Sweet Fifteen von Mounira ================================================================================ Kapitel 1: Gedanken.verloren ---------------------------- SWEET FIFTEEN Das Gefühl von eiskaltem Wasser, welches ihm über die verschwitzten, leicht zitternden Hände lief, drang langsam in Stans Bewusstsein. Schien sich über die dezente Schwärze zu legen, die dort residierte. Sie puckerte, so als käme sie geradewegs aus seiner Brust, von seinem beschleunigt schlagenden Herz. In den Ohren konnte man noch das leise Gurgeln der eben betätigten Toilettenspülung vernehmen, wenn man sich anstrengte. Stan hörte es eher, da er um es wusste. Den Kopf in den Nacken legend, genehmigte er sich ein paar tiefe Atemzüge. Im Raum trieb sich schmutziggraues Licht des frühen Spätherbst herum. Draußen stand keine Sonne am Himmel, sondern spannte eine endlos triste Wolkendecke. Der Schwarzhaarige zählte die Sekunden runter, von zehn bis eins. Es war die Zeit, die sein Körper benötigte, um das Schwindelgefühl auszubalancieren. Dann, ganz unspektakulär, beugte sich Stan vor und nahm einen Schluck Leitungswasser. Ließ es durch seinen Mund wandern, vorbei an Zunge und Zähnen, entlang Schleimhäuten und Gaumen, ehe er es ausspuckte. Erst nachdem er die Prozedur noch ein weiteres Mal wiederholt hatte, drehte er den Hahn zu. Die Wasserhähne, die Einrichtung der Schultoilette, eigentlich das gesamte Schulgebäude –alles war veraltet. Renovierung war etwas, das sporadisch durchgeführt wurde. Dann, wenn gerade genügend Geld zur Verfügung stand. Selten also. Das letzte Geld war in einen großen Computerraum geflossen, der nur selten von den Schülern genutzt werden durfte und wenn, dann nur unter Aufsicht. Für Stan bedeutete das, er war nie dort. Er wollte auch gar nicht dort sein. Der Raum war so was wie das zweite Zuhause der Schulnerds geworden und Stan gehörte nicht dazu. Innerlich gehörte er eh nirgendwo dazu. Äußerlich, das war eine andere Geschichte, wie ihm sein Spiegelbild verriet. Die Sportjacke mit dem Schullogo, der ranzige Rucksack, die schlichte Mütze und das halblange, schwarze Haar, die tiefen Augenringe und die angesagten Turnschuhe, die blaue Jeans und das unauffällige T-Shirt. Er eckte nicht an; er sah einfach durchschnittlich aus und bot somit niemandem sonderlich viel Angriffsfläche. Weder mit seinem Aussehen noch seinem Verhalten. Depressive Phasen, die Stan früher in schwarze Emoklamotten gedrängt hatten, lebte er nun aus, indem er sich Zuhause verschanzte und ins Internet abtauchte. Das wusste keiner und das ging auch keinen etwas an. Ansonsten war er nach wie vor Mitglied im Footballteam. Einst aus Liebe zum Spiel, dann weil er es gewohnt war und er auf dem Feld wenigstens gebraucht wurde. Wer brauchte einen bitte sonst noch? Stans Blick fiel bitter hinab und schlug hart im dreckigen Waschbecken mit der verkalkten Armatur auf. Sein rechter Handrücken sah nicht gut aus, eher wie nach der Begegnung mit einer wilden Katze. Die Woche war fünf Tage alt. Fünf Tage, an denen er seine Hand und sich selbst gequält hatte. Ohne es je zu wollen oder bewusst sagen zu können, warum er es überhaupt tat. Es ergab keinen Sinn für ihn. Wie sollte es dann Sinn für andere machen? Es war vermutlich nur irgendeine dämliche pubertäre Phase. Er würde aufhören, irgendwann, wahrscheinlich bald. Ohne es je jemandem zu erzählen. Stans Gedanken rissen abrupt ab, als er Schritte unmittelbar vor der Türe auf dem leeren Flur vernahm. Es war eigentlich unmöglich, dass jemand hier her kam. Der Unterricht war vorüber; bis zum Footballtraining hatte er noch rund 30 Minuten Zeit totzuschlagen und dieser Teil der Schule war ab dem Nachmittag tot. Diese Toilette befand sich im obersten Stockwerk im ältesten Gebäude der Schule, direkt neben einigen Materialräumen. Die wenigen Klassenzimmer, die hier oben sonst noch lagen, wurden so gut wie nie genutzt. Manchmal verirrte sich zwar noch ein Lehrer hier her, der seinen Schülern in einem der Räume einen Film vorführen wollte, jedoch waren mittlerweile die anderen Medienräume wesentlich besser ausgestattet. Trotzdem, da war jemand. Stans tiefblaue Augen erkannten einen Schatten, der nun unmittelbar vor der Tür auftauchte, ehe diese mit einem galanten Stoß geöffnet wurde. „Kenny?! Was zum Teufel machst du denn hier?“ Stan ließ, den ersten Schrecken verdaut, die Hände rasch in seine Jackentaschen gleiten. Der Angesprochene tänzelte indessen in die Toilette hinein, im Gesicht ein triumphierendes Grinsen. „Wusst’ ich doch, dass ich dich hier finde!“ Ehe sich Stan versah, war Kenny dicht genug an ihn heran getreten, um ihm auf die Schulter zu klopfen. Beide Jungen rümpften die Nasen. Stan ergriff zuerst das Wort: „Alter! Was hast du geraucht?“ Von Kenny kam ein nonchalantes Schulterzucken, gepaart mit einem Kichern. „Wenn ich dir sag, dass ich keine Ahnung hab-“ „Dann glaub ich dir das sofort!“ Es war kein Geheimnis, dass Kenny rauchte. Sie waren zwar beide erst 15, aber Kenny hatte schon wesentlich früher seine Vorliebe für Zigaretten entdeckt. Zigaretten und andere Dinge, von denen Stan tunlichst die Finger ließ, obwohl er insgeheim beneidete, wie schwerelos der Blonde dadurch zuweilen wirkte. Schwerelos trotz all der Probleme, die Kenny hatte. Seine Eltern waren über Nacht nicht reicher geworden, sondern hingen immer noch Tag ein, Tag aus perspektivenlos Zuhause besoffen vor dem Fernseher, während Kenny und seine Geschwister abgetragene Klamotten trugen und kaum genug Geld fürs Schulmaterial hatten. Stan hatte nie viele Gedanken daran verschwendet und auch jetzt wollte er es nicht. Genauso wenig wie Kenny es wollen würde. Sie beide hatten selten, wenn nicht gar nie über ihre häusliche Situation gesprochen. Sie sprachen ohnehin nicht mehr so viel miteinander wie früher. Mit 15 lebte man eben anders als mit acht Jahren. Was sie noch immer gemeinsam hatten, war die morgendliche Busfahrt zur Schule. Doch dann trennten sich ihre Wege oftmals, denn abgesehen von den Hauptfächern, die alle Schüler belegten, steckten sie in sehr unterschiedlichen Wahlpflichtkursen. Während Stan jene Fächer gewählt hatte, bei denen er glaubte, mit möglichst wenig Aufwand passable Noten erzielen zu können, hatte Kenny die Fächer gewählt, die hauptsächlich von Mädchen belegt wurden. Welch Zufall... Stan kam sich dumm vor, wenn er sich durch englische Literatur des 19. Jahrhunderts quälte, während er wusste, dass Kenny ein paar Klassenzimmer weiter schmutzige französische Wörter auf Zettelchen schmierte und damit seine Mitschülerinnen zum erröten brachte. Stan hatte zu seinem Bedauern obendrein verdächtig viele Kurse mit Cartman, der offenbar auch nach der Methode des geringsten Widerstandes verfuhr. Kyle war in all dem kein Thema. Kyle war ein kluger Junge, der sich schämte, weil er eben ein kluger Junge war. Gute Noten flogen ihm nicht bloß zu, er lernte auch noch zusätzlich viel. Nicht zuletzt, da er Ehrgeiz besaß und einen gewissen elterlichen Druck im Nacken hatte. Stan wollte nicht mit ihm tauschen und fühlte sich trotzdem immer irgendwie blöd, wenn er sich bewusst machte, dass Kyle in den Erweiterungskursen steckte und er selbst meist nur die Grundkurse absolvierte. Stans Mathenoten waren tragbar, Englisch könnte besser sein, Physik erst recht. Den Mist wurde er aber leider erst im nächsten Jahr los. Dafür kassierte er munter sein A in Sozialkunde und sämtlichen Sportkursen. Sport war aber nicht Kyles Bereich. Selbst Basketball hatte Kyle dran gegeben, auch wenn Stan nie so recht begriffen hatte, wieso. Kyle hatte es nicht erklärt... Stan hatte es irgendwann einfach gemerkt. So wie er irgendwann einfach gemerkt hatte, dass sie morgens an der Haltestelle Smalltalk hielten und sich dann den Rest des Tages kaum mehr sahen. So war das wohl mit 15... 