Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Draußen zog die Landschaft vorbei. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin wir fuhren. Es war mir egal. Ich brauchte es nicht einmal zu wissen. Maja war bei mir. Sie hatte meine Hand genommen und mich geführt, während ich hinter ihr her gestolpert war ohne mich auch nur einmal zu fragen wohin wir gehen würden. Erst hatte sie mir einen warmen Kakao in die Hand gedrückt, dann hatte sie mich weiter geführt, in eine S-Bahn, die von einem Bahnhof abfuhr, den ich alleine nicht einmal gefunden hätte. Vieles hatte sich verändert ... Und nun saßen wir hier, sagten kein Wort. Sie hielt meine Hand und strich mit ihrem Daumen über meine Handfläche. Leises Summen drang an meine Ohren. Die Tränen waren längst getrocknet, allein ihre Anwesenheit hatte mir mehr geholfen als ich es ihr zu gestehen wagte. Alles schmerzte viel weniger, schien viel weiter weg. Maja wusste nicht, was ich getan hatte. Sie wusste nicht, dass ich selbst Schuld an alldem war. Dass ich meinen Bruder so lange von mir gestoßen hatte, bis er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Und sie hatte keine Ahnung, dass die Frau meines Bruders schnwanger war. Schwanger. Sie erwarteten ein Baby. Ich würde Tante werden. Und alles, was ich fühlen konnte, war der Drang zu weinen. Es wunderte mich nicht, dass mein Bruder mir nicht verzeihen konnte und wollte. Er hatte alles Recht dazu. Ich benahm mich völlig daneben, als hätte man mich irgendwann einfach falsch programmiert. Aber ... das hatte man ja. Irgendwie. Kraftlos lehnte ich mich an Maja, und sie legte ihren Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. "Danke", murmelte ich, "Danke, dass du all das für mich tust." Ich wusste nicht, was ich ohne Maja gewesen wäre. Ohne sie wäre ich sicherlich schon längst zusammengebrochen. Nur sie hielt mich irgendwie hier, mit ihren Melodien, den Berührungen, der bedingungslosen Zuneigung, die sie mir entgegen brachte. Einfach so. Womit hatte ich das verdient? Ich verdiente es nicht, wie sehr sie sich um mich kümmerte. Und ich fürchtete mich davor, dass sie herausfinden würde, dass ich es nicht verdiente, genauso wie davor, dass sie es nicht herausfinden würde, und ich sie immer weiter ... anlügen würde. Ein Trugbild sein. Immerhin hatte ich die Fehler gemacht. Immerhin war ich gegangen. Immerhin war ich es, die ihren Bruder von sich stieß. Und die ihre Mutter selbst dann ignoriert hatte, als sie krank geworden war. Wieso war ich nicht einfach zurückgekehrt als es noch nicht zu spät gewesen war? Ich verdiente keine Fürsorge. Ich sollte auf mich allein gestellt sein, ich sollte weinen und schreien und meine Schuld tragen. Stattdessen ließ ich mich von Maja entführen, atmete ihren süßen Duft ein und ließ meine Last von ihr erleichtern. "Ich habe es dir doch schon einmal gesagt, Wintermädchen. Danke mir nicht." Ich blinzelte, löste mich etwas von ihr, um sie ansehen zu können. "Wieso nennst du mich so? Wintermädchen, meine ich?" Maja lächelte sanft, und in ihren Augen sah ich eine Wärme, die mir die Kehle zuschnürte. Dann deutete sie nach draußen. "Siehst du die grünen Blätter an den Bäumen?" Natürlich sah ich sie. Majas Frage irritierte mich etwas, doch ich nickte bloß. Was hatte das mit meiner Frage zu tun? "Nein, ich meine nicht deine Augen. Natürlich hast du schon einmal grüne Blätter gesehen. Ich meine damit, ob du weißt, was es mit ihnen auf sich hat. Ich frage dich, ob du dich jemals auf die Natur eingelassen hast und darauf, was sie uns lehrt." Sie sah mich an, und ein feines, fast schon amüsiertes Lächeln umspielte nun ihre Lippen. Maja konnte an meinem Gesichtsausdruck sehen, dass ich mich nicht nur niemals damit auseinander gesetzt hatte, sondern dass ich sie auch für ein kleines bisschen verrückt hielt. Eventuell auch ein größeres bisschen. Maja stand auf, zog mich an der Hand mit. "Komm mit. Es dir hier zu erklären würde keinen Sinn machen." Ich fragte