Choco! Das Kleid ist doch süß." Ich nickte. Mein Stil war es nicht, aber es sah aus, als wäre es für Vanilla gemacht worden. "Probier's doch an.", schlug ich vor und sie nickte dankbar. Als sie aus der Umkleide kam, leuchteten ihre Augen, wie lilane Sterne. Ich lachte laut los. "Ich brauch' gar nichts mehr sagen oder? So wie du strahlst, ist es schon gekauft." Sie nickte begeistert. "Auf jeden Fall, es ist traumhaft schön, oder Choci?" Und schon wirbelte sie wieder wie eine grazile Tänzerin um ihre eigene Achse und der leichte Stoff umwehte ihren schlanken Körper. Sie zog sich wieder um und trug das Kleid zur Kasse. Der Kassierer war schon etwas älter, aber dennoch um kein Kompliment verlegen. "Das steht Ihnen bestimmt ausgezeichnet.", gestand er mit einem kecken Lächeln. "Bei der Figur." Seine Stimme klang wie die eines Triebtäters, der sich gleich auf sein Opfer stürzte, aber ich verkniff mir einen Kommentar. Sein Herz leuchtete dunkelviolett und Vanilla sackte es ein. Schon wieder 2500 Ecru für sie. Ich biss mir auf die Unterlippe. Bloß keinen Neid aufkeimen lassen. Damals war Vani halt auch schon viel engagierter, bei der Herzenjagd, aber ich würde es auch schon irgendwie schaukeln. Wir kehrten noch in zwei oder drei weitere Geschäfte ein, bis wir schließlich beschlossen, in ein Café zu gehen. Meine Füße hatten sich auch echt schon eine Pause verdient. Wie vielleicht schonmal durchgeschimmert ist: Shoppen ist wirklich nicht mein allerliebstes Hobby! Wir bestellten uns Tees - Kaffee tranken wir beide noch nicht, aber vielleicht würde ich es demnächst mal probieren? - und hockten uns auf die gemütlichen Sessel mit Blick auf die Straße. Und wir plauderten einfach. Ganz ungezwungen, so wie damals, als wir noch keine Konkurrentinnen waren. Manchmal vermisste ich diese unbeschwerte Zeit. Aber ich war schon froh, dass Vanilla wieder normal war und nicht mehr zu den Ogul gehörte. Wie Pierre sie damals beeinflusst hatte... Ich mochte gar nicht daran denken. Noch ein Grund, nicht einen Gedanken an diesen Idioten zu verschwenden. Essen gehen, von wegen! Ich schob den Gedanken sauer beiseite. Nein, heute wirklich nicht mehr! Heute gehörte nur Vanilla und mir! Kapitel 12: Saule dreht durch ----------------------------- Der nächste Tag verstrich ereignislos. Ich fühlte mich wie gerädert. Energy-Drinks ersetzten wirklich nicht einen gesunden Schlaf. Das konnte ich jetzt aus erster Hand bezeugen. Ich stand auf, schleppte mich irgendwie zur Schule, kehrte nachhause zurück und schlief danach sofort bis zum nächsten Morgen. Jetzt war schon Donnerstag. Mein fünfter Tag als Siebzehnjährige und es war immer noch nicht wirklich normal für mich. Lovin lag mir schon zu früher Stunde in den Ohren, dass ich mich dringend auf die Herzenjagd konzentrieren muss, so wie Vanilla. Ich wusste es doch selber. Ausnahmsweise war ich mal froh, in die Schule zu kommen. "Houx und Saule wohnen jetzt auch bei uns?", fragte ich Lovin, als wir uns zu dritt auf die schmale Rückbank seines Autos quetschten. Er lachte amüsiert und nickte. "Ja, übergangsweise schon. Ich fühl mich schon wie ein Kinderhort." Ich runzelte nur die Stirn. "Aber wir sind jetzt schon fast erwachsen. Houx und Saule sind es sogar schon tatsächlich." "Ja, und deshalb werden die beiden heute Nachmittag zur Fahrschule gehen." Die Zwillinge protestieren im Chor. Warum sie das müssten, sie waren doch Zauberer und keine normalen Menschen. Wozu man da 'nen Führerschein bräuchte. Ich grinste. Genauso hatte ich auch argumentiert, aber auch schon vergebens. Ich lachte mir ins Fäustchen. Endlich war ich mal nicht die Gelackmeierte. Aber Lovin ließ nicht mit sich reden. Er hatte keine Lust uns jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe zur Schule zu kutschieren. Wirklich verübeln konnte ich ihm das nicht. Als wir aus dem Wagen stiegen dackelte Yuto an und begrüßte Vanilla überschwänglich. Ich meinte, Houx die Stirn runzeln zu sehen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Saule war ganz aufgedreht. Anscheinend war er genauso ausgeschlafen wie ich. Ehe ich mich versehen konnte, hatte er mich gepackt, hochgehoben und mich über seine Schulter geschmissen. Besonders sanft war das nicht. Und vermutlich wäre es auch bequemer, wenn er etwa 80 Kilo mehr wiegen würde. Davon mal abgesehen: ich mochte es überhaupt nicht! Er rannte und sprang wie ein Besenkter über den Schulhof und schüttelte mich durch. "Waaah, Saule, lass den Scheiß!", befahl ich ihm lautstark, aber er scherte sich nicht darum. Ich zappelte, konnte mich aber nicht befreien. Kein Wunder, er war ja auch viel kräftiger als ich. Ich konnte nur hilflos auf das schauen, was hinter uns lag. Houx, Vanilla und Yuto sahen uns teils irritiert, teils belustigt an. Ich zeterte noch immer und Saule begann, um seine eigene Achse zu springen. Ich fühlte mich wie ein Kreisel. Und es brannte mir immer noch eine Frage unter den Nägeln: Was zur Hölle sollte das alles? Plötzlich fing ich einen Blick; einen nur allzu bekannten Blick. Pierre. Und an seiner Hand hing seine Freundin. Sie plapperte auf ihn ein, aber er schien ihr gar nicht richtig zuzuhören. Er sah mir eindringlich in die Augen und auch ich versank in dieser eisblauen Tiefe. Es schien, als würde die Welt einen Augenblick anhalten und das Leben setzte aus. Es gab nur mich und Pierre. Doch dann traf mich die Realität wieder wie ein Schlag ins Gesicht. Pierre zeigte keine Regung; wirkte eher ein wenig herablassend. Den Ausdruck kannte ich nur zu gut. Ich wand mich schneller und stärker auf Saules Schulter. Ich wollte jetzt wirklich runter. Mit den Fäusten trommelte ich wütend auf seinen Rücken und endlich brachte es was. Mit einer raschen Bewegung wirbelte er mich wieder herunter und stellte mich wieder auf den Fußboden zurück. Er hielt mich noch immer in den Armen und grinste mir frech ins Gesicht. Zuerst nahm ich das kaum wahr. Ich stierte immer noch Pierre an. Doch der wand sich seiner Freundin zu und sie unterhielten sich. Dann machten sie auf dem Absatz kehrt und liefen Hand in Hand zum Universitätsgebäude. Saule hielt mich, als würden wir tanzen und ich würde gerade eine dieser ätzenden "nach-hinten-beug-Bewegungen" machen. Wütend schob ich seine Hände weg und brachte mich wieder in eine senkrechte Lage. Saule sah ein wenig enttäuscht aus und ich lächelte. Ach, eigentlich war's ja lustig. Und er wollte mir ja auch nichts böses. Und ich wollte mir ja auch nicht anmerken lassen, wie nahe mir Pierre immer noch ging. "Du alter Scharlatan." Ich betitelte Saule so, meinte es aber natürlich nicht böse. So waren wir halt untereinander. Auf unsere ganz eigene 'beste-Freunde-Art". Die Art, die uns seit Jahren zusammenschweißte. Da drehten wir halt manchmal so durch. Und so musste ich immerhin nicht an Pierre denken. Wie eiskalt er mich angesehen hat... Kapitel 13: Lovins Freundin --------------------------- Ich hatte immer noch einen Drehwurm, als ich im Japanisch-Unterricht saß. Eins stand fest, das würde Rache geben. Ich sah aus dem Fenster und schmiedete dafür schon Pläne. Heimlich linste ich auf mein Handy; ich wollte Snake spielen. Die Handys heutzutage waren der Wahnsinn! Kein Wunder, dass die Menschen keine Magie brauchten. Auf dem Display blinkte mir ein weißer Briefumschlag entgegen und ich runzelte die Stirn. Hoffentlich war Lovin nicht in meinem Zimmer gewesen. Da würde er doch 'nen Herzinfarkt kriegen. Und mich vermutlich einen Kopf kürzen. Ich war noch nicht mal seit einer Woche wieder zuhause und schon sah es wieder aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ordnung lag mir irgendwie nicht... Ich öffnete die SMS und las: "Hi Chocola, ich hoff' du erinnerst dich an mich. Hättest du Lust heute Abend mit mir was trinken zu gehen? Meld dich, Hiroto (der Kioskverkäufer ;)" Ich grinste. Das kam mir echt gelegen. Ich brauchte möglichst ein violettes Herz. Damit wäre auf jeden Fall meine Qualifikation gesichert. Und damit würde mir echt ein enormer Stein vom Herz fallen. Ich schielte zu unserem Japanisch-Lehrer. Er kritzelte gerade eine Grammatikregel an die Tafel und ich ergriff die Chance und tippte eine rasche Antwort auf dem Display meines Handys: "Hi, klar. Wo wollen wir uns denn heut' Abend treffen?" Eilig stopfte ich das Telefon wieder unter mein Pult und schrieb unsauber von der Tafel ab. Zuhause war der Teufel los. Zwei von Lovins Betthäschen waren einander begegnet und schlugen sich die Köpfe ein. Zumindest hörte es sich aus meinem Zimmer so aus. Die waren wirklich wie Furien. In Bademantel schlich ich auf den Treppenabsatz. Auch Vanilla und Blanca schielten aus ihrer Zimmertür hinaus. Lovin stand wie ein kleiner Junge, hilflos, neben den beiden Frauen. Eine war groß gewachsen und hatte kurzes, rostrotes Haar, die andere war viel kleiner und hatte einen langen, mittelbraunen Zopf. Sie schrien einander an und schubsten sich leicht hin und her. Wie sollte ich bei dem Lärm denn bitte mein "violettes-Herz-Outfit" zusammensuchen. Erbost trampelte ich die Treppe herunter, das erste Mal in der Gewissheit, dass Lovin mich nicht wie ein kleines, ungezügeltes Mädchen zurechtweisen würde. "Was soll das?", kreischte ich und unterbrach die beiden Streithennen. Lovin glotzte nur irritiert. Die größere der beiden Frauen wand sich mir zu und verzog den Mund zu einer strengen Linie. "Lovin -", begann sie, doch ich unterbrach sie harsch. "Was?! Ihr Flittchen macht euch an MEINEN Kerl ran?" Ich tat zwei Schritte auf sie zu und brüllte hysterisch weiter. "Macht, dass ihr rauskommt." Ich wusste ja gar nicht, wie laut meine Stimme sein konnte. "Und du -", wand ich mich jetzt Lovin zu. Die beiden Frauen rührten sich noch nicht. Ich sah sie an, mit einem Blick, der sie wie Laser durchbohren sollte und schob sie in Richtung der Tür. "Raus jetzt!!!" Die Wände bebten leicht - zumindest kam es mir so vor. Aber endlich drängten die beiden Mädchen sich jetzt zur Haustür und quetschten sich hinaus. Ich hörte ihre Absätze auf dem Asphalt der Auffahrt klacken und lächelte zufrieden. Lovin grinste dankbar zurück. "Alle Achtung.", meinte er und deutete einen kleinen Applaus an. Ich verneigte mich kurz. "Jetzt hab' ich was gut bei dir. Die beiden Irren waren ja nicht auszuhalten." Vanilla war mittlerweile auch am Kopfende der Treppe erschienen und sah uns mit ihren großen Rehaugen an. "Ja, vielleicht.", gab Lovin widerwillig zu. "Hoffentlich verbreiten die beiden Biester jetzt nicht das Gerücht, dass Superstar Rockin' Lovin eine feste Freundin hat. Das würde meinen Ruf ja total ruinieren. Wie soll ich denn so die ganzen schönen Frauen abschleppen." Ich streckte ihm die Zunge heraus. "Keine Sorge, ich würde auch öffentlich mit dir Schluss machen." Er grinste nur, ehe er mit einem Themenwechsel fortfuhr. "Aber sag mal Schätzchen" Ich hasste diese degradierende Art und Weise, mit der er Frauen "Schätzchen" nannte. "Wofür putzt du dich denn so raus?" Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte eigentlich nicht, dass da jetzt so'n großes Ding draus gemacht wurde. "Ich hab ein Date.", antwortete ich kurz angebunden und fügte hinzu: "Ich muss jetzt auch wieder hoch, so kann ich ja nicht raus." Er nickte nur und ich fauchte ihn an, dann polterte ich wieder die Treppe hoch. Vanilla fing mich ab. "Ein Date? Das ist doch toll, Chocola. Soll ich dir helfen ein Outfit auszusuchen? Wenn du ein violettes Herz bekommst, bist du auch weiter qualifiziert." Ich lächelte. Sie war hilfsbereit wie eh und je. Also stimmte ich zu. Immerhin war sie offensichtlich ein Talent für sowas. Die Männer flogen nur so auf sie. Und schaden konnte mir das sicherlich nicht. Ich war froh, eine so gute Freundin, wie Vanilla zu haben! Kapitel 14: Date mit Schokolade ------------------------------- Heimlich bin ich in die Stadt geflogen. Lovin würde vermutlich wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen, aber es war schließlich schon dunkel und ich musste auch nicht gefahren werden, wie ein kleines Kind. Ich wollte mich mit Hiroto vor einer Bar treffen. "Lucky Number Slevin", hieß es. Warum auch immer. Hiroto stand freudestrahlend am Bürgersteig und winkte mir zu. Bei meiner Landung wäre ich fast in einem riesigen Müllcontainer gelandet. Als Landebahn war es wirklich nicht so geeignet. Ich war nur froh, dass ich nicht wirklich reingefallen war. Nach Müll riechend hätte ich das violette Herz wohl wirklich vergessen können. Aber eigentlich standen meine Chancen ganz gut. Ursprünglich wollte ich das lange, grüne Kleid meiner Mutter anziehen, aber Vanilla riet mir davon ab; es war zu sexy für eine gewöhnliche Bar. Widerwillig hatte ich es wieder in den Schrank gehängt. Vanilla drapierte einige Stücke auf meinem Bett. Aber nichts schien sie so richtig zu überzeugen. Es gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hätte. Ich wollte schon wieder resignieren, da hielt mir Vanilla ein schwarzes Kleid an den Leib. "Mit dem kleinen Schwarzen macht man nie was falsch." Also, sollte Vanilla nicht den Wettbewerb gewinnen, sollte sie auf jeden Fall eine Boutique eröffnen, dachte ich und grinste. Schließlich stand mein Outfit: das kleine Schwarze, hohe Stiefelettchen, eine Clutch von Vanilla und mein langes Haar fiel in sanften Wellen über meine Schultern. Als Vanilla mich verabschiedete war ihr Blick ein wenig glasig und ich verschwand, bevor sie wieder in Tränen ausbrechen konnte. Ich lief auf Hiroto zu und er ergriff meine Hand. Ich wollte mich losreißen, durfte aber meinen Auftrag nicht vergessen. Ich brauchte ein violettes Herz. Also lächelte ich ihn nur an und er führte mich in die Bar. Drinnen war es abgedunkelt und einigermaßen gut besucht. Hiroto ließ meine Hand immer noch nicht los und wir gingen auf einen gemütlichen Tisch am Rand zu. Der Tisch sah ein wenig aus, als wäre er aus einem Diner. Ich setzte mich und griff nach einer Karte. Hiroto ließ sich gegenüber von mir nieder. "Schön hier.", sagte ich Hiroto mit anerkennender Stimme und lächelte. Sein Herz leuchtete orange. Na, damit kam ich nicht weit. Ich atmete tief ein und aus. Ich wusste, dass Lovin den Frauen immer auf die Brust schaute, wenn die sich bewegte. Vielleicht könnte das auch mein Trumpf sein. Ich hoffte nur, dass ich nicht so unbeholfen aussah, wie ich mich fühlte. Offensichtlich nicht, denn ich merkte, wie Hirotos Augen immer wieder kurz zu meinem Oberkörper huschten und ich grinste. Eine Bedienung kam und wir bestellten. Hiroto nahm einen Longdrink und ich einen alkoholfreien Cocktail und kurz darauf erhielten wir unsere Getränke auch schon. Dafür, dass er sich sofort meine Nummer gekrallt hatte, war Hiroto jetzt ganz schön schweigsam. Als würde er meine Gedanken lesen, begann er dann das Gespräch: "Also, Chocola. Ungewöhnlicher Name übrigens. Sehr exotisch. Bist du denn auch so süß, wie Schokolade?" Ich musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. War das sein Ernst? Ich rang mir ein kleines Lächeln ab und legte den Kopf schief. So kamen wir ins Plaudern. Er war 22 Jahre alt und arbeitete neben seinem Studium in dem Kiosk. Aber er spielte mit dem Gedanken, abzubrechen. Medizin lag ihm doch nicht so. Es war so theoretisch. Und er würde viel lieber jetzt schon den Menschen helfen. Wie lobenswert. Ich lachte über seine Witze, lauschte ihm interessiert und versuchte so charmant wie möglich zu sein. Total ungewohnt! Irgendwann entschuldigte ich mich kurz und ging auf die Toilette. Es war wirklich eine Tortur auf den mega hohen Stiefeletten einigermaßen elegant zu laufen. Als sich mein Abbild in der großen Fensterscheibe spiegelte, grinste ich aber selbstbewusst. Ich sah unverschämt gut aus. Das war es wirklich wert. Als ich pinkelnd auf dem Klo saß, holte ich mein Handy aus der Clutch und las die SMSen, die in der Zwischenzeit eingetrudelt waren. Vanilla erkundigte sich, wie mein Date lief und Saule wollte wissen, ob ich später abgeholt werden wollte. Herrje, wer hat denn den beiden erlaubt ein Handy zu besitzen. Ich antwortete rasch und kehrte zu Hiroto zurück. Mich abholen? Bin ich etwa ein kleines Kind? Wie sah das denn aus, wenn ich von meinen quasi Brüdern, beziehungsweise Aufpassern von meinem Date abgeholt wurde? So würde ich mich wirklich nie wie 17 fühlen. Später bezahlte er unsere Getränke und wir verließen die Bar. Viele Studenten hingen hier rum. Wahrscheinlich kannte Hiroto den Laden daher. In einer Ecke saß ein großer blonder Junge. War das Pierre? Ich schaute noch einmal genau hin, doch das bemerkte auch Hiroto. "Alles okay?", fragte er mich verunsichert. Ich wand mich ihm zu. Erst schüttelte ich den Kopf, dann nickte ich. "Ehm, ja, klar." Fast fluchtartig verließ ich den Laden. Ich war mir aber sicher, aus den Augenwinkeln gesehen zu haben, wie Pierre auch mich erkannt hatte. Durch die Scheibe sah ich ihn noch und er starrte Hiroto und mich an. Dann ergriff Hiroto meine Hände und drehte mich zu sich. Er lächelte auf eine ganz liebenswerte Weise und sein Herz leuchtete pink. Sanft hob er mein Kinn an, sodass sich mein Blick von Pierre löste und ich in Hirotos braune Hundeaugen sah. Er zog mich ganz vorsichtig zu sich heran, sodass sich unsere Körper ganz leicht berührten. Und dann küsste er mich! Kapitel 15: Welches Herz? ------------------------- Hiroto küsste mich und ich stand wie zur Salzsäule erstarrt einfach nur da. In meinem Kopf fühlte es sich an, als wäre dort gleichzeitig ein gigantisches Tohuwabohu und eine gähnende Leere. Ich konnte immer noch nicht recht fassen, wie mir geschah. Ich stand hier, vor einer Bar in der Dämmerung der Nacht, mit meinem Date. Er küsste mich und ich starrte durch die Scheibe hindurch Pierre an. Er starrte zurück und ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, ein schneidendes Funkeln in seinen Augen zu sehen. Er wirkte, als wäre er verärgert. Plötzlich kam wieder Leben in mich und ich stieß Hiroto energisch von mir. Er stolperte zurück und sah mich schockiert an. Sein Herz schimmerte wieder mehr orange als pink und ich dachte panisch, dass ich jetzt wohl alles kaputt gemacht hatte. Ich brauchte doch sein Herz! Plötzlich nahm ich zu meiner rechten eine Bewegung wahr und hörte, wie die gläserne Bartür wieder zufiel. Pierre war rausgekommen und funkelte Hiroto vernichtend an. "Hey, was hast du ihr getan?", fuhr er ihn an und meine Augen weiteten sich noch mehr. Dachte er etwa, Hiroto hätte mich verletzt? Oder mir sonst irgendetwas angetan? Was ging ihn das eigentlich an? Ich war nicht seine Freundin! Es ging ihn überhaupt nichts an, was ich mit wem machte oder nicht! Hiroto hob abwehrend die Arme und sah zwischen mir und Pierre hin und her. "Nein, ich hab ihr gar nichts getan." Pierre schien ihn echt verunsichert zu haben, denn er stotterte ein kleines bisschen. Ein zweites Mal löste ich mich aus meiner Starre und brüllte Pierre, ein wenig zu aufgebracht, an: "Jetzt bleib' mal ruhig, er hat mir gar nichts getan! Und es geht dich auch nichts an!" Ich machte einige Schritte, sodass ich zwischen den beiden stand. "Was läufst du eigentlich in so einem Aufzug draußen rum?", fragte Pierre mich ruhig, aber gereizt. Ich dachte, ich hör' nicht richtig. "Das ist viel zu freizügig.", fügte er hinzu und ich dachte echt, mir platzt jetzt der Kragen. "Was fällt dir ein?", giftete ich ihn an und wurde so sauer, dass sich meine Fingernägel in meine Handflächen gruben. "Es geht dich gar nichts an, was fällt dir ein, dich in meinen Kram einzumischen?" "Einer muss es ja tun.", entgegnete er eiskalt und ich wurde noch wütender. "Aber sicherlich nicht du! Mir dir will ich nichts mehr zu tun haben! Ich hab schon einen Aufpasser und der hat immerhin ein echtes Herz!" Mit meinem Gebrüll erregte ich die Aufmerksamkeit einiger Passanten, aber das war mir egal. Ich war noch nie der Typ Mensch, der mit seinen Unzufriedenheiten hinter'm Berg hält. Pierre sah mich stumm an. Ein Herz. Sein Herz. Mein Herz. Nein, das durfte nicht sein. Ich schüttelte mich kurz, löste mich von Pierres fesselndem Blick und deutete in die Bar hinein. "Verschwinde einfach.", wies ich ihn mit ruhiger Stimme an und wand mich Hiroto zu, um nach seiner Hand zu greifen. Sie fühlte sich warm an. Ganz anders als Pierre. Ohne noch ein Wort zu sagen zog ich Hiroto mit mir und entfernte mich von der Bar. Pierre blieb stumm zurück. Ich wusste nicht, ob er uns nachsah, oder wieder reinging, aber ich hatte auch keine Lust, mich jetzt umzudrehen. Wir schlenderten eine Weile durch die dunkle Stadt, als er plötzlich innehielt. "Chocola.", sagte er und stellte sich mir gegenüber. Meine Hand hielt er immer noch und jetzt griff er auch nach der zweiten. Ich ließ ihn gewähren. "Chocola, ich find' dich echt interessant", fuhr er fort, "aber was war das eben? War das dein Freund? Oder Ex-Freund oder so? Ich will jetzt nicht in etwas reinpfuschen, was noch nicht beendet ist." Ich zog beide Augenbrauen hoch und starrte ihn erstaunt an, ehe ich antwortete. "Nein, wir waren nie ein Paar." Aber was waren wir? Eine Hexe und ein Ogul, die... Ich brach den Gedanken ab. "Ich könnte nie mit ihm zusammen sein. Aber er war mal mit meiner besten Freundin zusammen. Daher kennen wir uns. Aber ich konnte ihn noch nie ausstehen.", erklärte ich und es war ja auch nicht ganz falsch. Zwar waren Vanilla und Pierre nicht wirklich zusammen gewesen, aber das war ja nicht so wichtig. Ich lächelte und Hiroto tat es mir gleich. "Achso.", fügte er noch hinzu. "Das ist schön. Ich find' dich echt hübsch und witzig. Du bist so aufgedreht. Nicht so, wie andere Mädchen." Ich lachte kurz. Er war einer der ersten die meine Art der Vanillas vorzogen. Zumindest hier in der Menschenwelt. Ich schaute gespielt verlegen zu Boden und sein Herz leuchtete pink. Aber es schien mir schon ein violetteres pink zu sein. Wir standen an einer kleinen Brücke und er drängte mich vorsichtig an das kühle Geländer. Ich lehnte mich dagegen und fröstelte leicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich eine Jacke vergessen hatte. Hiroto schmunzelte und zog seine dunkle Lederjacke aus, um sie mir über die Schultern zu legen. Ich musterte ihn skeptisch, war aber dankbar. Die Jacke war angenehm warm. Hiroto kam mit seinem Gesicht näher an meines heran und ich starrte nur zurück, ehe mir dämmerte, dass er mich wohl schon wieder küssen wollte. Ein leichter Anflug von Panik überkam mich und ich berührte mit meiner Hand seine Brust, als wollte ich ihn stoppen. "Nimm es mir nicht übel.", sagte ich und entwand mich ihm. "Aber das geht mir gerade zu schnell. Ich bin müde und irgendwie -" Er grinste, als er mir das Wort abschnitt. "Kein Problem.", beruhigte er mich und fragte, ob er mich nachhause bringen sollte. Ich lehnte ab und erklärte, dass ich ein Taxi nehmen würde, dass er dann rief. Kurze Zeit später war es da und ich stieg hinein. Als Hiroto mir zum Abschied zuwinkte leuchtete sein Herz violett und ich nahm es mir. Dann fuhr das Taxi davon. Kapitel 16: Erstens kommt es anders... -------------------------------------- Zum Glück hatten wir heute kaum Unterricht. Ich fühlte mich scheußlich, als ich am Morgen erwachte. Houx und Saule waren mittlerweile ins Gästezimmer gezogen. Gott sei Dank! Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich gestern von meinem Date heimgekommen wäre und die beiden sich schon wieder auf meinem Bett getollt hätten. Klar, früher haben wir das oft gemacht... Aber jetzt war es anders. Wir waren einfach keine Kinder mehr und ich hätte wirklich keine Fragen zu meinem Abend ertragen. Darüber musste ich mir erst einmal selbst klar werden... Und das die ganze Nacht. Ich hatte keine Stunde durch geschlafen, als der Wecker laut und bösartig schellte. Die Haare standen mir zu Berge und mein Make-Up war so verwischt, dass ich wie ein verwirrter Panda aussehen musste. Vanilla war - wie eigentlich immer - schon gut drauf und klopfte sacht an meine Tür. "Chocola. Beeil dich, ja? Ich mach' jetzt Frühstück und dann kannst du mir alles über den gestrigen Abend erzählen." Na, super. Ich hörte, wie sie sich wieder entfernte und schwang meine Füße aus dem Bett. Ohh, wie gerne würde ich einfach liegen bleiben? Ob ich Lovin erzählen könnte, dass ich krank sei? Wie ich ihn kenne, würde er mich nur zuhause behalten, wenn ich mit dem Kopf unter'm Arm nach unten marschieren würde. Für ihn zählte nicht, wie ich mich fühlte - ging ihn ja auch nichts an. Während ich ins Bad trottete, gähnte und streckte ich mich immer wieder. Sechs Jahre geschlafen und trotzdem nicht fit. So langsam hatte ich das Gefühl, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich nicht aus dem Koma erwacht wäre. Zumindest hätte ich dann meine Ruhe. Wirklich, seit ich aus dem Krankenhaus bin, hab ich kaum Schlaf bekommen. Und ich mag doch Schlafen. In der Küche verbreitete sich schon wieder der Geruch von Frühstück. Vanilla hatte haufenweise Spiegeleier gebraten und sie auf Toast gestapelt, die Houx und Saule schon in sich hinein stopften. Mit gereizter Miene setzte ich mich neben sie. Zum Glück war Vani taktvoll genug, jetzt nicht das Date anzusprechen. Wussten Houx und Saule überhaupt davon? Eher nicht und das war auch besser so. Trotz meiner miesen Laune griff ich nach einem Teller und zerhackte ein Toast. Vielleicht würde es ja ein guter Tag werden, wenn ich ordentlich frühstückte. Wie war das gleich? Iss deinen Teller auf und der Tag wird toll... Irgendwie so hieß es doch bei den Menschen. "Wie war's eigentlich in der Fahrschule?", fragte ich an Houx und Saule gerichtet, um ja keine Themen aufkommen zu lassen, auf die ich jetzt wirklich gar keine Lust hatte. Und offenbar schien mein Plan aufzugehen. Vanilla wand sich kurz zu uns und kicherte. Offenbar wusste sie schon Bescheid, denn Houx sah ein wenig beschämt zu Boden. Interessiert zog ich die Augenbrauen hoch, während ich mir Toast und Ei in den Mund schaufelte. Houx ergriff das Wort. "Nun ja... Also... Vielleicht haben wir uns ein wenig dumm angestellt..." Saule fiel ihm ins Wort. "Ein wenig? Total! Aber wer kann uns das verübeln? Die Menschen haben komische Regeln. Ich dachte ja, ich wüsste ungefähr, wie so ein Auto funktioniert. Aber das ist dermaßen kompliziert." "Ich bin ja mal gespannt, wie es wird, wenn ich das erste Mal ein Auto wirklich fahrt, wenn ich schon mit der Theorie so Probleme habt." Vani lud noch mehr Eier auf einem großen Teller ab und setzte sich dann zu uns. Ehe die Zwillinge ihre Abenteuer in der Fahrschule weiter ausführen konnten, war ein lautes Piepen zu hören und alle sahen mich an. Es war mein Handy, dass ich achtlos in die Tasche meiner Jeans gesteckt hatte. Mit gerunzelter Stirn zog ich es heraus, während die anderen sich wieder unterhielten. Wieder eine SMS! Als würde ich ahnen, was jetzt kommt, las ich die Nachricht und verzog keine Miene. Sie war von Hiroto: "Na du :) ich hoffe du hast gut geschlafen. Ich fand's gestern echt schön. Hättest du vielleicht Lust am Wochenende was mit mir zu unternehmen? :* Hiroto" Na, grandios, genau das hat mir noch gefehlt. Eilig steckte ich mein Handy wieder ein und aß und alberte mit meinen Freunden herum. Ablenkung war vermutlich erst einmal das Beste. In der Schule waren wir recht spät dran. Mit dem Klingeln der Schulglocke eilten wir in unsere Klassenräume. Und ehrlich, ich war ja schon davon genervt, dass hier immer wieder Kerle um Vanilla herumtanzten, aber bei Houx und Saule war es fast schlimmer. Die Mädchen wurden immer knallrot und kicherten, wenn die beiden durch den Flur liefen. Manche warfen ihnen auch bedeutungsschwere Blicke zu. Warum nur? Konnten die sich nicht beherrschen? Die sollen sich mal nicht so täuschen lassen. Wer wusste besser als ich, dass die beiden manchmal auch ganz schön nerven konnten. Richtig, keiner! Bisher hatte ich Hiroto noch keine Antwort geschickt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hätte mir gestern einfach sein Herz schnappen sollen, dann hätte ich den Schlamassel jetzt nicht. Und die Sache mit ihm war ja nicht einmal das Schlimmste. Nein, was mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte, war Pierre. Wie er mich angesehen hat... Wie er rausgestürmt kam, als Hiroto mich küsste... Dieser Ausdruck in seinen Augen... Als wäre... Nein, eilig versuchte ich, diese Gedanken beiseite zu schieben. Wieso dachte ich überhaupt an Pierre, diesen arroganten Idiot? Nein, das Kapitel - das Übrigens niemals angefangen hat - war wirklich vorbei. Die drei Schulstunden - heute war zum Glück ein kurzer Tag, warum das so war, hab ich vergessen und eigentlich ist es mir auch egal - zogen sich so hin und als uns die Glocke endlich ins Wochenende entließ, war ich wirklich erleichtert. Endlich konnte ich schlafen und essen und wieder schlafen. Hatte meine Ruhe. Ja, ich würde einfach mal ausspannen. Vanilla plauderte noch mit einem Jungen. Subaru Akai. Vermutlich würde das ihr nächstes pinkes Herz werden. Und ich? Ich hatte noch nichts. Vielleicht sollte ich mich doch noch einmal mit Hiroto treffen, mir sein Herz schnappen und dann schnell verschwinden. Ich schlenderte schon aus der Schule - ganz allein. Wo waren eigentlich Houx und Saule, wenn man mal Gesellschaft wollte? Schnatternde kleine Schülergrüppchen liefen über den Hof und offenbar hatten auch die Studenten jetzt bereits Schluss. Zumindest strömten Massen von ihnen aus der Universität. Ich trödelte ein bisschen, hatte es ja auch nicht wirklich eilig. Da sah ich ihn auf einmal. Pierre! An der Hand seine Freundin, die ein breites Lächeln im Gesicht trug. Pah, und wo war sie gestern, als er sich alleine vergnügt hat? Ja, wenn ich ihr das unter die Nase reiben würde, würde sie sicherlich nicht mehr so dämlich grinsen. Ich starrte die beiden immer noch an und bemerkte auf einmal, wie Pierre den Blick hob und in meine Richtung sah. Nein, nein, nein! Das wollte ich doch vermeiden. Hastig grabschte ich nach meinem Handy und hielt es mir ans Ohr, als würde ich telefonieren. So hatte ich einen Vorwand, Pierre den Rücken zuzukehren. Ich spazierte zu den Tischtennisplatten, während ich ein Gespräch vortäuschte. Als ich mich an die kühle, steinerne Platte legte und mich wieder umwand, erschrak ich, denn Pierre stand auf einmal nur wenige Zentimeter vor mir. Was... Wie...? Er sah mich an. Ich sah ihn an. Mein angebliches Telefonat hatte ich total vergessen. Und dann begann er zu sprechen. Kapitel 17: ... Zweitens als man denkt -------------------------------------- Ich konnte es noch immer nicht glauben? Reichte es nicht, dass wir fast jeden Tag in Gebäuden saßen, die direkt nebeneinander waren? Mussten wir uns auch noch in Geschäften oder Bars begegnen? Und musste er jetzt tatsächlich noch herkommen? Zu mir? Warum? Wieso? Doch bevor ich mir noch mehr unbeantwortbare Fragen stellen konnte, öffnete Pierre den Mund. "Hi, Chocola.", sagte er und seine Stimme klang so kühl wie eh und je. Ich sammelte mich langsam wieder - beziehungsweise versuchte es - und tat, als würde ich meinen Anruf beenden. Ich erwiderte nichts. Was hatte ich ihm schon zu sagen? Ich sah nicht einmal zu ihm auf. Stattdessen hielt ich lieber nach seiner Freundin Ausschau, konnte sie aber nicht erblicken. "Weißt du... Ich wollte mich nur erkundigen, ob bei dir alles klar ist. Immerhin... Gestern..." Jetzt musste ich doch aufsehen, vermied es aber, direkt in seine eisblauen Augen zu schauen. Sollte das jetzt eine Entschuldigung werden oder was? "Es sah halt nicht so aus, als würdest du das wollen und Zivilcourage ist heutzutage ja wichtiger denn je." Ungläubig sah ich zu ihm hoch. Okay, ich konnte auch nicht glauben, dass er sich ernsthaft entschuldigen wollte, aber das? Nein, ich konnte es nicht glauben und spürte, wie die Wut in mir hoch stieg. "Wie kommst du darauf? Ich mag Hiroto sehr gerne und wüsste nicht, was dich das anginge!", erwiderte ich giftig und krauste dabei verärgert die Stirn. "Das Einzige, was ich nicht okay fand' warst du! Kannst du nicht andere Leute nerven? Wenn dir deine komische Freundin nicht reicht, dann lass doch deinen Harem wieder aufleben." Während ich sprach, versuchte ich, mich seinem durchdringenden Blick zu entziehen. Pierre war ja bekannt dafür, dass er die Mädchen damit für sich gewinnen konnte. Aber mich sicherlich nicht! Ich wollte nur, dass er mich in Ruhe ließ. Er verzog keine Miene und schwieg. Ich schwieg auch. So standen wir da einige Momente, ehe er wieder sprach. "Ich weiß ja nicht, was dein Problem ist. Aber ich weiß, dass du diesen Hiroto nicht so sehr magst. Ehrlich, das sieht man sofort." Ich ballte die Fäuste und funkelte ihn an, als auf einmal eine helle, nervtötende Stimme erklang. Sorato, seine Freundin, kam angehüpft und drückte Pierre einen Kuss auf die Wange, der immer noch zu mir herab starrte. "Pierre-Schatzi.", flötete sie fröhlich und klettete sich an seinen Arm. "Wollen wir jetzt noch in die Stadt? Du weißt doch, ich brauch' für morgen noch ein Kleid." Als Pierre nicht reagierte, sah sie mich an. "Oh, hallo.", begrüßte sie mich übertrieben freundlich und streckte mir ihre Hand entgegen. Skeptisch löste ich meinen Blick von 'Pierre-Schatzi' und schüttelte sie. "Hi.", meinte ich knapp. Mein Desinteresse schien Sorato nicht zu stören. "Ich bin Sorato. Aber du kannst mich Sora nennen. Klingt doch viel netter. Woher kennst du Pierre? Seid ihr Freunde?" Ich sah sie an. Sie war ganz hübsch, schien aber nicht sonderlich helle zu sein. Und ihre Stimme klang wirklich schrecklich. Wie konnte man das auf Dauer nur aushalten? Als wäre man mit Minnie Maus zusammen. "Chocola.", stellte ich mich vor und hielt mich genauso knapp, wie bei der Begrüßung. "Wir kennen uns durch...", begann ich und überlegte dann, was ich jetzt sagen sollte. Ja, wodurch kennen wir uns? Er ist der Prinz der Ogul, der meine beste Freundin mal manipuliert und gegen mich aufgehetzt hat. Ach, und übrigens dachte ich damals, dass ich mich eventuell in ihn verliebt hab? Nein, das war keine Option. Mein Hirn ratterte, um eine passende Antwort zu finden. "Ach, weißt du, wie man sich eben so kennt.", meinte ich dann mit möglichst unbekümmerter Miene und offenbar genügte ihr das. Nun wand sich auch Pierre zu ihr. "Hör mal, mein Schatz." Ich spürte, wie mir die Eingeweide brannten, als hätte ich Benzin und eine Kerze verschluckt. "Ich muss mit Chocola noch was besprechen. Nichts Wichtiges, geh' ruhig schon mal vor. Du könntest mein Mathe-Buch holen. Ich hab' es im Hörsaal liegen lassen." Ein mattes Lächeln huschte über seine Züge und man konnte förmlich sehen, wie Sora dahin schmolz. "Sei so lieb. Und dann kaufen wir dir ein wunderschönes Kleid." Ich sagte nichts. Am liebsten hätte ich mich einfach in Luft aufgelöst. Warum ging er denn jetzt nicht? Was wollte er noch? War nicht alles gesagt? Ich für meinen Teil war durch damit. Inzwischen war ich entschlossener denn je, Hiroto zuzusagen. Nur, um Pierre eins auszuwischen und ihm klar zu machen, wie falsch er lag. Sora drückte mich kurz und säuselte