Memori3s von _Myori_ ================================================================================ Der erste Schritt ----------------- Die Musik berauschte ihre Sinne. In ihrer Welt existierten nur noch die dröhnenden Bässe, die hohen Töne, die sich immer weiter in eine nicht enden wollende Klimax hochschraubten, von der sie mitgerissen und gefangen genommen wurde. Sie fühlte sich, als würde sie fliegen, hoch oben über der Stadt, fernab von allen anderen; lediglich die fremden Hände auf ihren Hüften belehrten sie eines besseren. Die Finger packten sie fester und fuhren forschend unter ihr Top, sodass sie die rauen Schwielen des Fremden auf ihrer verschwitzten Haut spüren konnte. Eine rasierte Wange schmiegte sich an ihre, dass sie sein noch leicht an ihm haftendes Aftershave riechen konnte, bis der DJ erneut die Nebelmaschine betätigte und der Geruch frischen Trockeneises ihr in die Nase stieg und alles andere verdrängte. An das Gefühl seines Oberkörpers an ihrem Rücken hatte sie sich schon lange gewöhnt; sie bewegten sich im Rhythmus der Musik, als seien sie eine Person. Er hatte ihr zu Anfang, nachdem er sie in dem Getümmel auf der Tanzfläche entdeckt hatte, seinen Namen gesagt, jedoch hatte sie es nicht für Nötig gehalten, ihn sich zu merken - sie würde den Typen sowieso nicht wiedersehen und sie war sich sicher, dass er ihren Namen ebenfalls schon vor Minuten wieder vergessen hatte. Namen schienen für ihn nicht das Wichtigste an einer Frau zu sein, dachte sie, als seine Rechte in diesem Moment am unteren Ende ihres kurzen Rockes angekommen war und nun den Weg unterhalb des Stoffes wieder zurück suchte. Die empfindliche Berührung an ihrem Oberschenkel weckte für einen Augenblick ihre trunken gewordenen Sinne, die etwas in ihrem Kopf klingeln und sie wieder halbwegs klar denken ließen. Ihre eigene Rechte griff nach seiner und zog diese von ihrem Bein weg. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm um und starrte zu ihm hoch. Ihr fremder Namenloser tanzte ungestört weiter, als habe er nicht einmal mitbekommen, dass sie nicht mehr an ihm klebte. Kurz ließ sie ihren Blick über ihn wandern. Er schwankte nach vorne und hinten mit grotesk wirkenden Ausfallschritten, die man mit bestem Willen keinem Tanzstil zuschreiben konnte, er grölte den spärlichen Text der Musik mit und seine Pupillen waren erbsengroße Schlunde. Sein Hemd war halb aufgeknöpft, seine helle Jeans zeigte rote und blaue Flecken der verschütteten Drinks, die in diesem Klub ausgegeben worden sind. Er gab eine jämmerliche Gestalt ab; aber zumindest schien er nicht so viel getrunken zu haben, dass sie befürchten müsste, er könnte seine etlichen Drinks nicht in sich behalten. Und er sah gut aus - zumindest halsaufwärts. Er schien sich mit einem Mal wieder an sie zu erinnern und glotzte sie aus groß gewordenen Augen an, und als in diesem Moment der wechselnde Rhythmus der Bässe ein neues Lied ankündigten, breitete sich abermals das selbstsichere Grinsen vom Anfang in seinem Gesicht aus. Er begann, sie von neuem anzutanzen. Sie allerdings hatte beschlossen, diesen Abend zum Abschluss zu bringen. Sie ließ seine auffordernd ausgestreckten Arme außer Acht, packte ihn am Hemdkragen und raubte ihm die stickige, vom Trockeneis schwangere Luft. Wodka, stellte sie schnell fest. Wodka und Zigaretten. Eine abartige Mischung. Sie