Black´sche Löcher von YoungBlood ================================================================================ Prolog: 1979 ------------ Schwarze Löcher. Schwarze, alles verschlingende Löcher. Löcher in Universen. Löcher in der Welt. In mir. In meinem Herzen. In unserer Geschichte. In dieser Zeit. Alles verschlingende Löcher. Verschlinger der heilen Zeit. Zerstörer der Ruhe. Vollstrecker des Unheils. Störer des Bildes. Anflüge des Wahnsinns. Ausstrahlung von Wut. Löcher. Schwarze Löcher. Black Holes, Black, Hole, Black, Löcher. Black´sche Geschichte. Black´sche Löcher. Ob man mich auch von diesem Baum brennen wird? Wie ein gefallenes Blatt im Herbst, verschwunden vom nährenden Baum, der einen erzogen hat? Aber wer sollte das schon tun? Mein Bruder? Nein, er war so gut wie tot. Ein sinnloser Tod. Ein schrecklicher. Ein vermeidbarer. Ein Tod ganz ohne Ehre und Kampf. Einfach von der Welt gegangen. Einfach verschwunden. Nie mehr gesehen. Verschlungen. Wie in ein Loch gefallen. Abgetaucht. Verschlungen vom schwarzen Loch. Von den Black´schen Löchern. Mich wird man nicht brennen lassen. Ewig wird mein Name stehen. Ewig bis alles verschwinden wird. Ob es die Löcher sein werden? Oder andere? Wer oder was wird es schließlich sein, der diesen Baum fällt? Ihn brennen lässt? Vielleicht niemand. Vielleicht bleibt er bestehen, als Zeichen des Untergangs. Eine Familie, die sich selbst in den Abgrund getrieben hatte. Ausgestorben. Mit mir endet die Linie. Mit meinem Tod ist alles vorbei. Zu Ende. Mit meinem Abgang wird meine Familie von der Welt verschwinden. Ausgelöscht. Die Löcher würden siegen. Keiner mehr. Keiner, der den Namen Black tragen wird. Dann gibt es keine neuen Löcher mehr. Keine Löcher. Keine schwarzen Löcher. Keine Black Holes. Keine Black´schen Löcher mehr. Was sie alles zerstört haben… Immer wieder die Familie zerrissen und zerbrochen. In Ungnade gestürzt. Entehrt. Zerstört. Und wie früher sooft, stehe ich hier und staune über das Stück Geschichte, dass sich vor meinen Augen öffnet. Ein Tor. Wie mir jedes Loch seine Geschichte erzählt. Leise. Ich kannte sie alle. Wenn nicht erlebt. Dann gehört. Früher. Als Abschreckung. Als Lehre. Als meine Familiengeschichte. Kein bisschen Stolz schwingt mehr da mit. Das ist nun vorbei. Vorbei. Es endet. Schwarze Löcher. Black´sche Löcher. Kapitel 1: 1. Ebene: 1877 ------------------------- Isla Black *1855 --> 1877: 22 # Phineas Nigellus Black & Ursula *1847 --> 1877: 30 *1853 --> 1877: 24 Kind: Sirius I Black (5 Tage) Elladora Black *1850 --> 1877: 27 1877 Das Geschrei des Säuglings durchbrach die angespannte Stille im Salon. Die junge Mutter versuchte verzweifelt durch das gleichmäßige, sanfte Wiegen ihren Sohn zu beruhigen, während sie immer wieder den Blick hob, um ihrem Gatten einen verstohlenen Blick zu zuwerfen. Sie war noch so unerfahren im Umgang mit Babys, es war ihr erstes und es sah so zerbrechlich und schwach aus. Nicht einmal daran denken konnte sie, dass ihr kleiner Liebling irgendwann seinem Vater ähnlich werden würde. Vor knapp fünf Tagen erst, hatte sie ihren gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht und im Gegensatz zu diesem fühlte sich Ursula unglaublich schwach. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Haut war eher aschfarben anstatt rosig und ihre eigentlich glänzenden, schwarzen Haare wirkten stumpf und glanzlos wie sie, sie typisch für die Zeit, streng nach oben toupiert und dort kunstvoll zu einer Art Dutt gebunden hatte. Ab und zu, stammelte sie beruhigende Fetzen von alten Kinderliedern, die sie aus ihrer Kindheit kannte, aber keines der Worte mochte dem Kindchen Sicherheit schenken. Auch wenn Mutters Arme noch so warm waren und so eng um ihn liegend, so brüllte klein Sirius Black aus voller Kehle seine Unzufriedenheit heraus. Nein, bis jetzt hatte er so gar keine Ähnlichkeit mit seinem Vater, sah man über den schwarzen Haarflaum hinweg, der sich später zu prächtigen Locken formen würde. Mit dem Daumen die Schläfe reibend, stand ein hochgewachsener Mann am Fenster - aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er mit einem gemischten Gesichtsausdruck die frühmorgendliche Hektik auf der Straße des Grimmauldplatzes. Gesindel, Bettler, Schlammblüter, herrenlose Hunde und das alles vor der Haustür der Blacks. Ein Skandal der sich da jeden Morgen vor seiner Haustür abspielte. Und nichts konnte man dagegen unternehmen, die Straße einfach aufkaufen wäre Geldverschwendung - ein einfacher Zauber würde es auch vollenden, aber da spielte die Regierung nicht mit. Aber das Haus aufgeben kam nicht in Frage. Seit Generationen lebte die Familie des Oberhauptes hier, seit Generationen musste die Familie Black das Niveau dieser Straße hochhalten. Das lag jetzt an ihm. Ihm und seinem fünf Tage alten Sohn. Doch selbst mit seinen 30 Jahren wirkte er bereits älter, feine silberne Strähnen zogen sich durch das schwarze, lockige Haar. Selbst der hochgeschlossene, graue Zaubererumhang ließ die Gestalt des Familienoberhauptes schrumpfen, wie er dort stand, gebeugt und grüblerisch. Wenn er sich aufrichten würde, würde er wieder seine Macht und seinen Stolz ausstrahlen. Unruhig tippten seine Finger auf dem Fenstersims, im Gleichtakt mit der alten Standuhr. Es war an ihm das Gespräch wieder aufzunehmen, was er vor einigen Minuten unwirsch abgebrochen hatte. Selbst seine drei Jahre jüngere Schwester war verstummt, obwohl sie sonst immer diejenige war, die sich ihren Mund - selbst ihm gegenüber - nicht verbieten ließ. In einem der großen Sessel sitzend, hielt sie den modernen, stark verzierten weißen Hut vor ihren Bauch. Das dazu passende, etwas verblichene weiße Kleid mit den aufgenähten, kunstvollen Schleifen stach in dem dunkel gestalteten Raum unwillkürlich hervor. Nicht gerade die passende Kleiderwahl für diesen Anlass. Dennoch besaß Elladora Black die Gelassenheit in diesem Moment Zucker in eine schrecklich hässliche Porzellantasse zu geben, ehe sie den heißen Tee an ihre Lippen führte. Der niedrige Teetisch war das Einzige, was Elladora und ihre Schwägerin Ursula voneinander trennte, die ebenfalls in so einem Sessel saß. Eher darin versunken, als so aufrecht wie Elladora. Und Ella macht keinen Hehl daraus, dass sie ihre Schwägerin für eine grauenhafte Mutter hielt. Die zusammengepressten, spitzen Lippen sagten alles. „Ursula!", zischte Phineas vom Fenster her durch den Raum, woraufhin seine Gattin zusammenzuckte und das Baby in ihren Armen noch enger an sich drückte. Sie hatte doch schon alles versucht. Er hatte weder Hunger noch Durst. Sie hatte ihn erst gewickelt und trotzdem schrie er die ganze Zeit. Und es zerrte an den schon so kurzen Nerven seines Vaters. Die gebürtige Frau aus dem Hause Flint stieß einen verzweifelten, wimmernden Laut aus, woraufhin Elladora geräuschvoll ihre Tasse zurück auf den Unterteller absetzte. „Phineas ich möchte dich nicht drängen, aber ich bin gewillt das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Hauselfen ohne Aufsicht mein Büro putzen zu lassen ist wie ein erlaubter Banküberfall!", sprach sie rasch und genauso spitz wie ihre Lippen, den weißen Zierhut nun in den Händen drehend. Elladora war im Umgang mit ihren Hauselfen alles andere als sparsam. Seit einigen Jahren vollzog sie das Ritual ihren Elfen den Kopf abzuschlagen, sollten diese zu alt oder zu schwach sein, um das Teetablett der Herrin zu tragen. Die abgetrennten Köpfe zierten die Wände ihres Treppenaufganges. Und natürlich war es Phineas, sowie Ursula bewusst, dass Elladora Kindergeschrei verabscheute. Phineas Nigellus Black drehte sich um und zog so viel Luft wie möglich in seine Lungen, was sofort seine Körperhaltung straffte und ihn einige Zentimeter größer wirken ließ. Die Hand rutschte vom Fensterbrett und glitt in die Tasche der Anzugshose, wo sie mit der Taschenuhr herumspielte. Ein Erbstück. Sie würde später vergrößert die Wand seines Schulleiterbüros zieren. Natürlich verziert mit dem Emblem der Blacks. Toujours Pur. Bei Salazar, wie konnte eine Tochter des Hauses diesen Leitspruch einfach vergessen?! Ihn entehren und einfach so dahin werfen, als wäre er nichts weiter wert als die Sonntagsausgabe des Tagespropheten - ein, im Übrigen, überaus tratsch seliges Blatt, welches es sich nicht hatte nehmen lassen, die Hochzeit in alle Welt hinaus zu posaunen. „Die Verbindung ist bereits geschlossen.", sprach er knirschend und ballte die andere Hand zur Faust, trat zum Teetisch heran, „Hitchens!! Isla Hitchens! Elladora, wenn wir sie ... gewähren lassen, dann sind wir nur noch das Gespött der Zaubereigesellschaft! Wir können nicht anders handeln, sie hat es nicht verdient, soll sie sehen, wie es ist für das Mahl über den Boden zu kriechen!" Seine Hand schoss aus der Tasche hervor, wischte das Geschirr vom Tisch. Es klirrte und schepperte. Ursula stieß einen erstickten Schrei aus. Sirius verstummte augenblicklich mit einem kleinen Wimmern und streckte die kleinen Händchen vor das Gesicht. Nur Elladora blieb ruhig und schnippte einmal mit den Fingern. Der Hauself erschien auf der Stelle, ließ sich neben den unzähligen Scherben auf die Knie fallen und sammelte sie in seiner Schürze zusammen. Rappelte sich sogar mucksmäuschen still wieder auf, als Phineas ihn behandelte wie Luft, um vor dem Tisch auf und ab zu laufen. Nun war es ruhig. Das leise Plopp kam wie ein Paukenschlag, als der Hauself verschwand. Phineas straffte sich wieder, kontrollierte seinen Atem, blieb halb vor Ursula stehen, wie er langsam und andächtig den Zauberstab aus der Innentasche des Umhangs zog. Er würde es vollstrecken müssen, er würde sie aus der Familie jagen