The Darkside von somali77 ================================================================================ Kapitel 64: Der Tod und das Mädchen (Sai, Sakura) ------------------------------------------------- ~ Er sah ihr beim Schlafen zu. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Wenn er die Finger ausstreckte, und langsam über ihr Gesicht bewegte, konnte er den warmen Luftzug spüren, der die Schlafenden von den Toten unterschied. Erstaunlich, dass sie es überhaupt fertig brachte zu schlafen. Gut, die Medikamente die sie bekam, waren sicher daran nicht unbeteiligt. Aber im ersten Moment, als sie ihn mit diesem weiten, entsetzten Blick angestarrt hatte, hätte er darauf wetten können, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen würde, so lange er hier war. Und auch wenn ihn ihre Begrüßung ein wenig enttäuscht hatte- er hatte es verstanden. Ein verletztes Reh machte keinen Unterschied zwischen Wilderer und Wildhüter. Aber das Verhalten von Tieren war so viel leichter vorherzusehen, als das Verhalten von Menschen. Und weibliche Menschen hatte er immer besonders bizarr gefunden. Keins seiner Bücher hatte ihn darauf vorbereitet, dass ihre Todesangst sich im Bruchteil einer Sekunde in Aggression wandeln, und sie ihm zuflüstern würde: „Dann bring mich doch um, wenn du willst!“ Sie hatte noch eine Bezeichnung für ihn benutzt, die wahrscheinlich eher ein Schimpfwort als ein Spitzname war, auch wenn er den Unterschied zwischen beidem immer noch nicht ganz verstand. Und dann hatte sie- vorsichtig- versucht, sich von ihm weg, auf die andere Seite zu drehen. Sie hatte den Kopf ins Kissen gelegt und die Augen geschlossen, als würde sie sich abschotten wollen von seinem Anblick und allem, was dem noch folgte. Nichts Böses sehen. Nichts Böses hören. Nichts Böses sagen. Irgendwann im Laufe des Vormittags war jemand von der Polizei vorbei gekommen, der sein Glück versuchen wollte. Aber auch dort hatte sie stur geschwiegen. Es war die einzige Art, auf die sie noch eine gewisse Macht ausüben konnte, die wirkungsvollste Waffe, die ihr geblieben war. Totalverweigerung, wenn jeder von ihr erwartete, das gebrochene, willige Opfer zu sein. Den größten Ärger und die heftigste Irritation in ihrer Umgebung erreichte sie dadurch, gar nichts mehr von sich zu geben, und damit hatte sie wirklich Erfolg. Es war keine besonders kluge oder logische Entscheidung. Es war ein Impuls aus naiver, egoistischer Sturheit, aber vielleicht machte sie genau das so... er legte seinen Kopf schief ohne den Blick abzuwenden-... … interessant... Sai musste zugeben, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihren erstaunlichen Dickkopf unter der breiten Stirn irgendwie anzuerkennen. Natürlich war sie in diesem kleinen Spiel am unteren Ende der Nahrungskette, aber durch ihre schlichte Weigerung, sich weiter den Regeln der Anderen zu unterwerfen, schaffte sie es, zumindest für kurze Zeit, für etwas Aufregung und Turbulenzen zu Sorgen. Als sie ihm das erste Mal bei seinem mehr oder weniger zivilen Beobachtungsstandort vor die Füße gefallen war, hatte er nicht erwartet, dass ihn auch seine heimliche Zweitbeschäftigung wieder in ihre Nähe bringen würde. Der Sexshop war ein perfekter Ort für Verhaltensstudien aller möglichen und unmöglichen Auswüchse der Spezies Homo sapiens. Ein gemütlicher Hochsitz, von dem aus man einen guten Überblick hatte, und in dem es ihm nach all der langen Zeit so gut gefiel, dass er beinahe selbst vergessen hatte, dass er auch noch etwas anderes war, als Verkäufer und Comiczeichner. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass jemand erschreckt von Halluzinationen bei ihm Zuflucht gesucht hatte, nur um sich dort noch mehr zu erschrecken. Was die Drogen nicht an Schreckensbildern aus dem Unterbewusstsein wühlten, schafften die Kombination aus Alkohol, Schlafmangel und bizarrem Sex. Erst im Nachhinein hatte er über ihre Geschichte gegrübelt. Jemand mit einer Sense, hatte sie gesagt. Die Aussage war allgemein genug, um jedes mögliche Schreckensbild des Todes zu sein, wie es seit dem Mittelalter in den Köpfen- und seit der jüngeren Vergangenheit in kleinen Programmkinos - herumspukte. Auch der irre Blick in den Augen war eine vage Information, vage genug, um ihr keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Etwas anderes hatte ihn zum Nachdenken gebracht. Die Haare... … nach hinten gekämmt und grau, hatte sie gesagt... Und irgendetwas in den Tiefen seiner Hirnwindungen reagierte auf dieses Detail, aber noch lange nachdem er sie nach Hause begleitet hatte, wusste er nicht, was es war. Erst später- viel später, zu spät- als sein spezielles Handy geklingelt hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Es war Hidan. Schon Jahre her, seit er das erste Mal die geheimen Aufzeichnungen über ihn gelesen hatte. Seine genaue Herkunft und sein Alter waren unbekannt. Sein Äußeres schien natürlich zu sein und die einzige Vermutung wie das Erscheinungsbild zustande gekommen sein konnte, war eine seltene und unvollständige Form des Albinismus, die sich in grauen Haaren und dunklen, rubinroten Augen zeigte. Vergleichbare Fälle von Genmutationen gab es im Tierreich, bei Nagetieren oder Reptilien, aber bisher waren keine Fälle bei Menschen bekannt. Zumindest nicht, soweit er wusste. Das war die erste Merkwürdigkeit, die ihn faszinierte... Das zweite war seine Zugehörigkeit: über Hidans frühe Vergangenheit konnte nämlich nur gemutmaßt werden. Vermutlich hatte er schon in frühem Alter angefangen zu morden, vermutlich hatte er wie viele seiner Art an Tieren "geübt", bevor er sich auf menschliche Opfer spezialisierte... Seine Taten zeigten die typischen Merkmale eines Serienkillers- das Auswählen des Opfers und die Jagd, die Morde selbst, die er mit stark rituellem Charakter beging, die Art wie er auch seine Tatorte hinterließ: typisch waren der Kreis und darin ein gleichschenkliges Dreieck aus Blut auf dem Boden... Sai mochte dieses Zeichen irgendwie- Auf eine völlig wertfreie Art und Weise natürlich, jenseits von Moral und Verstand-... es war so wunderbar schlicht und symmetrisch. Er wusste aber außerdem, dass Hidan nie allein und ziellos herumtollte. Interessanterweise schien er so gar nicht richtig zu funktionierten- er war längst ein Werkzeug, ein abgerichtetes Monster: Der Höllenhund von Akatsuki. Und er war nie lange ohne einen Herrn unterwegs... Als er die Information bekommen hatte, dass es Grund zur Annahme gab, dass Akatsuki in die Stadt vorgedrungen sein könnte (sie verwischten ihre Spuren gut, aber stille Späher waren sehr aufmerksam), war ihm klar geworden, dass es nur noch wenig Hoffnung für das flachbrüstige, seltsame Mädchen mit dem rosa Haar und den erschrockenen Augen gab. Er hatte sich vorgestellt, wie sie unter Hidans Sense gestorben war, und der Gedanke war merkwürdig... unangenehm gewesen. Kurz darauf hatten sich die Ereignisse überschlagen: Hidan war in voller Aktion gesichtet worden, bei einer alten Fabrik, vor einer Menge von Polizisten- was für ein atemberaubender Anblick das gewesen sein musste. Wie einem weißen Hai auf offenem Meer beim Springen zuzusehen. Und Opfer waren aufgetaucht: Eins davon-... das rosahaarige Mädchen- lebend, was eine mittlere Sensation war. Natürlich hatte er sich sofort an ihren Namen erinnert. Er vergaß äußerst selten irgendetwas. Und natürlich hatte er sich sofort freiwillig gemeldet, als es darum ging, sie zu überwachen. Man ging davon aus, dass sie früher oder später zurück kommen konnten, um sie vollends zu töten, und andererseits hatte sie womöglich interessante Details mitbekommen, die wertvolle Hinweise lieferten... Sai brannte einerseits nach der langen Zeit seines Trainings und der erzwungenen Ruhe auf einen wirklichen Einsatz- immerhin war der Gegner einer von Akatsuki! Der Nervenkitzel, den es brachte, sich mit ausgerechnet ihm anlegen zu dürfen, war mit keiner Trainingssimulation vergleichbar. Und andererseits... … er warf noch einen Blick auf ihr Profil, während sie ruhig atmete und die Augen geschlossen hielt. Er hatte es interessant gefunden, sie wieder zu sehen... Wenn er ganz ehrlich war, hatte er sich sogar ein wenig auf die Begegnung gefreut. Dass sie jetzt glaubte, er hätte etwas mit ihren Peinigern zu tun, war vielleicht absehbar gewesen. Irgendwie, im weitesten Sinne, hatte sie ja sogar