was von: "War schön dich kennenzulernen, hoffentlich sehen wir uns bald wieder.", dann eilte sie wieder davon. Als sie außer Sichtweite war, wand ich mich zu Gehen, doch Pierre hielt mich zurück. Ich konnte ein Prickeln spüren, wo seine kalte Hand meinen Arm umfasste und sah erneut zu ihm hoch; eher erstaunt als erbost. "Was?", murmelte ich und sah zu Boden und Pierre zog mich zu sich, sodass ich wieder ganz nah vor ihm stand. Der Pausenhof war mittlerweile verlassen und leer. Am Tor konnte ich nur noch wenige Schüler stehen sehen, aber Pierre zog mich mit sich, sodass wir hinter der Mauer und aus deren Sichtfeld verschwanden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Immerhin war auch er es, der der Meinung war, dass wir noch etwas zu besprechen hätten. Er drängte mich leicht an die kühle Mauer, als würde er mir ein Geheimnis erzählen wollen, das unter keinen Umständen ein Außenstehender erfahren durfte. Meine Verwunderung wurde immer größer. Es war ja all gemeinhin bekannt, dass Jungs komisch waren, aber das jetzt? Er sah mir tief in die Augen und ich erwiderte seinen Blick. Unwillkürlich wanderten meine Augen immer wieder zu seinem Mund. Zu den blassen Lippen, die nie zu lächeln schienen. Und dann wieder zu seinen wunderschönen eisig blauen Augen mit den langen Wimpern. Sein helles Haar umwehte in der sanften Brise sein Gesicht, aber ansonsten schien die Zeit still zu stehen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich hasse Pierre doch, oder? Langsam wurde ich mir dessen immer unsicherer. Langsam, kaum merklich, beugte er sich vor; beugte sich hinab zu mir, kam mir immer näher und näher, während ich ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Kapitel 18: Nicht das eigene Herz --------------------------------- Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal fühlte, wie in jenem Augenblick oder ob ich so etwas je gefühlt habe. Die Welt um uns herum schien still zu stehen und in undeutliche Schemen zu verschwimmen. Das Einzige, was ich klar sehen konnte, war Pierre. Und er war mir so nahe. Ich roch sein Parfüm, spürte seine eiskalte Haut. Seine Finger auf meinen. Mein Herz hämmerte und eine ungeahnte Wärme schien mich zu durchströmen. Ich konnte nicht klar denken. In meinem Kopf war ein Rauschen, wie bei einem Fernseher, der kein Signal bekam. Das eisige Blau seiner Augen erschien mir warm und ließ mich leicht zittern. Meine Beine spürte ich nicht mehr. Es war so unwirklich. Und dennoch geschah es. Ich konnte es mir nicht erklären. Eigentlich wollte ich es nicht, aber ich konnte mich nicht lösen. Und obwohl es doch so falsch war, fühlte es sich soo richtig an. Alles andere war vergessen. Ich sah nur ihn, der immer näher kam. Wollte ich überhaupt, was gleich geschah? Pierre war mir jetzt schon gefährlich nahe und als ich begann, mich zu winden, stockte er. Wir taten es zeitgleich. Wir beendeten diesen Moment in derselben Sekunde. Alles um mich herum, wurde immer klarer. Ich sah zu Boden und Pierre starrte an die Mauer hinter mir. So verharrten wir einige Sekunden. Ich kann nicht sagen, wie lange. Noch immer fühlte ich mich ein wenig benommen, spürte aber, wie wieder Leben in mich kehrte und ich meine Beine und Füße wieder zu spüren begann. Die Stille wich. Ich konnte entfernte Stimmen vernehmen und das Rascheln der Bäume, die sanft im Wind wiegten. Noch immer sagte von uns beiden keiner was. Dann räusperte ich mich und Pierre sagte: "Ich wollte dir nur noch sagen, dass du auf dich aufpassen solltest. Schließlich willst du doch nicht schon wieder ins Krankenhaus." Seine Stimme klang merkwürdig tonlos und er wirkte, als würde ihm gleich die Brust zerbersten. Dabei sah er ein wenig aus, als müsste er ins Krankenhaus. Ich gewann langsam meine Fassung zurück. "Ja.", hauchte ich und klang genauso tonlos wie er eben. "Ja, wie auch immer." Ich schüttelte mich und klang nun wieder normal. So, als kümmere mich Pierre nicht. Tat er auch nicht... Oder? Ich schüttelte mich erneut. "Und ich kann das auch wunderbar alleine, also erspare mir sowas wie gestern in Zukunft bitte." Ich zog ein grimmiges Gesicht und vermied es, in seine Augen zu blicken. Stattdessen stierte ich eisern auf sein Kinn. Sein Parfüm lag immer noch in der Luft und ich wedelte ihn demonstrativ fort von mir. "Musst du jetzt nicht wieder zu Sora." Das klang keineswegs wie eine Frage. Eher wie eine Aufforderung. Er nickte und wirkte wieder kühl, wie eh und je. "Ich wollte es nur erwähnt haben... Auch, wenn wir uns nie mochten. Aber es wäre doch unehrenhaft, wenn Vanilla kampflos die Königin werden würde." Dann wand er sich ab und ging. Ich starrte ihm nach. 'Auch wenn wir uns nie mochten', dieser Satz pochte in meinem Kopf und mir drehte sich der Magen um. Nie mochten? Vanilla? Da war doch gerade irgendetwas. Dass war es auch schon früher. Ich wusste nicht was, aber es war da. Vanilla hatte er doch nur manipuliert. Mit ihr hatte er nur gespielt. Oder hatte sie ihm was bedeutet? Und was sollte das eigentlich gerade? Er war doch mit der fröhlich flötenden Sora zusammen und ich würde mich nie in einen Ogul verlieben. Überhaupt verlieben... Nein, nein, nein. Ich würde wie meine Mutter werden. Eine Herzensbrecherin, die ihr eigenes nie verliert. Nein, niemals. Die Tränen wollten mir in die Augen steigen, aber ich schluckte hart und schüttelte energisch den Kopf. Schluss jetzt damit. Ein für alle Mal! Ich hatte genug! Ich musste mich auf meine Herzenjagd konzentrieren, alles andere war egal. Eilig lief ich über den menschenleeren Schulhof auf das Tor zu. Lovin wartete bestimmt schon ungeduldig. Und wenn ich jetzt als Letzte das Auto erreichte, musste ich mich wieder auf den unbequemen Mittelplatz zwischen Houx und Saule quetschen. Ich rannte fast zur Straße, ohne mich auch nur einmal umzublicken. Lovin wartete tatsächlich schon und Houx, Saule und Vanilla saßen schon in seinem Wagen. Ich riss die Tür auf, kletterte stumm über Houx und ließ mich in die Mitte plumpsen. Naja, wir fuhren eh nicht lange, da würde ich es hier schon aushalten. Lovin tadelte mich, aber ich nahm das kaum war. In meinem Kopf war immer noch alles durcheinander. Ich nickte und giftete ihn beiläufig an, dann ließ ich mich ins weiche Leder sinken. Die anderen unterhielten sich und scherzten, aber ich saß einfach nur da. Dachte an alles und nichts. Zuhause würde ich mich in mein Zimmer verkrümeln mit einer leckeren Tafel Schokolade. Vielleicht würde ich sogar Duke rauswerfen, um meine Ruhe zu haben. Sollte er sich doch mit Blanca rumärgern oder Houx und Saule vollquaken. Bei mir war er da heute an der falschen Adresse. Während Lovin mit uns nach Hause raste, schloss ich die Augen. Das war doch alles nicht wahr. Nein wirklich... Es war einfach nicht zu fassen... Kapitel 19: Jeder hat schon mal geweint --------------------------------------- Als Lovin seinen Wagen parkte, sprang ich eilig heraus und verschwand in mein Zimmer. Die Tür fiel hinter mir krachend ins Schloss und ich lehnte mich daran. Duke war nirgends zu sehen. Das war vermutlich besser so. Dann konnte er mir immerhin nicht mehr mit der Herzenjagd auf die Nerven gehen. Noch immer wurden meine Beine ein bisschen wacklig, wenn ich daran dachte, wie Pierre eben noch vor mir stand. Wie er mich angesehen hat... Ich dachte, er würde mich küssen wollen. Mit einem Seufzer griff ich nach einer großen Tafel Schokolade von meinem Nachttisch und ließ mich auf's Bett fallen, erschöpft von meiner ersten Woche nach dem Koma. Sollte das jetzt den Rest meines Lebens so weitergehen? Dann, vielen Dank für Nichts. Ich fühlte mich so alleine und verlassen und hilflos, wie lange nicht mehr und während ich so an die Decke meines Zimmers starrte, fiel mir plötzlich etwas ein. Stumm glitt ich vom Bett und zu meinem Kleiderschrank, bückte mich und tastete den Boden ab. Und plötzlich machte mein Herz einen Satz. Ich sank auf die Knie und zog das schwere Tagebuch meiner Mutter heraus. Es lag noch genau dort, wo ich es vor Jahren versteckt hatte. Eine merkwürdige Schwere schien von mir Besitz zu ergreifen. Ich konnte es nicht genau beschreiben. Ich hatte Mamas Buch in den Händen und fühlte mich gleichzeitig todtraurig und getröstet. Wie sehr wünschte ich mir, dass sie noch bei mir wäre. Das war doch so unfair! Die Tränen wollten mich schon wieder übermannen, aber ich konzentrierte mich darauf, nicht zu weinen, während ich das Buch an mich drückte, als würde es mir gleich jemand stehlen wollen. Den Lärm und das Gepoltere, der im Flur zu Hören war, drang nur gedämpft an meine Ohren. Bitte, bitte, bitte, lasst jetzt niemanden hier herein kommen. Aber das konnte man in diesem Haus nur vergeblich hoffen. Die Tür wurde aufgerissen und Saule grinste mich an, als seine dunkelblauen Augen mich vor dem Schrank kauern sah. "Choco!", dröhnte er. "Komm runter, Vanilla macht Smoothies." Ich sagte nichts. Ich sah nicht einmal zu ihm auf. Und das schien auch Saule zu bemerken. Er starrte mich an und fragte nun leiser: "Choco? Alles okay?" Ich antwortete immer noch nicht. Ich brauchte all meine Kraft, um nicht in Tränen auszubrechen. Verdammt, eigentlich war doch Vanilla diejenige, die wegen jeder Kleinigkeit gleich weinte und nicht ich. Saule klang mittlerweile wirklich besorgt. Er lehnte die Tür an und kam zu mir herüber; drehte mich an den Schultern, sodass ich ihn ansehen musste. Mamas Buch hatte ich immer noch fest umklammert. Saule musterte mich. "Choco...", flüsterte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war so unfair! Warum musste ich das alles alleine, ohne meine Mutter durchstehen? Kein Wunder, dass ich so verkorkst war, wie Lovin oder Großvater immer sagten. Alles um mich herum schien in sich zusammen zu brechen. Wie sollte ich es so schaffen, Königin zu werden? Ich war doch ganz alleine! Und dann rannen mir schon die Tränen das Gesicht herab und meine Hände bebten. Zuerst wirkte Saule erschrocken, dann schloss er mich fest in die Arme. Jetzt war es ja auch egal. Stumm weinte ich und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, während er versuchte, mich zu beruhigen. Immerhin meine beiden beste Freunde waren bei mir, auch wenn sie kein wirklicher Ersatz für meine Mutter waren. In diesem Moment merkte ich, wie wichtig sie waren. Klar, Vanilla war meine beste Freundin, aber seit wir in diesem Wettkampf sind, hat sich unser Verhältnis irgendwie ein bisschen verändert. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, ihr alles erzählen zu können. Eine Weile lang hockten wir einfach nur so da. Saule sagte nichts und von mir war nur ein ganz leises Wimmern zu vernehmen. Hoffentlich würde das niemand anderer hören. Schlimm genug, dass Saule mich so sah. Irgendwann löste ich mich. Meine Augen waren gerötet, aber ich wollte nicht mehr weinen. Ich schluckte einige Male schwer und löste mich dann von Saule. Wobei ich es vermied, ihm direkt in die Auge zu sehen. Ich schämte mich. "Was... Hast du denn?", fragte er mit immer noch besorgter Miene. Ich sah zu Boden, überlegte, was ich jetzt sagen sollte. Was ich sagen wollte. Saules Blick lag auf mir und ich fand einfach keine passenden Worte. Dann antwortete ich sehr, sehr leise. "Es ist... Keine Ahnung... Alles irgendwie. Und nichts. Ich weiß es nicht." Ich seufzte. Das war nicht einmal gelogen. Dann sprudelte ich los: "Als ich gestern mit Hiroto aus war, hat sich Pierre eingemischt, als Hiroto mich küsste und vorhin in der Schule hatte ich das Gefühl, dass Pierre mich küssen wollte und ich hab noch keine Herzen und ich vermiss' meine Mutter und schaff wahrscheinlich meine Qualifikation nicht!" Erschrocken sah ich ihn an und nicht minder erschrocken sah Saule zurück. Er hielt kurz inne und schien zu überlegen. Dann meinte er: "Du hast einen Kerl geküsst?" "Nein!", erwiderte ich schroff. "Er mich. Ich wollte das nicht. Aber ich brauch' ja sein Herz, deshalb kann ich ihn ja nicht total vergraulen." "Und Pierre...?" "Ach, vergiss Pierre. Er ist ein Idiot. Ich weiß nicht, was er vorhat, es ist mir eigentlich auch egal!" "Das klang eben aber nicht..." "So ist es aber!", fauchte ich und funkelte Saule an. Es fühlte sich an, als würde er sich gegen mich wenden. "Er will bestimmt nur den Wettbewerb manipulieren. So wie damals mit Vanilla." Ich stand auf und verstaute Mamas Buch wieder im Schrank, möglichst so, dass es Saules Blicken verborgen blieb. "Also, Smoothies?", fragte ich grinsend und gab mich wieder so, wie eh und je, damit wir das Thema ja nicht vertieften. Schlimm genug, was ich ihm gerade alles erzählt habe. Das war gar nicht meine Absicht. Allerdings fühlte ich mich jetzt auch ein wenig erleichtert, dass es endlich mal raus konnte und mich nicht von innen zerfrass; zumindest nicht mehr so sehr. Unwirsch griff ich nach Saules Arm und zog ihn ruppig hinter mir her aus meinem Zimmer und hinunter zur Küche. Bis heute Abend würde ich mich mit dem Thema 'Pierre' nicht mehr befassen. Das nahm ich mir fest vor. Und später würde ich mir überlegen, wie es mit Hiroto weitergehen würde. Kapitel 20: Hilfe, ein Ball! ---------------------------- Die Smoothies waren wirklich lecker und heiterten mich sogar ein wenig auf. Allerdings ahnte ich, dass sich das schnell wieder ändern würde, als Lovin mit seinem verschlagenen Grinsen zu uns trat. Diesen Ausdruck kannte ich zur Genüge und dem folgte meist nichts Gutes. Er räusperte sich affektiert und fuchtelte mit den Händen herum, bis wir ihm alle zuhörten und den Mund hielten. Demonstrativ geräuschvoll saugte ich an meinem Strohhalm und Lovin funkelte mich finster an. "Chocola! Verhalt' dich endlich mal wie eine Dame!", fuhr er mich an und lehnte sich auf die Tischplatte, um uns alle reihum zu mustern. "Ich hab eine Überraschung für euch.", begann er und genoss einen Moment unsere fragenden, neugierigen Blicke. Dass er sich auch immer so aufspielen muss! Dann fuhr er fort: "Am Samstag gibt es in der Stadt einen Benefiz-Ball. Ich steh' natürlich auf der Gästeliste und hab' so davon erfahren. Allerdings kann dort jeder hingehen. Die Einnahmen des Eintritts werden für einen guten Zweck gespendet." Ich konnte ihm nicht so recht folgen. Klar, ich verstand, was er sagte, aber ich verstand nicht, warum er uns das erzählte. Meine Stirn lag in Falten während in Vanillas Augen schon einer leichter Ausdruck der Vorfreude zu sehen war. Oh, bitte nicht, dachte ich erschrocken und wand mich Lovin zu, der dann auch schon fortfuhr: "Nun ja und da besonders Chocola noch kein Herz ergattern konnte, ist das doch die perfekte Gelegenheit für euch beide. Chocola kann versuchen, das zu ändern - auch, wenn das sicherlich nicht so leicht für sie wird - und Vanilla könnte ihren Vorsprung weiter ausbauen." "Was soll das denn heißen?! Nicht so leicht für mich?!", fauchte ich Lovin an und krallte mich mit den Fingern ans Smoothie-Glas, doch er schnitt mit ungeduldig das Wort ab, ohne auf meinen Einwand einzugehen. "Houx und Saule, ihr durft selbstverständlich auch dorthin gehen, wo ihr im Moment doch unsere Gäste seid. Wenn ihr möchtet - und das gilt für euch alle - könnt ihr euch natürlich ein Date einladen, oder aber euch dort nette Gesellschaft suchen. Und für euch Mädels gilt: Das ist nicht nur ein Vergnügen. Ihr müsst eure Aufgabe im Blick behalten. Ach ja, und wenn ihr euch keine ordentlich Abendgarderobe anzieht, dann bleibt ihr hier. Und dann werde ich sauer, denn die Karten sind schon gekauft." Schade, kurz hatte ich gedacht, ich könnte dem entgehen. Aber Lovin hatte ja Recht. Ich brauchte wirklich Herzen. Und das möglichst schnell. Allerdings hatte ich keine Abendgarderobe. Und ich hatte wirklich keine Lust schon wieder shoppen zu gehen. Wir waren doch erst kürzlich. Hätt' ich das vorher gewusst, hätte ich da einfach irgendein Kleid mit eingepackt. Auch Houx protestierte. "Lovin, Saule und ich haben keinen Anzug oder so etwas." "Ja ja, ich weiß ja. Dann geht los und kauft euch was." Er schmiss massig Menschengeld auf den Tisch und ging dann wieder von dannen. "Ich kann euch leider nicht fahren, ich hab' noch zu tun." Fast schon angewidert sah ich in die Runde. Außer Vanilla waren wir alle eher mäßig begeistert. Wen wundert's? Bälle sind nicht so mein Ding und das von meinen beiden Chaotenfreunden auch nicht. Vani strahlte uns unverwandt an und machte Anstalten aufzustehen. Bockig wie ich war, rührte ich mich keinen Meter. "Ich ruf' uns schon einmal ein Taxi." Houx, Saule und ich tauschten Blicke, dann stand ich auf und eilte Vani nach. Sie war schon am Telefon, da bekam ich sie an der Schulter zu fassen. "Was?", fragte sie irritiert und lächelte matt. Ich beugte mich zu ihr und wisperte: "Wir brauchen kein Taxi. Lass uns fliegen." Sie sah erschrocken aus und sah sich um, als befürchtete sie, Lovin könnte etwas hören. Ich winkte nur ab. "Ach, komm jetzt. Taxi dauert doch viel zu lange." Vanilla wirkte immer noch unsicher, aber ich zog sie schon mit mir. Houx und Saule standen an der Haustür und hielten das Geld in den Händen. Ich nickte und wir liefen hinaus. Vorsichtig sahen wir uns um, ob Lovin auch nicht aus einem der vielen Fenster sah, dann hoben Houx und Saule schon ab und ich tat es ihnen nach. Vanilla wirkte immer noch sehr verunsichert, aber ich schnappte nach ihrer Hand und dann musste sie wohl oder übel mitziehen. Wir lachten und spaßten, während wir so durch die Luft flogen. Das heiterte einen wirklich auf. Wobei Vanilla nicht sonderlich begeistert wirkte. Nun ja, sie war schon immer ein bisschen ängstlich und offenbar hatte sich das auch nicht nach sechs Jahren Koma gelegt. Wäre ja auch eigentlich seltsam gewesen. Unter uns konnten wir mittlerweile die Stadt sehen. Ich deutete auf eine schäbige, kleine Gasse. Die, in der ich schon gestern Abend gelandet bin. Gestern Abend hatte das wunderbar geklappt. Hier hin schien sich niemand zu verirren. Wir landeten alle, wenn auch etwas unsanft. Lust, Kleider einzukaufen, hatte ich immer noch nicht. Aber ich kam ja wohl nicht drum herum. Wir liefen los. Das einzig Gute war, dass Lovin nicht dabei war, um uns auf den Wecker zu gehen... Beziehungsweise mir! Wir mussten einen Moment laufen, ehe wir an ein Geschäft für Braut- und Abendmode kamen. "Gibt's da auch Anzüge?", fragte Saule und linste durch die Schaufenster. "Keine Ahnung.", murrte ich und Vanilla ging uns voran hinein. "Wenn nicht, könnt ihr ja schon einmal weitergehen.", sagte sie sanft. Die Türklingel bimmelte und eine hektisch wirkende Verkäuferin wuselte auf uns zu und begrüßte uns überschwänglich. Oh Mann, man hatte wirklich niemals seine Ruhe, oder? Nun konnte der Shopping-Wahnsinn ja beginnen. Kapitel 21: Unverhofft kommt oft oder: Kleiderschlacht ------------------------------------------------------ Die Verkäuferin war beunruhigend aufgekratzt und ich bedachte sie mit einem skeptischen Blick. Vanilla dagegen begann schon, zu erzählen: "Hallo. Wir suchen Kleider, dürfen wir uns ein wenig umsehen?" Naja, so hätten wir immerhin unsere Ruhe. Vermutlich konnte Vani es gar nicht mehr erwarten, mich wegen meines gestrigen Dates auszufragen. Die Verkäuferin wuselte wieder weg mit den Worten: "Okidoki, wenn Sie was brauchen, rufen Sie mich nur." Na, sicherlich würde ich die nicht rufen. Halbherzig schlenderte ich zu den Stangen, auf denen Unmengen von verschiedensten Kleidern hingen und begann an einem Ende, sie mir desinteressiert anzusehen. Vanilla trat zu mir und sah mich an. "Und? Wie war's gestern? Wieso hast du dir nicht dein Herz geholt? Das hast du nicht, oder?" Ich schüttelte den Kopf; überlegte, ob ich ihr alles erzählen sollte. Ich war mir da wirklich nicht sicher. "Nein. Aber es hat violett geleuchtet. Heute hat er mir eine SMS geschrieben, dass er sich nochmal mit mir treffen will. Ich hab noch nicht geantwortet. Ich war gestern ein bisschen überfordert... Er hat mich geküsst." Pierre verschwieg ich lieber. Das ging doch keinen was an. Schlimm genug, dass mir das vor Saule rausgeflutscht ist. Ich sah mich um. Wo waren die beiden eigentlich? Nach einer Weile erblickte ich sie, wie sie im hinteren Teil des Ladens bei den Anzügen standen und sich angeregt unterhielten. Vanilla hatte mittlerweile ganz große Augen bekommen. "Wirklich?", fragte sie ungläubig und ich nickte wieder. "Wow." "Ja.", entgegnete ich nur. Vani belud sich den Arm mit Kleidern. Für meinen Geschmack waren die alle ein wenig zu plüschig und kitschig und mädchenhaft. Sicherlich würde ich hier nichts finden. Und dann würde Lovin mich sicher in eins eben dieser Kleider stecken. Nein, danke! "Weißt du, Choco, ich finde es schön, dass wir heute zusammen einkaufen. In letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir uns nicht mehr so oft sehen." Ich sah sie an und sagte erst einmal nichts. Trauriger Weise hatte sie damit Recht. Das Gefühl hatte ich auch. Unentwegt starrte Vani mich an und ihre Augen wurden wieder glasig. "Ach, iwo.", winkte ich schnell ab, damit sie nicht hier und jetzt zu weinen begann. Und schon warf sie sich in meine Arme und schluchzte leise. "Ach, Choco, du bist doch meine beste Freundin. Ich will dich einfach nicht verlieren. Meinetwegen lagst du sechs Jahre im Koma, bestimmt bist du sauer auf mich." Ich tätschelte ihren Rücken und versuchte, sie zu beruhigen. "Was sagst du denn da? Das ist doch gar nicht wahr! Wir sind die besten Freundinnen, seit wir soo klein waren. Und selbstverständlich bleiben wir das. Und mach dir bitte keine Vorwürfe. Ich konnte doch nicht zulassen, dass dir etwas geschieht." Sie drückte mich enger und als sie mich wieder ansah, waren ihre Augen ganz wässrig. "Schon gut.", beschwor ich sie noch einmal und lächelte. "Lass uns lieber weiter die Kleider ansehen." Vanis Arm war mittlerweile mit unzähligen Kleidern behängt und ich hatte noch keines. Plötzlich keuchte Vanilla und ich sah erschrocken zu ihr. "Was?", fragte ich und sah mich um. Ich konnte wirklich nicht erkennen, was sie meinte. Sie hielt mir ein Kleid entgegen. Es war lang und dunkelgrün. So grün, dass ich im ersten Moment dachte, es wäre schwarz. Hmm, das könnte mir tatsächlich nicht so gefallen. Ich nahm es ihr ab. Auf der Stange daneben fielen mir noch zwei weitere Kleider auf, die ich mögen könnte und griff sie mir. Dann stiefelten wir zu den Kabinen. Ich trödelte extra und alle paar Minuten riss Vanilla den Vorhang meiner Kabine auf und präsentierte sich. Mir fiel auf, dass die meisten Kleider sich recht ähnlich sahen und fast jedes Mal sagte ich etwas wie: "Meins ist es nicht, aber steht dir." Anlügen wollte ich sie schließlich auch nicht. Ich hatte mich recht schnell entschieden. Das Grüne, das Vanilla entdeckt hat, würde es werden. Es war genau meins. Und noch mehr Kleider musste ich mir auch nicht antun. Meine Entscheidung stand. Vani tat sich damit ein bisschen schwerer. Aber irgendwann hatte auch sie sich entschieden. Doch bevor es soweit war, vergingen gefühlt Stunden. Houx und Saule hatten sich auch nicht lange aufgehalten, sondern sich jeweils einen dunklen Anzug gegriffen, der passte und fertig waren sie. Als wir endlich alles bezahlen konnten, sahen sie aus, wie ich mich fühlte. Mit vollgepackten Tüten entkamen wir dem Geschäft und der aufgekratzten Verkäuferin. Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit nur so sehr nerven? Die war ja anstrengender, als Pierres Sora. Und die war echt schon die Härte. Erst schlenderten wir einfach nur so dahin, ohne ein bestimmtes Ziel. Doch dann erblickte ich eine kleine Konditorei und drückte ungeniert meine Nase an die große Fensterscheibe, um hineinzusehen. Und ein wahnsinnig lecker aussehender Schokoladenkuchen erwiderte meinen Blick. Ohh, den musste ich haben. "Hey, lasst uns darein!", rief ich meinen Freunden zu und riss schon die Tür auf, um die Konditorei zu betreten. Doch plötzlich vernahm ich eine bekannte Stimme und schaute mich ungläubig um. "Hey, Chocola!", rief Hiroto und lächelte, als er auf mich zukam. Oh nein, wie peinlich. Bestimmt fragte er gleich, warum ich ihm noch nicht geantwortet hatte. Und - wie ich es schon ahnte - tat er das. Ich weichte aus und behauptete, ich habe das noch gar nicht gesehen. Völlig untypisch trat Vanilla zwischen uns und lächelte Hiroto an. "Willst du am Samstag mit auf den Ball kommen, der stattfindet? Du könntest Chocola ja begleiten." Ich sah sie an, als wäre sie wahnsinnig. Und er wirkte auch etwas belämmert. Ich zog Vani weg in Richtung der offenen Tür und scheuchte sie, Houx und Saule, die mit grimmigen Mienen hinter uns standen, in die Konditorei. "Ich komme sofort nach.", versicherte ich und schloss die Tür, sodass sie mich nicht mehr hören konnten. Und dann wand ich mich wieder Hiroto zu, mit dem ich alleine zurückblieb. Kapitel 22: In Quadratlatschen zu neuer Kraft --------------------------------------------- Hiroto machte Anstalten mir näher zu kommen und ich fasste meinen Entschluss. "Sugar Sugar Rune, Choco Rune! Jetzt schnapp ich mir dein Herz!" Und sein violettes Herz wanderte in meinen Herzcontainer. Es war schnell wieder vorbei und jetzt blinzelte Hiroto irritiert. "Hi, Chocola.", meinte er nüchtern und sah sich verwirrt um. "Nun ja, ich muss dann auch weiter. Wir sehen uns bestimmt." Und mit einem freundlichen, aber flüchtigen Lächeln schritt er davon. Puh, mir fiel ein so großer Stein vom Herzen, das war kaum zu fassen. Ich war Hiroto los und hatte zumindest genügend Ecru, um nicht schon vor der Qualifikation auszuscheiden. Ich wand mich um und erschrak! Houx und Saule standen, die Nasen an die Scheibe gedrückt, am Schaufenster der Konditorei und glotzten neugierig. Vanilla stand etwas verlegen hinter ihnen. Mit zu Schlitzen verengten Augen trat ich ein. "Habt ihr alles gesehen? Oder noch irgendwelche Fragen?" Ich klang mürrisch, konnte mir allerdings ein kleines Grinsen wegen des erlangten Herzen, nicht verkneifen. Vanilla stolperte auf mich zu und umarmte mich stürmisch. "Choco, du hast es geschafft. Das ist so wunderbar. Ich freue mich ja so für dich." "Danke.", nuschelte ich und pflückte sie sanft von mir. "Ist ja schon gut. Lass uns Kuchen essen." Als wir Nachhause zurück kehrten, war die Hölle los. Lovin wuselte geschäftig umher und empfing uns mit theatralischer Stimme. "Ach, ihr Lieben, schön, dass ihr wieder zuhause seid. Habt ihr alles gefunden? Wunderbar, wunderbar, dann kann der Ball ja kommen." Ja, schon okay, warte unsere Antwort gar nicht erst ab. Unbeirrt fuhr unser sogenannter Mentor fort: "Wie ihr ja wisst, ist morgen der Ball. Und ich habe für das nächste Wochenende einen kleinen Umtrunk hier geplant, der die Spenden des Balls noch weiter aufstocken soll. Ihr wisst ja, ich kümmere mich sehr um solcherlei Belange. Als Prominenter ist es meine Pflicht, mich für die Gesellschaft einzubringen. Und da kam mir diese Idee!" Blablabla. Ich schaltete ab und schlich mich zur Treppe vor. Nächste Woche Umtrunk... Pah, das wollen wir doch erst einmal sehen. Und das mit dem Ball sowieso. Vielleicht kann ich ja krank-sein vorschützen. Irgendwas wird mir schon einfallen. Nun wollte ich wirklich nur noch meine Ruhe. Ich polterte die Treppe hoch und ein markerschütterndes, quietschendes Geräusch drang mir in die Ohren. "Chocola, du Trampel! Pass' doch auf. Du zerquetschst mich noch mit deinen Quadratlatschen!" Blanca! Na, wunderbar! Die hat mir noch zu meinem Glück gefehlt. "Du ahnst gar nicht, wie gerne ich dich zerquetschen würde, du kleines Mistvieh!", gab ich bissig zurück und hörte noch, wie sich Vanillas zickige Begleiterin piepsend fluchend von dannen machte. Pah, Quadratlatschen! Ich hab zwar 37 und nicht wie Vanilla 36, aber von Quadratlatschen kann man da doch wohl nicht sprechen. Als ich mein Zimmer betrat, sprang Duke mich an. Ich hätte ihn fast nicht aufgefangen, weil ich so überrascht war. "Mach sowas doch nicht.", mahnte ich, lächelte dann aber und streichelte seinen schuppigen Körper. Auch, wenn Duke manchmal wirklich nervte... Ich war froh, ihn zu haben. Ich hab' ihn wirklich lieb. "Ach, Duke, hast du 'ne Idee, wie ich mich morgen vor dem Ball drücken kann?" Sicher wäre Pierre auch da. Und den wollte ich einfach nicht sehen. Doch mein kleiner Begleiter sah mich ganz empört an. "Chocola! Du musst wirklich mehr Engagement zeigen. Du wolltest doch immer deine Mutter stolz machen..." Mit diesen Worten traf er mich. Er hatte Recht, aber... Nein, alles, nur nicht schon wieder heulen. Ich wollte doch keine Flennsuse werden. "Du hast ja Recht.", nuschelte ich und vergrub das Gesicht im Kopfkissen. "Du hast ja Recht... Ich will sie stolz machen. Ich werde sie stolz machen! Ich gehe morgen auf den Ball. Und du hilfst mir. Und ich bekomme mindestens ein pinkes Herz." Damit wäre ich immer noch weit hinter Vanilla, aber irgendwie muss ich ja anfangen. Und das Herz von Hiroto würde erst der Anfang sein. Ich kraulte Duke weiter, während ich an die Decke starrte und wie verbissen meinen Gedanken nach hing. Mein Ehrgeiz war wie auf einmal geweckt worden. Scheiß auf Pierre! Ich will Königin werden und damit basta! Und mit diesen Worten im Kopf, fing ich langsam an, in die Dämmerwelt der Träume hinüber zu driften. Mein Schlaf war unruhig, aber immerhin hatte ich wieder ein Ziel und fühlte mich als Herrin meiner Gefühle und Taten. Ein bisschen Disziplin und alles würde gut gehen. Und Pierre würde ich dann auch irgendwann vergessen haben. Was schert er mich auch, wenn ich auf dem Thron der Zauberwelt sitze und meine Untertanen regieren. Dann ist er nur noch einer von vielen, verbannten Ogul. Mein Feind... Und nichts anderes. Und ehe ich wusste, was noch Wach und was schon Schlaf war, näherte sich der nächste Morgen und damit auch der Ball, immer schneller... Kapitel 23: Der Auftakt: Schön, schöner, Chocola & Vanilla ---------------------------------------------------------- Dafür, dass es Samstag war, klingelte mein Wecker eindeutig zu früh! Ich stopfte ihn unter mein Kopfkissen, um ihn zu ignorieren, aber ich habe den menschlichen Wecker vergessen. Lovin stand im Türrahmen und spielte mal wieder den Gefängniswärter. "Jetzt steh' schon auf!", pampte er mich an und zog die Bettdecke weg. Verdammt, war das kalt! Mit einem letzten unfreundlichen Wort verließ Lovin den Raum und ich kugelte mich zusammen. Aufstehen, von wegen! Darauf hatte ich wirklich keine Lust. Es war noch früh am Morgen und dieser dämliche Ball würde erst abends losgehen. Also hatte ich noch massig Zeit. Doch da hatte ich die Rechnung ohne Lovin gemacht. Ich hätte wissen müssen, dass er mich nicht weiterschlafen lassen würde. Und so kam es auch. Im nächsten Moment erbebte meine Matratze und mit einem lauten "Klong" landete ich wirklich unsanft auf dem Boden. Lovin stand über mir und musterte mich tadelnd; die Matratze noch immer hoch erhoben. Mein Wecker purzelte mir in die Hände und widerwillig fing ich ihn auf, um ihn auszuschalten. Lovins Gemecker reichte mir, da brauchte ich nicht auch noch dieses nervige Piepen. Im Bad kehrte langsam Leben in mich. Durch die offene Tür konnte ich Vanilla mit ihren Lockenwicklern im Haar rumlaufen sehen und Duke saß auf dem Rand des Waschbeckens und plapperte mich voll, wie ich am besten Herzen sammeln kann und so. Für mich war das nicht so richtig interessant gerade. Darum konnte ich mich auch später kümmern. Erstmal hatte ich Hunger, also war es Zeit für die Küche. Bis zum frühen Nachmittag wurde ich nicht richtig fit. Erst als Vanilla mit heißer Schokolade in mein Zimmer kam, konnte ich wieder lächeln. Die letzten Tage hatten mich aber auch ganz schön fertig gemacht. Vani hatte immer noch ihre dämlichen Lockenwickler drin und auf meinem Bett hatte sie gefühlt ihren gesamten Schminktisch ausgebreitet. Ich linste zu meinem Wecker, der jetzt wieder an seinem üblichen Platz stand: 14:30 Uhr. Gegen 18 Uhr wollten wir los. Aber bis dahin war ja noch Zeit. Theoretisch könnte ich doch ein kleines Mittagsschläfchen halten... Aber Vanilla hatte einen Pinsel und ein weißes Döschen in der Hand und grinste mich an. "Jetzt machen wir uns diese Maske für einen strahlenden Teint und danach schminken wir uns, ja?" Resigniert seufzte ich und nickte. Da kam ich ja wohl schlecht drum herum. Während Vanilla begann, mich mit ihrer klebrigen, schleimigen Maske vollzupinseln, sah ich mich um. Duke döste auf dem Schreibtisch und Blanca lag zu Vanillas Füßen und tat es ihm gleich. So kann ich diese grässliche Maus fast ertragen - schlafend! "Wo sind eigentlich Houx und Saule?", fragte ich meine beste Freundin, als wir uns nach hinten legten, um die Maske wirken zu lassen. "Die haben wir rausgeschmissen.", kicherte sie. "Die sind ins Wohnzimmer verbannt worden, damit wir uns in Ruhe zurecht machen können." Na gut, das erklärte immerhin, warum ich die beiden Chaoten heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Muss ich eben bis zum Abend warten, um sie wiederzusehen. Aber immerhin konnte ich so die Zeit mit Vani verbringen. Das kam in letzter Zeit ganz schön zu kurz. Und das darf bei einer besten Freundin eigentlich wirklich nicht sein. Und so konnte ich das Gute an der Sache sehen. Vom Schminken bin ich wirklich nicht allzu angetan. Aber mit Vanilla wurde es tatsächlich lustig. Concealer, Puder, Lidschatten, Rouge, Mascara, Lippenstift, Kajal, ... Alles war dabei. Und ich muss auch wirklich sagen, dass sich das Ergebnis echt sehen lassen kann. Vanilla sah total süß aus, mit ihren voluminösen Locken und dem rosanen Kleid. Auch ich musste zweimal in den Spiegel gucken, um mir sicher zu sein, dass ich das dort war. Meine Haare waren gelockt und lässig hochgesteckt und ich trug das Kleid meiner Mutter. Es sah noch viel besser aus, als das erste Mal, als ich es anhatte. Immerhin waren meine Haare und mein Make-Up perfekt und auch die Schuhe passten dazu. Noch war ich mir nicht sicher, wie ich auf diesen hohen Hacken laufen sollte. Vanilla wirkte dabei viel geübter. Wenn ich mich den ganzen Abend bewegen würde, als hätte ich Schmerzen und müsste dringend auf die Toilette, würde sich das sicherlich nicht positiv auf die Herzjagd auswirken. Von unten war Lovins Stimme zu hören: "Chocola, Vanilla, seid ihr soweit? Kommt runter, die Herren sind auch soweit." Wieder seufzte ich, auch wenn ich versuchte, so glücklich auszusehen, wie Vani es tat. Sie griff nach meiner Hand und Duke und Blanca folgten uns, als wir mein Zimmer verließen und die Treppe betraten, die nach unten führte. Lovin hatte eine Kamera verzaubert, sodass sie um uns herum flatterte und aberwitzig viele Fotos schoss. Houx und Saule trugen ihre Anzüge und Lovin sah aus, wie ein geschmückter Weihnachtsbaum. Meine beiden Chaoten-Freunde waren kaum wiederzuerkennen, das musste ich zugeben, allerdings dachten die beiden Jungs wohl gerade was Ähnliches. Zumindest, wenn ich den baffen Ausdruck in ihren Gesichtern richtig deutete. "Ihr seht bezaubernd aus, sogar du, Chocola; richtig verführerisch.", stellte Lovin zufrieden fest und zwinkerte. "Also Herrschaften, stellt euch