Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Diesmal fiel es mir schwerer die Tränen zu stoppen. Sie flossen und flossen einfach, während ich mich an Maja klammerte. Sie sagte nichts, kein Wort, sie streichelte mir nur gleichmäßig über den Rücken und hielt mich fest. Als wäre es das natürlichste, was es gab, eine fast Fremde in den Armen zu halten, die einem die Kleidung nass heulte. Aber andererseits waren wir uns ja trotzdem nahe, fast schon lächerlich nahe, wenn man bedachte, wie lange wir uns erst kannten. Irgendwie brach jetzt all das aus mir raus, was sich über die Jahre angestaut hatte. Die stummen Tränen, die ich in mich hinein geweint hatte, der insgeheime Neid, das Gefühl, minderwertig zu sein, oder zumindest nicht genug. Und ich konnte diese Flut einfach nicht mehr stoppen. Sie schwappte es aus mir heraus, ohne dass ich das aufhalten konnte. Und als meine Tränen doch langsam versiegten, da fühlte ich mich leere als je zuvor. "Ist ja gut", hauchte Maja. "Geht es dir jetzt besser?" Ich stellte mir selbst diese Frage und lauschte in mich hinein, aber war mir nicht sicher, ob die Leere besser war als der Sturm an Gefühlen von vorher. Mit geschlossenen Augen wartete ich, auf irgendetwas, doch der Moment erschien mir wie eine Wand, eine Wand, an der ich stehen bleiben musste. Weil es nie mehr weitergehen würde. Dabei war das natürlich eine Lüge. Es ging immer weiter, die Welt tat einem nie den Gefallen, anzuhalten. Sie drehte sich weiter und weiter, das Leben lief weiter. Und ehe man sich's versah war man näher an den dreißig als an den zwanzig, noch immer rettungslos verliebt in die eine Frau, die den eigenen Bruder geheiratet hatte, und verrannte sich in einem Beruf, der Leere füllen sollte, aber eigentlich nur bewirkte, dass man sich immer weiter belog. Vielleicht war die Leere, die ich fühlte, die Wahrheit. Nach all der Zeit, in der ich ignoriert hatte, was um mich herum geschah, in der ich vor meiner Vergangenheit geflohen war - vielleicht spürte ich jetzt endlich, was wirklich in mir war, nachdem ich die Siegel gelöst hatte, die all das in mir gestaut gehalten hatten. Vielleicht hatte Maja recht, und vielleicht war die Flut nur das Eis, das zu schmelzen begann, um den Frühling kommen zu lassen. Doch ich fühlte mich innerlich nicht so als könne ich erblühen, als könne ich etwas entwickeln. Ich fühlte mich als wäre ich ein schwaches, verdrehtes, ausgebranntes Etwas, für das es keine Rettung gab. "Möchtest du darüber reden?", fragte Maja sanft. Meine erste Reaktion war, dass ich auf gar keinen Fall über irgendetwas sprechen wollte, was vorgefallen war. Doch meine Kehle machte mir einen Strich durch die Rechnung, als sie ein schnelles "Ja" keuchte, und auch wenn sich Teile von mir sträubten, überhaupt noch weiter zu bohren, und mich aufforderte, alles ruhen zu lassen. Ich vertraute Maja, und wenn ich mich jemals bereit gefühlt hatte, über das zu sprechen, was in mir vorging, dann war es jetzt. Jetzt, als ich fühlte. Majas warmer Körper, ihr Duft, ihr leiser Atem ließen mich fühlen. Hielten mich. Ich fühlte mich sicher bei ihr, und ich hatte das Gefühl, sie war die einzige, die es schaffen könnte, die Leere in mir zu heilen. Ich wollte, dass sie es wusste, dass sie alles wusste, dass sie mich sah. Nicht mein Äußeres, sondern mein Inneres. Ich wollte mich ihr zeigen, und wissen, was sie von mir halten würde. Selbst wenn sie sich von mir abwenden würde, ich wollte sie nicht länger anlügen, ihr etwas verschweigen. "Ich ..." Wo sollte ich nur anfangen? Es war so eine lange Geschichte, ich hatte keine Ahnung, an welchem Punkt ich ansetzen konnte. Doch dann begann ich einfach. "Mein Bruder wird Vater, und meine Reaktion darauf ist es, wegzurennen und