15 war ein hässliches Alter. Eines, das Stan unglücklich machte. Kenny grinste immer noch, das Kichern hatte er eingestellt. Nicht zuletzt, da er einen Blick zu den paar leeren Kabinen warf und dann wieder Stan ins Visier nahm. „Ja, schon klar, dass du das sofort glaubst. Bist eben ’n kluger Kerl. Also... warum machst du dann das hier? Das wollt ich dich eigentlich schon nach den Weihnachtsferien fragen.“ „Weihnachten ist über ein halbes Jahr her, Kenny!“ „...oh ja, stimmt! Sorry, Alter. Also? Warum?“ Kennys Grinsen wirkte nun verlegen. Seine Finger fuhren hinauf zu seinem wilden, blonden Haaren, die mehr einem ungeordneten Nest glichen als einer Frisur. Stan für seinen Teil spürte plötzlich, das er nervös wurde. Dass Kenny so high war, hatte ihn bis gerade seine Panik vergessen lassen. Doch jetzt packte sie ihn wieder eiskalt im Nacken. „Warum was?! Ich mach nichts!“, sagte er schnell und wandte sich vom Waschbecken sowie dem verschmierten Spiegel ab. Das tückische Schwindelgefühl war fort, aber Stans Herz raste plötzlich wieder viel zu schnell und fleckige Röte schoss ihm unaufhaltsam ins Gesicht. Weihnachten war wirklich schon verdammt lange her... „Oh Mann, Stan. Klar machst du was...“ So selbstgefällig Kenny auch klang, nichts in seinem Gesicht wirkte spottend oder auch nur ansatzweise belächelnd. Dennoch wollte Stan gerade nichts lieber, als die Flucht zu ergreifen. Er brauchte keine Fragen. Erst recht keine, die ihm Schweiß auf die Stirn trieben. Wie hatte Kenny ihn nur je hier finden können? „Ich riech es doch.“ „Das ist’n Schulklo...“, versuchte Stan, einen lapidaren Ton anzuschlagen, der implizierte, dass es hier eben immer stank. Kenny zog daraufhin die Schultern absurd weit hoch und legte den Kopf schief. Ein klares Zeichen dafür, dass er es wusste. Stan hatte nicht die leiseste Ahnung, woher Kenny es wusste! In seinem Kopf überschlugen sich die Erinnerungen; hatte er etwas Falsches gesagt? Etwas Verdächtiges getan? Wie konnte Kenny - der ständig besoffen oder bekifft oder gar beides gleichzeitig war! -, es bitte schon so verdammt lange wissen? Das machte einfach keinen Sinn! „Ich muss zum Football!“, versuchte Stan die ersehnte Flucht anzutreten, rechnete aber nicht damit, dass Kenny sich ihm in den Weg stellte. Obwohl sie auf einer Augenhöhe waren, kam sich der Dunkelhaarige lächerlich klein vor. Es war die Angst, die ihn runterdrückte. Die Angst davor, dass Kenny nicht den Mund hielt... „Du hast noch Zeit. Guck!“ Stan bekam so schnell und so dicht die elektronische Plastikuhr seines Gegenübers vor die Nase gehalten, dass er rein gar nichts sehen konnte. Die leuchtenden Ziffern verschwammen bloß, dann zog Kenny sein Handgelenk zurück. „Ja, ich sehe, dass du total high bist und dass du keinen Plan hast, was du hier eigentlich laberst. Also lass mich durch!“ Erneut probierte Stan, an Kenny vorbei aus dem Raum zu türmen. Wiederum versperrte man ihm in den Weg. Irgendwas an seinen gereizten Worten war falsch gewesen. Kennys Augenbrauen wirkten nicht mehr unbeteiligt am Geschehen, sondern hatten sich leicht herabgesenkt. Gemeinsam mit den hellen, wenn auch leicht verklärten Augen formten sie einen mahnenden Blick, der wiederum Teil eines finsteren Gesichtsausdrucks war. „Marsh, ich weiß verdammt noch mal, wie’n Jungenklo riecht und ich weiß verdammt noch mal auch, wie’n Weiberklo riecht. Und ich sag dir eins: hier drin riecht’s wie bei den Weibern zur Mittagszeit, weil du...!“ Anstatt es auszusprechen, hob Kenny uncharmant die rechte Hand und deutete an, sich den Zeigefinger tief in den Rachen zu stecken. Die Geste war eindeutig. Das akustische Würgegeräusch, was Kenny zu allem Überfluss hinzufügte, ebenfalls. Stan brachte vor Schreck keinen Ton heraus. Er fühlte sich wie schockgefroren. Seine Füße machten einen kleinen Schritt zurück, weg von Kenny, der zwar nicht mehr sauer wirkte, aber auf Stan gerade eine sehr bedrohliche Wirkung hatte. „Ich...“, Stan wollte sich ohrfeigen, als er seine Stimme brechen hörte. Trotzdem zwang ihn etwas in seinem Inneren, die ganze Sache rigoros abzustreiten. „So ’nen Scheiß mach ich nich’! Er war zu heiser, als dass es hätte glaubhaft erscheinen können. Stan wusste es, Kenny ohnehin. Zwischen den beiden Jungen wurde es still. Seine Turnschuhe betrachtend, biss sich Stan auf die Unterlippe und versuchte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Unglücklicherweise spürte er lediglich Angst und Panik. Die Hände in seinen Taschen hatten sich unter diesen Umständen ganz von selbst zu klammernden Fäusten geballt, deren Fingernägel sich tief in seine Handflächen gruben. „Ich hab’s auch schon mal gemacht, aber nur ein Mal, weil Stevie Hoover mir ’nen Zehner geboten hat, wenn ich erst ’n Glas abgelaufene Mayo esse und sie dann wieder auskotze. Zurück ins Glas natürlich. Durfte nix daneben gehen.“ „Was?!” „Das war ehrlich verdientest Geld!“ „Kenny, wie kannst du nur so was Beknacktes machen?!“ Stan wusste nicht, warum er so aus der Haut fuhr. Seine Stimme knallte regelrecht gegen die bekritzelten Fliesen und wirkte hässlich verzerrt, laut und viel zu schrill. Kenny schien das nicht zu stören. Er war die Ruhe selbst, indessen Stan schwer atmete und sich für seinen plötzlichen Gefühlsausbruch schämte. Gewiss war er nicht in der Position, seinem Freund Vorträge zu halten... Ihnen beiden war dies bewusst. Stan senkte den Blick wieder herab; sein Mundwinkel zuckte jedoch und sein Deo hatte versagt. Dem Gefühl nach urteilen, hatten sich binnen der kurzen Zeit, in der Kenny hier war, riesige Schweißflecken unter seinen Armen gebildet. Sie waren allerdings Stans kleinstes Problem im Moment. Der Verkünder seines eigentlichen Problems griff in die Tasche seines Hoodies und holte eine Zigarettenschachtel heraus. Dass hier drinnen nicht geraucht werden durfte, verstand sich von selbst. Nichtsdestotrotz steckte sich Kenny eine Zigarette an und lehnte sich, einen Zug nehmend, an die Wand direkt neben der Eingangstüre. „Du kotzt doch mittlerweile fast täglich. Weißt du, wenn man drüben im neuen Flügel im Treppenhaus sitzt, kann man genau hier ins Treppenhaus gucken. Ich hab dich gesehen, letzte Woche, vorletzte Woche, diese Woche, letztes Jahr... Das war strange.“ Kenny nahm einen weiteren Zug und blies den Rauch scheinbar gedankenverloren zur Decke, über ihre Köpfe hinweg. Rauchmelder gab es glücklicherweise keine hier. Stan hustete nicht mal, obwohl er den Geruch so schlecht ertragen konnte. „Letzten Dezember bin ich dir mal hinterher. Zumindest glaub ich, dass es im Dezember war...“ Aha. Stan wusste schon, warum Kenny jetzt lieber nach oben schaute. So super gut war sein getrübtes Erinnerungsvermögen dann nämlich doch nicht! „Jedenfalls, ich hab’s gehört.“ Asche rieselte zu Boden, als Kennys Finger leicht gegen seine Zigarette tippte und seine Aufmerksam wieder auf den Schwarzhaarigen fiel. „Und warum sagst du erst jetzt was und nicht schon damals?“, fragte Stan mehr patzig als aufrichtig interessiert. „Dachte halt, du hörst schon wieder damit auf...