[Fireangels] In maiorem dei gloriam - Leseprobe von Fireangels (Zum höheren Ruhme Gottes) ================================================================================ Prolog: Fabula Angeli - Die Geschichte eines Engels --------------------------------------------------- Was taten sie da? Was hatten sie vor? Ich war wie versteinert, unfähig, mich zu rühren; es schien, als wäre das Blut in meinen Adern gefroren, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen. Die Zeit stand still. Wohin ich auch blickte, sah ich eine geteilte Welt: Tosende Gefühle, leidenschaftliche, aber grausame Hitze einerseits, unbewegtes Schweigen, besonnene, aber verblendete Kälte andererseits. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte es nicht sehen, dieses Bild, von dem ich meine Augen dennoch nicht abwenden konnte. Es widersprach allem, was hätte sein sollen. Eine noch größere Gräueltat als der Frevel von Eden. Waren wir denn nicht alle Kinder Gottes? Waren wir denn nicht alle Brüder? Nichts schien mir ferner, als dass wir von unsrem Vater dazu bestimmt waren, gegeneinander zu kämpfen. Mit knapper Not konnte ich dem Schwerthieb eines Bruders ausweichen, der sich in meinen Rücken geschlichen hatte – Oh, Vater! Wie grausam konnte ein Engel in deinem Auftrag sein?! Ich floh vor dem Kampfgeschehen, meine Füße, meine weißen Kleider schwarz von Ruß und Staub. Noch nie hatte ich soviel Leid gesehen! Aus unzähligen, matten Augen sahen Angst, Wut und Verzweiflung zu mir auf und ich war unfähig, ihnen Trost zu spenden. Ein Gebet nach dem anderen sandte ich zu unserem Vater, während ich nach meinen Herren suchte, die ich – noch vor meinem Vater – für die Einzigen hielt, die dieses Gemetzel aufhalten konnten. Ich fand sie hinter einem Hügel und erschrak, als auch sie die Schwerter erhoben hatten. Ich sah sie kämpfen, Bruder gegen Bruder. Und in ihren Hieben konnte ich keine Zurückhaltung entdecken. Verzweifelt sank ich in den Staub, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wenn selbst diese zwei gegeneinander im Argen kämpften... Doch war es nicht prophezeit? Warum sträubte ich mich gegen dieses Bild? Letztendlich war es doch kein schlechtes Zeichen. Alles würde wieder ursprünglich, die Ordnung wieder hergestellt werden. Wieso konnte ich mich nicht darüber freuen, mich nicht damit anfreunden? Weil ich tief in meinem Innern wusste, dass es nicht richtig war, was sie taten. Wieso ergriff ich nicht für einen Partei? Warum eilte ich nicht zur Hilfe? Weil ich dann den anderen, den ich nicht minder schätzte und ehrte, hätte verraten müssen. So stand ich da und sah ihnen zu. Wie sie kämpften. Und je länger ich sie beobachtete, desto deutlicher schien es mir, dass sie nicht nur ihretwegen kämpften. Hinter Ruhe und Zorn glaubte ich Verzweiflung zu erkennen. Dies miterleben zu müssen war so grausam, dass ich mir wünschte, weinen zu können. Es war zu früh und es war der falsche Weg; die Zeichen für diese Trennung und Zusammenkunft, für diesen heiligen und teuflischen Pakt waren noch nicht erschienen - das musste ihnen doch klar sein! Und trotzdem musste ich mit ansehen, wie es ihnen beiden ernst war, den anderen zu unterwerfen. Ich war wie versteinert, unfähig, mich zu rühren; meine Hände zitterten - aber nicht vor Kälte. Es war noch zu früh! Herr! Herren!, schrie ich innerlich, aber keine Silbe wollte über meine Lippen kommen; nicht ein Wispern konnte ich hervorbringen – es war, als wehrten sich meine Gedanken dagegen, gehört zu werden. Wie hatte es nur soweit