ihn zurückzulassen. Meine Mutter liegt im Sterben, und ich renne einfach vor ihrem Krankenzimmer davon. Und heute wollte ich sie sehen, und Alexander hat mich nicht gelassen, und dann hat er all diese Sachen gesagt, und dann ... dann hab ich ihn angeschrieen und es ihm gesagt." "Was hast du ihm gesagt?" Maja bohrte nicht, es klang fast, als würde sie nur nach dem Wetter fragen. Als hätte ich ihr gerade nicht von einem Familiendrama erzählt, sondern davon, welche Temperaturen wir gerade draußen hatten, und sie wollte wissen, welche wir morgen haben würden. Sie fragte einfach nach. "Dass ich sie liebe. Seine Frau. Seit 15 Jahren. Und dass sich das nie geändert hat." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Maja war so dicht bei mir, dass sie jedes Wort verstand. Noch immer sagte sie nichts, was über die Situation wertete. Sie nickte einfach, ich spürte es, und streichelte mir weiter sanft über den Rücken. Es hatte eine starke Wirkung auf mich, meine verkrampften Schultern entspannten sich, ich atmete ruhiger. Schloss die Augen. Und irgendwie wurde es so leichter, zu reden. "Es ist die Wahrheit. Nur deswegen bin ich gegangen, nach Hamburg, und ... habe hier alles zurückgelassen. Ich komme eigentlich aus München. Und ich habe meine ganze Familie zurückgelassen und ignoriert, und jetzt wird meine Mutter sterben, und ich war nicht für sie da, und vielleicht werde ich sie niemals wieder sehen, weil ich mich so dumm aufgeführt habe, und noch immer meinen Bruder beneide. Und er hasst mich. Wir standen uns so nahe, und meine Eifersucht hat alles kaputt gemacht. Und jetzt weiß er es. Was denkt er jetzt von mir?" Ich wurde schneller, lauter. Panischer. "Shh." Maja ließ mich los, lehnte sich etwas weg und legte mir einen Finger auf die Lippen. Ich blinzelte, hielt inne, und sah sie einfach nur an. Die Wand verschwand, die es unmöglich machte, über den Moment hinaus zu leben. Stattdessen wurde die Gegenwart wieder zu dem wichtigsten, als ich ihr in die Augen sah, und zu einer Sekunde, in der die Leere verstand. Majas Blick war so intensiv, ich konnte mich nicht davon losreißen. "Ganz ruhig. Eines nach dem anderen. Das Wichtigste ist es jetzt, dass du deine Mutter noch einmal sehen kannst. Du wirst es dein Leben lang bereuen, wenn du nicht noch einmal mit ihr sprechen konntest. Mit deinem Bruder kannst du deine Konflikte noch klären. Es ist niemals zu spät, um zu verzeihen. Und die Wahrheit war ein erster wichtiger Schritt dahin. Gib eure Beziehung zueinander nicht völlig auf, aber schiebe es beiseite, nur für den Moment. Richte deinen Blick auf das Wichtigste, und nur darauf. Eines nach dem anderen, hörst du?" Sie strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, und ich konnte nichts weiter tun als sie anzusehen. Womit habe ich dich verdient? Der Gedanke lag mir auf den Lippen, doch ich sprach ihn nicht aus, ich konnte nicht mehr sprechen. Ihre schiere Anwesenheit machte mich sprachlos, und die Art, wie sie plötzlich alles in die rechten Bahnen lenkte, wenn es mir schien, als würde es nicht weitergehen. "Ich begleite dich. Wir gehen zusammen, und du wirst mit deiner Mutter sprechen, und ich werde auf dich warten. Und danach sehen wir weiter, okay? Du bist nicht allein, Sasha. Ich bin hier. Ich lasse dich nicht allein." Ich nickte stumm, nahm die Hand, die sie mir entgegen streckte, und folgte ihr aus dem Zimmer. Es war als brächte Maja die Farben mit sich in die graue Krankenhauswelt. Es war der Hauch ihres Duftes, der sie begleitetete, der meine Lungen davon abhielt sich schmerzhaft zusammenzuziehen. Ihre Hand hielt meine fest, während sie zielstrebig durch die Gänge schritt, den Kopf erhoben, und ich neben ihr her trippelte als wüsste ich ohne sie