beschloss es zu ignorieren. Sie hatte schon lange aufgehört, allzu wählerisch zu sein… Ihr Fremder überwand seine anfängliche Überraschung recht schnell und nutzte sogleich die ihm gebotene Gelegenheit, um seinen alten Plan von neuem aufzunehmen - und obwohl ihr es diesmal egal war, dass er sie in der Öffentlichkeit halb auszog, kam er dennoch nicht viel weiter als bei seinem ersten Versuch. Izumi spürte eine dritte Hand, die sich um ihren Oberarm schloss, sie mit einem energischen Ruck von dem Mann trennte und durch die volle, nebeldurchflutete Diskothek zerrte. Ihre Bekanntschaft starrte ihr einen Moment lang hinterher, dann, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand, sah sie noch flüchtig, wie er sich eine Hand gegen den Mund presste und sich nach vorne beugte. Izumi verzog das Gesicht. Ihre Einschätzung zu seinem Alkoholpegel war anscheinend doch nicht ganz korrekt gewesen… Um nicht zu stolpern, drehte sie sich im nächsten Moment um und ließ sich, ein genervtes Augenrollen unterdrückend, mitschleifen. Erst als ihnen die kühle Nachtluft um die Köpfe wehte, ließ er sie los. Sie hatte ihre Jacke noch drinnen in der aufgeheizten Diskothek, sodass der schneidende Septemberwind ihr eine Gänsehaut auf die nackten Oberarme und Beine zauberte. Ihre Eskorte ließ keinen Augenblick verstreichen und baute sich zugleich vor Izumi auf, die Arme vor der Brust verschränkt und die dunklen Brauen tadelnd nach oben gezogen; mehr brauchte es nicht, damit sie jetzt schon genug von ihm hatte. „Bist du eigentlich noch ganz bei Sinnen?“, fragte er überflüssigerweise und hielt sie am Arm zurück, als sie in diesem Moment wieder umkehren und reingehen wollte. „Was sollte das da drinnen werden?“ „Ach, darf ich seit neustem auch nicht mehr feiern gehen?“, fauchte sie ihr Gegenüber bissig an und riss ihren Arm los. Toshihikos Augen verengten sich erbost und energisch deutete er auf den Laden in ihrem Rücken. „Wer war das gerade eben? Ein Freund von dir?“ „Nein!“ Ihre Stimme drückte pure Entrüstung aus. Ihr Bruder schloss die Augen und schien sich sichtlich zusammennehmen zu müssen, um nicht loszubrüllen. Statt eine Standpauke anzufangen, packte er Izumi wieder am Handgelenk. „Du wirst jetzt mit mir nach Hause kommen, ich denke, für heute hast du genug gefeiert.“ Das letzte Wort sprach er aus, als wäre schon allein der Gedanke daran abartig. Izumi ballte die Hand zur Faust und blieb einfach stehen. Verärgert schaute Hiko über die Schulter zurück, doch Izumi ließ sich davon nicht einschüchtern. Vor ihrem Bruder, egal wie böse er auch gucken konnte, hatte sie noch nie Angst oder großen Respekt gehabt. Respekt musste man sich in ihren Augen verdienen und bekam man nicht einfach mit irgendeiner Betitelung gleich mitgeliefert. „Ich habe aber nicht vor, nach Hause zu gehen.“ Die Zornesfalten auf seiner Stirn wuchsen zu Tälern heran. „Ich werde dir aber keine Wahl lassen. Du wirst jetzt mit mir mitgehen, Izzy, und wenn ich dich knebeln muss.“ Doch seine Schwester wollte sich keinen Millimeter rühren, sodass sie sich wie ein Kleinkind gegen seinen Griff lehnte und in die andere Richtung zog. Dass sie damit gegen ihren, fast drei Köpfe größeren Bruder recht wenig ausrichten konnte, war ihr sehr wohl bewusst, aber Izumi wollte auch nichts unversucht lassen. Er würde ihr den Abend nicht versauen! „Du hast mir nichts vorzuschreiben! Lass mich los, Hiko!