und verstoßen müssen. Er war das Familienoberhaupt. Es war seine Pflicht. „Dann tu es endlich Phineas!", herrschte Elladora nun auf und erhob sich aus dem Sessel, setzte sich den Hut auf das sorgfältig frisierte Haar, „Brenn sie aus!" Ursula beobachtete die Szene der Geschwister mit weiten Augen, nur durch das Baby sah man nicht, dass ihre Hände zitterten. So etwas wie Geschwisterliebe hatte schon früh im Hause Black gelitten und war schließlich gänzlich gestorben. Man achtete sich, man half einander, aber lieben ... lieben war eine Ebene, die in diesem Haus so gut wie nie beschritten wurde. Und hier und heute zeigte sich nur wieder, wie wenig ihnen ein Menschenleben bedeutete. Isla Black, die jüngste der Geschwister Black, hatte am Sonntag vor zwei Tagen Bob Hitchens geheiratet. Einen Muggel. Ein Nichts. Kein Wort hatte sie an Phineas Black gerichtet, hatte ihm ihre Liebelei verheimlicht. Sie hatte das Erbe ihrer Familie verkauft, hatte ihr Blut entehrt und war Hals über Kopf verschwunden. Eine lebensverändernde Entscheidung diese Heirat. Eine, die eine 22-Jährige niemals hätte allein treffen dürfen. So eine Entscheidung oblag allein ihrem Vormund und der war, nach dem Tod ihres Bruders vor 24 Jahren und dem Versterben beider Elternteile, Phineas. Und sie hatte sich ihm widersetzt. Sie hatte ihn bloß gestellt. Das sollte nicht ungestraft bleiben. „Bring Sirius nach oben Ursula!", befahl der Herr des Hauses und bedachte seine unfähige Frau mit einem höchst warnenden Blick. Merke dir was passiert, solltest du es wagen das Hause Black zu entehren, deinen Mann zu entehren. Merke es dir gut. Selbst in deine Träume werde ich blicken können und dann, dann wirst du sehen, wozu wir wirklich in der Lage sind, um unser Blut zu erhalten. Um unser Erbe zu beschützen. Die geborene Flint wartete einen Moment, ob er es sich anders überlegen würde, aber der Wink mit der Zauberstabhand tat sein gleiches und indem sie Sirius an ihre Brust drückte, stand sie auf. Das schwarze Kleid, dass ihre noch etwas mollige Figur bedeckte und ebenso mit Seidenschleifen bestickt war, raschelte bei ihren Schritten und der Säugling brabbelte vor sich hin, die Aufregung seiner Mutter deutlich spürend. Sie sollte nicht im Raum sein, wenn er sie zeichnen würde - auf ewig. Das Kinderzimmer, wohin sie flüchtete, lag im ersten Stock. Es fiel ihr schwer die Eingangstreppe hinauf zu steigen, die Geburt hatte ihren ohnehin schon zierlichen Körper noch mehr ausgezerrt. Doch es war die Angst vor dem eigenen Schicksal, welches Ursula dazu antrieb. Sie, welche von ihrem Vater zu einer Heirat getrieben worden war, sie, die nun an der Seite von Phineas Black stand, sie wusste, welches Schicksal sie hatte. Für immer, bis ans Ende ihrer Tage würde sie seine Frau sein, die Mutter seiner Kinder, das Weib, welches ihm die Wünsche von den Augen ablesen sollte. Das perfekte Accessoire. Und auch wenn sie stille Tränen vergoss, jeden Tag aufs Neue, so würde sie den Schritt nie wagen können, den Isla gewagt hatte. Niemals könnte sie diesem Haus den Rücken kehren. Dazu war Ursula nicht mutig genug, sie besaß diese Courage nicht, lieber drückte sie sich im Schatten herum und zog den Kopf zwischen die Schultern. Und Phineas wusste das. Er kannte ihre geheimsten Ängste und Wünsche - und der Blick hatte ihr alles gesagt: Merke es dir gut. Aus dem Salon hörte sie noch die Stimme von Elladora, ehe sie im Obergeschoss die Kinderzimmertür zuzog. Mit dem Rücken an der Tür gelehnt, schloss sie einen Moment die Augen. Nein, nie würde sie es wagen, dafür würde er schon sorgen. Und während Ursula ihren kleinen Sohn in seine schmucklose Wiege legte, kamen ihr die Tränen, die sie dort unten im Salon so lange hatte zurück halten müssen. Ihre einzige Freundin war nun fort und sie würde sie nie mehr wieder sehen. Wenn Isla Glück hatte, würde man sie in Ruhe lassen, sie leben lassen, wie sie es gewählt hatte, doch Ursula wusste, dass ein black‘scher Verräter nicht einfach so hingenommen wurde. Ihre Finger strichen zärtlich über seine Wange, während Sirius Black der Erste, in einen traumlosen Schlaf sank, eingehüllt von der Wärme seiner Mutter, die ihm nie die Sicherheit geben würde, die einem Kind zustand. Viel zu viel Angst hatte sie vor seinem Vater, um ihn so lieben und erziehen zu können, wie sie es sich wünschte. Und wenn er die Augen Jahre später wieder öffnen würde, so würde er es sein, der seiner Mutter das Herz brach. Ein beißender Brandgeruch stieg in das Obergeschoss hinauf, kroch unter die Türspalte und durch die Schlüssellöcher. Ursula Black hing weinend und kraftlos über der Wiege. Dort unten hatte man soeben Islas Namen aus dem Stammbaum der Blacks getilgt. Ein Schandfleck in der ruhmreichen Geschichte. Sie war nicht die Erste. Und sie würde nicht die Letzte bleiben. Kapitel 2: 2. Ebene: 1916 ------------------------- Phineas Black || *1882 --> 1916: 34 # Phineas Nigellus Black & Ursula *1847 --> 1916: 69 *1853 --> 1916: 63 Elladora Black *1850 --> 1916: 66 * Sirius Black | & Hesper *1877 --> 1916: 39 *1879 --> 1916: 37 Kinder: Arcturus (15), Lycoris (12), Regulus (10) * Cygnos Black & Violetta *1889 --> 1916: 27 *1889 --> 1916: 27 Kinder: Pollux (4), Cassipoia (1), Marius (5 Tage) * Arcturus Black & Lysandra *1884 --> 1916: 32 *1885 --> 1916: 31 Kinder: Callidora (1), Cedrella (2 Wochen) 1916 Für Muggelaugen verborgen stand das mächtige Anwesen hier zwischen den Häusern 11 und 13, beide an Größe und Ausstrahlung weit übertreffend. Wenn sich etwas in den letzten Jahren am Grimmauldplatz verändert hatte, dann nur das tägliche Kommen und Gehen auf der Straße. Die Nachbarskinder erzählten ihren Eltern manchmal von Kindern, die sie im Park gegenüber gesehen hatten – die aber nicht in der Schule auftauchten oder gar in der Nachbarschaft bekannt waren. Vermutlich Scheidungskinder mutmaßten die Eltern kopfschüttelnd und strichen ihren Sprösslingen über den Kopf: Seid freundlich zu ihnen, ja? Das versuchte man doch, wurde gejammert, aber meist flüchteten diese Kinder, sobald man sich ihnen auch nur auf drei Schritte näherte. Wohl eine schwierige Kindheit. Wo die denn wohnen mögen, wenn sie hier sind? Das Gerede hielt sich und es dauerte nicht lange, bis es auch die Mauern des Herrenhauses mit der Nummer 12 durchdrungen hatte. Die schweren Vorhänge immer noch vor die Fenster gezogen drang niemals ein Laut nach außen zurück, die leuchtenden Kinderaugen hinter den Fensterscheiben sah niemand. Die plattgedrückten Nasen hinterließen Schmieren, wenn man fürchtete, erwischt zu werden doch es passierte selten, dass einen das eigene Kindermädchen an die Eltern auslieferte. Die Arme hatte es sowieso schon schwer genug gehabt. Nicht mehr ganz jung mit ihren 57 Jahren, war Elisa wohl die vierte Kinderfrau gewesen, die man für die Erziehung und Beaufsichtigung der Nachzucht angestellt hatte. Ein hoffnungsloser Fall wie man es auch drehte und wendete. Sie waren ihr immer wieder entschlüpft, hatten sich im Park herum getrollt oder waren die Bürgersteige auf und ab gehüpft. Und als Mister Black eines Tages seine jüngste Tochter draußen aufgelesen hatte, umringt von plapperndem Abschaum, hatte er die arme Elisa schließlich gänzlich aus dem Haus geworfen. Die Black´sche Familie war gewachsen. Der Älteste, der Sohn vom baldigen Oberhaupt, zählte inzwischen 15 stolze Jahre, er hatte mit dem Eintreffen seines Hogwartsbriefes die kindischen Spielereien aufgegeben. Das gehörte sich so für den Anführer der neuen Generation. Doch leider wirkte er gerade in dieser Rolle etwas überfordert. Arcturus schüttelte den Kopf, zog die Unterlippe kritisch nach oben und bedachte seine Verwandschaft mit einem recht übellaunigen Blick. Sie waren allesamt einfach nur schrecklich unerzogen. Oder einfach nur zu klein. Zu klein um den Anweisungen von ihm zu folgen, die er einige Male durch den Raum gebrüllt hatte. Interessierte sie nicht wirklich. In diesem Haus gab es sowieso nur wenig Spielzeug, und damit dann eine ganze Meute an Kindern versorgen und beschäftigen zu wollen, grenzte an ein Wunder. Da war es klar seine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass man das Kindergeschrei und den Raufereilärm nicht bis in den Salon hörte, auch wenn die mächtig dicke Eichentür nach dort geschlossen war. Der Nebenraum war klein und muffig und Arcturus glaubte sogar daran, dass in den dicken, weinroten Vorhängen, die Doxies ihre Freude hatten. Viel Mobiliar gab es nicht. Der grässlich geblümte Teppich passte nicht ganz zu den für die Zeit neumodischen Holzvitrinen, die eine komplette Wand bedeckten. Der Kamin gegenüber war abgeklemmt worden – nachdem sich sein Onkel und Namensgeber im Alter von vier Jahren die Schulter verbrannt hatte – und sonst schmückten den Raum eigentlich nur noch die hässlichen Gemälde und der wunderbar gearbeitete Stammbaum der Familie Black. Vaters Arbeitszimmer war in den letzten zehn Jahren ins obere Stockwerk verlegt worden, damit dieser Raum hier dazu dienen konnte, die Sprößlinge während wichtigen Familiensitzungen an einem Ort zu wissen. Abgeschottet vom Geschehen, aber dennoch nahe genug, um eingreifen zu können. Eigentlich genoss Arcturus seine Ferien daheim immer. Sie boten immer interessante Neuigkeiten und die Zauber, die sein Vater ihm beibrachte, wenn Mum mal nicht hinsah waren wirklich die lange Fahrt wert. Arcturus Black fühlte sich vollkommen erwachsen – allerdings sehr überfordert mit seiner plötzlichen Rolle als Aufsichtsperson sämtlicher Nachzöglinge des Blackclans. Nun gut. Nicht allen Zöglingen. Er sollte froh darum sein, sich nicht auch noch um die Babys seiner Tanten