alle zusammen, für die letzten Fotos und dann lassen wir uns zu eurem ersten Ball fahren!" Kapitel 24: Wenn der Spendenball beginnt ---------------------------------------- Die Limousine war riesig und schaukelte ganz schön. Keine Ahnung, wie Lovin es schaffte, seinen Champagner nicht zu verschütten. Mein Glas war schon nach der ersten Kurve so gut wie leer. Aber das störte mich nicht. Das Zeug war eklig! Da war mir ein Bier wirklich lieber, aber 'das schickt sie ja für eine Dame nicht', wie Lovin sagte, als ich fragte. Als wir vorfuhren, konnte ich draußen schon massig Lichter durch die verdunkelten Fensterscheiben sehen. Sogar Spotlights waren da und ich konnte Kameras klicken hören. Vermutlich würden sie sich gleich alle auf Lovin stürzen. Er war hier bei den Menschen ja ein berühmter Sänger, deshalb hatten wir auch VIP-Karten. Als der Wagen hielt, kletterte Lovin elegant aus der Limousine und Houx, Saule, Vanilla und ich kamen etwas ungraziler hinterher. Er ging vor uns her, während Houx Vanilla seinen Arm hinhielt und ich mir Saules schnappte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich mich irgendwann in so einer Szene wiederfinden würde. Früher habe ich mit Houx und Saule im Dreck gespielt und jetzt waren wir hier auf so einem schicki-micki Event. Ganz durchdacht kam mir das Ganze auch nicht vor; wie sollten Vanilla und ich Herzen sammeln, wenn wir hier mit Kerlen aufkreuzten? Aber vielleicht war das nur jetzt am Anfang so und später würde man uns allein in die 'Schlacht' schicken. Lovin lächelte und winkte und verteilte Handküsse und ich wünschte mir wirklich, nicht hier zu sein. Saule stupste mich mit dem Ellbogen und wisperte: "Hey, hättest du jemals gedacht, dass wir mal zusammen auf einen Ball gehen?" Ich sah ihn skeptisch an. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals auf einen Ball gehe.", erwiderte ich mit Galgenhumor. "Du siehst wirklich gut aus." Bildete ich mir das nur ein, oder war Saule irgendwie komisch? Was weiß ich, von Jungs habe ich sowieso keine Ahnung. Das war das einzige, was ich sicher wusste. Der Ballsaal war riesig und wahnsinnig pompös; ganz Lovins Stil. Überall wurde man darauf aufmerksam gemacht, für welchen guten Zweck dieser Ball ausgerichtet war und es gab eine Kollekte für Spenden. Wahrscheinlich hätte man auch einfach die ganze Deko weglassen können und das gesparte Geld spenden können. Wäre vermutlich auf das Gleiche hinausgelaufen. Wir durchschritten den Ballsaal und kamen in einen Raum, an dessen Wänden ein riesiges Buffet stand. Daneben unzählige kleine, runde Tische mit aberwitzig viel Besteck und Gläsern. Houx und Saule rückten für Vani und mich die Stühle vor und ich sah sie irritiert an. Sicher hatten sie mit Lovin noch einen Crash-Kurs für gutes Benehmen gemacht. Das Essen zog sich hin und immer wieder musste ich mich tadeln lassen, mich anständig zu benehmen. 'Tu dies nicht, tu das nicht, das benutzt man so'. Und so weiter. Wirklich ätzend! Irgendwann war das Essen beendet. Die Band spielte fetzigere Nummern und immer mehr Leute erhoben sich von den Tischen und gingen tanzen. Lovin machte sich an seiner Serviette zu schaffen, dann musterte er uns reihum. "So meine Lieben. Ich schlage vor, ihr geht jetzt erst einmal tanzen. Ein, zwei Lieder vielleicht. Und danach sollten Vanilla und Chocola sich auf die Jagd nach Herzen machen." Ich sah ihn entgeistert an. "Und wie?", fauchte ich, doch er rollte nur mit den Augen. "Meine Güte. Flirtet, lernt Leute kennen. Ich kann doch nicht alles für euch machen." Na, das konnte ja was werden. Ich hatte doch erst Hirotos Herz ergattern können. Und ich hatte gar keine Ahnung, wie man flirtete. Deshalb hatte ich damals schon reichlich Pisse-Herzen gesammelt. Vanilla flog das nur so zu, aber mir? Dabei wollte ich doch wirklich das schaffen, was meiner Mutter nicht gelungen war... Allerdings wusste ich wirklich nicht, wie... Wir gingen also zu viert tanzen und ich war überrascht von meinen beiden Kindergarten-Freunden. Anscheinend hatten sie das auch geübt. Ich hatte keine Ahnung wie man tanzte. Also zumindest nicht, was Paartänze anging. Ich konnte mich auch nur schwer führen lassen, aber irgendwie klappte es einigermaßen. Vanilla und Houx wirbelten neben uns umher. Ich bin mir sicher, dass ich nicht so anmutig aussah, wie meine Freundin. Aber was scherte mich das. Ich wollte ja auch nicht Saules Herz... Wieder hatte ich das Gefühl, dass er mich so komisch anstarrte. Ich starrte zurück und fragte: "Ist alles okay?" Er sah irgendwie ertappt aus. "Ja, klar. Ich denke nur nach. Ist doch eigentlich witzig, dass mein sein eigenes Herz nur an seinesgleichen verlieren sollte." Ich sah ihn weiter an, ohne eine Ahnung zu haben, worauf dieses Gespräch hinaus laufen würde. "Und meistens verliebt man sich in denjenigen, der einem schon immer nahe stand." Ich stand total auf dem Schlauch, hatte keine Idee, was er meinte, aber dennoch breitete sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend aus. "Wie meinst du das?" "Na ja", fuhr er fort, "Wir sind schon so lange Freunde und wenn ich später mal heirate, will ich eine Frau, die mich kennt und die nicht so... Tussig ist, weißt du? Ich will eine, mit der ich auch lachen kann, scherzen kann..." Als ich jetzt wieder in seine dunkelblauen Augen sah, wurde mir klar, was er meinte. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Fassungslosigkeit machte sich breit und ich löste mich von Saule. Sollte das hier in einem Liebesgeständnis enden? Ich war nicht übermäßig sensibel, aber das schnallte sogar ich. Und es erschütterte mich zutiefst. "Entschuldige mich, ich muss Herzen sammeln.", stammelte ich und ging ohne ein weiteres Wort oder einen Blick davon. Den ersten klaren Gedanken konnte ich erst wieder fassen, als ich an der Bar saß. Ich weiß nicht, wieso es mich hier hin verschlagen hatte. Ich war einfach weit weg von Saule und dem unangenehmen Gespräch gegangen. Zum Glück war er mir nicht gefolgt. Ich winkte den Barkeeper zu mir und bestellte ein Bier. Lovin war nicht zu sehen, also konnte er auch nicht meckern. Aber als ich mich so umsah, entdeckte ich etwas anderes; und konnte nicht fassen, dass mein Leben so ein Arschloch war. Dort, am Rande der Tanzfläche, wiegten sich Pierre und seine Freundin eng umschlungen im Takt der Musik hin und her. Wieso musste ich diesen Kerl überall sehen? Ich verzog das Gesicht und griff nach der Flasche Bier, die nun vor mir auf dem Tresen stand. Kurz entschlossen setzte ich an und kippte mir mehr als die Hälfte hinunter. "Wow, für eine Dame haust du das Zeug aber ganz schön schnell weg." Ich sah mich um und suchte den Urheber der Stimme, die mich angesprochen hatte. Sie gehörte zu dem Kerl neben mir. Ich sah ihn kurz an. Er lächelte freundlich und trug einen schicken Anzug. Vermutlich war er so Anfang 20. Ich sah ihn an. "Wenn dein Bier gleich alle ist, lade ich dich gerne auf einen Drink ein." Ich nickte und hatte mich wieder gefangen. Ich sollte einfach die Gunst der Stunde nutzen und ihm sein Herz stehlen. Aber erst einmal konnte ich ja versuchen, ein wenig zu flirten. "Ja, gerne!", nahm ich sein Angebot fröhlich an. "Trinkst du denn nur das oder auch was Richtiges?" Ich sah ihn verwirrt an. Der Junge lachte wieder und bestellte was zu trinken. Kurz darauf reichte er mir ein kleines Gläschen mit einer klaren Flüssigkeit. Sah aus wie Wasser. Ich wusste nicht, was es war, aber dieser Junge gab mir das Gefühl, dass ich es eigentlich wissen müsste. Dem Geruch nach zu urteilen war es kein Wasser. Dennoch ließ ich mir nichts anmerken. Er hob sein Glas und prostete mir zu. "Und da man ja nicht mit Fremden trinkt... Ich bin Taiki. Und du?" "Chocola.", antwortete ich mechanisch. Dann stießen wir an und tranken. Huuh, was war das denn, was ich trank? Nicht gerade lecker, aber irgendwie witzig. Taiki spendierte noch ein paar davon und schon bald fühlte ich mich etwas beduselt. Na, ob das so gut war? Schon bei klarem Verstand hätte ich diesen Abend nicht überlebt. Aber es wird schon schiefgehen. Kapitel 25: Zwischenfall ------------------------ Ich sah Taiki an und dann das Glas vor mir. Mittlerweile tranken wir nicht mehr diese Kurzen. Offenbar war das Tequila. Also, wie man sowas toll finden konnte, war mir nicht ganz klar. Aber wem's gefällt. Inzwischen waren wir auf Cocktails umgestiegen, die waren um einiges genießbarer. Allerdings wunderte ich mich über die Wirkung. Sowas konnte einen ganz schön beduseln. "Und jetzt tanzen wir.", stellte Taiki fest und nahm mich bei der Hand, um mich an den Rand der Tanzfläche zu ziehen; dorthin, wo ich vorhin Pierre und seine Freundin gesehen hatte. Jetzt konnte ich die beiden nicht mehr entdecken, aber um ehrlich zu sein, sah ich auch nicht mehr alles so klar, wie sonst immer. Lag vermutlich am Alkohol. Bah, wieso habe ich mich auch auf sowas eingelassen. Dafür gab ich wieder Pierre die Schuld! Dieser Typ... Er wirbelt bei mir einfach immer noch alles durcheinander. So, wie damals, als wir uns das erste Mal gesehen hatten... Doch jetzt fasste Taiki mich an den Hüften und ich stieß ihn von mir, offenbar ruppiger, als ich beabsichtigt hatte. Sein Herz leuchtete... Ja, welche Farbe war das eigentlich? Ich war mir nicht sicher, es könnte irgendwas hell-rötliches sein. Vielleicht auch lila. Aber es schien mir, als würde es nun heller werden. Taiki starrte mich einen Moment an, dann zog er mich wieder an sich. Es fühlte sich überhaupt nicht richtig an und war mir noch unangenehmer, als der Tanz mit Saule vorhin. Ihn oder Houx oder Vanilla konnte ich auch nirgendwo mehr entdecken. Aber für mich wurde sowieso alles immer mehr ein Brei mit verschwommenen Umrissen. Taiki hatte ein beunruhigendes Funkeln in den Augen. Aber ich musste mich jetzt zusammenreißen, immerhin war ich nicht zum Vergnügen hier; der Wettkampf mit Vanilla war allgegenwärtig. Und ich wollte meine Familie stolz machen; zumindest das, was davon übrig war. Hörst du, Mama? Ich tue das vor Allem für dich! Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf Taikis Herz, um es mir unter den Nagel zu reißen. Sugar Sugar Rune, Choco Rune! Jetzt schnapp ich mir dein Herz! Mein Herzcontainer klappte auf und wieder war ich um einige Ecru reicher. Dafür fühlte ich mich erschöpft wie nie. Und mir war ein wenig schlecht. Sehr schlecht um genau zu sein! Taiki blinzelte irritiert und ich nutzte diese Chance um von ihm wegzukommen. Was der wohl mit mir angestellt hätte, wenn ich ihm sein Herz nicht gestohlen hätte. In meinem Alter bleibt es meistens nicht beim Küssen, habe ich mir sagen lassen. Und für alles Weitere war ich nicht bereit. Immerhin... Vor gefühlt ein paar Tagen war ich noch elf Jahre alt. Außerdem finde ich, dass man sich für einen besonderen Menschen aufheben sollte. Aber erst einmal musste ich hier raus; an die frische Luft, dann würde es mir sicherlich gleich besser gehen. Ich stolperte von der Tanzfläche und suchte mir irgendwie meinen Weg nach draußen. Alles um mich herum schwankte ein wenig, aber irgendwie schaffte ich es, nicht zu stürzen, sondern konnte mich zur Terasse durchkämpfen. Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas gab, aber es kam mir sehr gelegen. Besser, als beim Haupteingang rum zu spazieren. Draußen waren einige Leute, aber ich suchte mir eine freie Bank etwas abseits und setzte mich dort hin. Fast hätte ich mich auf den Boden plumpsen lassen, schaffte es aber irgendwie auf der Bank zu landen. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch. Auf einmal spürte ich, dass jemand neben mir war und sich zu mir setzte. Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah mich um. Neben mir saß so ein Typ. Sollte ich den kennen? Das Gesicht sagte mir nichts. "Hi.", sagte er und ich nickte und erwiderte diese Begrüßung langsam und zögerlich. Plötzlich wurde mir ein Getränk in die Hand gedrückt. "Danke.", antwortete ich mechanisch und nippte hastig an dem Glas. Puh, was war denn das jetzt schon wieder? Dieser Typ fing gar nicht groß an, sich mit mir zu unterhalten. Stattdessen legte er seinen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich heran. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Zumal mein Schwindelgefühl nicht gerade abnahm. Ich drückte den Kerl von mir weg und sah ihn finster an. "Was soll das werden?", fauchte ich und versuchte, Distanz zwischen uns zu schaffen. "Was ist denn los?", fragte der Typ und nun klang auch er ein wenig gereizt. "Du bist ein hübsches Mädel und sitzt hier so alleine, da kann man doch etwas Gesellschaft leisten - und vielleicht auch ein bisschen mehr." Nun verzog ich das Gesicht, als hätte ich in ein Zitrone gebissen - so wie vorhin bei diesem Tequila. "Ich bin nur kurz draußen um frische Luft zu schnappen und Gesellschaft - besonders deine - hab' ich gar nicht nötig." Der dämliche Kerl sah mich weiterhin verstimmt an und zog eine Zigarette hervor, die er ansteckte, um mir dann den Rauch ins Gesicht zu blasen. Bäh, widerlich! Ich mochte ja angetrunken sein, aber auf solche Typen hatte ich wirklich keine Lust. "Kannst du dich jetzt verziehen und bitte irgendwen anders vollstinken?!", forderte ich ihn auf und rutschte noch ein Stückchen von ihm weg. "Ansonsten hau ich dir auf's Maul!" Nun war ich wieder in meinem Element. Als würde ich mir so etwas gefallen lassen - Herzenjagd hin oder her! Wir saßen so weit Abseits, dass niemand unsere Auseinandersetzung mitbekam. Mir war das egal, ich konnte mich auch alleine zu Wehr setzen. Der komische Typ grinste jetzt ganz merkwürdig und packte urplötzlich meinen Arm. "Du willst mir auf's Maul hauen? Dass ich nicht lache. Aber wenn du auf ein bisschen brutaler stehst, können wir das gerne machen." Seine freie Hand tätschelte mein Bein und schlug sie weg und löste mich auch aus seinem Griff, aber er ließ nicht locker und versuchte mich auf seinen Schoß zu ziehen. Ich wehrte mich, beleidigte ihn und drohte ihm, doch ich kam nicht so richtig gegen ihn an. Er roch nicht nur nach der ekligen Zigarette, sondern auch ordentlich nach Schnaps. Voll widerlich! Ich schaffte es, ihm den Absatz meines Schuhs in den Fuß zu bohren und er zuckte zusammen und ließ locker. "Verzieh' dich!", wiederholte ich bissig, da ich es nicht einsah, diesen Platz zu räumen. Ich war hier zuerst. Er wollte mich wieder packen und sagte mit bedrohlicher Stimme: "Ganz ruhig, du kleines Biest. Dafür bist du mir was schuldig." Langsam wurde es wirklich seltsam, dass uns niemand bemerkte. Vermutlich war die Ecke in der wir saßen wirklich zu dunkel. Irgendwie schaffte ich es, dem aufdringlichen Kerl eine zu verpassen und meine Faust hinterließ eine rötliche Stelle in seinem Gesicht. Aber er wurde immer wütender. Um Hilfe rufen tat ich nicht weil, ... Nun ja, einerseits hatte ich das nie wirklich gelernt und ich konnte doch wohl alleine noch einen Menschen loswerden können. Auch, wenn die Situation immer unschöner wurde. "Ich glaube, die Dame hatte gesagt, dass sie deine Gesellschaft nicht wünscht.", hörte ich eine kalte Stimme neben uns. Ich sah hoch und dort stand... Pierre! Kapitel 26: Romeo und Julia oder: Unverhofft kommt tatsächlich -------------------------------------------------------------- Ungläubig sah ich zu Pierre hoch. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er rüber gekommen war, geschweige denn, dass er hier war. Der Typ - mittlerweile kann ich ihn wohl meinen Angreifer nennen - hielt, genauso wie ich, inne. Pierre sah wahnsinnig gut aus in seinem schwarzen Smoking. Ach du Scheiße, das war mein erster Gedanke! Pierres Augen waren hart und kalt wie immer und schienen den Kerl zermürben zu wollen. "Immerhin willst du ihr doch keine Unannehmlichkeiten bereiten oder dich gar selber in Schwierigkeiten bringen." Anscheinend zeigten Pierres Worte Wirkung, denn mein Angreifer zog sich von mir zurück, warf mir noch die Worte: "Du weißt ja nicht, was dir entgeht.", zu; dann ging er. Ich war immer noch wie vor den Kopf gestoßen und konnte Pierre einfach nur ansehen. "Dankeschön." Ich schaute noch verwirrter. "Das ist das, was du sagen solltest." Nun kam wieder Leben in mich. Ich erhob mich - wenn auch schwankend - und entgegnete barsch: "Vonwegen! Ich hätte das auch alleine geschafft. Du sollst dich nicht in meinen Kram einmischen!" "Chocola, ich habe dich davor bewahrt, vergewaltigt zu werden. Was machst du überhaupt alleine hier? Und wieso bist du betrunken? Du bist noch nicht volljährig." Echt, als würde ich mich mit Lovin unterhalten. Ich hob meinen Zeigefinger an sein Gesicht und versuchte, so normal wie möglich zu wirken. Ich war noch nie betrunken, aber jetzt anscheinend schon. Egal, ihn ging das dennoch nichts an. "Wie gesagt: Mein Leben geht dich nichts an. Und nur damit du's weißt: Deine Gesellschaft wünsche ich ebenso wenig!" Pierre sah mich einfach nur an. Ich wollte ihn von mir weg schieben, geriet aber ins Wanken und schien nach hinten zu kippen. Jetzt fiel ich also tatsächlich noch zu Boden. Doch dann kam es anders. Plötzlich spürte ich eine Hand im Rücken und schien auf halbem Weg zur Erde stehen zu bleiben. Pierre hatte mich aufgefangen und wir standen da wie in so einer Pose aus einem blöden Tanzfilm. Ich blinzelte kurz und befreite mich dann von ihm. Jetzt war ich wirklich maximal verwirrt. Seine Berührung hatte mir einen Schauer bereitet und sein Duft schien den letzten funktionierenden Rest meines Gehirn auszuschalten. "Lass mich los.", keifte ich, aber er ging nicht. Er stand einfach nur da, starrte mich seltsam an und wirkte gefasst wie immer. "Ich wollte dir nur helfen.", statuierte er trocken und plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen. Ach du Elend, das auch noch? Der Abend wurde nicht nur scheiße, so wie es mir von Anfang an klar war, er war eine richtige Katastrophe! "Helfen?", wiederholte ich hysterisch. "Ich glaub', ich muss lachen. Du hast beinahe meine beste Freundin zugrunde gerichtet. Deinetwegen haben wir sechs Jahre unseres Lebens verpasst! Du machst mich..." Ich stockte. Was jetzt kam wollte ich wirklich nicht aussprechen, aber ich schien nicht mehr die Kontrolle inne zu haben. "Du hast mir so weh getan! Dabei dachte ich... Dabei dachte ich..." Wieder stockte ich und versuchte, meine Worte runterzuschlucken. Ich wollte mir jetzt nicht die Blöße geben; nicht hier, nicht jetzt, nicht vor Pierre! Allerdings schien er einigermaßen zu verstehen, worauf ich hinaus wollte. Er zögerte kurz, ehe er antworte. "Denkst du für mich war es leicht? Ist es leicht? Denkst du, ich würde mir nicht wünschen, dass es anders wäre? Aber das nennt man wohl schlechtes Timing. Falsche Zeit, falscher Ort. Ein bisschen wie bei Romeo und Julia, findest du nicht?" Jetzt war ich nicht nur ungläubig, sondern einfach fassungslos... Restlos... "Ich... Ich...", stotterte ich. Was sollte ich denn dazu sagen? Eigentlich habe ich immer gehofft, dass er genauso fühlte, wie ich. Aber eine Liebe zwischen uns war so absurd wie gefährlich, um nicht zu sagen unmöglich. Und dennoch... Es gab nichts, das ich lieber wollte. Nicht einmal nach sechs Jahren Koma... Pierre zog mich wieder an sich heran und lächelte traurig. "Wir sind Feinde, Chocola. Es ist ein Wunder, dass wir es schaffen einigermaßen zu koexistieren." "Das ist nicht fair.", wimmerte ich und Tränen rannen mir das Gesicht herunter. "Das Leben ist nicht fair, Chocola..." Das war mir nur zu bewusst. Aber es jetzt noch einmal zu hören tat weh. "Ich bringe dich wieder rein, zu deinen Freunden." Vehement schüttelte ich den Kopf. "Nein, ich will nicht! Ich will... Ich will..." Pierre legte mir einen Finger an die Lippen, mit seiner anderen Hand hob er mein Kinn an, sodass ich mich in seinen eisblauen Augen verlieren konnte. Aber nicht für lange. Er kam mit seinem Gesicht meinem immer näher und in mir herrschte höchste Alarmbereitschaft. Ich mochte ja betrunken sein, aber auf einmal schien alles glasklar zu werden. Pierres kühle Finger hatten sich in meinem zerzausten Haar vergraben und plötzlich lagen seine Lippen auf meinen. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, das Gesicht noch immer tränennass. Die Welt um mich herum war vergessen. Es schien, als wäre sie nicht mehr da. Als gäbe es nur Pierre und mich. Ich bekam eine Gänsehaut und in meinem Bauch gab es ein gigantisches Feuerwerk. Ich wusste nicht mehr, wie mir geschah, aber ein wahnsinniges Glück durchströmte mich. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Als Pierre sich wieder von mir löste bemerkte ich, das nur wenige Sekunden vergangen sein konnten. Ich fühlte mich immer noch ein wenig wie gelähmt. Pierres Gesicht hatte sich nicht verändert. Immer noch lächelte er mich traurig und bitter an. Seine Finger fuhren ganz sanft mein Gesicht entlang, als er einen Schritt nach hinten tat und sich zwischen uns eine Kluft auftat. Es waren vielleicht 30 Zentimeter, aber mir kam es vor, wie ein unüberwindbarer Abgrund. So überglücklich ich eben war, so traurig war ich nun. Pierre griff kurz nach meiner Hand. "Du siehst wunderschön aus. Aber du solltest deine Haare richten." Ich wischte mir eine Träne von der Wange. "Deine kleine Auseinandersetzung vorhin hat offenbar deine Frisur zerstört." Einen Moment lang herrschte wieder Stille zwischen uns, dann ließ er meine Hand los und wand sich zum Gehen. "Auf Wiedersehen, Chocola.", hauchte er noch, dann war er wieder in die Menschenmassen eingetaucht. Ich blieb zurück. Alles um mich herum erschien mir unwirklich und mit zitternden Beinen kehrte ich zur Bank zurück. Wieder rein wollte ich jetzt wirklich nicht... Kapitel 27: ------------ Ich konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Es konnte einfach nicht wahr sein! Pierre... Hatte mich geküsst. So lange hatte ich daran denken müssen und jetzt war es passiert. Jetzt wusste ich, wie es sich anfühlte. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich das nie wieder fühlen würde. Nie wieder seine Lippen auf meinen spüren... Ich steuerte wieder die Bank an, während meine Tränen langsam versiegten. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment ihren Dienst aufgeben. Dort saß ich und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Das war leichter gesagt, als getan. Das, was gerade in mir vorging, hatte ich nie zuvor erlebt. Als wäre ich ausgepumpt worden. In mir herrschte nur noch Leere. Zuerst nahm ich die Gestalt vor mir auch gar nicht wahr und überhörte das Räuspern. Auch als ich aufsah, schaltete ich nicht sofort. Was sollte denn noch passieren? Eigentlich war doch schon jedes Horrorszenario eingetreten. Mich konnte nichts mehr schocken. Deshalb entfuhr mir auch keine Reaktion, die im Normalfall typisch gewesen wäre, als ich den violetten Haarschopf sah. Ich sagte nichts und Lovin ließ sich neben mich auf die Bank sinken. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Frau, die ihn ansah, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. "Keine Sorge, ich bin gleich wieder bei dir.", versprach Lovin ihr und zwinkerte. Mir war das egal und ich reagierte noch immer nicht auf ihn. "Was ist passiert, Herzchen?", fragte er und klang weniger spöttisch als üblicherweise. Das wunderte mich schon. Also sah ich auf, sprach aber noch immer nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)