nicht einmal, was ich hier tat. Ich hatte Angst. Ich krallte mich an ihre Hand als wäre sie das einzige, was mich beschützen konnte, als würde irgendetwas Schreckliches passieren, wenn ich nicht in ihrer Nähe blieb. Ich wollte Alexander nicht sehen. Ich wollte nicht wissen, wie meine Mutter reagierte. Ich hatte Angst mit ihr zu reden. Ich hatte Angst nie wieder die Chance zu haben mit ihr zu reden. Ich hatte Angst sie endgültig zu verlieren, die Möglichkeit, sie doch wieder anzurufen, oder ihr eine Karte zu schicken, irgendetwas. Die Möglichkeit zu verlieren, doch noch neue Fotos in die Alben zu kleben, auf denen wir zusammen lachten. Sie war doch noch nicht einmal alt. Nicht so alt. Nicht alt genug, um im Sterben zu liegen. Wir betraten die Station, und Maja zog mich bis vor die Tür, klopfte kurz und öffnete sie bereits, noch bevor die Panik in mir sich verschlimmern konnte. Ich wollte nicht hier sein. Ich konnte nicht hier sein. Ich konnte das nicht. Andreas war im Zimmer, er saß vor einem Bett, unter dessen weißer Decke zwei Füße hervorguckten, die in selbstgestrickten Socken steckten. Dieses Detail schnürte mir die Kehle zu, viel mehr noch, als Alexanders gesamte Anwesenheit es überhaupt tun konnte. "Ich bin gleich zurück, Mutter." Er richtete sich rasch auf, kam mit großen Schritten zur Tür und schloss sie hinter sich, noch bevor ich einen Schritt ins Zimmer tun konnte. Abermals versperrte er sie, und ich fragte mich, wann es endlich genug wäre. Meine Anwesenheit hatte er meiner Mutter gegenüber mit keinem Wort erwähnt, wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass ich hier war. Maja drückte meine Hand kurz und straffte die Schultern. Alexanders Blick blieb an unseren Händen hängen, er wirkte irritiert, dann sah er mich wieder an, und die altbekannte Wut zeichnete sich in sein Gesicht. "Was soll das?" Ich sah zu Maja, deren klare Stimme Alexander einfach das Wort abgeschnitten hatte, bevor er überhaupt zu sprechen anfangen konnte. Er blickte verdutzt. "Machen Sie bitte Platz, Sasha möchte ihre Mutter sehen. So weit ich weiß wollte sie das gestern schon tun, und heute Vormittag." Alexander war viel größer als sie, aber er schien mir ihr gegenüber merkwürdig ... klein, fast schon. Es war mehr ein Gefühl als etwas, was ich sehen konnte, doch es war da. Irgendwie war es da. "Mutter hat geschlafen, und ich verlange Respekt ihren Bedürfnissen gegenüber. Sasha muss irgendwann lernen, auch an ihr Umfeld zu denken statt nur an sich selbst. Sie haben offensichtlich weder eine Ahnung von meiner Familiengeschichte noch von der ... Biographie meiner Schwester. Darum würde ich Sie bitten, sich rauszuhalten. Dies ist eine Familienangelegenheit." Sein Tonfall war kalt, und es schwang eine gewisse Arroganz mit. Maja lächelte kühl. "Wenn die Bedürfnisse Ihrer Mutter Ihnen derart wichtig sind, fände ich es angebracht, sie selbst zu fragen statt ihr diese Entscheidung abzunehmen, oder sehen Sie das anders?" Sie hatte ihn schachmatt gesetzt, mit seinen eigenen Argumenten geschlagen. Ich hätte fast gelächelt, wenn ich nicht so angespannt gewesen wäre. Es war faszinierend, wie einfach sie ihn ausgetrickst hatte. Alexander blinzelte, dann räusperte er sich. "Das ... das ..." Maja trat einen Schritt vor. "Jetzt machen Sie schon Platz", schnappte sie, nun weit weniger ruhig, und tatsächlich ging mein Bruder zur Seite ohne noch einen Ton von sich zu geben. Maja öffnete die Tür und schob mich in Richtung des Zimmers. "Geh rein. Sprich mit ihr. Denk dran, eines nach dem anderen." Mir schwindelte nahezu, ich fühlte mich nicht als würde ich über festen Boden laufen. Eher über ein schwankendes Schiff, mit glitschigen Planken, von denen ich fast abrutschte, nur um in die