“ Scheinbar sollte es eine Entschuldigung sein. Zumindest klang es wie eine. Seinen Rucksack abstellend, trat Stan an die Wand hinüber, sodass sie beide nun Seite an Seite dort lehnten. Wortlos und leise. Durch das winzig kleine Milchglasfenster fiel ein müder Abklatsch Tageslicht auf die Jungen. Den Rest an Helligkeit spendete die aufdringliche Deckenleuchte. „Tu ich auch. Ist eh scheiße.“ Stan trat mit der Spitze seines rechten Turnschuhs gegen einen imaginären Stein. Auf seiner Zunge lagen Rechtfertigungen, warum er denn überhaupt je begonnen hatte – mittlerweile nahmen die daraus resultierenden Probleme Überhand –, aber irgendwie wollten sich die Silben nicht zu gescheiten Formen zusammenfügen. Nichts von dem, was ihm durch den Kopf schwirrte, war zu gebrauchen... Kenny lachte zumindest nicht, sondern rauchte bloß ungerührt weiter. „Nee, tuste eben nich’, Alter. Du gehst immer häufiger hier hoch! Hab dich die ganze Woche gesehen.“ „Selbst wenn...“, zeigte sich Stan trotzig, legte aber keinen Nachdruck mehr in seine Stimme. Warum auch? Es stimmte ja, aus ein bis zwei Mal die Woche war irgendwann im Verlauf der letzten Monate drei bis fünf Mal geworden. Stan konnte es nicht erklären; er wusste nur, dass er Dinge fühlte, die weitreichend waren. Außerdem war er in diesem verrotteten Provinznest namens South Park aufgewachsen. Das musste doch dazu führen, dass er auf die ein oder andere Weise abgefuckt war. Ihn wunderte also nicht, was er tat. Er machte es einfach, größtenteils unreflektiert und ohne sich selbst auch nur ansatzweise zu verstehen. Das war womöglich das Schlimme an der Sache. Kenny aschte abermals auf den Boden. „Red mit Kyle.“ „Was?“ „Du sollst mit Kyle reden.“ „Ich will aber nich’ mit Kyle darüber reden!“ Kennys Kopf drehte sich langsam zur Seite, so lange, bis sein Blick wieder auf Stan fiel. „Doch, ich glaub schon, dass du das willst.“ Für geschätzte zehn Sekunden hielt ihr Blickkontakt, war intensiv und ließ Stan erschauern. Kenny war sich seiner Sache so sicher... Die Intensität, die in seinen Augen hervorstach, sprang Stan geradewegs ins Gesicht. Sein Magen, der sich noch unnatürlich umgestülpt anfühlte, zog sich nebenbei schmerzlich zusammen. Krämpfe. Davon konnte Stan in letzter Zeit ein Liedchen singen... Automatisch rutschte einer seiner Hände aus der Jackentasche und legte sich auf seinen Bauch, der sich trotz Leere merkwürdig aufgebläht anfühlte. Erbrechen war nicht glorreich... „Wir reden nich’ so viel im Moment...“ Und es so zu beschreiben, war eine nette Art zu sagen, dass sie sich kaum mehr zu Gesicht bekamen. Stan konnte sich nicht entsinnen, wie das passieren konnte, aber Fakt war, dass er sich nicht mal mehr erinnerte, wann sie zuletzt einen gemeinsamen Nachmittag außerhalb der Schule zusammen verbracht hatten. Womöglich hatte Kyle auch gar keine Lust mehr..? Irgendwie schienen sie sich grundlos auseinander gelebt zu haben und Stan versuchte krampfhaft, genau das zu verdrängen, denn es machte ihn wütend und traurig zugleich. Ein letztes Mal an seiner Zigarette ziehend, verdrehte Kenny die Augen. Dann ließ er die Zigarette zu Boden fallen und trat sie mit seinen abgelatschten Boots aus. „Hab ich mitgekriegt“, ließ er dabei verlauten. „Aber mach’s trotzdem. Sterben tut weh, Stan. Ich spreche aus Erfahrung.“ „Kenny...“, wollte Stan ansetzen, sah aber zugleich, wie ernst es seinem Freund war. Irgendwann einmal hatte Kenny versucht ihnen allen zu erklären, dass er angeblich ständig starb und wiedergeboren wurde. Mysteriöserweise erinnerte sich jedoch keiner jemals daran, nur seine Eltern. Das war natürlich purer Blödsinn. Stan hatte nie nachvollziehen können, warum sich Kenny so einen Schwachsinn aus den Fingern saugte. Mittlerweile tippte er darauf, dass ihm seine dauerbesoffenen Eltern von klein auf diese nette Story aufgetischt hatten und Kenny, der eben wenig Spielzeug und viel Langeweile hatte, sie halt für bare Münze genommen hatte. Ja, sie waren eben alle auf die eine oder andere Weise abgefuckt, wie Stan erneut feststellte, aber schwieg. Kenny indes drückte sich von der dreckigen Wand ab und reckte sich dabei, so als müsse er sämtliche Knochen in seinem Körper sortieren. „Du sollst ja nich’ bei Broflovski mit der Tür ins Haus fallen. Ich bin schon froh, wenn ich dich statt fünf Tage die Woche, zwei Tage die Woche hier hin gehen seh.“ Anscheinend schrieb Kenny der Freundschaft zwischen Stan und Kyle eine immens heilende Wirkung zu. Stan spürte Magensäure in seinem Hals brennen, während in seinem Gedächtnis alte Bilder aufflackerten, die ihn nostalgisch, traurig und schwermütig stimmten. Er und Kyle, super best friends. Eigentlich doch für immer... Mehr noch als der Hals, schmerzte Stan plötzlich die Brust. Es war beklemmend. Ihm triefte Sehnsucht mitten ins Herz. „Kyle rastet doch komplett aus...“ „Kyle rastet immer sofort komplett aus. Der is’ halt so ein Hysteriker.“ Kenny lachte heiser, kurz und auf eine erfrischend aufbauende Weise. „Wie gesagt, nich’ mit der Tür ins Haus fallen. Chill einfach was mit ihm -oder wie auch immer ihr eure Spannungen abbaut...“ Das verdächtige Tanzen von Kennys Augenbrauen missfiel Stan spontan. Pärchenwitze war er eher von Cartman gewöhnt. Kenny, der den Argwohn witterte, stieß die Tür auf und wechselte unelegant das Thema. „Lass uns was essen gehen. Ich hab Hunger wie’n Tier.“ „Ich muss zum Football“, wandte Stan kleinlaut ein, allerdings hatte sich sein Kumpel bereits durch die Tür geschoben und schien ihn gewissenhaft zu ignorieren. Stan seufzte, laut und deutlich. Mit einer Hand griff er nach seinem Rucksack am Boden, mit der anderen wischte er sich kurz über die gerötete Augenpartie. Essen war jetzt nicht so sein Ding im Moment... Auf Football hatte er aber ehrlich gesagt auch keine rechte Lust mehr nach dieser Unterhaltung. Dafür purzelten gerade zu viele Gedanken durch seinen Kopf. Machten ihn müde, machten ihn emotional... Stan würde viel Zeit zum Nachdenken brauchen. Andererseits dachte er immer viel nach. Zu viel wahrscheinlich. Nur nicht darüber, warum er sich lieber den Finger in den Hals steckte als mit seinem eigentlich besten Freund zu reden... Kapitel 2: Zucker.Schock ------------------------ SWEET FIFTEEN II Im Wohnzimmer brannte die Stehlampe, wie Stan schon von weitem sah, als er sich seinem Zuhause näherte. Die Stehlampe und nichts weiter. Das konnte nur eines bedeuten: seine Mutter war schon wieder mit diesem komischen Frederic (oder Benedict oder wie auch immer ihr neuer Macker hieß) ausgegangen. Stans Theorie bestätigte sich, als er die Haustür verschlossen vorfand und wenig später beim Betreten der Küche einen kleinen Zettel auf der Anrichte entdeckte: Essen steht im Kühlschrank, bin spät zurück, blablabla Das Papier nur überfliegend, beförderte der Schwarzhaarige es umgehend in den Müll unter der Spüle. Stans nächster Griff galt dem Kühlschrank, wo tatsächlich ein Topf mit kalten Spaghetti in Tomatensoße auf ihn wartete. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Appetit. Kenny hatte ihn in irgendeine völlig abgeranzte Frittenbude geschleppt, weil er den Besitzer kannte. Schon allein der Geruch dort erinnerte Stan spontan an etwas Verdorbenes, sodass er letztlich nur angewidert zugesehen und an einer Cola genippt hatte, als sich Kenny eine Portion Fritten und einen Döner zum special Freundschaftspreis reingezogen hatte. Das Dönerfleisch schien seinem Aussehen nach zu urteilen gar nicht dafür geschaffen, um vom menschlichen Körper verdaut zu werden. Stan hätte es, wenn er es denn tatsächlich gegessen hätte, aus reinem Selbstschutz wieder ausgekotzt. Kaum dass er nun den Nudeltopf aus dem Kühlschrank genommen hatte, klingelte das Telefon. Der Name seines Vaters auf dem Display ließ Stan tief Luft holen und mit sich ringen. Er könnte ja so tun, als sei er nicht Zuhause, aber irgendwie brachte Stan es nach dem vierten Klingeln doch nicht übers Herz. „Hi Dad“, meldete er sich ohne einen Funken Elan. „Stan, ist deine Mutter Zuhause?