kümmern zu dürfen – von den Tanten bekam er auch keine Hilfe. Die Erwachsenen waren beschäftigt. Hoffentlich beschäftigt genug, um den Lärm zu überhören, der unter dem Türschlitz in den Salon drang. Pollux rannte kreischend an ihm vorbei, die Arme ausgebreitet, als sei er eines dieser lächerlichen Muggelflugzeuge. Die einst hellen Babyhaare waren dunkelbraunen Locken gewichen, die ihm die Sicht auf sein Umfeld immer wieder streitig machten. Seine Cousine Callidora krabbelte hinter ihm her. Ihr helles Kinderlachen tat Arcturus in den Ohren weh. Schnell hatte er die Hand ausgestreckt und den vierjährigen Cousin am Kragen festgehalten, sodass dieser ersteinmal husten musste, da ihm der Stoff die Luft abschnitt. Das Kreischen erstarb mit diesem Husten und Röcheln. Dennoch war der Lärmpegel nur um wenige Faktoren gesunken. Pollux einjährige Schwester Cassiopeia zappelte kreischend in den Armen von Lycoris, die lauthals meckernd versuchte, das Mädchen daran zu hindern, ihr sämtliche Haare auszureisen. Regulus drückte sich währenddessen die Wange an der Eichentür platt, versuchte jeden noch so kleinen Wortfetzen aus dem Salon zu erlauschen – ein unmögliches Unterfangen bei dem Chaos, welches hier drinnen tobte. Und dem zehnjährigen wäre die Tür beinahe gegen die Stirn gekracht, als diese sich ohne Vorwarnung öffnete. War eben doch nicht so gut zum Lauschen geeignet. Er stolperte rückwärts, stieß gegen seinen Bruder, der sich, immer noch Pollux am Kragen haltend, umdrehte und zerknirscht den wütend funkelnden Augen seines Vaters begegnete. Lycoris hatte sich sofort vom Boden erhoben und versuchte, der nun der immer schriller kreischenden Cassiopeia den Mund zuzuhalten. Ihr Vater war allein von seiner Statur her Furcht einflößend – doch die gegebene Situation, mit der er sich befassen musste, spiegelte sich in dem Zorn in seinen Augen, sodass seine Kinder sofort begriffen, dass er heute keinen Funken Spaß verstehen würde. Das breite Kreuz, die starken Nackenmuskeln und eine Körpergröße von mindestens ein Meter und achtundachtzig, machte aus dem einst so niedlichen, zerbrechlichen Baby von Ursula Black einen wahren Erben der Black´schen Familie. Seine Augen, sonst eigentlich immer sehr gnädig strahlend, glichen heute dem typischen Ausdruck von seinem Vater. Er war der Erstgeborene, der Haupterbe, der Älteste von fünf Geschwistern. Und er duldete keine Störungen. „Habe ich nicht gesagt ihr sollt ruhig sein?!“, donnerte Sirius Black in das provisorische Kinderzimmer hinein. Schreckte Callidora so zusammen, dass das Mädchen in ein heilloses Schluchzen ausbrach, weswegen sich Lycoris nicht entscheiden konnte, um welches der Mädchen sie sich zuerst kümmern sollte. Arcturus schluckte, schob Regulus hinter sich, ihn dem bibbernden Pollux hindrückend, und trat seinem Vater entgegen. „Dürfte ich zaubern Vater, dann wäre das alles kein Problem“, murmelte er und Sirius machte eine einzige Handbewegung. Mir egal, sollte das heißen. Mir egal, mach einfach nur etwas dagegen. Mach, dass sie ruhig sind. Die gängige Kindererziehung im Hause Black. Wenn die kurze Geduldsspanne zu Ende war, dann mussten eben andere Mittel helfen und das war in diesem Haushalt nun einmal möglich mit dem Mittel der Zauberei. Meist auch ungefährlich für die Kinder. Meistens. Sirius schloss die Tür. Der Salon hatte sich in den letzten 39 Jahren nicht viel verändert. Zwar waren die grässlichen Sessel ausgetauscht worden, verschiedene Sitzgelegenheiten bot der Raum nun an, aber die Fenster waren immer noch mit den dicken Vorhängen eingerahmt. Der Teetisch war einem größeren Tisch gewichen, mit genug Platz für das aufgetragene Gebäck und die Möglichkeit, dass alle Mitglieder der Familie daran sitzen konnten. Vom dunklen Parkett hatte man sich nicht trennen können und auch die alte Standuhr, die so manchem Bewohner nachts den Schlaf raubte, stand immernoch in der Ecke, tickte vor sich hin – ein Ticken, welches in diesem Moment vollkommen unterging. „Ich wusste schon immer, dass deine Erziehung nur in schiefen Bahnen enden würde meine Liebe“, schnarrte Elladora, und Ursula erinnerte sich nur zu genau an den Tag, als man Isla aus der Familie gebrannt hatte. Auch damals konnte dieses Weib einfach so ihren Tee schlürfen, gemütlich im Sessel sitzend, den selben Hut wie damals auf dem Schoß liegend. Sie wies auf ihre rechte Seite, wo ein junger Mann auf der Seitenlehne des nächsten Sessel saß, Hand in Hand mit seiner im Sessel zurück gelehnten Frau, welche den neusten Familienzuwachs auf dem freien Arm hatte. „Cygnus ist so ein prächtiger Mann geworden! Unter meinem Dach, meine verehrte Schwägerin!“ Cygnus Black warf seiner Tante ein weiches Lächeln zu. Er war in ihrem Haus aufgewachsen, nachdem seine Mutter mit seinen anderen vier Geschwistern schon am Rande eines Nervenzusammenbruches gestanden hatte. Nach seinem aufgeweckten, älteren Bruder Arcturus und der so stürmischen Belvina war seine Mutter nicht mehr in der Lage gewesen, sich auch noch der Erziehung ihres Jüngsten anzunehmen. Und Ellidora konnte recht stolz auf das Ergebnis ihrer Mühen sein, auch wenn der Bub wahrlich nicht immer leicht zu handhaben gewesen war. Und sehe man sich doch erst seine bezaubernden Kinder an, allesamt prächtige Zöglinge. Drei wertwolle Mitglieder. Jawohl. Auf dem kleinen Marius lag in den letzten Tagen die gesamte Aufmerksamkeit seiner Großtante, war er doch gerade zwei Wochen alt. Ein süßer Fratz. „Aber Sirius -“ „Sirius Werdegang hast du doch nur deinem Mann zu verdanken! Und als Phineas dann in Hogwarts Schulleiter wurde hast du alles schleifen lassen – sieh dir doch an, was daraus geworden ist!“ Die Augen aller versammelten im Raum glitten zu dem kleinen Sofa hinüber, auf dem Ursula Black jetzt immer mehr zusammen schrumpfte. 63 Jahre war sie nun alt. Ihre faltige Hand hatte sich um die ihres zweiten Sohnes gelegt, der mit sturem Blick neben ihr saß und seiner Verwandschaft mit allem nötigen Trotz die Stirn bot. „Dann ist es doch Vaters Schuld.“ „Unterstehst du dich so -“ „Was du dir erlaubst Phineas!“, beteiligte sich zum ersten Mal das derzeitige Oberhaupt an dieser Sitzung. Phineas Nigellus Black hatte bald die 70 erreicht, die Jahre im Schulleiterbüro von Hogwarts hatten seinen Nerven nicht gerade gut getan und so waren seine schwarzen Haare vollends ergraut. Wie damals hatte er seinen Platz am Fenster eingenommen, stand somit im Rücken der meisten Anwesenden. Doch nur seine Stimme war dazu nötig, allen Einhalt zu gebieten. Da saß er also. Sein Sohn. Sein zweiter Erbe. Sein Sohn, der seinen Namen trug und funkelte ihn aus Augen an, die vor Abscheu nur so glühten. Marius hatte leise angefangen zu wimmern, weshalb Violetta ihre Hand aus der ihres Mannes zurück zog, um aufzustehen. Ihren kleinen Sohn wiegend schritt sie zur Seite weg, gesellte sich zu Lysandra, die sich bereits seit Beginn der Diskussion aus dem Kreis zurück gezogen hatte. Im Gegensatz zu Marius schlief ihre Cedrella tief und fest, das Köpfchen an Mutters Brust gebettet. Beider Zukunft lag noch weit entfernt, bis jetzt genossen beide noch den Schutz und die Liebe ihrer Mütter, die zwar mit ihren älteren Gschwistern ebenso zu schaffen hatten, aber dennoch genug Liebe für alle aufbrachten. Eine im Hause Black höchst seltene Fügung. Das würde sich vermutlich noch ändern, wenn die Kinder erstmal die grobe Erziehung genossen haben. Dann würde man mit ihnen ins Detail gehen und dieses Schleifen zum Diamanten würde eine lange, sehr strenge Phase andauern. Dann wäre es vorbei mit dem liebevollen und zärtlichen Umgang. Etwas, was Ursula unfreiwillig hatte lernen müssen. Als Frau des Oberhauptes hatte sie in der Pflicht gestanden, ihm die Erben zu gebären und sie nach seinen Vorstellungen zu erziehen. Doch sie hatte versucht, zu jedem ihrer Kinder die Bindung zu bewahren, ihnen Liebe und Schutz zu geben, selbst in den späteren Jahren. Sie hatte sich damit übernommen. Übernommen damit, zwischen den Stühlen zu sitzen, von Verpflichtung und Wille. Als sie ihren kleinen Cygnus schließlich in Elladoras Obhut hatte geben müssen, war Ursula in ihrer angeschlagenen Haltung noch mehr zusammengebrochen. Nicht einmal ihr Liebling hatte ihr helfen können. Selbst jetzt konnte er es nicht. Sie gegen die Angriffe seitens seiner Tante zu schützen war für ihn nun mehr unmöglich. Er stand selbst im Mittelpunkt der Angriffe. Es ging hier um ihn. Um seine Entscheidung. Seine Handlung. Seinen Weg. Und dafür gaben sie allein seiner Mutter die Schuld. Phineas Black – der zweite - drückte sanft die Hand seiner Mutter. Seine dunklen Augen musterten alle in der Verwandtschaft. Sein Blick blieb an Sirius hängen. Seinem großen Bruder. Er hatte alle Wünsche von ihrem Vater erfüllt, er war der perfekte Sohn. Er war das, was Phineas niemals sein würde. Vielleicht war es ihm deshalb so leicht gefallen, diesen Weg zu beschreiten, einfach weil er anders als sein Bruder sein wollte. Er wollte auf eine andere weise perfekt sein. Für jemand anderen. „Ich hab mir erlaubt zu denken Vater! Diese Familie lehnt sich doch nur an ein Faktum, das sowieso nie die Jahre überdauern wird“, hielt er stand, rutschte allerdings bis auf die Kante des Sofas vor, „Was sind wir denn besseres? Nur weil wir mit einem Stück Holz Menschen leiden lassen oder töten können? Wir könnten ihnen soviel helfen.“ „Wir sind zu höherem bestimmt worden – das wollte man uns durch unsere Geburt sagen“, warf Arcturus dazwischen und wütend stemmte sich Phineas in die Höhe: „HÖHEREM?!