kommen können? Leider wusste ich es genau. Und ebenso wusste ich, dass ich nicht ganz unschuldig daran war. Und als der Erzengel Michael seinem finstren Bruder das Schwert aus der Hand schlug und ihn niederstürzen ließ, stand fest: Der himmlische Rebell ward von seinem eigenen Bruder geschlagen. Und alle, die dem Rebellen Luzifer folgten, fielen endgültig mit ihm in die Welt der Verdammnis. Dass dies jedoch mit Nichten das Ende, sondern nur ein Akt in Seinem Bühnenstück war, sollten wir erst später feststellen. Einige von uns würden sich dadurch in ihrem Hass bestätigt sehen. Die anderen aber, die Gott immer noch die Treue hielten, würde auch diese Erkenntnis nicht in ihrem Glauben erschüttern. Ich hingegen sollte mich nie ganz für eine Seite entscheiden können... Kapitel 1: Cuius regio eius religio - Wessen Gebiet es ist, der bestimmt die Religion ------------------------------------------------------------------------------------- Eine gigantische Feuerkugel schwebte unter dem kostbar verzierten Kuppeldach. Ihre Flammen zuckten träge und tauchten den düsteren Saal in ein unwirkliches Licht. Ich saß rittlings auf der Balustrade eines der zahlreichen Balkone, während mein Blick mit mäßigem Interesse umherschweifte. Unter der kleinen Sonne ging es jäh in die Tiefe; zwischen Decke des Saals und dem Boden, den nur die Höchsten der Unseren zu betreten wagten, lagen ein paar Hundert Galerien und Balkonreihen. Bald würde jeder Sitz auf jedem Balkon gefüllt sein, das Volk sich auf den Galerien drängen. Aber noch war es still. Und die Stille brachte eine Kälte mit sich, die ungehindert in meinen Körper drang und ein seltsames, aber wohlbekanntes Gefühl der Übelkeit hervorrief. Es war immer so, wenn Er nicht anwesend war - als ob der Flammenkörper in der Kuppel einzig und allein für Ihn seine Wärme abstrahlte und für niemanden sonst. Aber das war nichts Eigenartiges; hier schien alles nur für Ihn und seinetwegen zu existieren. Bei diesem Gedanken runzelte ich die Stirn und seufzte. Wenn Er nur ein anderer gewesen wäre. Wenn doch alles anders gekommen wäre... Ich musste lachen. Selbst dann würde wohl dies alles existieren und gewiss auch nur seinetwegen. Aber vielleicht wäre es dann in diesem Moment nicht so kalt gewesen. Vielleicht hätte die Sonne geschienen, die manch einer hier noch nie gesehen hatte. Vielleicht war es Glück, dass ich es kannte, die Schönheit der Natur, ihre Vielfalt. Rauschende, reißende Bäche, Vogelschwärme und Blumenmeere – all dies hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Und jetzt, umgeben von tristem, leblosem Ödland, brauchte ich nur die Augen zu schließen, um sie wieder vor mir zu sehen. Diese Bilder waren ein Schatz, den ich für den Rest meines Lebens bewahren würde und gleichzeitig ein Fluch, der mir unabwendbar eines Tages den Tod bringen würde. Wo ich dann hinkäme, nach dem Tod? In den Himmel gewiss nicht, in die Hölle aber ebenso wenig, denn von jenem Ort war ich einst gekommen und an diesem Ort war ich auch jetzt. Himmel und Hölle. Zwei unheimlich unpräzise Wörter für zwei Reiche, die so vielschichtig und undurchsichtig sind, dass man wohl tausende Leben gebraucht hätte, um nur eines von beiden ganz erkunden zu können, mit all seinen Völkern, Fürsten und Herrschern. Ob nun die Hölle eine Kehrseite der Erde war, die noch einmal in sieben Erden unterteilt war, und die von den sieben Himmelsreichen schalenartig wie in einem Kuppelsystem umgeben wurde und jeweils mit einer Erde eine Einheit bildete, oder gar Himmel und