Recht damit. Aber bei all der Mühe, die er sich damit gegeben hatte, höflich zu sein und sie zu beruhigen hatte er gehofft, dass sie vielleicht... er war sich nicht sicher-... irgendwie anders war...? Nunja, vermutlich - war- sie ja anders. Sie hatte einem der berüchtigtsten Menschen in die Augen geblickt, und... lebte noch. Er brachte sie nur nicht dazu, etwas von dieser Andersartigkeit mit ihm zu teilen... Der Mann, der sich Sai nennen ließ, seufzte lautlos und ließ die Schultern hängen. Seine sozialen Fähigkeiten waren nun einmal leider- und das war ihm selbst klar- katastrophal schlecht. Sie wollte nicht mit ihm reden. Lieber sprach sie anscheinend mit niemandem mehr, und bei dem was passiert war, konnte man es ihr kaum verübeln. Jetzt schlief sie also- oder tat so als ob- und die dunkle Bedrohung ließ auf sich warten. So lange Sai neben dem Krankenbett Wache hielt tauchte niemand bei ihr auf. Nicht einmal die Spur einer Bedrohung konnte man entdecken. Nach ein paar Stunden hatte Sai angefangen, auf einen Kampf zu hoffen. Es war entsetzlich langweilig am Bett einer Kranken zu sitzen die einfach nur schlief. Seine feinen Instinkte hatten zwar den ganzen Vormittag keine Entwarnung gegeben, aber die Butterfly- Messer unter seiner dünnen Jacke, die kleinkalibrige Waffe mit Schalldämpfer, waren nicht zum Einsatz gekommen. Die bedrohliche Präsenz mit der er rechnete- die er in seinem Kopf beschwor, näher zu kommen, auch wenn ihm klar war, dass er in Telepathie nicht besonders begabt sein konnte- wagte sich nicht in unmittelbare Reichweite. Er hatte zwar das Gefühl, dass etwas ums Krankenhaus herum schlich und die Kreise enger zog- einmal, als er sich einen dieser eingeschweißten Kuchen holte, glaubte er aus den Augenwinkeln heraus zu sehen, dass jemand mit verdächtig bulliger Statur, die Kaffeekannen im Flur austauschte. Jemand lag auf der Lauer und hoffte auf seinen Auftritt, kein Zweifel... Der Hai umkreiste die Rettungsinsel. Aber er tat dem jungen Mann, der sich Sai nennen ließ, nicht den Gefallen, in voller Pracht zu erscheinen. Und das war nur für sehr kurze Zeit amüsant. Dann wurde das Spielchen frustrierend. Auch offensichtliche Nachlässigkeit, zum Beispiel seine Entscheidung, zwischendurch zur Toilette zu gehen und sich viel Zeit mit dem Händewaschen zu lassen, konnte ihn nicht mehr anlocken. So wenig schlau sein Gegner auch sein mochte, er hatte offenbar gute Instinkte, die ihn davon abhielten, einem Jäger direkt in die Falle zu laufen, und es zu früh und zu unüberlegt auf ein Kräftemessen ankommen zu lassen. Nunja... Im Grunde brauchte er nicht wirklich dringend die Informationen. Wahrscheinlich wusste sie sowieso nicht viel. Aber dass sich jetzt gar nichts tat...? „Komm raus, komm raus“, summte er vor sich hin, als er vor dem Fenster des Krankenzimmers stand und die Lamellen der Jalousie mit zwei Fingern auseinanderschob, „Wo immer du auch bist...“ Hidan konnte eine großartige Trophäe abgeben. Aber sein Partner- wahrscheinlich Kakuzu- war nicht zu vergessen... er war der Gefährlichere von Beiden. Sie waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur die Vorhut für eine Macht, mit deren Bekämpfung sich seine ganze Ausbildung- im Grunde sein komplettes Leben- beschäftigt hatte. Es war essentiell, so schnell und sauber wie möglich mit ihnen fertig zu werden, bevor mehr passierte. Und im Moment, jetzt gerade, war es kaum auszuhalten nur hier zu warten, ein wenig zu zeichnen und ein paar Äpfel zu schnitzen, die sie nicht essen würde. Unvollständiger Albinismus... Die Sense... Ruby Eyes... Sein Assoziationsgedächtnis ratterte. Wieder beobachtete er ihre Lippen. Wie die Augenlider ein wenig flatterten. Es gab einen großartig hypnotischen Song von den Smashing Pumpkins. Thru The Eyes Of Ruby... er erinnerte sich sogar an den Text. Wrap me up in always, and drag me in with maybes Your innocence is treasure, your innocence is death Your innocence is all I have Breathing underwater and living under glass Forever lost inside ourselves... „The night has come...", flüsterte er ihren geschlossenen Augen zu, "... to hold us young."“ ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)