“, schrie sie ihn laut an, dass sich die Türsteher der Disko schon verwundert herüberschauten. Vielleicht würden sie ja eingreifen, wenn sie sich nur wild genug gebärdete. Toshihiko schien das alles kalt zu lassen. „Es ist mir egal, wie du das siehst, aber ich lasse bestimmt nicht zu, dass du in diesen Schuppen heute nochmal reingehst und mit irgendwelchen wildfremden Typen rummachst!“, entgegnete er für jeden vernehmlich, sodass sie peinlich berührt rot anlief. Wie sich das anhörte… „Was ich mache hat dich nicht zu interessieren!“, zischte sie etwas leiser und versuchte ein letztes Mal, die Handschellen, in die sich die Hand ihres Bruders verwandelt hatte, abzustreifen; vergeblich. Widerwillig stellte sie ihren Widerstand etwas ein und ließ sich nun doch mitziehen. Ihren Frust über die Niederlage überspielte sie mit einem genervten Seufzen. „Lass mich wenigstens noch meine Jacke holen, mir ist kalt.“, murrte sie und fuhr sich mit der freien Hand durch die frisierten Haare. Von dem Hünen kam keine Erwiderung. Wie sie sein dickes Fell doch hasste! „Hiko!“ Er ließ sich mehrere Sekunden Zeit, ehe er den Kopf schüttelte und über die Schulter zu ihr zurück schaute. „Du brauchst dich echt nicht wundern, dass Vater immer so viel an dir auszusetzen hat - du bemühst dich nicht einmal die Regeln einzuhalten.“, sagte er anklagend. Genervt rollte Izumi mit den Augen. Natürlich musste er jetzt auch noch das leidige Thema anschneiden; wahrscheinlich war ihr Vater auch der eigentliche Grund gewesen, warum Hiko überhaupt noch nach 22 Uhr vor die Tür gegangen war und sie gesucht hat - wobei sie stark anzweifelte, dass ihr alter Herr seinem Sohn das aufgetragen hatte, vermutlich hatte er ihr Verschwinden noch gar nicht bemerkt. Ihr Bruder wollte nur wieder einmal den Streitschlichter raushängen lassen. „Warum sollte ich auch?“, entgegnete sie gereizt und hielt dem Tadel in seinen grünen Augen trotzig stand. „Solange du nach seiner Pfeife tanzt und ihm in den Hintern kriechst, ist er doch zufrieden! Ich bin ihm egal.“ Abrupt blieb der Angesprochene stehen und sah sie teils wütend, teils verzweifelt an. „Du bist ihm nicht egal! Wir machen uns alle Sorgen um dich, Izzy…“ Er meinte die Worte ernst, das wusste sie, auch wenn die Wahrheit eine andere war. Nein, nicht sie machten sich Sorgen; ihr Bruder, ja, der vielleicht, oder ihre Mutter noch, aber es war sehr naiv von ihm zu glauben, dass das auch auf den Rest ihrer verdammten Familie zutraf. „Davon merk ich wenig.“, konterte sie mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen und hoffte so, Hiko die Illusion nehmen zu können. Dieser sah jedoch nur weiterhin besorgt zu ihr hinab, dass es immer schwerer wurde, in so viel offensichtliches Wunschdenken zu schauen. Schnaufend schloss sie zu ihm auf und bedeutete Hiko damit, dass sie nun folgen würde. Zögernd öffneten sich endlich seine Finger um ihr Handgelenk, als sei er sich nicht ganz sicher, ob sie nicht doch im nächsten Moment auf dem Absatz kehrt machen würde; sein befürchteter Fluchtversuch blieb allerdings aus. Sie folgte nur um seinetwegen, rechtfertigte sie sich innerlich. Dieses Riesenbaby würde ja sonst gar keine Ruhe mehr geben und ihre Lust war schon lange in der Eiseskälte dieser Nacht fortgetrieben worden. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Sie vermisste ihre warme Jacke. Für Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, ehe Toshihiko sich an einem neuen Gespräch versuchte. „Vater möchte mit uns zusammen morgen zu Abend essen.“, begann er etwas zögerlich, als könne er sich schon ausmalen, wie Izumi darauf reagieren würde; sie enttäuschte ihn nicht. „Auch das noch…“, brummte sie leise in sich hinein, dennoch schien Hiko es mitbekommen zu haben. „Versprich mir, dass du auftauchst.“, erwiderte er sofort im ernsten Tonfall. Wenn er so sprach, fühlte sie sich schmerzhaft an ihren Vater erinnert. Hiko schien immer mehr ein perfekter Klon von ihm werden zu wollen. „Ja doch.“, gab sie genervt zurück und kickte einen alten Flaschenverschluss vor ihr über den Asphalt. „Und reiß dich bitte zusammen.“ Noch mehr ernst. Noch mehr ihr verhasster Vater. Ruckartig sah sie auf und funkelte die jüngere Ausgabe ihres Alten wütend an. „Soll ich auch noch mein Rüschenkleid anziehen und was auf der Blockflöte vorspielen?!“ Die Fassade bröckelte und unter der harten Maske kam ihr Bruder zum Vorschein, der mit den Nerven am Ende angelangt zu sein schien. Seufzend massierte er sich seinen geraden Nasenrücken. „Izzy…“ Yoshiyuki Kato war für vieles bekannt und für noch mehr berüchtigt; Familienvater gehörte jedoch nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften. Das wussten er und sein Umfeld und daher gab er sich auch nicht die Mühe, das zu verstecken. Er war keiner der Väter, die Bilder ihrer Kinder im Portemonnaie mitführten und diese Geschäftsleuten oder Freunden stolz präsentierten. Auf seinem Schreibtisch im Büro stand ein kleines eingerahmtes Familienfoto, das allerdings schon ziemlich alt war; es war zur Einschulung seines Sohnes beim Fotografen geschossen worden. Toshihiko stand darauf stolz neben seinem Vater, der eine Hand auf seine schmale Schulter gelegt hatte. Izumi drängte sich an den Rock ihrer Mutter und machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und dieser Ausdruck erinnerte ihn stets daran, wie schwer es damals gewesen war, die Dreijährige ruhig zu bekommen; an ihrem aufmüpfigen Verhalten hatte sich bis heute nicht viel geändert. Yoshiyuki Kato konnte nicht von sich behaupten, dass er seine Kinder liebte, zumindest nicht so, wie die Gesellschaft um ihn herum Liebe definieren würde. Er war stolz auf seine Kinder; er war stolz auf seinen Sohn, der die Aufnahmeprüfung an der Hochschule von Tokio mit Leichtigkeit geschafft hatte. Er war froh, dass seine Kinder sich bester Gesundheit erfreuen konnten; sein Erbe hatte zu einem der besten Sportler in seiner Oberschule gehört. Er liebte es, wenn seine Kinder Leistung erbrachten, denn das war es, woran Kato seine Mitmenschen maß; er selbst lebte es schließlich vor. Izumi war mit dem Gedanken aufgewachsen, dass sie in den Augen ihres Vaters nur etwas wert sei, wenn sie seine hochgesteckten Ziele und Erwartungen erfüllte; die gleichen Hindernisse, die ihr Bruder stets vor ihr überwand, weil er der ältere war. Anfangs hatte sie sich noch Mühe gegeben und den Ehrgeiz besessen, ihrem großen Bruder in allem nachzueifern. Aber sie war nicht halb so sportlich wie er, ihre Vorbereitungen für Klausuren reichten nie für die beste Note aus und durch die Aufnahmeprüfung für Toshihikos Uni war sie knapp durchgefallen. Ihre Leistungen würden niemals „hervorragend“ werden, und je älter sie wurde, umso mehr akzeptiere sie diesen Umstand und hörte auf, ihrem Vater gefallen zu wollen. Da Yoshiyuki Kato der Leiter einer hoch angesehenen Kanzlei war und auch außerhalb Tokios Straffälle übernahm, war er selten zuhause. Stören tat ihn das wenig. Izumi ebenfalls. So war es schon immer ein verkehrtes Bild für sie gewesen, wenn ihr Vater am Esstisch saß und mit seiner Familie zu Abend aß. Die Stimmung war eine andere. Tiefgekühlt. Auf Eis gelegt. Und das Essen, so gut die angestellte Küchenhilfe auch kochte, schmeckte fade, wenn einem der Vater beim Essen auf die Finger guckte. Izumi war mit der Zeit äußerst sensibel auf diese Blicke geworden. In einem leichten Anflug von Wut - den sie mit aller Kraft zu zügeln versuchte, ihrem Bruder zuliebe, der schon wieder alarmiert über den Tisch zu ihr starrte - sah sie von ihrer Vorspeise auf und schaute ihn an. Katos Augen strahlten unverfrorene Missbilligung aus; die gewöhnliche Reaktion auf seine Tochter und dennoch stieß das Izumi immer noch sauer auf. „Mache ich irgendetwas falsch, Vater?“, fragte sie um einen höflichen Tonfall bemüht. Die Braue ihres Vaters rutschte ein Stück weit in die Höhe. „Ist einer deiner Kommilitonen verstorben, oder warum sitzt du in Trauerkleidung am Tisch?“ Izumi presste die Lippen aufeinander und sah an sich herab. Sie hatte sich das schwarze Kleid erst vor ein paar Tagen gekauft, für ein Punkrock-Konzert, auf das sie schon Monatelang gespannt und in Vorfreude wartete. Die schwarzen Overknees und der nietenbesetzte Gürtel passten, wie sie fand, sehr gut zu dem kurzen Schnitt des Kleides. Sie liebte dunkle Kleidung und ihr Stil war schon öfters der Anlass für einen Streit zwischen ihr und ihrem Vater gewesen. An dem Tisch war es noch leiser geworden, alle sahen sie an, bis auf Yoshiyuki, der sich in der Zwischenzeit wieder seiner Suppe gewidmet hatte. „Ich warte immer noch auf deine Antwort.“, verkündete er irgendwann zwischen zwei Löffeln der cremigen Gemüsesuppe. Kein Kommilitone, Vater, dachte sie, aber seh dich doch mal im Raum um, vielleicht fällt dir ja etwas auf. Ihre Mutter, ihre liebevolle, herzensgute Mutter, saß in sich zusammengesunken da und fuhr Kreise mit dem Löffel in ihrer Suppe nach, immer wieder unsicher zu ihrem Mann blickend, als rebellierten innerlich ihre weggesperrten Beschützerinstinkte ihren Kindern gegenüber. Hiko saß nur da und sah sie tadelnd an, als sei sie ein kleines trotziges Kind, das nicht verraten wollte, warum es von oben bis unten mit Schlamm bedeckt war. „Das ist ein ganz normales Kleid.“, presste sie widerwillig hervor und tauchte ihren Löffel wütend in die inzwischen lauwarm gewordene Suppe. Ignorier ihn, sprach sie sich selbst beruhigend zu. „Es ist zu kurz“, entgegnete ihr Vater in einem beiläufigen Tonfall. „Du siehst damit aus wie ein billiges Mädchen von der Straße.