“ Mit zwei Schritten war er am freien Sessel von Violetta vorbei, ignorierte Elladoras Protest und baute sich vor seinem im Raum stehenden Bruder auf. Arcturus unterschied sich in vielerlei Hinsicht vom Rest der Familie. Die blonden Haare zeigten keine Anzeichen der typischen Black´schen Locken und die grünen Augen wirkten in dieser Runde von braun und grau, vollkommen fehl. Die Hand schloss sich um seinen Kragen, sodass er selbst die Hände auf die Schultern seines Bruders legen musste. Lysandra hatte aufgehört Cedrella zu schaukeln, hielt sich eine Hand erschrocken vor den Mund. „Du bist nichts weiter als zu verachtender Abschaum Arc! Ist dir ein Leben so wenig wert?“ - „Du weißt doch gar nicht was du da tust!“ - „Mehr als du!“ Und noch ehe ihr Vater seinen Stab hatte ziehen können, um seinem widerspenstigen Sohn die Manieren zu lesen, hatte Sirius schon den älteren der Beiden gepackt und ihn zu Boden geworfen. Das Gemurmel der übrigen Verwandten setzte sofort ein – Marius hatte im Arm seiner Mutter angefangen zu jammern. Sirius blickte erhaben auf ihn hinab. Das war nicht mehr sein Bruder. „Geh zu deinen Muggeln – geh und versteck dich. Ich werde dich suchen und wenn ich dich finde, du elender Blutsverräter, dann wirst du sehen, was es bedeutet, sich das Hause Black zum Feind zu machen“, sprach er ganz leise und vollkommen ernst die Morddrohung gegen sein eigenes Blut aus. Phineas blieb liegen. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, sein Arm schmerzte vom Aufprall und er konnte aus diesem Winkel das Zucken von Arcturus Hand sehen, seine zitternden Finger konnte er vor ihm nicht verbergen. „Warum die Mühe Sirius?“ Ein Leben voller Angst und der ständigen Flucht vor seinem wahnsinnig gewordenen Bruder war nicht das, was Phineas führen wollte. Er liebte seine Familie. Jeden einzelnen, sogar die schreckliche Ellidora. Aber sie vertraten Ansichten, die er einfach nicht teilen konnte. Und als er sich dann durch seinen Posten im Ministerium für die Schutzrechte von Muggeln eingesetzt hatte, da war es zu einem unsichtbaren Bruch gekommen. Niemand verriet ungestört die Einstellungen der Familie, sie lebten für ihr Blut. Es zu erhalten war die größtmögliche Ehre. Und das höchste Ziel. Ein verdorbener Ast am Baum könnte ihn infizieren, könnte ihn zu Fall bringen. Besser war es da, die Äste sofort vom Baum zu schneiden. „Nenn es Bruderliebe.“ Phineas rappelte sich auf, kam auf die Knie und musste das Kinn anheben, so unterwürfig es auch aussehen mochte. Im Moment war er immer noch die Bedrohung. Er kannte diesen Satz. Als Kinder hatten sie manchmal im Park gespielt und wenn ihre Kindermädchen sie erwischt hatten, so hatte sich Sirius immer schützend vor die Jüngeren gestellt, hatte die Strafen des Vaters auf sich genommen und war meist mit einem blauen Auge ins Kinderzimmer zurückgekehrt. Er sah sich die Tür zu seinem Zimmer öffnen, die unschuldigen Kinderaugen fixierten sofort das Bett, wo sich der Älteste zusammengerollt hatte. Vor lauter Schmerzen die Beine so nah wie möglich an die Brust gezogen, die Decke nur bedürftig über den Körper ausgebreitet. Es war nicht nur ein blauer Fleck am Auge. Die Rippengegend war blau, seine Oberarme zierten kleine, blaue Flecken, angeordnet nach der Reihe der Finger. Das Atmen fiel ihm schwer und sobald er Phineas in der Tür stehen sah, winkte er ihn nur zögerlich zu sich her. „Sag Arc, dass er die Tür heute nicht zuschließen braucht“, flüsterte Sirius ihm zu, sobald sich sein kleiner Bruder vor ihm auf den Boden gekniet hatte, „Sagst du ihm das?“ Phineas nickte nur. Seine Finger hatte er schon ausgestreckt, berührte das blau auf Sirius hohen Wangenknochen. Aber jetzt hatte Sirius keine Wunden, er war nicht mehr klein und nicht mehr das Schutzschild seiner Geschwister. Sie waren erwachsen und nun war es Zeit, andere Wege zu gehen. Der Ast musste fallen. „Nur einmal – das nächste Mal wird es anders enden Phineas“, gab Sirius deutlich zu verstehen und Phineas presste die Lippen aufeinander. Die schwarzen Locken flogen herum, wie er sich drehte, seine Familie ins Auge fasste. Seine Mutter weinte stumme Tränen, sein Vater sah wieder aus dem Fenster, Arcturus hielt inzwischen Lysandra im Arm und Phineas musste erkennen, dass niemand für ihn eintreten würde. Wortlos kam er auf die Füße, klopfte sich den Stoff über den Knien ab. „Dann sehen wir uns in der Hölle wieder.“ Seine Finger hatte er schon ausgestreckt, berührte das Blau auf Sirius hohen Wangenknochen. Er zuckte nicht einmal zurück. Dafür trat ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, wie Phineas den Mund auf und zu machte, nicht wissend, was er denn sagen sollte. „Wenn ich wieder in der Schule bin, musst du auf Arc aufpassen Phin, machst du das?“ Wieder nickte Phineas, nahm den Saum der Decke und zog sie über dem Körper seines großen Bruders zu Recht. Sirius schloss die Augen, kuschelte sich etwas mehr in die jetzige Wärme hinein. Heute Nacht würde er wohl schlecht träumen. Phineas schaltete das Licht aus und wollte die Tür schließen, als er inne hielt. „Warum machst du das Siri?“, flüsterte der Kleine in das dunkle Zimmer seines Bruders hinein, wartete und wollte schon gehen da keine Antwort kam. Doch ... „Nenn es Bruderliebe.“ Kapitel 3: 3. Ebene: 1927 ------------------------- Marius Black *1916 --> 1927: 11 # Cygnos Black & Violetta *1889 --> 1927: 38 *1889 --> 1927: 38 Kinder: Pollux (15), Cassipoia (12), Dorea (7), Marius * Elladora Black *1850 --> 1927: 77 Phineas Black || *1882 --> 1927: 45 Isla Hitchens *1855 --> 1927: 72 1927 Die hellbraunen Haare hingen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht, wie er sich über seine kleine Nichte beugte, die friedlich in ihrem Kinderbettchen schlummerte. Wie konnte sie nur so unbekümmert schlafen? Heute war so ein wichtiger, so ein großer Tag. Dafür war er heute sogar schon um sieben Uhr aufgestanden – aufgrund dieser untypischen frühen Stunde war auch noch niemand wach. Selbst die kleine Walburga schlief und das tat sie äußerst selten, wenn er es sich genau überlegte. Marius schniefte, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und streckte die Finger aus, um der Zweijährigen durch die, bereits dunklen, Haare zu streichen. Nicht jeder hatte dieses vollkommene Black´sche Erbe. Seine eigenen Haare waren zum Beispiel nur hellbraun, womit Dorea ihn immer zu ärgern pflegte, und bei dem Cassiopeia ihm versicherte, dass es in den nächsten Jahren schon noch dunkler gestalten würde. Aber seine drei Geschwister hatten keinen Grund zur Sorge. Sie alle hatten die schwarzen Haare seines Vaters geerbt – Marius war dafür der Stolz seiner Mutter, deren haselnussbraunes Haar den armen Cygnus schon in früher Jugend verzaubert hatte. Aber davon verstand der Elfjährige noch nichts. Wollte er gerade auch nicht. Selbst jetzt wo er bereits von seinen Eltern aufgeklärt worden war, nachdem bekannt wurde, dass Pollux der Vater von Irma Crabbes Kind sei. Damals war dieser dreizehn gewesen. Und mit dreizehn Vater zu werden, war für ein Kind definitiv sehr überfordernd. Aber Violetta hatte das Kind, die kleine Walburga, angenommen, behandelte sie wie eine eigene Tochter, ließ Dorea nur zu gerne große Schwester spielen. So über das Gitter des Bettes hängend, berührten seine Füße kaum den Boden aus dunklem Parkett und ließen ihn vergessen, wie kalt der Boden in der Früh noch war, sodass er erschrocken die Luft einzog, als er die Zehen wieder auf ihm absetzte. Die Ohren spitzend, entfernte er sich vom Kinderbett, welches mit einigen wenigen Babymöbeln den Raum zierte und schob sich aus der Tür. Das gesamte Haus schlief anscheinend immer noch. Gelangweilt stieg Marius die enge, hintere Treppe ins Erdgeschoss hinab, ignorierte dabei standhaft die, an der Wand hängenden, Köpfe der Hauselfen, die ihn anstierten, als habe er sie persönlich geköpft und tapste schließlich in Vaters Arbeitszimmer hinein. Es war kleiner als das Büro seines Onkels im Manor der Familie Black, aber es war mindestens genauso prunkvoll eingerichtet und schrie geradezu nach Geld und Macht. Eigentlich war das ganze Haus eine reine Vorführung des hohen Status seiner Familie. Oma Elladora wachte immer noch mit Adleraugen über ihr Haus, welches ihrem Ziehsohn Cygnus und seiner Familie als Hauptwohnsitz zur Verfügung stand. Sie besaß ein größeres Zimmer im ersten Stock, genau unter dem Zimmer von Marius, mit einer Terrasse, welche sie komplett hatte ummauern lassen. Marius konnte stattdessen von seinem Fenster aus die Themse sehen, wie sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnte, wie eine übergroße Schlange. Leider durfte er nicht oft zum Ufer hinunter. Oma verbot es ihm immer und sein Vater hielt es für wichtiger, wenn Marius mit seinem Privatlehrer weiterhin Astronomie studierte. Ein Naturtalent im Lernen war er ja nicht gerade. Während Pollux und Cassy bereits einige Jahre vor ihrer Einschulung ihre kindliche Magie hatten steuern können, war Marius sich noch nicht einmal seiner Fähigkeiten bewusst. Aber sie waren mit Sicherheit da. Er war immerhin ein Black. Seine Mutter sagte ihm das jeden Abend, wenn sie ihn zu Bett brachte. Küsste ihn auf die Stirn und flüsterte seiner inneren Magie kleine Aufmunterungen zu. Süße Worte, die das Herz eines kleinen Jungen nur zu gerne hörte. Deswegen war heute auch so ein großer Tag. Heute würden die Briefe kommen. Die Eule brachte sie seit vier Jahren immer am gleichen Tag und stets war es sein Vater, der mit den Briefen in der Hand aus seinem Arbeitszimmer trat. Heute nicht. Heute wollte es Marius sein, der sie als erstes in den Händen hielt. Er würde seinen eigenen Umschlag unter den dreien finden und dann würde er mit Pollux und Cassy Schulbücher kaufen gehen. Bücher