“ Anstelle einer Antwort, seufzte der Jüngere noch tiefer als zuvor und rollte mit den Augen. Das war die Art Gespräch mit seinem Vater, die er ab dem ersten Wort voraussehen konnte. „Nein“, hielt sich Stan also kurzangebunden, während er, das Telefon zwischen Kopf und Schulter festgeklemmt, den Topfinhalt auf einen großen Teller kippte und diesen danach in die Mikrowelle schob. „Und ich weiß auch nicht, wann sie wieder zurück ist. Hör zu, Dad: komm einfach nicht ganz zufällig in der Gegend vorbei und hab auch nicht ganz zufällig deine neue Freundin dabei. Okay?!“ Wenn Stan eines in den letzten Jahren zu hassen gelernt hatte, dann waren es diese verdammten Spielchen seiner Eltern. Mal lebten sie zusammen, dann trennten sie sich boshaft streitend wieder. Darauf folgten ewige Monate des Zornes und der Wut und die Versuche, sich mit anderen Partnern abzulenken. Während Sharon durchaus ein gutes Händchen dafür hatte, die größten Langweiler an Land zu ziehen (die aber immerhin Geld und Benehmen hatten), schien Randy nur wichtig zu sein, dass die neue Herzensdame jünger war als Sharon. Kaum hatte Randy eine solche Frau gefunden, kam er jedes Mal rein zufällig hier vorbei, da er rein zufällig etwas aus dem Keller oder vom Dachboden holen musste, was ihm gehörte und das von Sharon noch nicht zu Kleinholz verarbeitet worden war. Stan kotzte dieses elendige Spielchen noch wesentlich mehr an als jede noch so dämliche schulische Aktivität. Selbst das todlangweilige Sozialkundeprojekt im letzten Jahr war ein Segen gegen dieses widerliche Hin und Her, was seine Eltern veranstalteten. Heute stritten sie, morgen lagen sie sich wieder wie frisch verliebt in den Armen und schworen Stein und Bein, sich nie mehr zu trennen. Die „Versöhnungsessen“ lagen Stan stets so schwer im Magen, dass er sie die letzten drei Male postwendend wieder hoch gewürgt hatte, als er endlich vom Tisch aufstehen durfte. Das einzig Positive an seinem aktuellen „Familienleben“ war, dass seine sadistische Schwester bereits ausgezogen war, um andernorts Menschen das Leben zur Hölle zu machen. An Stans Ohr drang ein ertapptes Hüsteln. „Ähm.. so war das jetzt eigentlich nicht gedacht...“, versuchte sich Randy schlecht lügend herauszureden. Stan würdigte den Versuch mit einem ironischen „Nee, is’ schon klar“ und starrte manisch seinen sich drehenden Teller in der Mikrowelle an. „Möchtest du denn morgen mit mir und Alica in die Badewelt fahren? Wir können dich vormittags abholen und abends wieder Zuhause absetzen.“ Stans Herz schien einen Schlag auszusetzen. Sein Mund hatte sich geöffnet und das Kind in ihm wollte lauthals „Ja!“ rufen, denn schwimmen war immer etwas, was Stan gerne gemacht hatte. Früher waren er und sein Vater sogar häufiger an den Wochenenden in die große Badewelt mit all ihren Becken und Rutschen gefahren, doch jetzt verbot Stan sich jegliche Begeisterung. Seinem Vater ging es nicht darum, etwas mit seinem Sohn zu unternehmen. Stan fühlte sich lediglich ausgenutzt. Randys einziges Ziel war es doch, hier mit seiner neuen Ische aufzukreuzen und Sharon zu demonstrieren, sich wieder mal eine heiße Braut geangelt zu haben. Die Mikrowelle stieß ein lautes Pling aus. Stan spürte ein Loch aus Wut, Enttäuschung und Unfairness in sich aufschreien. Stumpf „Nein“ sagend öffnete er die Mikrowellentür. „Und nächste Woche kann ich auch nich’. Frag gar nicht erst, Dad.“ „Versteh schon. Es ist eben nicht cool, was mit seinem alten Herrn zu unternehmen...“ „Darum geht’s doch hier gar nicht!“ Die Enttäuschung, die Randy völlig unangebracht ausspielte, machte Stan rasend. Sein Vater seufzte jedoch nur laut und bedrückt. „Wie gesagt, ich versteh das schon. Mach’s gut, Junge.“ „Dad!“ Es war zu spät. Stan konnte bloß noch das laute Tuten in der Leitung vernehmen. Sein Vater hatte aufgelegt. Nein, schlimmer noch: er hatte Stan erst ein schlechtes Gewissen eingeflößt und ihn dann vor vollendete Tatsachen gestellt. Wie so häufig... Entnervt knallte Stan das Telefon auf die Anrichte und holte mit Hilfe eines Handtuchs seinen Teller aus der Mikrowelle. Die Nudeln gingen ihm hastig die Kehle hinunter. Stan hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich an den Tisch zu setzen. Stattdessen stand er an der Anrichte, blickte in den finsteren Garten hinaus und versuchte so laut zu schlingen, dass es die nagende Enttäuschung in seinem Inneren übertönte. Noch während Stan halbherzig die letzten Nudeln kaute, riss er den Küchenschrank zu seiner rechten auf und holte eine Packung Chocolate Chip Cookies heraus. Aus dem Kühlschrank fischte er einen großen Becher Vanillesoße und eine Dose Sprühsahne, um die Kekse zunächst in die Soße zu tauchen und dann mit Sahne zu garnieren. Die Frage, ob er hungrig war, stellte er sich schon gar nicht mehr. Welcher Amerikaner aß bitte, weil er bewusst hungrig war? Stan wusste unlängst, womit all das enden würde. Nach der großen Nudelportion und dem umfangreichen Nachtisch würde ihm übel werden. Aber noch war er so ausgiebig damit beschäftigt sich vollzufressen, dass er rein gar nichts mehr spürte – und das war es ihm alle male wert. „Alter, du bist so was von abgefuckt!“ Die Worte klatschten wütend gegen den Spiegel im Badezimmer. Stan blitzte die Gestalt ihm gegenüber mürrisch an, regelrecht verachtend, wenngleich das schwierig war, da der Junge rot verquollene Augen hatte. Stan war nicht zufrieden gewesen, ehe er sicher sein konnte, alles wieder hoch bekommen zu haben. Sein Hals tat weh, seine Finger taten weh, seine Augen hatten getränt und er hatte jetzt rund eine ¾ Stunde im Badezimmer verbracht. Kalte Nachtluft strömte durch das geöffnete Fenster hinein und trug den sauren Geruch hinaus in die Dunkelheit. Schweiß trocknete an seiner Stirn. Sein Bauch war ein unangenehmer Knoten. Kenny wäre jetzt sicher enorm stolz auf einen... Den Kopf hängen lassend, schleppte sich der Schwarzhaarige in sein Zimmer hinüber und fläzte sich auf sein Bett. Mit einer Hand tastete er nach der Fernbedienung neben seinem Kopfkissen, drückte die richtige Taste und vernahm gleich darauf das laute Gehabe von Werbung. Ohne hinzusehen wechselte Stan die Kanäle, bis er bei einem Musiksender ankam, der irgendwas Radiotaugliches spielte. Die Finger von Stans anderer Hand rutschten derweil in die Ritze zwischen Bett und Wand, um seinen geheimen Vorrat auf dem Boden zu erreichen. Stan konnte nicht sagen, seit wann er unter seinem Bett Süßigkeiten hortete, aber er tat es. Da unten dürften unzählige Schokoriegel, Marshmallowpackungen, kleine Fertigkuchen, Kekse, Chips, Erdnüsse und jede Menge anderes Zeug liegen. Er hatte keinen richtigen Überblick. Er kaufte nur dann und wann eine Fuhre und packte sie dort hin. Alles, was in irgendeine Weise schmeichelhaft aussah und daheim seine Stimmung heben könnte, faszinierte ihn genug, um es in den Einkaufswagen zu schmeißen. Weiche Marshmallows streichelten seine Finger, nachdem er nun eine Tüte gekonnt mit einer Hand aufgerissen hatte. Die zuckersüße Masse schmolz ihm beinahe auf der Zunge. Und darüber sollte er mit Kyle reden? Stan hörte abrupt auf zu kauen, als ihm Kennys Empfehlung in den Sinn kam. Seine Finger ließen die Marshmallows