Hölle zusammen die eine Seite teilten und die Erde auf der anderen Seite lag; darüber konnten sich die Menschen Gedanken machen. Für die Bewohner der Hölle und auch - das war mir aus Erfahrung bekannt – für die des Himmels spielte das alles überhaupt keine Rolle. Vielleicht nur für einige wenige Wächter, die dafür verantwortlich waren, dass nichts durcheinander geriet. Ein Donnergrollen mischte sich in die Stille und ließ mich hochschrecken. Es passierte mir jedes Mal, dass ich während des Wartens völlig in Erinnerungen oder Überlegungen versank; und fast immer war es dann jenes Grollen, das mich wieder in die Gegenwart zurückholte. Rimmon musste den Saal betreten haben. Es donnerte immer, wenn Rimmon den Saal betrat, denn Blitz und Donner waren seine Verbündeten. Er war ein Erzdämon, ein Pendant zu den Himmlischen Erzengeln. Und das Besondere an Rimmon war, dass er tatsächlich einmal zu den Großen Sieben, den sieben Erzengeln des Himmels gehört hatte. Einst hatte er sich mit göttlichem Recht neben Michael, Raphael, Uriel und Gabriel stellen können. Jetzt aber war von seinem Engelswesen nichts mehr übrig: Eine unheimliche Aura umgab das finstere Wesen, dessen langes, welliges, schwarzes Haar ohne jede Ordnung am Kopf zu kleben schien. Leere, ebenso schwarze Augen machten nicht mehr den Eindruck als könnten sie sehen - das heißt, sehen konnten sie schon, aber wohl nur das, was da war; Tiefsinnigeres, das, was hinter allem steckte, vermochten sie nicht mehr zu erfassen. In dem bleichen Gesicht war nichts mehr von einstiger engelhafter Milde, Sanftheit und Verständnis. Die Züge des Erzdämons waren auf eine ausdruckslose Art und Weise hart. Aber nichtsdestotrotz war Rimmon ein Wesen sphärischer, bestialischer Schönheit geblieben. Wie schon so oft beobach-tete ich ihn und verlor mich wieder in Gedanken. Das passierte mir wirklich häufig. Ich beneidete ihn. Nicht um sein Aussehen, sondern um seine Position in der Öffentlichkeit - also seiner Position als Mitglied in der hoch-rangigen Gesellschaft der Hölle. Rimmon saß als solches in der ersten Balkonreihe und die war nicht weit vom geheiligten Boden entfernt. Kurz: Der Erzdämon hatte die Chance, dass Er beim Betreten des Saales zu ihm gehen und seine Hand schütteln würde. Oh, wie gern hätte ich auf seinem Platz gesessen... Doch es war zu spät, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn in diesem Moment ertönte ein im wahrsten Sinne des Wortes höllisches Gejaule. Baal betrat den Saal, seines Zeichens Meister aller infer¬na¬lischen Zeremonien diesseits der Hölle - kein geringerer als er durfte diese hohen Abende moderieren. Inzwischen hatten sich fast alle Balkone gefüllt, nur wenige der großen Höllenfürsten fehlten noch. Baal klatschte einmal in seine klobigen Hände. Er war von wirklich kleinem, gedrungenem Wuchs - ich zum Beispiel überragte ihn um fast vier Köpfe und gehörte selbst nur zum unteren Mittelfeld. Unter den in jeder Hinsicht großen Fürsten schien er auf den ersten Blick völlig unterzugehen. Aber auch nur auf den ersten Blick. "TACETE!" Das war Baal. Eine tiefe Bassstimme, die Unwissende dem kleinen Dämonen niemals zugeord-net hätten, grollte - viel lauter als Rimmons Donner - durch das Gewölbe und ein noch bedrohlicher grollendes Echo folgte. Das war Latein. Baal hätte auch eine andere Sprache nehmen können, um seinen Standarderöffnungssatz von sich zugeben, der im Übrigen übersetzt jedes Mal Schweigt! hieß, egal, in welcher Sprache. Aber Latein war unsere lingua franca. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die wir noch mit unseren himmlischen Brüdern teilten. Eigentlich war Baals Befehl vollkommen überflüssig. Denn, obwohl sich der Saal mittlerweile gefüllt hatte, war es immer noch unheimlich still. Abgesehen von Rimmons Donnern. Niemand sprach ein Wort. Eines hatte Baal also unzweifelhaft erreicht: Die ungeteilte Aufmerksamkeit des Saals. Ich wusste, dass er diese Momente genoss. Selbst, wenn auch jetzt alle – wie gewöhnlich – auf ihn hinab sahen, waren es doch andere Blicke: Baal stand auf dem geheiligten Boden und darum beneidete ihn wohl jetzt ein jeder, der auf einem Balkon sitzen musste. Heilig. Ich mag dieses Wort. Es ist so ähnlich wie göttlich, aber es gibt einen feinen Unterschied: Wenn etwas göttlich ist, ist es zwar meist auch heilig, aber doch immer in irgendeiner Form Gott zugeordnet. Nun könnte mir der Glauben an Gott natürlich heilig sein, was definitiv nicht so ist, aber mir könnte auch der Schlaf heilig sein, oder besser: Die Erinnerungen an vergangene Zeiten. Und natürlich war die Hölle nicht göttlich. Es mag zwar Engel geben, die auch die Hölle Gott zugehörig sehen, doch dies sind Theoretiker, die ihre Theorie sofort verwerfen würden, kämen sie nur einmal hierher. Dass die Hölle etwas Heiliges hat, würde jeder Gläubige natürlich vehement verneinen. Aber halt! Waren wir nicht auch Gläubige? Sicher nicht im eigentlichen Sinne. Wir fanden kein Heil in Gott, ergötzten uns nicht an seiner Güte - und weil wir seine Existenz nicht leugnen konnten, hassten und verabscheuten wir ihn, denn er hatte uns verdammt. Gott war uns in keiner Weise heilig. Wir hatten Dinge, Orte, wie der Boden dieses Gewölbes, die uns heilig waren. Weil Er auf ihm wandelte. Er, der für uns gottgleich war. "Ave, Luzifer!", erklang Baals Stimme plötzlich in nasalem Ton. Wieder schrak ich auf - ich verliere mich wirklich zu leicht in Gedanken. Alles hatte sich erhoben, und auch ich stellte mich nun an die Balustrade meines Balkons. Der von Baal vorgesprochene Ruf wurde nun von allen wiederholt, immer und immer wieder. Auch ich schloss mich dem an Intensität wachsenden Getöse an, dessen Ausmaß die Säulen des Himmels erzittern lassen und eines Tages zum Einsturz bringen würde. So glaubten wir. Es glich einer Beschwörungsformel, die in einem ungeordneten Echo in der Kuppel und im ganzen Gewölbe widerhallte. Ave, Luzifer - Sei gegrüßt, Luzifer. Es war wie im alten Rom: Ave, Imperator! Morituri te salutant! Ja, dies traf wohl zu, Luzifer war unser Imperator, und wir die Todgeweihten, die Ihn grüßten. Nur waren wir natürlich viel älter als Rom... Unterbrochen wurde die infernalische Ehrerbietung schließlich durch einige Flammen, die plötzlich aus der Feuerkugel in den Saal schossen. Ihre Rauchschweife bildeten unwirkliche Kurven in der Luft und tauchten das Gewölbe in einen diesigen Dunst. Und dort, wo die Flammen letztendlich auf dem Boden aufschlugen, wuchsen Feuersäulen in die Höhe. Bald säum¬ten sie den Weg zu dem imposanten, steinernen Thron auf der anderen Seite des Saales, auf dem unser höchster Fürst in Kürze Platz nehmen würde. Ich war wie von Sinnen, versank gänzlich in Bild und Klang. Die tiefroten Flammen... es war beinahe eine Beleidigung. Nicht für uns, sondern für den Himmel, für die Engel. Dieser Aufmarsch war eine Machtdemonstration Luzifers, wie sie nicht provokanter hätte sein können. Das Feuer gehorchte ihm. Ihm, dem Lichtbringer, dem Sohn des Morgens, dem Drachen der Dämmerung, dem Fürsten der Luftmächte, der dieser