mich, ob Maja gewusst hatte, was sie tat, als sie einfach ausgestiegen war, wie mir schien, an einer zufälligen Haltestelle. Ich hoffte nur, dass wir zurückfinden würden, denn wir wanderten eine ganze Weile einfach nur umher, und noch immer sagte sie kein Wort. Mir fiel auf, dass es hier recht abgelegen war. Ganz anders als die laute, lärmende Innenstadt von München. Die Natur war tatächlich weit präsenter, es war ruhiger. Die Luft klarer. Sie füllte meine Lungen und ließ mich ein Gefühl von Freiheit spüren, das so ganz anders war als die Ketten, die ich im Krankenhaus mit mir trug. Ich ignorierte den Gedanken daran so gut wie nur irgendwie möglich. Jetzt war ich hier, jetzt war dies weit weg, an einem Ort, den ich nicht eiinmal aus der Vergangenheit kannte. Ein ganz neues München für mich. Irgendwann hielt Maja plötzlich an. Wir standen vor einer Grünfläche, über die verteilt die unterschiedlichsten Bäume standen und ihre Kronen zum blauen Himmel reckten. Die warme Luft schmeckte nach dem Versprechen eines nahenden Sommers. Es war Spätfrühling, und um uns herum stand die Natur in voller Blüte. Das Gras vor mir war durchzogen von Gänseblümchen und Löwenzahn, zwischen den Blüten summten die Bienen umher. Fragend blickte ich zu Maja, die sich auf den Boden vor mir kniete und sich über meine Füße beugte. Was tat sie da? Ihre plötzliche Nähe, und diese Geste, die mir unheimlich intim vorkam, ließen mich erröten. "Ähm -", stieß ich verlegen hervor, doch fand keine Worte, die ich hätte sagen können. Stattdessen wartete ich atemlos ab, was sie vorhatte. Ihre Finger fanden die Schnürsenkel meiner Turnschuhe und öffneten sie, erst links, dann rechts. "Heb dein Bein", forderte sie sanft, und völlig perplex tat ich, wie mir geheißen. Der Klang ihrer Stimme lullte mich ein. Majas Finger streiften meine Haut, als sie mir den Turnschuh vom Fuß streifte, und kurz darauf die Socken. Die plötzliche Luft an meinen Zehen, und die zarte Berührung einer so ungewöhnlichen Stelle, ließen mich erschaudern. Maja tat dasselbe mit dem anderen Bein, und plötzlich stand ich barfuß auf dem Teer. Ich spürte an meinen nackten Fußsohlen überdeutlich die Unebenheiten und kleine Steinchen, die darauf lagen. Irgendwie kam ich mir nackt vor. Maja hingegen lachte befreit, als auch sie sich die Schuhe von den Füßen streifte. Ich warf einen nervösen Seitenblick auf die anderen Leute ringsumher, die es sich gemütlich gemacht hatten, lasen oder mit ihren Kindern tobten. Was würde man von uns halten? "Lassen wir sie hier liegen, wir können sie nachher holen. Komm mit, Sasha." Maja begann rückwärts in die Wiese hinein zu laufen, die Hand nach mir ausgestreckt. Ich machte einen raschen Schritt voraus und griff nach ihrer Hand, doch gleichzeitig hatte ich Scheu, völlig ungeschützt durch die Wiese zu laufen. "Wir können doch nicht - was, wenn wir in Steine treten? Oder auf eine Biene?" Maja jedoch führte mich einfach weiter, und setzt ihre Füße furchtlos zwischen die Grashalme und Blüten. "Hab keine Angst. Du musst dich nur darauf einlassen. Trample nicht durch die Welt als wärst du die einzige, die existiert. Nimm Rücksicht auf deine Umwelt, setze deine Schritte bedacht, und nichts wird geschehen, außer dass du fühlst." Sie lachte abermals auf, so offen und frei, dass es mein Herz einen frohen Satz machen ließ. Auch ich musste lächeln, und setzte unsichere, vorsichtige Schritte, um ihr zu folgen. Majas Wangen waren gerötet und ihre Augen funkelten. Sie war begeistert darüber, dass ich mich darauf einließ. Und sie war glücklich, unheimlich glücklich darüber, mit nackten Füßen über die weiche Wiese zu laufen und den Sonnenschein zu genießen. Ich beneidete sie darum, so viel Freude an solch einfachen Dingen zu finden, und bewunderte sie gleichzeitig dafür. Es fühlte sich aufregend an sich mit ihr auf solch neue Dinge einzulassen. Irgendwie prickelnd, neu, anders. Ich schloss die Augen und stolperte einige Schritte weiter, meiner Sache noch immer nicht ganz sicher, aber versuchte zu fühlen, was sie fühlte. Versuchte zu verstehen, was sie daran fand. Weshalb es einen Menschen dazu bringen konnte so aufzulachen wie sie es tat. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ihre Euphorie zumindest etwas nachvollziehen zu können. Das Gefühl von Freiheit flatterte hinter mir her wie Seidenbänder, die an meine Handgelenke gebunden waren. Und mit jedem weiteren Schritt schien ich das Grau hinter mir zu lassen und aufzugehen in den Farben, die Maja mir zeigte. Der Knoten in mir, die brodelnde Panik, nichts davon hatte noch Bedeutung. Maja ließ sich nun auf den Boden fallen, und blinzelte hoch zu der mächtigen Baumkrone einer Eiche, während ich mich beeilte, ihr nachzukommen, und fast auf den Boden neben sie fiel, weil sie meine Hand noch immer festhielt. Sie grinste mich fröhlich an, und ich fühlte, wie ich zurück grinste, und mich etwas bequemer hinsetzte. Ich lehnte mich ebenfalls an den Baumstamm, und spürte die Rinde im Rücken. Über uns sangen Vögel, und andere antworteten von überall her. "Ich liebe den Frühling", seufzte Maja. Ich lächelte nur stumm, und eine Weile saßen wir einfach nur nebeneinander im Gras. Ich konnte nicht mehr aufhören mit den Zehen zu wackeln. So viel Freiheit und frische Luft waren sie nicht gewöhnt, ganz und gar nicht gewöhnt, aber ich empfand es nicht als schlecht sie ihnen zu gönnen. Es fühlte sich schön an. Zwischen Majas Zehen hatte sich ein Gänseblümchen verfangen, doch sie tat nichts dagegen, sondern ließ es ihre Füße schmücken. Ich konnte den Blick nicht abwenden davon. Seien es nur ihre Füße, sie war schön, das wurde mir jetzt schon fast schmerzhaft bewusst. Und sie war so viel stärker als ich. Weshalb war sie für mich da? Weshalb tat sie all das für mich? Ich hörte es mich laut aussprechen. "Warum hilfst du mir? Wieso bist du so gut zu mir?" "Hattest du nicht eigentlich eine andere Frage?" Majas Lächeln blieb, doch ihr Blick verlor sich in der Ferne, und ein trauriger Zug schlich sich in ihr Gesicht. Ihre Stimme klang anders, als sie nun sprach. Sie hatte den Klang verloren, der vor Freude übersprudelte, dennoch erschien er nicht wirklich traurig, eher ... neutral, obwohl der Gegensatz zu vorher den Eindruck verstärkte, dass es ihr ernst war. Ihre Worte wirkten bedacht gewählt, vorsichtig gesprochen auf mich. "Ich weiß nicht, es ... ich schätze, ich hätte es mir auch gewünscht, als ich Hilfe brauchte. Jemand, der für mich da ist. Jemand, der mich hält, und mir sagt, dass alles gut ist, bis es endlich so weit ist. Es ist hart, darauf zu warten, wenn man allein ist. Es ist hart, daran zu glauben, wenn niemand da ist, der einem dabei hilft." Sie seufzte. "Ich möchte nicht, dass es dir so geht wie mir. Ich habe mir ... Ventile gesucht, damals, auf die ich nicht stolz bin. Angewohnheiten entwickelt, gegen die ich lange kämpfen musste. Ich möchte dich davor bewahren." Sie wandte sich mir zu. "Klingt das verrückt? Wir kennen uns nicht einmal. Aber als ich dich sah, da habe ich einen Teil von dem wiedererkannt, was damals in mir war. Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es auch dich bekommt." Ich wusste nicht, was ich ihr darauf antworten sollte. Sie machte mich sprachlos, und es fiel mir schwer nachzuvollziehen, wovon sie sprach. Was meinte sie damit? Von welchen Ventilen sprach sie? Doch irgendwie schien Maja zu verstehen, was ich gerade fühlte, dass ich verwirrt war, und eigentlich gerne wissen wollte, warum sie mir das sagte. Und so rutschte sie etwas näher zu mir, und ich sah, wie sie den Reißverschluss ihrer dünnen Jacke öffnete und sie sich von den Schultern streifte. Dann zeigte sie mir ihren Arm. Erst fiel mir nichts auf, doch plötzlich realisierte ich, was ich sah. Feine, weiße Narben, manche kaum sichtbar, andere breit und eher auffällig verheilt. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. "Es gibt viele Wege, die Menschen einschlagen, um der Dunkelheit zu entgehen", meinte Maja einfach. "Dies ist nur einer davon, und wie jeder in dieser Situation, so habe auch ich damals nicht bemerkt, dass er mich nur tiefer in die Dunkelheit führt. Und eine Last ist, wenn bessere Zeiten abrechen. Und diese besseren Zeiten damit zu verbringen von den Fehlern der Vergangenheit loszukommen ..." Vielleicht hätte ich es ihr jetzt sagen sollen. Dass ich viele Fehler gemacht hatte, von denen ich loskommen hatte wollen, doch ... mit denen ich nur immer mehr Fehler begangen hatte, so lange, bis es nichts mehr zu retten gab. Doch ich war noch immer schockiert davon, was sie mir gezeigt hatte. Und hatte keine Ahnung, was ich sagen könnte dazu. Hier ging es um sie, nicht um mich. Sie streifte sich die Jacke wieder über, doch machte den Reißverschluss nicht zu. Maja kniete sich vor mich, um mir besser in die Augen sehen zu können. Ihr Blick hielt mich gefangen. "Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin ein Fürhlingsmädchen geworden. Ich bin wieder im Licht angekommen, und mein Inneres erblüht, so wie diese Wiese hier. Grüne Blätter sprießen an kahlen Zweigen, und die Bienen summen in mir und treiben mich an, weiterzumachen. Du jedoch, Sasha ..." Sie nahm meine Hände in ihre. "Du bist ein Kind des Winters. In dir ruht der Schnee, der schmelzen muss, bevor der Frühling wieder anbrechen kann. Du schläfst noch, dein Inneres schläft, obwohl es eigentlich darauf wartet zu dieser Wiese zu werden, zu sprießen und zu wachsen. Deswegen nenne ich dich Wintermädchen. Und deswegen meinte ich - sieh dir die Natur an. All diese Jahreszeiten gehören zum Kreislauf des Lebens dazu, ohne den Winter könnte die Erde nicht ruhen, und hätte nicht genug Kraft, im Frühling neue Triebe erblühen zu lassen. Jeder braucht den Winter. Er ist nichts Schlechtes. Doch man muss den Mut haben, ihn hinter sich zu lassen, und manchmal ... da braucht es auch ein wenig Hilfe, weil man eingefroren ist. Zum Stillstand gekommen. Ich weiß nicht genau, was es ist bei dir, aber ... deswegen helfe ich dir. Ich möchte dich wärmen, damit der Schnee schmilzt und du dich dem Neuen öffnen kannst. Ich möchte dich erblühen sehen." Sie rutschte etwas zurück, ganz so, als wäre alles normal. Als wären mir nicht die Tränen in die Augen getreten wegen ihrer Worte. Als hätte sie mich nicht sprachlos gemacht, mein Herz zum Schlagen gebracht, mein Innerstes aufgewühlt. Maja rutschte neben mich, lehnte sich wieder an den Baum. Ich legte den Kopf an ihre Schulter,sie legte ihren Arm um mich, und gemeinsam saßen wir, und ich fühlte mich wund, aber beschützt, geborgen und ihr auf eine rätselhafte, tiefgehende Weise verbunden. Ich war ruhig und entspannt, und hatte das Gefühl, die Sonne schien schon herab bis in meine Seele. Als hätte Maja ihr den Weg dorthin geebnet. Wir warteten in Stille bis die Sonne so weit gewandert war, dass der Wind uns frösteln ließ. Erst dann liefen wir zurück über die Wiese, schlüpften in unsere Schuhe und fuhren zurück in die Stadt. Zum Abschied zog sie mich abermals in ihre Arme. Ich schmiegte mich an sie, ganz nah, dann trennten wir uns langsam voneinander, sahen uns an, lächelten. Ich lief wie auf Wolken Richtung Aufzug, doch schon als ich mein Zimmer aufschloss, spürte ich, wie Majas Abwesenheit sie ergrauen ließ. Die Wände waren viel zu nah, und der Teppich kratzte unter meinen Füßen, als ich die Schuhe auszog, was unangenehm war. Mir war kalt, als ich unter die Decke schlüpfte, und der fremde Baumwollstoff legte sich kühl auf mich. Es schien fast greifbar, diese Metapher, dass ich im Schnee ruhte. Ich hatte Lust, die Decke von mir zu strampeln, den Schnee loszuwerden ... doch das war albern, meine eigene Körperwärme machte auch die Decke warm, unter der ich mich sicher fühlte, und die mich warm hielt ... Ich träumte von grünen Blättern, Sonnenschein, Tatjanas Gesicht und Alexander, der weinte, ohne dass ich ihn erreichen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)