los, die sie gerade aus der Tüte ziehen wollten. Das Gesicht ins Kopfkissen pressend, verlor Stan einen klagenden Laut. Es war Freitagabend und er lag auf seinem Bett, sein Bauch fühlte sich merkwürdig gedehnt und aufgedunsen an, obwohl er relativ leer war – und anstatt mit anderen Leuten irgendwo Party zu machen, wollte Stan einfach nur in Ruhe irgendwelchen Süßkram in sich reinschaufeln. Na dafür würde Kyle sicher vollstes Verständnis haben! Erst recht, wenn Stan ihm erzählte, wie er den Süßkram wieder loswurde, wenn er der Ansicht war, sich überfressen zu haben. In sich gehend, rollte sich Stan auf die Seite und kehrte dabei seinem Vorrat den Rücken zu. Mit einem Griff in die Hosentasche holte er sein Smartphone hervor und peilte gleich darauf Kyles Namen in seinem Adressbuch an. Hi Alter, was geht bei dir am WE? Das war kurz und gut. Stan starrte die Buchstaben an und haderte mit sich: abschicken oder nicht? Das einzige, was ihn noch davon abhielt, war die Befürchtung, Kyle könne nicht antworten. Aber so hörte man ja auch nicht großartig was von ihm. Also was hatte man bitte zu verlieren? Mit einem finalen Tastendruck überwand sich Stan, die Nachricht zu versenden. Gleichzeitig kniff er die Augen zu und spürte leichte, stechende Kopfschmerzen. Er sollte sich nicht darüber wundern. Alles, was er heute unterm Strich zu sich genommen hatte, war eine Waffel zum Frühstück und eine Hand voll Marshmallows. Den Rest hatte er ja feierlich der Kanalisation übergeben. Das konnte nicht gesund sein. Seit wann war er nur so verflucht mit dieser Kotzerei beschäftigt? Warum hatte Kenny nicht eher was gesagt? War Weihnachten wirklich schon über ein halbes Jahr her? Fest bissen Stans Schneidezähne in seine Unterlippe und ließen ihn erstmalig klar darüber nachdenken, was er tat. Irgendwie hatte sich dieses Erbrechen so heimlich in sein Leben geschlichen und routiniert in seinen Alltag eingefunden... Es war gruselig. Vielleicht wäre man gar nicht so tief gesunken, wenn Kenny einfach mal früher seinen Mund aufgemacht hätte!? Stattdessen hatte er nur stumm zugesehen. Innerlich wusste Stan zwar, dass er seinem Freund keinen Vorwurf machen sollte, aber gerade verspürte er trotzdem einen gewissen Ärger. Es wurde kaum besser, als sein Smartphone nun vibrierte. Hi! Muss scheiße viel lernen... Was ganz Neues bei dir Was soll das denn jetzt heißen?! Sorry, ich dachte halt, du würdest dich für mich vielleicht mal für ein paar Minuten von deinen heiligen Büchern trennen! Stans Wangen loderten. Die Worte waren irgendwo aus seinem Bauch herausgeschossen und brannten den einst harmlos geplanten Chat zwischen ihm und Kyle gnadenlos nieder. Je länger Stan die Unterhaltung anstarrte, desto schäbiger fühlte er sich. Seit wann schrieb er wie ein Hitzkopf drauf los? Das sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich... Kein Wunder, dass von Kyles Seite aus nichts mehr zurückkam. Man hatte es ordentlich verbockt! Stan gab das Warten auf, als sein Display nach einiger Zeit erlosch. Ob er sich entschuldigen sollte? Aber dann besser morgen. Am besten, er würde behaupten, besoffen gewesen zu sein. Ja, das könnte die unangenehme Situation noch halbwegs rechtfertigen. Aber auch wirklich nur halbwegs und Kyle wäre trotzdem noch wütend. Ein Magenkrampf brachte Stan letztlich dazu, sich stöhnend in seiner Bettdecke einzurollen und sein Smartphone auf seinen Nachttisch zu legen. Aus dem Fernseher quäkte immer noch Chartmusik, die er offiziell natürlich scheiße fand, inoffiziell aber durchaus gut ertrug. Dennoch mühte er sich, den Ton etwas runter zu regulieren. Es war das letzte, an das er sich bewusst erinnerte, bevor er einschlief. Das nächste, was in sein Bewusstsein drang, war ein leises, plötzliches Klicken. Das Gesicht der Wand zugedreht, stemmte Stan seine Augen ein Stückchen auf. Lichtreflexe und leise Laute des Fernsehers flitzten durch den Raum, doch davon abgesehen war es relativ still. Er musste geträumt haben. Das Klickern war vermutlich Teil seiner ausufernden Kopfschmerzen. Mürrisch presste Stan seine Augen wieder zu; er war so groggy, er könnte jetzt das ganze Wochenende durchschlafen... Klickklickklicker Im Nu sprangen seine Lider wieder auf. Dieses Mal war sich der Schwarzhaarige sicher, keinem Hirngespinst zu erliegen. Das feine Geräusch war direkt an seinem Fenster gewesen und das konnte eigentlich nur eines bedeuten...! Stan vergaß prompt Luft zu holen, als er die Decke eilig von sich runterschmiss, sich halb aufsetzte und seinen Vorhang beiseite zog. Schwindel riss an ihm und ließ ihn beinahe gegen die Glasscheibe fallen. Schwärze durchfurchte sein Blickfeld, doch er konnte eindeutig den Umriss einer Person erkennen, die dort unten im Garten stand und zu ihm hinauf schaute. „Kyle?“ Stans Stimmbänder waren belegt, der Name kam heiser und erstickt hervor. Die Augen angestrengt verengend, hätte sich Stan liebend gern selbst wach gerüttelt, doch stattdessen hielt er sich nur krampfhaft am Fenster fest, um nicht doch noch das Gleichgewicht oder gar die Besinnung zu verlieren. „Endlich, Alter! Türe aufmachen oder an dein scheiß Handy gehen ist wohl nich’ angesagt, wie?“ Kyle klang angesäuert, um es vorsichtig zu formulieren. Stan konnte mit dem Vorwurf nicht direkt etwas anfangen; sein Gehirn schien nicht recht zu funktionieren. Entweder er war zu müde oder das verdammte Organ hatte irgendwie nicht genügend Treibstoff zur Verfügung stehen, um tadellos zu laufen. „Äh... sorry.“ Dichte weiße Wölkchen stiegen auf, als Kyle erbost schnaubte und die kleinen Kiesel, die er in der rechten Hand hielt, zu Boden fallen ließ. „Und lässt du mich jetzt hier stehen oder darf ich vielleicht rein kommen?!“ „Äh ja, ich mach dir auf, Moment...“ Das Fenster ungelenk schließend, mühte sich Stan aus dem Bett. Sein Gleichgewicht schien ihm voraus und zerrte an seinen Beinen, ließ ihn aus seinem Zimmer taumeln und vorsichtshalber nach dem Geländer greifen, als er die Treppen hinab stieg. Wie tief hatte er denn bitte geschlafen? Wie spät war es überhaupt? Und, was wohl noch viel wichtiger war: warum war Kyle hier? Hatte er einem nicht vorhin geschrieben, noch so unglaublich viel lernen zu müssen? Stan rieb sich die Naselwurzel, während er den Schlüssel der Haustüre umdrehte und Kyle gleich darauf an ihm vorbei schneite. Schneidend kalt und das Gesicht puterrot. „Nich’ funny, Alter...“, murmelnd labte er sich an der Wärme des Hauses. Die Nächte in South Park waren eben nicht zu verachten. Kyles Hände rieben über seine Oberarme. Stan bekam unverzüglich ein schlechtes Gewissen. „Ich wusst’ ja nich’, dass du herkommst...“ Er klang emotionsloser als gewollt. Vermutlich, da er primär damit beschäftigt war, gerade zu stehen und nicht vom Schwindel übermannt zu werden. Kyles Augenbrauen sanken aggressiv tiefer. „Na wenn du mir wie so ’ne Vollpussy schreibst..!“ „Ich bin keine Vollpussy!“ Es war nicht möglich, auch nur ansatzweise so forsch zu klingen wie der Rothaarige. Stan lehnte sich heimlich an die Türe, um eine Stütze zu haben. Er bereute es, als er realisierte, von seinem Freund eindringlich gemustert zu werden. Kyle war nicht dumm. Stan wünschte, dem wäre so. „Bist du krank oder voll?“ „Keins von beidem.“ Es war ja nicht mal gelogen. Oder? Auf Stans Gesicht legte sich eine fleckige Röte, die sich in etwa so wohltuend anfühlte wie Säurespritzer. Hinter seinen Schläfen schien das Blut aufgewühlt zu pochen. Die Arme vorm Oberkörper verschränkend, trat Kyle einen Schritt näher. Gerade dicht genug, um an Stan zu schnuppern. „Oah...!