“ Die erste Ohrfeige an diesem Abend. Und das schon bei der Vorspeise. Wie schwer es doch war, mit verkrampfter Hand so einen dämlichen Löffel zum Mund zu führen. Ignorieren! Sie hörte auf die leise Stimme in ihrem Inneren nur widerwillig, presste die Lippen aufeinander, um jeden unbedachten Kommentar im Keim zu ersticken. Ihr Vater schien ihr Schweigen zu genügen und so ließ er das Thema fallen, um sich ihrem Bruder und seinem hervorragenden Werdegang an der Uni zuzuwenden. Izumi war das ganz recht. Hiko liebte es mit seinen guten Noten vor ihrem Erzeuger zu prahlen und dieser bekam dadurch auch gleich bessere Laune; selbst ihrer Mutter stand dann der Stolz ins Gesicht geschrieben und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Manchmal, in solchen Situationen, packte Izumi der Neid, aber der verflog recht schnell wieder. Neidisch auf Hiko zu sein lohnte sich genauso viel wie Vögel um ihre Flügel zu beneiden – warum sich um Dinge scheren, die sowieso für einen unerreichbar sind? Sie blendete das Gespräch zwischen Vater und Sohn aus, als ihr Bruder schon wieder davon anfing, dass er für den Leichtathletik-Kader aufgestellt worden war – etwas, dass sie sich schon fünfmal anhören durfte – und genoss die vorzügliche Suppe mit jedem Löffel mehr. Sie musste der Küchenhilfe unbedingt das Rezept entlocken. „-eigentlich, Izumi?“ Die tiefe Stimme ihres Vaters schwappte an ihr Ohr und ließ sie erschrocken aufschauen. Sein Blick war wieder gewohnt kühl geworden. „Antworte, wenn man dich etwas fragt.“, sagte er verstimmt. Izumi schluckte und versuchte sich an einem versöhnlichen Lächeln. „Entschuldige, ich… ich habe nicht zugehört…“ Dass ihm diese Antwort nicht zusagte, bemerkte sie sofort im nächsten Moment. Yoshiyukis Brauen bildeten eine steile Falte auf der Stirn. „Wie läuft dein Studium, habe ich dich gefragt.“ Studium. Natürlich, das hätte sie sich auch selber denken können… Beherrscht setzte sich gerader hin. „Nun, die Prüfungen für dieses Semester habe ich alle bestanden und bald-“ „So schwer können die Prüfungen für Kindergärtner ja auch nicht sein.“ Die nächste Ohrfeige. Ihre Hände verkrampften sich unter dem Esstisch. „Vater, noch einmal“, sagte sie im ruhigsten Tonfall, den sie hinbekam, dennoch sah Hiko alarmiert zwischen ihr und ihrem Vater hin und her. „Ich werde keine Kindergärtnerin, ich studiere Pädagogik…“ Kato zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Das kommt auf dasselbe hinaus. Die meisten Studenten landen doch hinterher in Kindertagesstätten um Kleinkinder zu bespaßen.“ „Nicht alle!“ Wut belegte ihre Stimme und ließ sie leicht zittern. Die Braue ihres Vaters wanderte erstaunt in Richtung Haaransatz. „Ach, und du glaubst, du gehörst zu den wenigen, die das nicht werden?“ Er gluckste belustigt und griff nach dem Brotkorb, der auf dem Tisch stand. „Du solltest das Studium lieber rechtzeitig abbrechen und eine Ausbildung anfangen; etwas, womit du Toshihiko hinterher in der Kanzlei unterstützen kannst. Ich habe mir sagen lassen, dass es sehr gute Computerkurse für Sekretärinnen gibt-“ „Du willst allen Ernstes von mir, dass ich mein Studium hinschmeiße um Sekretärin zu werden?“, zischte Izumi schneidend und starrte ihren Vater mit zornigen Augen an. Verkrampft hockte sie auf ihrem Stuhl und versuchte das Zittern in ihrem Inneren nicht nach außen sichtbar werden zu lassen. Ignorier ihn, reg dich nicht auf, beschwor sie etwas tief in ihr. Yoshiyuki sah ihr unverfroren ins Gesicht. „Man sollte wissen, wo seine Neigungen und Leistungsgrenzen einzuordnen sind.“, antwortete er gelassen, biss von der Brotscheibe ab und seufzte hörbar. „Manchmal bin ich doch sehr froh, dass Toshihiko der ältere von euch beiden ist; so komme ich nicht in die schmähende Bredouille, meinen Nachfolger zu enterben.