tosenden Wellen zu stürzen. Und ich wusste, ich würde von ihnen verschlungen werden, wenn ich fiel. Ich würde tiefer in das Meer hinab sinken und meine Lungen würden wieder brennen, nach Sauerstoff ächzen. Sie taten es jetzt schon. Als hätte mich das Meer schon verschlungen. Hinter mir hörte ich noch Majas Stimme, die sich durch all das brannte wie ein heißer Sonnenstrahl, selbst als sie nicht mit mir sprach. "Und wir beide reden jetzt einmal über Ihre Schwester und deren Biographie" Ich schnappte nach Luft. Da war kein Meer. Alles war gut, es war doch nur ... ich war doch nur hier, um Abschied zu nehmen von einer Frau, die ich im Stich gelassen hatte, nachdem sie alles für mich gegeben hatte ... Die Tür hinter mir schloss sich, und über den Schwindel hinweg registrierte ich wieder die Füße in den Wollsocken, alten, abgetragenen Wollsocken. Ich dachte nicht mehr an das Meer, nicht mehr an einne Ozean, in dem ich versank, der mich erstickte. Ich dachte an Flammen, die sich an meiner Kindheit satt fraßen, die sich davon nährten, dass sie sie zu Asche verbrennen würden. Ohne meine Mutter gab es nichts mehr zu retten. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Wasser und Rauch in meinen Lungen, um die Luft zu verdrängen, die mich am Leben hielt. Ich wollte eigentlich rennen, doch ich traute mich nicht, machte winzige Schritte. Mein Herz hämmerte und ich hatte das Gefühl jeden Moment einfach umzufallen, und gleichzeitig wollte ich doch nur endlich, endlich, endlich meine Mutter wiedersehen. "Mama ... ?", fragte jemand. Nicht ich. Ein kleines, verängstigtes Mädchen erhob seine Stimme aus mir, und ich hatte das Gefühl, diese Kleine war ehrlicher als ich es die letzten Jahre gewesen war. Und sah klar zwischen all dem Rauch. Streckte die Arme nach der Mutter aus, denn sie war die Antwort. Bei ihr waren wir beide sicher. Das kleine Mädchen und ich ... "Mama!" Meine Schritte wurden lange, schnelle Schritte, taumelnd blieb ich stehen, stützte mich rechts und links neben dem Gesicht meiner Mutter ab, um nicht einfach auf sie zu kippen. Sie sah so abgezehrt aus, so anders. So eingefallen, so ... alt. Als wäre sie wirklich eine alte Frau. Aber das konnte doch nicht sein. Wie hatte die Zeit so schnell vergehen können? Wie hatte ich so wachsen können? Wieso waren meine Beine so lang? Mein Schluchzen so ganz anders als damals, und auch die Gründe dafür? Einst weinte ich doch einfach nur, weil ich mir ein Knie aufgeschlagen hatte ... Wieso waren die Augen meiner Mutter dieselben geblieben, deren Wärme sich in mich brannte, mich nahezu brandmarkte als die Tochter, die sie niemals von sich stoßen würde? Wieso nahm die sanfte Überraschung, die Freude in ihren Augen, das faltige Lächeln um ihre Mundwinkel den Rauch und das Wasser aus meinen Lungen? Wieso presste es die Tränen in meine Augen? Eine Träne fiel auf ihr Gesicht, und es tat mir Leid, aber ich konnte nicht anders. "Mama, Mama ...", weinte ich, keuchte, versuchte die Worte hervorzudrängen. "Es tut mir so Leid, es tut mir alles so unendlich Leid, Mama ..." Ich bettete meinen Kopf auf ihrer Brust, sodass ich ihr Herz unter meinen Ohren schlagen hören konnte, ihr Herz, das niemals damit aufhören durfte. "Sasha, meine kleine Tänzerin ..." Ihre Stimme war leise, kaum vorhanden, als hätte sie nicht mehr wirklich genug Luft übrig, um sie für diese Worte aufzuwenden. Diese Tatsache grub sich in mein Herz wie dunkle Klauen, doch es strebte dennoch weiter meiner Mutter entgegen. Sie roch so sehr nach Krankenhaus, aber unter all den fremden Gerüchen haftete noch immer diese Note an ihr, dieser Hauch von Zuhause und Wärme, dieser Beiklang von Sicherheit, Schutz, von bedingungsloser Liebe. Wie hatte ich sie jemals verlassen