“ „Was?“ Direkt noch eine Spur roter werdend, versuchte Stan nach hinten auszuweichen. Gleichzeitig hob er seinen rechten Arm ein Stück, da er vermutete, nach Schweiß zu stinken. Anders konnte er sich Kyles Reaktion nicht erklären. „Sorry... Deo hat versagt.“ Kyle schüttelte energisch den Kopf, noch bevor Stan überhaupt ausgesprochen hatte. „Hast du gekotzt?“ Stan glaubte, der Boden unter ihm täte sich auf und er würde einfach ins Nichts herab stürzen. Seine Augen weiteten sich, sein Puls ließ die 180 weit hinter sich und sein Herz drohte zu explodieren, weil er nicht fassen konnte, wie ihn Kyle das fragen konnte! Einfach so! Frei heraus! „Nein!“, stritt er mit zittriger Stimme ab. Kyle rollte daraufhin übertrieben mit den Augen. Seine Stimme fletschte in hitzige Höhe. „Jetzt lüg doch nicht! Ich riech das doch bis hier!“ So sehr er auch wollte, Stan bekam keinen Ton mehr heraus. Seine Lippen öffneten sich lediglich, aber an Worte oder gar Sätze war nicht zu denken. Alles Logische schien in weite Ferne gerückt. Kyle wirkte bedrohlich, obwohl er nicht sonderlich viel größer war. Stan kam sich lediglich unendlich klein vor. Klein, schwach und zu keiner gescheiten Ausrede oder Lüge mehr fähig. Sich eine Hand nervös in den Nacken legend, stammelte Stan etwas, das zumindest entfernt mit einem „Nein“ verwandt zu sein schien. Nebenbei loderte sein Gesicht und Kyle schien den hässlichen Argwohn langsam wegzupacken. War das gut? War das schlecht? Stan hätte gern ein Urteil darüber gefällt, aber Kyles Hysterie trat auf den Plan. „Stan?! Oh Mann, nicht umkippen, ist alles okay?! Willst du dich lieber hinlegen? Jetzt sag doch was!“ Das stellte sich der jüdische Junge so leicht vor! Stan hätte ja, wenn er nicht unter akutem Herzrasen und diesem starken Zittern gelitten hätte. Irgendwie war ihm das schnelle Aufstehen vorhin überhaupt nicht bekommen. Seine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment wegknicken und die Hauptlast seines Gewichts lastete nun auf Kyle, der sich einen von Stans Armen über die Schulter gelegt hatte und ihn stützend in Richtung Treppe geleitete. „Mir ist ’n bisschen komisch“, war alles, was Stan in seiner schieren Angst herausbekam, indessen sie die Treppe Stufe um Stufe erklommen. „Wird schon wieder, keine Panik! Alles wird gut! Gleich kannst du dich hinlegen. Nur noch einen kleinen Moment... So, wir sind schon da.“ Wie ein nasser Sack sank Stans Körper aufs Bett. Kyle tüddelte umständlich an Stans Kopfkissen und zog dann die Decke über ihn, sodass nur noch sein Gesicht hervorlugte. Die Luft im Zimmer wirkte aufgescheucht; Kyle verbreitete eine Atmosphäre wie eine Katze im Kanarienvogelhaus. Stan musste sich wirklich schleunigst wieder sammeln und sich dann etwas einfallen lassen. Magen-Darm-Grippe, Lebensmittelvergiftung oder sonst etwas, das mit der Wahrheit nichts zu tun hatte. Kapitel 3: Spiegel.verkehrt --------------------------- Sweet Fifteen III Stan wünschte, es wäre nicht so schwierig einen klaren Gedanken zu fassen. Aber in seinem Kopf feierte eine ausgelassene Meute schwarzer Löcher eine Party und verschluckte dabei nicht nur sämtliche logische Denkansätze, sondern verbreitete obendrein einen höllischen Lärm. Ein Bass zum Takt seines auffällig schnell schlagenden Herzens quasi... Geplagt presste Stan die Augen zu und drehte sich auf die Seite, Kyle vorerst ignorierend. Eine Tatsache, die dem Rothaarigen gänzlich missfiel. Weniger aus selbstsüchtigen Gründen, als vielmehr aus Sorge. „Stan? Soll ich dir was bringen? Wasser vielleicht? Ja?! Ich komm sofort wieder!“ Das Geräusch von Kyles ruckartigen Bewegungen hallte durchs Zimmer. Stan konnte die Schritte über den Boden poltern hören und weiter durch den Flur, die Treppe in die Küche hinunter. Davon abgesehen lief noch immer der Fernseher und erhielt eine akustische Kulisse am Leben. Das Deckenlicht, was Kyle vorhin beim Betreten des Zimmers mit dem Ellbogen angeschaltet hatte, knallte auf Stan hinunter. Trotz geschlossener Augenlider kam er sich halb geblendet vor. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass er irgendwie schlapp war oder dass ihm leicht schwindelig wurde. Manchmal war ihm auch nach dem Training flau, aber dann hatte er meist irgendeinen Schokoriegel zur Hand, den er im Rucksack spazieren führte, und die Sache war – im wahrsten Sinne des Wortes – gegessen. Womöglich wurde er also wirklich krank. ...Nein, das war lächerlich. Stan wünschte, dem wäre so. Er konnte sich die Sache nicht schön reden. Er hatte so ein unbeirrbares Gefühl, dass er sich nicht im dreckigen Schulbus oder auf dem noch dreckigeren Jungenklo ein paar fiese Bazillen eingefangen hatte. Das, was ihn hier und jetzt an die Matratze fesselte – dieses enorme Schwindelgefühl, dieses Herzzucken, diese stechenden Kopfschmerzen, dieses Brennen in der Kehle und diese stumpf wallenden Bauchschmerzen – das kannte er im kleinen Stil und nun trat es im großen Stil als Big Band auf. Es kam vom Kotzen. Garantiert. „Hier!“ Schnell, aber darauf aufpassend, dass das Glas nicht überschwappte, hetzte Kyle zurück ins Zimmer. Das Glas stellte er auf den Nachttisch. Stan konnte sich nur unter größter Mühe auf die Ellbogen stützen und sich dann halb aufrichten. „Danke, Alter.“ „Kein Ding! Deine Mom ist ja gar nich’ da.“ Es war keine Frage im eigentlichen Sinne. Kyle ließ es wie eine erschrockene Feststellung klingen, während er sich unverwandt auf die Bettkante setzte. „Sie hat doch mittlerweile ’n Handy, oder? Soll ich sie anrufen?“ Stan, der gerade das Glas an die Lippen geführt hatte, setzte es ab, ohne einen Schluck zu trinken. „Nein!“ Die klare Flüssigkeit schwappte dabei bedrohlich hoch, reichte aber nicht an seine plötzlich schrillpanische Stimme heran. Unter gar keinen Umständen durfte seine Mutter von all dem hier erfahren! Stan hatte nicht vor, jemanden wissen zu lassen, worunter er litt und so wie er Kyle kannte, würde der in maßlose Übertreibungen ausbrechen und das wiederum würde dafür sorgen, dass Sharon Marsh ihren Sohn ohne mit der Wimper zu zucken in die nächste Notaufnahme fuhr. Stan für seinen Teil wollte definitiv nicht ausprobieren, ob Notaufnahmeärzte es erkannten, wenn jemand sich absichtlich halb bewusstlos kotzte. „Also sie hat zwar ’n Handy, aber sie ist mit ihrem neuen Macker aus und echt mal, so schlimm isses nich’. Wenn ich ’ne Nacht drüber geschlafen hab, ist das morgen wieder weg!“ Damit ihm die Worte leichter von der Zunge gingen, nippte Stan nun doch an dem Wasser, das ihm überraschend gut tat. Kyles Augen, die sich bei Stans vehementem Nein geweitet hatten, nahmen allmählich ihre natürliche Größe wieder an. „Dacht ja nur...“, murmelte er, fast als sei ihm seine Reaktion jetzt unangenehm. Nebenbei huschte seine Aufmerksamkeit einmal durch das unaufgeräumte Chaos, was Stan sein Zimmer nannte. Stan konnte sich nicht erinnern, wann sie beide zuletzt in seinem Zimmer gewesen waren. Er verdrängte die Bemühung, indem er das Glas leerte und dann weiterflunkerte. „Das war bestimmt das Gammelfleisch in dieser scheiß Frittenbude, in die Kenny mich nach der Schule geschleppt hat.“ „Du warst mit Kenny in ’ner Frittenbude?! Warum habt ihr nix gesagt?!“ Die Erwähnung des Blonden schien zu genügen, um Kyle von den dreckigen Wäschebergen und dem Schreibtisch voller Bücher, Hefter, Laptop und gebrauchtem Geschirr abzulenken. „Gesagt?!“ Stan stellte das Wasserglas zurück auf den Nachttisch und rieb sich die Augenpartie. „Ja, verdammt! So wie Mund aufmachen und Worte produzieren!