und einen Kessel – seinen eigenen Zauberstab. Ungeduldig schob er Vaters ausgepolsterten Holzstuhl vor das große, hohe Fenster, zog die Vorhänge beiseite und musste die Augen zusammen kneifen, da die ersten Sonnenstrahlen ihn blendeten. Da war sie wieder. Die Themse. Wie ein eigenes, ruhiges Lebewesen zog sie sich durch London hindurch und für Marius symbolisierte sie einfach nur das perfekte Leben. In den träumerischen Phantasien des Jungen wollte er sein Leben auch so verbringen, immer voran gehend, gemächlich, ruhig, mit seinen Fähigkeiten glänzend. Das Fenster wurde aufgerissen, seine braunen Strähnen flogen im Wind. Leise summend kniete er sich auf den Stuhl, stützte die Ellenbogen auf dem Fensterbrett auf, bettete das Kinn in die Handflächen und betrachtete den Himmel. Heute ... Dorea eilte auf flinken Kinderfüßen die hintere Treppe hinab, schnell vorbei an den gruseligen Köpfen, hinunter ins Erdgeschoss – die Arme links und rechts wie Flügel ausgebreitet. Ihr Nachthemd schlug um ihre Beine, die schwarzen, feinen Haare wehten umher. Natürlich konnte man auch langsam gehen, gemütlich dahin schreiten, aber das war für ein Kind im Alter von sieben Jahren nicht wirklich aufregend. Die Welt hatte doch so viel zu bieten, da verschwendete man nur Zeit, wenn man alles langsam anging. Die jüngste Tochter von Cygnus Black tanzte den Flur entlang, achtete äußerst peinlich darauf, dass ihre nackten Füße immer nur auf die ausgelegten Teppiche traten. Inzwischen durchflutete die Vormittagssonne die Flure und Zimmer, die kleine Eingangshalle leuchtete durch die farbigen Mosaike in den Fenstern in einem sanften grün. Nach dem Flur ging es tänzelnd hinein in die Eingangshalle, mit kleinen Sprüngen das kalte Parkett zurücklassend, weiter in den nächsten Flur – und dann die scharfe Kurve re-e-e-chts - die Tür war abgesperrt. Das leise „Dong“ das erklang, als Dorea gegen die mächtige Holztür stieß, klang in ihrem Kopf noch hundert Mal lauter und verwirrt legte sie die Hände um den silbernen Türknauf, rüttelte und drehte daran. Wirklich abgesperrt. Und doch konnte sie deutlich hören, dass aus dem Salon dahinter die Stimme ihres Vaters kam. Allerdings nicht in einer Weise, die Dorea bekannt war. Sie klang tiefer, rauer und eindeutig zornig. Das Ohr neugierig an die Tür drückend, schob sie die Zunge zwischen die Lippen, schloss die Augen. „Der Mantel reicht“, schnarrte Cygnus und schubste das elfjährige Kind durch die Eingangstür hinaus. Mit der linken Hand die Tür hinter sich zuziehend, mit der rechten schon wieder das Kind weiter schubsend, wurden die ersten Treppenstufen überwunden. Der nächste unsanfte Stoß zwischen die Schulterblätter brachte es zum Schwanken und der Junge schrammte sich die Hände blutig, als er den Sturz auf den Gehweg mit ihnen abfing. Marius Augen waren rot und geschwollen vom vielen Weinen. Durch den Tränenschleier, der seine Augen benetzte, konnte er nur verschwommen erkennen, was vor seinen Augen geschah. Der viel zu große Mantel von Pollux hing ihm um die Schultern, sodass die Ärmel über seine Hände glitten, als er versuchte, sich die Tränen wegzuwischen. Er verstand das alles nicht. Das war sicherlich ein großes Missverständnis. Sie hatten den Brief vergessen. Polaris hatte ihn auf dem Flug hierher verloren. Er war unleserlich adressiert gewesen. Er kam später. „Papa“, weinte er mit viel zu hoher Stimme, doch Cygnus sah sich nicht mehr in dieser Rolle. Der stolze Ziehsohn von Elladora Black griff nach den – in seinen Augen nun so verräterischen – hellbraunen Haaren des Jungen, riss ihn daran in die Höhe und hinderte ihn daran, wieder auf die Knie zu gehen. Er hatte sich noch nicht überlegt, wohin er ihn bringen sollte. Eigentlich war er es nicht mehr wert, überhaupt weggebracht zu werden, aber Violetta würde es das Herz endgültig brechen, sollte dem Junge unter diesem Dach etwas zustoßen. Cygnus konnte dem Jungen nicht in seinem Haus das Leben nehmen, wie man es zweifellos von ihm verlangen würde. So eine Schmach ertragen zu müssen, weiterhin mit einer solchen Kreatur verwandt zu sein, konnte die Familie nicht dulden. Wäre da nicht Violetta gewesen, hätte Cygnus das Ding in den Keller gesperrt. Es dort unten verhungern und verdursten lassen. Aber er konnte ihn nicht durch die eigenen Hände beseitigen. Das wäre zu viel. Diese Schuld … Cygnus zerrte Marius ein kleines Stück den Gehweg entlang, ehe er mit ihm disapparierte. Die Vorhänge im ersten Stock bewegten sich und glitten wieder zusammen. Dorea wusste nicht, was passiert war. Ihre Mutter weinte oben in ihrem Schlafzimmer. Walburga schrie. Das Mädchen drehte sich hilflos im Kreis, nicht wissend, was ihrer Familie gerade passiert war. Der Salon war wieder offen, nachdem ihr Vater mit Marius den Raum verlassen hatte, um mit ihrem Bruder schließlich zu disapparieren. Traurig blieb sie im Türrahmen stehen, sah sich um, versuchte zu verstehen – bis ihr die Briefe auffielen, die auf dem kleinen Teetisch lagen. Zwei Briefe ... Mama sagte einmal, dass der Himmel vor Glück geweint hat, als ich geboren wurde. Dass er Sterne vom Himmel schickte, um mich zu begrüßen und dass sie sich damals ganz fest wünschte, dass ich einmal ebenso hell leuchten würde. Doch vielleicht hat sie die Zeichen einfach nur falsch gedeutet. So wie jetzt hatte der Himmel sicher nur geweint, weil ich Menschen unglücklich machen würde und ich für ihn nichts wert bin. Ich stellte sicherlich eine Schande für den großen, blauen Himmel da. Und die Sterne? Ich konnte sie nicht sehen. Wolken schoben sich über den dunklen Himmel. Sie leuchteten nicht für mich und ich würde es ihnen niemals gleichtun können. Es war kalt. Der Mantel von Pollux wärmte zwar, aber er war zu groß, um wirklich schützend zu sein. Und als ich nach Stunden immer noch keinen Ort gefunden hatte, an dem ich hätte bleiben können, hatte ich mich einfach an der nächsten Bushaltestelle in die Ecke des Wartehäuschens gedrängt. Dort war der Wind wenigstens erträglich und der Regen konnte mich nicht mehr erreichen. Wobei es dafür sowieso zu spät war. Ich war durchgefroren, völlig durchnässt. Das Schniefen ließ nicht lange auf sich Warten und etwa eine Stunde später spürte ich das Kratzen im Hals. Hustend schlang ich den triefenden Stoff des Mantels um mich, erschauerte, weil er so kalt war, und gab mich wieder meinen Tränen hin. Meine Füße taten weh davon, den ganzen Tag durch die endlose Stadt gelaufen zu sein. Für ein Kind, das noch nie allein in der Großstadt unterwegs gewesen war, der reinste Alptraum. Ich weiß nicht, wie lange ich da saß, immer wieder schwankend zwischen Träumen, Schluchzen und Bibbern. Ich weiß nur, dass ich die Sterne sehen konnte, als man mich auf die Arme nahm und ich die Augen für einen Moment öffnete. Ein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase, nach Tabak und Rauch. Zwei starke Arme hielten mich an eine warme Brust gedrückt, trugen mich davon, während ich versuchte, näher an die Wärme zu kommen. Durch ein kurzes Blinzeln sah ich schwarze Locken springen, verschleiert durch den Qualm, der in die Nacht hinaufstieg. Ich konnte dunkle Augen blitzen sehen, wie sich das Mondlicht darin spiegelte, und für einen Moment dachte ich, mein Vater wäre zurückgekommen, hätte mich gefunden und holte mich nach Hause. Für einen kurzen Moment hatte ich Angst, doch nach dem nächsten Husten schlief ich schon ein. Es duftete. Es duftete herrlich, als Marius die Augen öffnete – und sofort wieder zusammenkniff, weil die Sonne ihn blendete. Schützend riss er die Hände gegen die Sonnenstrahlen nach oben und blinzelte träge den Schlaf aus den Augen. Benommen sah er zu dem kleinen Fenster, dessen Glas zwar unheimlich schmutzig war, aber dennoch so viel Licht ins Zimmer fluten ließ. Während seine Augen sich langsam an das Licht gewöhnten, strichen seine Handflächen über die weiche Daunendecke, die ihn gerade noch bis zum Kinn zugedeckt hatte. So ganz anders als daheim. Und das war es auch, was Marius verwirrt in die Höhe schrecken ließ. Daheim! Nein dort war er nicht! Und wenn nicht dort, wo denn dann? Das Bett war viel zu einfach, die Vorhänge waren ausgebleichte Spitzentücher und der Zimmerboden war mit einem fusseligen, beigen Teppich ausgestattet. Dabei war er sich eigentlich ganz sicher, dass sein Vater ihn geholt hatte. Oder hatte er ihn nur woanders hingebracht? Augenblicklich stiegen ihm Tränen in die Augen, wie er an die Ereignisse und an Doreas kleines, blasses Gesicht hinter dem Fenster im ersten Stock, dachte. Schniefend schlug er die tröstlich wirkende Wärme beiseite und tapste zur Zimmertür hinüber – die eine Türklinke aus einem goldenen Material hatte. Zuhause waren alle Türknäufe oder Klinken Silber - Silber und mit Schlangen verziert. Merkwürdig, nicht die Unebenheiten der Schlange zu spüren, als er seine Hand auf die Klinke legte. Die Tür öffnend, schlug ihm der unheimlich süße Duft noch deutlicher entgegen und er hörte seinen Magen vor lauter Protest grummeln. Ein kleiner, schmaler Gang, ebenso mit diesem Fusselteppich ausgelegt, ohne Fenster, mit Türen zu beiden Seiten, kleinen Bilderrahmen an den Wänden und am Ende eine Treppe die nach links unten abtauchte. Dort unten lief Musik, fröhliche, wenn auch etwas altmodisch vielleicht. Und dazu das rhythmische leise Klopfen und eine schräge Männerstimme, brachten Marius dazu, sich dem Treppenabsatz Schritt für Schritt zu nähern. Durch die kleine, nackte, brennende Glühbirne an der Decke konnte er die Bilderrahmen betrachten. Die Bilder sagten ihm nichts. Immer wieder Kindergesichter, blond, haselnussbraun, da ein schwarzer Haarschopf auf einem