“ Das war zu viel. Die kleine besonnene Stimme in ihrem Kopf verlor bei diesen Worten die Kontrolle über sie. Geräuschvoll landete ihr Besteck auf dem halb leer gegessenen Teller und sie stand so energisch auf, dass ihr Stuhl lautstark nach hinten kippte. Wieder waren alle Blicke auf sie gerichtet, doch diesmal sah sie in allen nur blankes Entsetzen, selbst ihr Vater schien mit so einer Reaktion nicht gerechnet zu haben. „Izumi, setz dich wieder hin.“, sagte er beherrscht ruhig und sie konnte sehen, wie seine Hände sich zusammenballten. Er war wütend. Sie beachtete es nicht weiter. Stumm wandte sie sich ab und verließ das Esszimmer. „Izumi!“, hörte sie ihren Vater poltern. Auch ihre Mutter rief ihr flehend ihren Namen hinterher, doch sie reagierte immer noch nicht. Sie hatte endgültig genug. Mit ausgreifenden, beinahe rennenden Schritten eilte sie die Treppe im großen Flur hinauf. „Ich kümmere mich um sie.“ Die Stimme ihres Bruders drang leise und gedämpft ins erste Stockwerk hinauf, ehe sie ihre Zimmertür hinter sich zuknallte und den Schlüssel umdrehte. Keine zehn Sekunden später wurde die Klinke erfolglos heruntergedrückt und gegen das Holz geklopft. „Mach bitte auf, Izumi.“ Hiko klang nicht wütend, er klang auch nicht wie ihr Vater. Es lag Traurigkeit in seinen Worten, Verzweiflung und Verständnis. Dennoch presste sie die Lippen aufeinander und lehnte sich schweigend gegen die Tür. Als sie nicht antwortete, klopfte ihr Bruder erneut, jedoch zaghafter als zuvor. „Izzy, komm wieder mit runter, ich verspreche dir, wir werden zusammen mit Vater reden.“ Wieder brach etwas in ihr und neue Wut packte sie. Mit der flachen Hand schlug sie laut gegen die Tür. „Lasst mich in Ruhe! Ihr alle! Ich hasse euch!“ Sie spürte wie die Tränen über ihre Wangen liefen und in der Hoffnung, das Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich die Hand gegen den Mund. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder sie weinen hörte, dass er mitkriegt, dass sie unter den Worten ihres Vaters so litt. Es blieb still auf der anderen Seite, aber sie war sich sicher, dass Hiko immer noch dastand und verzweifelt auf seiner Unterlippe herum kaute. Ihr naiver Bruder. Sie wischte die verhassten Tränen weg, sah zu ihrem großen Zimmerfenster und ein Gedanke keimte in ihr auf, einer, den sie schon oft hatte, und den sie oft - für Hikos Geschmack zu oft - umgesetzt hatte. Kurzerhand nahm sie ihre Geldbörse von ihrem Schreibtisch, öffnete das Fenster weit und schwang ihre Beine über die Bank nach draußen. Unter ihr lag in zwei Metern Tiefe das Blechdach der Gartenlaube, von da aus war es nur ein weiterer kleiner Sprung bis sie durch den Garten ungesehen zur Straße gelangte. Ohne zu zögern kletterte sie, sich an der Fensterbank festhaltend, hinab und versuchte den Lärm des Wellblechs unter ihren Füßen so gering wie möglich zu halten. Hiko würde zwar schon sehr bald merken, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer war, aber sie musste ihn ja nicht sofort auf ihre Flucht aufmerksam machen. Routiniert federte sie ihren Sprung von der Laube ab und lief durch den dunklen Garten, zwängte sich durch die vereinzelt lichte Hecke und kletterte über die mannshohe Steinmauer. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, machte sie sich im Laufschritt auf in die Innenstadt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)