“ „So wie Mund aufmachen und rumschreien, meinst du?!“ Stan hatte keine Ahnung, warum sein Freund plötzlich so laut und wütend war. Stan wusste nur, dass er gerade niemanden ertragen konnte, der seine Kopfschmerzen mit spitzen Vorwürfen anfachte. Kyle schnappte empört nach Luft, wobei sich seine rechte Hand an die Bettkante klammerte. Das Zucken hätte anders verarbeitet werden sollen. Stan hatte es unzählige Male erlebt. Am liebsten hätte ihm Kyle den Mittelfinger gezeigt. Himmel, war das übertrieben! Und Stan dachte immer, er selbst wäre empfindlich! Aber Kyle hatte die letzten Monate wohl dazu genutzt, um auf der Überholspur an ihm vorbei zu ziehen. „Jetzt bleib mal aufm Teppich! Da war’s echt eklig!“ Kyles grüne Augen nahmen die Form erboster Schlitze an. Er schien so sauer, dass sein Blick durch Stan hindurch drang und ein Loch in die Wand brannte. „Ich will ja gar nich’ wissen, was ihr zwei eingeworfen oder geraucht oder sonst wie habt! Aber wenn du schon mit Kenny so ’nen abgefuckten Scheiß machst und ihr mich nicht dabei haben wollt, dann schreib mich nicht hinterher unter so ’nem blöden Vorwand an, nur weil du Hilfe brauchst, weil du dir die Innereien rauskotzt!“ „So..so war das nicht!“ Die Vorwürfe drückten Stan mit einer ungeheuren Intensität die Luft aus der Lunge. Sein Einwand flatterte hilflos wie ein Fähnchen im Wind. Vor lauter Schuld schaffte er es nicht mal, Kyles Blick Paroli zu bieten. Doch gerade weil er den Blickkontakt so schnell abbrach, fühlte sich Kyle bestätigt und schnaufte. Seine Wangen leuchteten beinahe so rot wie sein Haar, das unter der Mütze hervorschaute. „Na klar... fickt euch doch! Mir so was von egal!“ Sich vom Bett abdrückend, stand Kyle auf und marschierte geradewegs in Richtung Türe. „Mann, ich schwör’s! Ich hab nichts genommen!“ Kyle stoppte, zunächst ohne sich umzudrehen. Trotz Jacke und Schal konnte der Schwarzhaarige die angespannten Muskeln erahnen, die zu Kyles Rücken und Nackenpartie gehörten. Da war viel Energie und viel Kraft in ihm. Viel mehr, als Stan seit Wochen in sich selbst verspürt hatte. Kurz flackerte die stumme Frage, warum Kyle nicht mehr Basketball spielte, durch sein Hirn. Dann war sie auch schon wieder verschwunden. „Du siehst mies aus, Stan. Richtig mies. Und zwar schon länger. Wieso hast du dich da von Kenny mit reinziehen lassen?“ Kyles Tonfall glich einer eisigen Böe und ließ Stan erschauern. „Ich hab mich in gar nichts reinziehen lassen! Es hat überhaupt nichts mit Kenny zu tun!“ „Sondern?“ Kyles Zorn ebbte ins Erträgliche herab, als er erwartungsvoll über die Schulter zu Stan hinüber sah. „Ich...ich bin krank. Hab ich doch gesagt!“ Wie konnte ein ursprünglich harmloser Abend nur so eine fiese Wendung nehmen? Stan spürte richtiggehend, wie sein Gesicht lichterloh brannte und als Kyle mit den Augen rollte, wurde es nur noch schlimmer. Warum glaubte einem der Rothaarige eigentlich nicht? Mit schweren Schritten kehrte Kyle zum Fußende des Bettes zurück und donnerte seine Hände aufs Gestell. „Ja! Und woher kommt das bitteschön?!“ Die Vibration erschütterte Stans Herz und Seele. „Wenn du dir solche Sorgen machst, warum hast du dann nich’ mal früher den Mund aufgemacht!“ Stan erwartete keine Antwort. Er erwartete nur, dass Kyle endgültig explodierte und sich dann aus dem Staub machte. Das war es schließlich, was offenbar alle Menschen immer liebend gern taten: streiten, zerstören und dann das Weite suchen. Seine Eltern taten es auch. Vielleicht war es eine Angewohnheit von Erwachsenen und sie beide hatten ein Alter erreicht, in dem man diese hässliche Angewohnheit ebenfalls schon erlernt hatte. Im Zuge einer schnellen Bewegung riss Kyle die Bettdecke beiseite, hatte das Fußende verlassen und packte sich gleich darauf unsanft Stans Arme. Diesem blieb vor lauter Schreck nichts Anderes übrig, als sich auf die Füße zerren zu lassen und Kyle ungeschickt hinterher zu taumeln. Stans saurer Atem formierte sich zu stocksauren Flüchen, während er aus seinem Zimmer ins Badezimmer geschleppt wurde. Er fror, als ihn die barschen Hände vor dem Ganzkörperspiegel, der neben der Dusche an der Wand angebracht war, schubsten. Die Finger, die bis gerade noch Stans Arme umklammert hatten, krochen hart zu seinen Schultern hinauf und blieben dort als Schwergewichte liegen. Kyle stand so dicht hinter Stan, dass Stan nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, wie viel er selbst von seinem Körpergewicht trug und wie viel er auf den anderen Jungen abwälzte. „Du siehst nicht erst seit heute so aus...!“ Die Finger, die auf seinen Schultern lagen, stachen abrupt und tief zwischen Stans Knochen. Es tat weh. Das erste Mal, seit Kyle ihn aus dem Bett gezerrt hatte, empfand Stan bewusst Schmerzen. Anstatt diese aber sonderlich beachten zu können, blinzelte er nur irritiert das Spiegelbild an. Dort, direkt gegenüber, standen zwei Jungen. 15 Jahre alt und die Gesichter so unglücklich, als hätten sie auf Zitronen gebissen. Kyle, komplett in Jacke und Mütze und Schal gekleidet, schien wie ein großer Umriss Stans Körper nachzumalen. Eine Art aufgedunsener Schatten, wenngleich Kyle keineswegs so etwas wie breit gebaut war. Im Gegenteil, er hatte einen eher feinen Knochenbau. Von drahtig konnte nicht die Rede sein, von muskulös allerdings genau so wenig. Kyle war schlank, so wie immer. Wobei sein einst kindlich rundes Gesicht nun länger ausfiel und von ansehnlichen Wangenknochen beherrscht wurde. Seine Nase war lang und spitz; gerade heraus, wenn man so wollte. Ebenso wie seine grünen Augen unter den dunklen, zielorientierten Brauen. Stan musste schlucken, als sein Blick mit Hilfe des Glases von Kyles Gesicht fiel und auf dessen Händen landete. Starke, schmale Finger. Stan konnte sich nur zu gut daran erinnern, mit wie viel Geschick sie einen Basketball fangen und werfen konnten. Jetzt hatten diese Finger ihn im Griff und so sehr sich Stan auch innerlich sträubte, so schaute er im nächsten Moment sich selbst ins Gesicht. Irgendwas stimmte an all dem nicht. Daran, wie sie beide hier standen und wie sich ihre Körper im Spiegel darboten. War Kyle nicht der dünnere von ihnen beiden? Stan sog unbewusst die Unterlippe zwischen die Vorderzähne und starrte auf sein Kinn, das so aussah wie das seines Vaters – bloß in einer hageren Variante. Stan war aber nicht hager. Es überraschte ihn nur, dass seine Schultern, sein Oberkörper, eigentlich seine gesamte Person so in sich zusammen gesunken wirkte. Zusätzlich nistete eine gespenstische Blässe, die sich bis in sein strohiges Haar erstreckte, auf seinen Hamsterbacken. Wahrscheinlich war es das, was Kyle meinte. Sie waren beide gewachsen, aber Stan wuchs im Moment nicht so wie vorgesehen. Da war Sand im Getriebe. Er sah mies aus. Richtig mies. Es war ihm nur nie aufgefallen, weil er sich zu oft im Spiegel sah, ohne jemals wirklich auf sich zu achten. Ihm war auch nie ein Grund eingefallen, wieso er seine eingerissenen Mundwinkel oder hässlichen Hautunreinheiten genauer unter die Lupe nehmen sollte. „Shit...“ Erst Kyles Nicken ließ Stan realisieren, sein Entsetzen frei heraus geäußert zu haben. Unter seinen schweren Augenlidern saß ein müder Blick, der unwohl Kyles Blick im Glas traf. Stan musste wieder schlucken; seine Füße schoben sich trotz Socken frierend übereinander. Kyle schien betroffen, wobei seine Finger sich etwas lockerten. Nicht länger in die Haut bohrten, sondern nur mehr freundschaftlich dort lagen. „Du nimmst wirklich nix? Keinen Scheiß, den Kenny oder sonst wer dir andreht?