Gruppenbild. Ein blondes Mädchen, zwischen zwei älteren Jungen. Eine Weihnachtskarte mit einem Familienbild, wieder mit den drei Kindern, nur wirkten sie jetzt einige Jahre älter. Hinter ihnen standen Mutter, Vater und ein Mann mit schwarzen Locken. Ein Motorrad. Ein Weihnachtsbaum, so behängt, dass er seine Äste nach unten bog, sie mit den Spitzen die Stapel an Geschenke berühren ließ. Ein Hochzeitsfoto, vom glücklichen Brautpaar, das durch ein Blumenmeer ging, Hand in Hand, beide mit dem glücklichsten Lächeln auf den Lippen. Zeitungsartikel. Nicht aus dem Tagespropheten. Eine Todesanzeige, in Gedenken an Robert Hitchens, geliebter Ehemann, Vater und Bruder. Alle Bilder bewegten sich nicht. Da hingen Abschlusshüte, drei an der Zahl, mit den bunten Kordeln, die nach unten hingen. Daneben hatte jemand immer einen Buchstaben an die Wand gemalt. M, T und S. Ein krächzendes Lachen veranlasste Marius dazu, endlich den Blick von alldem abzuwenden. Vorsichtig stellte er sich auf die oberste Treppenstufe und versuchte, um die Ecke herum nach unten zu sehen. Cremefarbene Fliesen schlossen unten an, führten zu einer hölzernen Haustür, die mit einem Rosenkranz geschmückt war. Ein blecherner Schirm- und ein Kleiderständer standen dort. Drei Mäntel konnte er zählen. Auch hier flutete das Licht die gesamten Räume. Die Musik wurde lauter gedreht und das Klopfen verstummte, stattdessen klapperte es und die Männerstimme setzte nach einem kurzen Räuspern wieder an, dem Refrain des Liedes nachzueifern – begleitet von einem klingenden Lachen. Und da war immer noch dieser süße Geruch, der Marius die Treppe hinunter lockte. Dieser und die freudig, lockere Stimmung, die die Musik durch das Haus trug. Erst beim Treppensteigen fiel ihm auf, dass die Hose, die er trug, viel zu lang war. Die Hosenbeine rutschten ihm über die Zehenspitzen und der bunte Strickpullover ging ihm bis auf die Oberschenkel hinab. Daraf aufpassend, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, bezwang er die Treppe und wandte sich unten nach rechts, dorthin, wo ein Durchgang zum nächsten Raum war. Dorthin, wo die Musik und die Stimmen herkamen. Neugierig trat er heran und blieb am Türrahmen geklammert stehen. Er erblickte eine weiß-orangene Küche mit alten Küchenfliesen über den Arbeitsbereichen, an denen noch halbe Kindersticker klebten, einen Ecktisch und unter dem Fenster einen Wagen mit Kräutern. Aber das war es nicht, was Marius Blick fesselte, er hatte nur Augen für die Frau, die sofort aufgehört hatte, durch den kleinen Raum zu tanzen, immer wieder um einen Mann herum, der am Herd stand und Pfannkuchen wendete. Ihre blonden Haare hörten auf zu wippen, fielen ihr lang und glatt über die Schultern, als sie den Jungen aus traurigen Augen musterte. Und noch jemand hatte ihn bemerkt: Die alte Frau, die am Ecktisch saß und Äpfel schnitt, in ihrer fleckigen Schürze, den Grübchen und dem zurückgesteckten, lichtem Haar. Nur kurz war sie die junge Frau, die mit 22 ihre Familie verlassen hatte, nur kurz leuchteten die dunklen Augen. Wie sie alle den Kopf hoben und drehten, um Marius zu sehen, wurde der Junge rot und senkte sofort den Blick, klammerte sich noch mehr an den Holzrahmen des Durchganges. „Marius! Tut mir leid, hab ich dich aufgeweckt?“, brummte die sanfte Stimme des Mannes, den Marius für seinen Vater hätte halten können. Er hatte dieselben schwarzen Locken und dieselben Gesichtszüge, ja sogar fast dasselbe Funkeln in den Augen. Nur wirkte es bei Phineas Black dem Zweiten viel wärmer. Wärmer und ehrlicher, wie er vor Marius in die Hocke ging, den Körper des verwirrten Jungen an seine Brust drückte, wie schon gestern Nacht. Und Marius wusste nicht, wem er da gegenüberstand, um wen er gerade die Arme schlang und an wen er sich ankuschelte. Aber er kannte diesen Duft von Zigarren ... „Vielleicht schmecken sie nicht so gut, wie die von Stella, aber wenn du willst, habe ich Pfannkuchen für dich“, summte er beinahe schon in Marius´ Ohr und tätschelte ihm den Kopf, ehe er den Jungen von sich löste, um ihn zum Ecktisch hinüber zu schieben. Die blonde Frau hatte inzwischen am Rädchen eines kleinen Kastens gedreht, die Musik dudelte leise vor sich hin. Nun nahm sie aus einem Schränkchen einen Teller, stellte ihn für Marius auf den Tisch, legte eine Gabel daneben und lächelte ihn an. Sie gab ihm nicht die Hand oder umarmte ihn wie Phineas, sondern legte ihm eine Hand auf die rote Wange, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Willkommen daheim, Marry.“ Kapitel 4: 3. Ebene: 1934 ------------------------- Cedrella Black *1916 --> 1934: 18 # Septimus Weasley *1916 → 1934: 18 * Arcturus Black & Lysandra *1884 → 1934: 50 *1885 → 1934: 49 Kinder: Charis (15), Callidora (20) → Harfang Longbottom *1912 → 1934: 22 1934 4. August „Ich hoffe, sie haben dich nicht erschreckt.“ Das langsam flüssig werdende Eis, welches von der Coladose perlte und meinen Nacken herunterfloss, lieferte sich einen Überlebenskampf mit meiner überhitzten Haut. Ausgebrannt von der Sonne ließen meine blässlichen Hände die Dose vom Nacken auf die andere Seite des Halses rollen. Ich seufzte nur und schüttelte den Kopf. Meine Zehen gruben sich in das grüne Gras hinein und erwartungsvoll hob ich den Blick, aber Sterne sah man eben nur in der Nacht. Wobei es sicherlich auch seinen Reiz hätte, würden sie auch am Tag strahlen. Doch gerade schien die gnadenlose Mittagssonne hinab, direkt auf die Hügel vom Wieselkopf und überzog alles, was in weiter Ferne lag, mit schlingernden Hitzeschleiern. Der Wind wehte nur sehr schwach, ließ die Grashalme sich wiegen und die Blätter der Obstbäume rascheln. Von hier konnte man bis in das nächste Dorf hinabblicken, so weit streckten sich die Hügel. Man fühlte sich dem Himmel so nah. Als ob man die Wolken berühren könnte. Wie sie sich wohl anfühlten? Wie Watte? Oder sollte man meinem Freund Tips glauben schenken, dann waren sie vermutlich eiskalt und würden unter ihren Händen dahinschmelzen. Vielleicht sollten sie sich einen Besen nehmen und ihnen einen Besuch abstatten, sie hätten sicherlich nichts dagegen. Vielleicht konnte man sich ja wirklich auf die flauschigen Wolken legen und einen größeren, weiteren, strahlenderen Himmel betrachten als von hier? Konnte Freiheit nur wegen diesem Anblick noch kostbarer werden? In der Stadt könnte man sich nie so fühlen. Die Sterne würden dort auch nie so klar scheinen wie gestern Nacht. Neben mir klickte der Verschluss einer weiteren Dose, es zischte kurz und als ich mich ins halbhohe Gras zurücklegte, konnte ich durch die Grashalme hindurch das rote Haar erspähen. Sie waren meinen gar nicht so fremd und doch hatten sie einen ganz anderen, einen ganz anziehenden Farbton. Wie das Rot der Blätter im Herbst, wenn die Kastanien fielen. Nur kurz erlaubte ich mir einen solchen Seitenblick und besah dann wieder die Wolken, die vereinzelt über den Himmel zogen, der hellblau das Firmament bedeckte. „Haben sie nicht.“ Ich konnte hören, wie er einen Schluck aus der Dose nahm und einen Moment inne hielt, um meine Worte wirken zu lassen. Auch wenn er nicht älter war als ich, so war er sicherlich um einiges reifer. Sein Handeln unterschied sich immer so grundlegend von meinen kindischen Taten, dass ich mir vorkam, als würde ich um Jahre hinter ihm zurückliegen. In allem. „Dann bin ich erleichtert“, flüsterte die tiefe Stimme zu den Wolken hinauf, während ich die Augen schloss. Seine Stimmfarbe hatte sich in den Jahren so verändert. Das helle Lachen, dass ich einstmals gehört hatte, war inzwischen ein tiefes Bellen und in jedem seiner Worte schwang ein beruhigender Basston mit, der mir das Herz schneller schlagen ließ. Der Tag sollte nie zu Ende gehen. Am besten die Wolken mit Hammer und Nägeln dort oben bewegungslos machen, die Zeit anhalten, den Wind aufdrehen. Ein Bild machen, dass diesen Moment in sich aufnahm, mit allen Einzelheiten, mit dieser Ruhe und dem Frieden. Am besten nie wieder hier weggehen. Einfach hierbleiben ... Mein feines, rostrotes Haar hatte sich um mich herum über das Gras verteilt. Vielleicht war es ja Schicksal gewesen? Ein gemeines Schicksal. Rote Haare galten früher als Zeichen der Teufelsgunst. Meine Großmutter hatte mir oft solche Schauermärchen erzählt, als sich meine blonden Kleinkindhaare langsam in rostrot gewandelt hatten. Eigentlich sollte man ja meinen, dass man in meiner Familie nichts gegen ein Kind vom Teufel einzuwenden hätte, aber anscheinend hatte auch sie Grenzen. Sie endeten wohl im Unvorstellbaren. Eine Zeit lang war es still. Der Wind strich uns übers Gesicht, ließ die Gräser unsere Wangen kitzeln und trieb den Duft von Apfelblüten herüber. Der perfekte letzte Tag in einem perfekten, goldenen Sommer. Heute Abend würde vermutlich wie an jedem anderen Abend die Sonne am honigfarbenen Firmament untergehen, uns in der Kälte zurücklassen. Und nur die Sterne würden unser Tun mit ihren großen, leuchtenden Augen überwachen. Ich blinzelte. Wenn ich so darüber nachdachte, dann wollte ich nicht mehr weg. Wer dem Vogel die Käfigtür öffnete, sollte nicht damit rechnen, dass er so schnell wieder in dieses von Gitterstäben gezeichnete Paradies zurückkehrte. Die kleinen Flügel musste man ihm dann schon stutzen, wollte man ihm am Fliegen hindern, hinauf in die Wolken, die so leinenlos ziehen konnten, wohin sie wollten. Seit ich meine letzten Sommerferien hier verbracht hatte, war es, als ob meine Eltern meinen Käfig in einen bunten, leuchtenden Garten gestellt hätten. Wie wild flatterte ich in dem kleinen Raum herum, den man mir ließ, aber die wundersamen Pflanzen draußen würde ich nie von nahem betrachten können. Ich konnte durch meine Gitterstäbe hindurch alles sehen, aber erreichen oder haben würde ich es nicht. Nicht solange man meine Tür verschlossen hielt und den Schlüssel im Bauch der Bestie verschwinden ließ. Jetzt verglich ich mich schon mit einem Vogel … so langsam wurde das panische Gefühl in mir eben doch stärker und ich hatte ihm immer noch kein Wort gesagt. Für ihn war die Welt noch in Ordnung. Da gab es keine Gitter, keine Schlösser und keine unerreichbaren Träume, die von Freiheit und Liebe handelten. Er hatte diesen weiten Himmel. Wie ungerecht das doch war. Wie konnte er nur da sitzen und diesen Tag einfach so verstreichen lassen. Sicherlich, weil er wusste, dass er diesen Himmel jeden Tag betrachten konnte, wenn er wollte. Oder die Sterne. Ich streckte die rechte Hand nach oben, warf damit einen Schatten auf mein Gesicht, als ich mir vorstellte, die Wolken greifen zu können. „Vertraust du mir nicht mehr, Relly?