können? Wie hatte ich so dumm sein können? Dumm war kein Ausdruck. Egoistisch, zerstörerisch, erbärmlich, emotional verkrüppelt, ein Nichts, ein verdrehtes Etwas, eine verlorene Tochter, die sich selbst weggeworfen hatte, und damit alle verletzt, ich - "Ich bin so froh, dass du hier bist ..." Ich konnte einfach nicht aufhören mich an sie zu schmiegen und zu schluchzen. Alexanders Stuhl stand noch neben dem Bett, auf den ich mich niederließ und einfach verharrte, die Hand meiner Mutter suchte, sie fand, verkabelt, wie sie war, und die Finger darum schloss. Als könne ich sie so für immer festhalten ... als könne ich sie so ... retten. Oder mich retten? "Es ist gut, Kleines. Es ist schon gut ..." Nichts war gut. Doch ich sprach hier nicht mit irgendjemandem. Es war meine Mutter, die zwar kaum noch einen lauten Ton hervorbrachte, aber deren Art die Worte auszusprechen noch immer dieselbe Autorität hatte, und deren Entscheidungen schon immer weise gewesen waren, und respektiert wurden. Sie sagte es, und ... das Kind vertraute ihr. Es nickte artig und wurde ruhiger. "Ich bin nur froh dich noch einmal zu sehen ..." Mama hustete ein schreckliches, langes Husten, das meinen Kopf heben ließ. Es schüttelte ihren ganzen Körper, Mama kniff die Augen zusammen, und ich fürchtete fast, sie jetzt zu verlieren, klammerte mich weiter an ihre Hand, wollte schreien, als das Husten langsam verebbte. Sie lag da, sah schrecklich angestrengt und erschöpft aus. Als müsse sie sich erholen. Als hätte dieser Husten alles in ihr erschüttert. Sie wusste, dass sie sterben würde. Wir beide wussten es. Es trommelte tief in mir, ein unruhiger Rhythmus, asynchron zu dem meines eigenen Herzens. Warum konnte ich dennoch nur diese Worte sagen? "Geh nicht, bitte, bleib hier, du kannst nicht gehen ..." Ihre Augen waren halb geschlossen, ihre Stirn glänzte vor Schweiß, und doch waren ihre Hände eiskalt. Das Lächeln meiner Mutter war eine Spur zu müde, eine Spur zu melancholisch, um mich wirklich aufzumuntern. Es antwortete mir, sagte mir, dass das Leben so nicht spielte, dass man es akzeptieren musste ... dass sie es akzeptierte. Während ihre Stimme etwas anderes krächzte. "Alexander ... und du ... ihr seid ..." Sie hustete erneut, und ich hatte schreckliche Angst, dass sie nicht mehr diesen Satz beenden würde können. Aber irgendwie schaffte sie es doch. "Alles. Alles Gute in meinem Leben. Das Beste ..." Mutters Augen fielen zu, und ich hatte das Gefühl, dass ich sie nicht weiter hier festhalten würde können. Dass ich sie gehen lassen musste, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob sie je zurückkehren würde. "Passt aufeinander auf ..." Ihre Stimme war so leise, ich verstand ihre Worte nur, als ich mich ganz, ganz nah zu ihr beugte. Panik wallte in mir auf, stärker denn je. Sie blieb stumm. War sie etwa - war sie gegangen, jetzt, einfach so?! Ich legte mein Ohr wieder über ihr Herz, atmete ihren Geruch ein unter den anderen. Ein träger Rhythmus, zaghaftes Klopfen. Sie war noch hier. Wieso fühlte ich mich dann noch immer so? Wieso wurde die Welt nicht heller dadurch, dass ihr Herz noch schlug? Weil du Zeit schindest ... weil sie gehen wird ... irgendwann ... bald. Ich weinte nicht mehr. Starrte sie nur an, fühlte mich leer und so verletzlich zugleich, so verdammt verwundbar. Und verwundet. Mein schlechtes Gewissen kippte sich über alles wie Säure, fraß alles auf, zerstörte alles. Dieses komische, verdrehte Etwas in mir löste sich auf ... wurde zu einem ... Nichts. Tief in mir drin. Ich spürte den Schnee schon fast, seine eiskalte Decke. Das Nichts unter dem Eis. Und irgendwo in mir schlief das Kind friedlich, und erfror das Ich, das Jetzt ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)