“ Ein verneinendes Kopfschütteln andeutend, verlor Stan ein leises aber definitives „Nein“. Er nahm nichts. Er brauchte keine Drogen. Er hatte sich selbst kaputt gemacht und er spürte, wie ihm das Herz zäh gegen die Rippen hämmerte. In Kyles Blick mischte sich etwas sanft Besorgtes. „Ist es wegen...? Ich mein, manchmal..da hat man viel Stress und bei euch Zuhause, da...“ Kyles Blick huschte durchs Bad, so als wolle er sich vergewissern, dass sie alleine waren. Die Worte schienen ihm schwer zu fallen. Zorn witterte Stan keinen. Jetzt war Kyle drauf und dran etwas zu sagen, von dem er nicht wusste, wie er es sagen sollte. „Deine Eltern streiten ja ständig und dann hat dein Dad immer diese jungen Freundinnen und deine Mom diese merkwürdigen Typen! Und dann gibt’s noch Schule und man muss so viel lernen und man will es allen recht machen, weil sonst... Na jedenfalls manchmal, da ist alles irgendwie zu viel für einen, obwohl man sein Bestes gibt. Aber irgendwann kann man halt nich’ mehr. Stan, kann es sein, dass du depressiv bist? Isst du genug?“ Die Fragen waren so feinfühlig wie ein Schlag mit der Keule auf den Hinterkopf. Unter normalen Umständen hätte Stan darüber gelacht, denn ja: er aß definitiv genug! Und ja, Schule war ätzend, daheim war es ätzend und Stress hatte doch eh jeder, aber wieso krallte sich Kyles Emotionalität gerade so ungeheuer tief an Stans Seele fest? Wieso taten seine schnell gehaspelten Wortketten so weh? Alles an Kyles Miene wirkte plötzlich zutiefst verzweifelt. Kyle meinte es ernst und Stan spürte, wie ihn ein böser Verdacht an die Leine legte, seinen Blick vom Glas löste und dafür sorgte, dass er sich leicht herumwandte, damit er seinem Freund tatsächlich ins Gesicht sehen konnte. In die Augen und noch tiefer. Dorthin, wo die weh tuenden Worte herkamen. Stans Schlucken hallte hörbar im Bad wider, als er endlich begriff. „...wieso hast du nie was gesagt?“ Er hörte sich fremd an in seinen Ohren. Fremd und ohnmächtig, weil er verstand, warum Kyle offiziell so viel zu tun gehabt hatte. Wieso er nicht mehr von sich aus auf Stan zugekommen war, wieso er sich hinter Büchern verschanzt und sich beim Basketball abgemeldet hatte. Wieso er die Mittagspause lieber im Physikraum oder der Bibliothek verbracht hatte. Wieso er die meiste Zeit geschwiegen oder oberflächlich, aber distanziert gewesen war. Kyle war es zu viel gewesen. Alles. Und Stan hatte es nicht verstanden. Kyles Hände rutschten endgültig von Stans Schultern und hingen etwas unbeholfen neben seinem Körper, als er mit den Achseln zuckte. „Weil...was hätt’ ich denn sagen sollen? Ich hab gedacht, das ist normal. Ich dachte...“ Kopfschüttelnd zog Kyle seine Mütze ab und strich sich einmal durch die wirren Locken. Er wirkte verloren, woran sein nervöses Lächeln gewiss nicht unschuldig war. Resignierend nahm er auf dem Wannenrand Platz und Stan tat es ihm gleich. In seinem Kopf türmten sich Fragen aller Art auf. Er konnte es regelrecht vor sich sehen: Kyles ganzes Bemühen, sein Ehrgeiz, seine Rastlosigkeit. Wenn sich der Rothaarige in etwas verrannte, gönnte er sich keine ruhige Minute mehr und war nur schwer von seinem selbst gesteckten Ziel abzubringen. Kyle musste in eine sehr dunkle Sackgasse gelaufen sein – und Stan hatte es nicht bemerkt. Er hatte nur sich selber gesehen und nur sich selber gehört. Seine Welt eben. Wie hatte ihnen das passieren können? Wie hatten sie beide sich so von ihren eigenen vier Wänden zerquetschen lassen können, dass sie nicht mal mehr mitbekamen, dass auch ihr bester Freund drauf und dran war, zermalmt zu werden? „Du bist depressiv gewesen und du hast nicht gegessen...“, wiederholte Stan leise für sich und rieb die kalten Zehen seiner Füße aneinander. Die Fassungslosigkeit, die seine Muskeln unterschwellig zittern ließ, färbte seine Stimme. „Es war nicht so schlimm!“ Kyles Unbehagen war gigantisch. Stan konnte ihn an seinem Schal fummeln und diesen langsam ausziehen sehen. „Ich hab nur irgendwie keine Zeit mehr zum Essen gefunden und so. Aber du kennst ja meine Mom. Sie hat sich das nicht lange angeguckt...“ Der letzte Satz vereinbarte etwas Dankbares sowie Schuldbewusstes miteinander. Ja, Mrs. Broflovski war keine Frau, die Missstände – welcher Art auch immer – hinnahm. Aber Kyle kannte seine Mutter und Kyle wusste, wie er bestimmte Dinge gewisse Zeit vor ihr verheimlichen konnte. Er war gewieft. Er hatte ihr garantiert unverhältnismäßig lange vorgegaukelt, normal zu essen. Stan konnte es förmlich spüren. Kyles Sturheit und seine ewige Anstrengung, bis man ihm irgendwann auf die Schliche gekommen war. Früh genug, bevor er wirklich so drastisch abnehmen konnte, dass es selbst Stan aufgefallen wäre. Sein Gedächtnis wälzte Erinnerungen und versuchte, sich Kyle vor einigen Monaten auf den Schirm zu rufen. War er damals dünner gewesen? Ja. Eindeutig. Aber das war doch normal bei Prüfungsstress und wenn man von Wachstumsschüben heimgesucht wurde. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass etwas Anderes dahinter steckte. Stan stützte die Ellbogen auf seine Knie und bettete das Gesicht in den Händen. Er war so blind gewesen. So dumm. So unverzeihlich dumm! „Oh Mann! Sorry...“ „Stan-“ „Es tut mir echt Leid, ehrlich Alter!“ Das schlechte Gewissen zerfraß Stan förmlich. Er machte einfach restlos alles falsch: bei seinen Freunden und bei sich selber. Der Reißverschluss von Kyles Jacke ratschte. Dann registrierte Stan, dass man ihm das vorgewärmte Kleidungsstück über die Schultern legte. Die Geste war so wohltuend, dass er prompt den Kopf hob. „Geht’s dir gut?“ „Halb so wild alles. Mir geht’s mittlerweile besser. Ich fahr ein Mal die Woche zu so ’ner netten Tante und red mit ihr über mein Leben und so. Leider liegt die Stunde zur gleichen Zeit wie das Basketballtraining...“ „Deswegen spielst du nich’ mehr...“ Und deswegen hatte Kyle auch nicht groß und breit erklärt, warum er den Basketball dran gegeben hatte. Stattdessen gab er einen bestätigenden Laut von sich und schielte kurz zur Deckenlampe, ehe er sich wieder auf Stan konzentrierte. „Was is’ mit dir?“ „Äh... ich nehm keine Drogen, trotzdem is’ irgendwie alles beschissen. Aber ich ess genug.“ Die Jacke enger um seinen Körper schlingend, kuschelte sich Stan in die herrliche Wärme. Offenbar hatte Kyle es irgendwie geschafft, noch die Notbremse zu ziehen, bevor er sein Leben endgültig vor die Wand fuhr. Davon konnte Stan wohl nur träumen... Er wusste nicht mal, was man konkret an seinem Leben ändern könnte. Seine Eltern würden sich ihm zuliebe nicht wieder wie halbwegs vernünftige Menschen benehmen und selbst wenn, würde das seine Stimmung wohl nur bedingt heben. Wahrscheinlich stimmte Kyles Verdacht und Stan war depressiv. Depressiv und essgestört, um genau zu sein. Wobei Nichtessen eine Sache war, aber Essen und Erbrechen eine andere und wie viel Verständnis Kyle dafür aufbringen würde, konnte Stan nicht abschätzen. Demnach studierte er schweigend seine Füße und lugte nur einmal kurz zur Seite, als Kyle sich reckte und das noch von vorhin offen stehende Fenster schloss. Stan wusste nicht, wie er Kyle seine Unart jemals erklären sollte. Vielleicht sollte er es einfach lassen. Wenn Kyle und er sich jetzt wieder besser vertrugen, bekam er die Sache bestimmt irgendwie in den Griff, ohne noch mehr Pferde scheu zu machen. Einen Versuch war es immerhin wert. Tbc? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)