“, fragte der Junge plötzlich und schon hatte er je ein Knie auf beide Seiten meiner Hüfte gestellt, legte seine Handfläche auf meine nach oben geneigte und verschränkte seine Finger mit meinen. Mir war sein Anblick genauso lieb wie der Himmel, allerdings glaubte ich, dass der Himmel splittern würde, wenn er mich verließ. So etwas schönes konnte einfach ohne ihn nicht existieren. Da war ich mir sicher. Und deswegen lächelte ich nur und zog ihn zu mir hinab. Die verflochtenen Hände über meinem Kopf ablegend, küsste ich nur flüchtig die weichen Lippen. „Dir entgeht wohl nichts“, wich ich aus, spürte wie sein Atem über meine Wange strich und sein Blick auf mir ruhte. Ich konnte ihn nicht ansehen. War es nicht sein Traum gewesen, nach Persien zu gehen, um dort die alten Flüche und Geheimnisse zu entdecken? Warum hatte er den Zusatzkurs für Alte Runen bestritten, um am Ende doch nur an meiner Seite zu wachen, gelangweilt und um seine Träume beraubt? Und es würde so kommen, würde ich ihm sagen, dass ich nicht fort konnte. Ich konnte nicht davonfliegen, meine Flügel aufspannen und den Sonnenstrahlen entgegen steigen. Oder die Kellertür aufsperren, meine Fesseln abwerfen und losrennen. Wir hatten die letzten Tage zusammen verbracht, die Tage, bevor er seinen Weg gehen würde, in dieses ferne Land. Und ich hatte mit ihm gehen wollen. Hatte. Inzwischen lag sein Kopf über meinem Schlüsselbein, halb auf der Schulter, meine Hand hatte er immer noch nicht losgelassen, aber er erdrückte mich auch nicht. Das tat er nie. Er war immer darauf bedacht, mir alles von den Lippen abzulesen und spielte seine Rolle als mein Verehrer doch sehr zielstrebig und überaus peinlich genau. Hätte er eine andere Vorgeschichte, wäre er in einer anderen Familie aufgewachsen, dann hätte das meinen Eltern und meiner Sippe sicherlich gut gefallen. Deswegen wussten sie auch nichts hiervon. Und er wusste nicht, dass sie nicht wussten, dass ich hier war. Es war sowieso sehr seltsam, dass sie mich noch nicht gefunden hatten. Mein Cousin Pollux war doch eigentlich ein sehr tüchtiger Mann. Wenn er nach mir auf die Suche geschickt worden war, dann wunderte es mich wirklich, dass ich noch hier war. Nie würde es mir einfallen, irgendjemanden aus meiner Familie zu loben, aber Pollux abartiges Talent für Aufspürungen war wirklich etwas sehr ungewöhnliches. „Ein Jahr ist zu lang“, gab ich die Wahrheit darüber kund, warum ich mich so seltsam nachdenklich benahm und ließ die freien Finger in die rostroten Haare gleiten, „Ich kann kein Jahr mehr warten, Septimus — ich kann nicht darauf warten, dass du zurückkommst, darauf, dass wir eine sichere Zukunft haben. Ich kann nicht ein Jahr lang warten, dich zu heiraten. Aber du darfst nicht bleiben.“ Wieder hatte ich die Augen geschlossen, hörte ihn leise seufzen, doch ich wusste, dass das nur bedeutete, dass er mit etwas weitaus schlimmerem gerechnet hatte. Er verstand eben noch nicht die ganze Tragweite von dem, was wir gerade taten, von dem, was ich gerade plante. Vor ein paar Tagen hatten wir beide unser Abschlusszeugnis von der Hogwarts der Schule für Zauberei und Hexerei erhalten. Tips hatte die Zusage von seinem Studienplatz in Rumänien bekommen und hatte — obwohl es noch eine Woche dauerte, bis er endgültig aufbrach - bereits die gepackten Koffer daheim stehen. Viel besaß er nicht. Die Weasleys waren eine arme Familie, die quasi von der Hand im Mund lebten, weshalb ich mich jedes Jahr aufs neue gewundert hatte, wie Tips Eltern die Menge an Schulbüchern hatten bezahlen können. Aber er war das Jüngste der sechs Geschwister und sobald er nächste Woche den Fuchsbau verlassen würde, war es vorbei mit der Kindererziehung. Zumindest von dieser Generation, denn die nächste stand schon in den Startlöchern und ich hatte Schwierigkeiten gehabt, beim gestrigen Abendessen alle Anwesenden auseinanderzuhalten. Ich hatte immer gedacht, meine Familie wäre groß, aber im Vergleich zu den Weasleys waren wir nur ein kleiner Wanderzirkus voller Clowns mit schlechtem Make-up. Mich hatte nach meinem Abschluss nur eines erwartet: Meine Hochzeit. Meine arrangierte Hochzeit, von der Septimus nicht einmal etwas ahnte. Ich hatte alles mögliche unternommen, damit er davon nichts mitbekam. Hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Sache geheim zu halten — und war vor gut drei Tagen von daheim geflohen. Ich weiß nicht warum. Ich hatte genau gewusst, dass Tips in wenigen Tagen nach Rumänien gehen würde und dass ich es niemals übers Herz bringen würde, ihn daran zu hindern. Und doch war ich nun hier, neigte den Kopf etwas zur Seite, stupste mit der Nasenspitze gegen seine Ohrmuschel. „Dann komm mit mir“, erreichten die gemurmelten Worte mein Ohr und bevor ich sie recht verstehen konnte, hatte sich Tips schon wieder aufgerichtet. Sein Kopf warf einen Schatten über meine Augen und ich ließ mich dazu hinreißen, meinen Traum mit den Fingerspitzen zu streifen: „Wie denn?“ „Wir sind volljährig, Relly. Meine Cousine Tessa hat deine Kleidergröße, Onkel Ernest hat ein Händchen für Stühle und Mum und Tante Ola beschaffen dir im Handumdrehen so viele bunte Blumen, dass du darin baden kannst“, zählte mir Septimus auf, „Vielleicht wird es kein weißes Kleid und vielleicht kann ich dir keine Reichtümer bieten, aber wenn du noch drei Tage warten kannst, dann werde ich dir eine Blumenhochzeit hier auf den Hügeln schenken.“ 11. August „Ich dachte mir, dass wir auf die Rosen verzichten könnten — der Raum wird ja sowieso nicht lange gebraucht, da lohnt es sich ja nicht das Geld dafür auszugeben, wenn man damit des Bräutigams Anzug veredeln kann“, führte Lycoris ihre Gedanken weiter aus und vollführte mit dem Sektglas in der Hand eine etwas zu schwungvolle Bewegung, sodass sie einige Tropfen des teuren Sekts auf dem dunklen Parkettboden vergoss. Gleichgültig starrte ich die kleinen Pfützen an und verglich ihre Größe. Der ganz linke war der Größte unter ihnen, umringt von kleinen Spritzern und ein paar kleineren Kreisen. Drei weitere Kleckse verteilten sich dann rechts daneben, direkt vor meinen seidenen Schuhspitzen. Es wäre sicherlich keinem aufgefallen, würde ich die Tropfen mit der Schuhsohle verreiben, aber mir war gerade nicht danach, mich zu bewegen. Dann hätte ich auf mich aufmerksam gemacht und das war im Moment das Letzte was ich wollte. Denn während meine Cousine in Begeisterung über meine Hochzeit den Boden verschmutzte, hatte ich nur die Ehre gehabt meinem Zukünftigen die Hand zu geben. Nur kurz. Er war mir vorgestellt worden — zwischen Tür und Angel — und dann hatten sich die Männer auch schon für die wichtigen Geschäfte zurückgezogen. Dass diese Verlobung so übereilt und fast schon nachlässig war, das interessierte niemanden. Sie war beschlossen und zeitgleich auch vom Oberhaupt abgesegnet worden. Und mein Onkel hatte sicher nicht meinen Seelenfrieden als wünschenswertes Ziel bedacht. Ich war ein Ausgleich — ein Ablenkungsmanöver, wenn man so wollte. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass man gleichzeitig versuchte sich die Longbottoms zu eigen zu machen. Die Familie war groß, sie war einflussreich und Henrik Longbottom war jemand, der nah um den Minister herum rangierte. Mit seinen inzwischen 57 Jahren war es schon längst überfällig gewesen, dass er für seinen einzigen Sohn und somit Stammhalter eine geeignete, junge Braut suchte, die die Linie sauber und ordentlich weiterführen würde. Auch wenn die Longbottoms keine Familie war, die auf Reinheit achtete, so war das Angebot der versprochenen Reichtümer doch sehr verlockend und die Zeiten durch den letzten Krieg der Muggel noch ziemlich mager. Außerdem war ich nicht die Tochter vom Oberhaupt, sondern nur das Mädchen vom jüngsten der drei Brüder. Anders als Lycoris hatte ich noch ein paar mehr Freiheiten, auch wenn mich das immer noch mehr einzuschränken schien als sie. Dennoch konnte ich hoffen, dass man mir in dieser neuen Familie anders gegenüber trat als in meiner eigenen. Zumindest hatte ich das in seinen Augen gesehen, in diesem kurzen Moment, nachdem er meinen Handrücken an seine Lippen geführt hatte. Der kleine Oberlippenbart hatte meine Haut gekitzelt. Still und stumm stand ich also neben meiner Mutter, die sich für den heutigen Empfang sehr prächtig herausgeputzt hatte. Das schlichte, dunkelgrüne Kleid klebte an ihrem molligen Körper, der Bauch drückte immer wieder gegen den Stoff, sodass er sich spannte. Sie war erst 48 und doch hatten die letzten Nächte ihr Aussehen, die umwerfenden Gene der Yaxleys, angekratzt. Zwar trug sie die ersten grauen Strähnen offen zur Schau, aber sie versuchte das Dauerlächeln aufrecht zu erhalten, damit man die hängenden Mundwinkel nicht sah. Meine Mutter wirkte mir so fern, ich brauchte nur die Hand auszustrecken und doch glaubte ich nicht daran, dass ich sie wirklich erreichen würde. In den letzten Tagen hatte sie mir nicht mal in die Augen gesehen und sie hatte ihr bereitgelegtes Hochzeitskleid wieder von einer unserer Hauselfen in ihren Kleiderschrank hängen lassen. Die Maße passten mir nicht. Ich war sehr enttäuscht. Ich hätte Mutters Kleid gerne getragen, hätte meiner Familie damit die Ehre erwiesen. Aber ich bin ja nur der Ausgleich, die Ablenkung. „Patrizia hat einen ganz wunderbaren Schneider, er hat sein Geschäft in Paris!“, lobte meine Mutter gleichzeitig Lycoris Vorschlag und den Sinn für Mode meiner zukünftigen Schwiegermutter — was ich nicht unbedingt bekräftigen konnte. Denn Patrizia hatte ihrem Sohn - dem Herrn sei dank - nichts weiter vererbt als die blauen, hellen Augen. Die dünnen, lichten Haare fielen ihr leblos auf den Rücken, beschwert mit einem silbernen Pendel an den Spitzen, das fast in dem silbergrau ihres Abendkleides verschwand. Der Körper war wie ihr Gesicht, ausgemergelt und kantig. Meiner Familie war vom ersten Treffen an sofort klar gewesen, warum Patrizia Longbottom nur ein Kind zur Welt gebracht hatte. Ein Wunder, dass sie überhaupt die Geburt überstanden hatte. Dabei sollte doch eine Frau in der Lage sein, viele gesunde Kinder zu gebären. Nur so machte man die Familie stolz — das Henrik sich nicht eine andere gesucht hatte, war schon fast ein Skandal. Aber nur fast. Hohe Stände verschlossen eben Münder — wenn auch nur bei offenen Türen. „Wir sollten das Maßnehmen noch diese Woche vornehmen lassen, wer weiß, wann mir Carter Crouch vor der Tür steht und die Festlichkeiten ruiniert“, redete Mutter mit einem tief trauernden Ton in der Stimme weiter, ehe sie sich sogar zu einem Schluchzen hinreisen ließ, das alle anderen Frauen, die um uns herum standen, dazu brachte, wehmütig und hörbar mit meiner Mutter mitzuleiden. Sie nahm das Spitzentaschentuch von Violetta entgegen, tupfte sich die Augen damit ab, während sie die tröstende Hand von Lycoris drückte. Sogar ich sah auf und begegnete dabei dem Blick meiner Cousine Cassiopeia, die mir sachte zulächelte. Ich konnte nicht lächeln. Meine Hände, die ich hinter meinem Rücken zusammengeführt hatte, drückten sich gegenseitig taub. Man konnte das blaue Auge von Cassiopeia selbst unter der großzügig aufgetragenen Schminke noch erahnen. Ein paar Äderchen waren sogar geplatzt und durchsetzten das Weiße im Augen nun mit rötlichen Schlieren. Sie tat mir nicht leid. Sie war schon immer ein Sorgenkind gewesen und obwohl wir gleich alt waren, so habe ich nie mit ihr spielen oder zu tun haben wollen. Sie war mir zu wild. Schon als Kind war sie mehr durch die Gegend getanzt als anmutig geschritten und wie sie sich schlussendlich mit meiner Schwester Cedrella angefreundet hatte, hatte ich schon gewusst, dass es ein böses Ende nehmen würde. Was ich dabei nicht erwartet hatte war, dass es für mich dabei auch ein schreckliches Erwachen geben würde. Während sie also lächelte, das blaue Auge versuchte zu verstecken und wie immer zappelig neben meiner Tante und ihrer Mutter Violetta stand, presste ich nur die Lippen zusammen und ließ meinen Blick schnell weiterwandern. Cassiopeia, Violetta, dann die hochmütige Hesper mit Lycoris. Danach kam mein Platz in der Runde, neben mir meine Mutter, Belvinas freier Platz und Melania beendete schließlich den Kreis. Und alle bedauerten meine Mutter zutiefst — alle außer Cassiopeia und ich. Sie war eine Schuldtragende und ich war der Ausgleich. „Crouch kann sich glücklich schätzen, von so einem Balg verschont geblieben zu sein“, mischte sich Hesper mehr hochnäsig als beruhigend ein, bedachte meine Mutter mit einem mehr als nur eindeutigen Blick, der sie sogleich zusammensinken ließ, „Außerdem ist es nicht so, als ob man ihm kein neues Angebot machen könnte — bald kann Charis heiraten, du musst immerhin alle deine Töchter unter die Haube bringen, Lysandra und die Crouches sind eine gute Partie.“ „Charis ist doch erst 15, zwei Jahre müsste man sie vertrösten!“, lachte Melania und legte belustigt eine Hand an die Wange, „Wer kann von Carter erwarten, seinen Sohn nochmals zwei Jahre warten zu lassen? Der Junge ist immerhin bereits 19.“ „Warum hat man ihm nicht gleich Callidora versprochen?“, näselte Lycoris und wurde kopfschüttelnd von ihrer Mutter unterbrochen. „Henrik zu binden hat Priorität, im Gegensatz zu den Longbottoms ist die Familie Crouch unserer Überzeugung, sie sind leichter zu halten.“ Mir wurde schlecht. Wenn ich mir Casper Crouchs übelriechendes Lachen vorstellte verging mir alles. Meine Nackenhaare stellten sich auf und mir lief ein Schauer über den Rücken. Auch wenn mir meine kleine Schwester leid tat, so unheimlich leid, so bin ich froh, diesen Klauen zu entkommen. Charis war so unglaublich zart, sie würde eingehen wie eine Blume im Winter, lange würde die Ehe nicht bestehen bleiben — aber Charis wurde nicht gefragt. Ich auch nicht. Mein zukünftiger Mann hieß Harfang Longbottom und ich kannte ihn seit einer knappen Stunde. Gesehen hatte ich ihn für zwei Wimpernschläge. Und Charis würde an Cedrellas Platz rücken, würde vermutlich in zwei Jahren ihre kleine Hand in Casper Crouchs Pranken legen. Und auch, wenn ich die Zeit nur noch an mir vorbeistreichen sah und mir wünschte, sie würde anhalten, ich würde die Stopptaste finden, so wusste ich doch genau, dass es nicht in meinen Händen lag. Eigentlich tat es das nie. Meine Geburt hatte mich gebunden, gefesselt. Mein Stand verpflichtete mich. Ich war die Erstgeborene, vor allem ich hatte der Familie mein Leben zu verschreiben. Mein Leben, dass in zwei Wochen in Harfang Longbottoms Hände übergeben werden sollte, der mich von da an führen sollte. Meine Knie zitterten leicht, aber ich schaffte es, das Brennen in meinen Augen zu verwünschen, schaffte es, den Druck in meiner Brust zu verscheuchen, nur um zu spüren, wie die Kälte mein Herz zusammendrückte. „Es sollte eine kurze Zeremonie sein, wir können nicht Stunden mit der Feier verschwenden. Callidora kann das rote Abendkleid von Lycoris bekommen, wenn Belvina ihre goldene Halskette gibt, wird Henrik das sicherlich genügen. Schlicht sollte sich eine Frau aus guten Hause sowieso kleiden können, um ihren Ehemann nicht in den Schatten zu stellen“, kam die Stimme von Hesper Black, die sicherlich so klang, weil auf ihrer Brust fünf schwere Goldketten lagen — von Schlichtheit konnte man bei Tante Hesper sowieso nicht sprechen. Ihre Kleider waren allesamt Maß- und Sonderanfertigungen, feine Gold und Silberfäden wurden selbst in die einfachsten Socken mit eingefädelt und ihre Finger konnte sie gar nicht richtig bewegen, so sehr behinderten die vielen Ringe ihre Bewegungen. Sie war die Frau des Oberhaupt der Black´schen Familie, gerade sie sollte ihren Mann nicht überstrahlen. Doch daran hielt weder sie sich, noch eines ihrer Kinder. Sie hatten alle den verschwenderischen und protzigen Geist ihrer Mutter geerbt. Aber während Lycoris mit ihren Seidenkleidern und Salonterminen noch einigermaßen im Rahmen blieb, schlug Hespers ältester Sohn Arcturus und damit nächstes Oberhaupt vollkommen über die Stränge. Profitieren tat davon bis jetzt nur Melania, seine Ehefrau. Die geborene McMillan hatte ihrem stolzen Mann bereits eine Tochter und einen Sohn geschenkt und hatte sich damit zu aller erstaunen vom Kinderkriegen abgewandt. Lucretia war inzwischen genauso alt wie Walpurga, allerdings dreimal so hübsch und mindestens um zwei Längen klüger. Die beiden neun-jährigen Mädchen genossen jeden Tag Privatstunden und wurden von Hesper in jeglicher Art und Weise verhätschelt. Kein Wunder, immerhin wurde sogleich bei der Geburt von Orion — Melanias Sohn — beschlossen, dass Walpurga seine zukünftige Frau sein würde. Der Kleine war im Moment erst fünf Jahre alt. Wessen Einfall das gewesen war, konnte man leicht deuten, aber mir war schleierhaft, warum man diese sinnlose Verlobung nicht nach dem Tod von Oma Elladora aufgelöst hatte. Und so langsam bekam selbst ich ein leichtes Ziehen in den Schläfen, wenn ich darüber nachdenken musste, wie verzweigt meine Familie inzwischen war. Ich selbst zählte im groben Überblick für mich drei Tanten, die mich mit neun Cousins und Cousinen beglückten, von denen wiederum welche schon vier Kinder in die Welt gesetzt hatten. Und bald war ich an der Reihe. Meine Hochzeitsnacht rückte nun in großen Schritten näher und sicherlich erwarteten nicht nur die Blacks von mir gesunde Kinder. Aber daran wollte ich nicht denken. Ich zwang mich, wieder an meinen künftigen Ehemann zu denken, der sicherlich gerade mit meinem Vater über die neusten Entwicklungen in Frankreich sprach, die meiner Familie in den letzten Monaten viel Geld eingebracht hatten. Etwas, wovon ich nichts verstand. Das einzige, was ich verstand war, dass meine jüngere Schwester vor vier Tagen geheiratet hatte. Heimlich. Unter freiem Himmel getraut und in einer Scheune bejubelt. Nur um gestern an der Seite ihres Mannes England zu verlassen. Wer hätte wissen sollen, dass sie dazu fähig war, solchen Ärger zu verursachen? Carter Crouch wusste noch nicht, dass wir die Spur von Cedrella und ihrem Weasley verloren hatten, aber meine Familie arbeitet schon fleißig daran, alles unter den Teppich zu kehren. Cassiopeia hatte die Ohrfeige vorgestern erhalten. Meine Verlobung war gestern im Tagespropheten verkündet worden. Das Brandloch im Stammbaum war heute früh entstanden. Und Morgen würde wie an jedem Tag die Sonne aufgehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)