Titel enthoben und als Satanel - der Widersacher - in jenes Reich verbannt worden war, das man so gerne als Hölle bezeichnete. Für uns war er immer noch Luzifer, der erste Engel, geboren aus Gottes Licht, das mächtigste existierende Wesen - und er würde es immer bleiben. Und wie ich innerlich meiner Bewunderung in Hymnen freien Lauf ließ, ebbte der Chor plötzlich ab. Es war, als würde jedes seelenlose Geschöpf im Saal wie auf ein geheimes Zeichen hin die Luft anhalten. Dann waren sie zu hören: Schritte - gleichmäßige Schritte, wie sie nur die stattlichsten Männer zu gehen vermochten. Alle Augen waren auf das gerichtet, was zuerst gesehen werden konnte: Ein langer schwarzer Umhang und ein offener Zopf schwarzen Haares, der über diesen Umhang fiel. Von der Seite sah Ihn nur, wer von sehr hohem Rang war und auf entsprechenden Balkonen sitzen durfte. Vergleichsweise wenige kannten Luzifer in einer anderen Erscheinung. Ich jedoch konnte mich an den Seraph Luzifer noch genau erinnern. Er war wie ein Phantom, das mich unaufhörlich verfolgte. Vor meinem geistigen Auge wandelte sich das schwarze Haar in einen warmen Braunton. Der Umhang wich einem weißen Gewand und zwölf Flügel sprossen dort aus dem Rücken, wo jetzt Narben auf ihr Fehlen hinwiesen - was nur jene wissen konnten, denen er sich schon einmal ohne Robe gezeigt hatte. Eine Geste der Vertrautheit, die nur den Höchsten von uns zu Teil wurde. Das Verschwinden seiner Engelsflügel war Sagen umwoben. Wer hatte sie ihm genommen? Gott? Er selbst? Wer auch immer es gewesen sein mochte, Luzifer hatte neue Flügel: Sechs an der Zahl, schwarz und federlos wie die eines Drachen, die bei Bedarf aus seinem Rücken hervorwuchsen. Und doch wirkte er in meinen Augen nicht mehr so imposant wie jener Seraph, der wohl für immer in meinem Kopf herumspuken würde. Dieser Luzifer war anders. Der Respekt, den man ihm nun entgegenbrachte, glich Angst. Auch das so klare Blau seiner Augen, das früher auf so milde Art und Weise gefordert hatte, ihm zu begegnen, stach nun aus seinem - durchaus vornehm - weißen Gesicht und wirkte immer bedrohlich. In aller Stille hatte der Lichtträger, der Er für uns immer noch war, den Thronweg hinter sich gelassen und drehte sich nun zu den Balkonreihen um. Da war es wieder, jenes kalte Blitzen in den blauen Augen. Ich fröstelte, gefesselt von dem Anblick, der sich mir bot. In unbeschreiblicher Eleganz ließ sich Luzifer auf seinem Thron nieder, sein Blick schweifte umher, schien alles zu erfassen, obgleich Er niemals den Blick gehoben hätte, um zu den oberen Reihen aufzusehen. Das hatte nichts mit Eitelkeit oder Arroganz zu tun. Man mag annehmen, dass der Satan ein von allen Todsünden besessenes, durch und durch grausames Monster sei. Der Wahrheit entspricht dies aber in keiner Weise. Er mochte wohl stolz sein, aber wer war das nicht? Tatsächlich wage ich zu behauten, dass sich Luzifer innerlich nicht wirklich verändert hatte. Immer noch war er - überwiegend - geduldig wie ein Engel, Ratio und Emotio waren im gesunden Gleichgewicht, und er zeigte auch keine satanische Aggressivität. Doch ich will ihn nicht wieder in den Himmel loben, denn dort gehört er nicht hin. Luzifer hatte klare Ziele, allen voran seine unbedingte Rache. Vielleicht würde sie blutig sein, doch das war nicht besonders wichtig, solange sie eine gute Rache sein würde. Luzifer wusste auf diesem Gebiet genauestens zu differenzieren. Baal stand immer noch am Thronweg - etwa auf mittlerer Höhe, zwischen zwei Feuersäulen - und wartete. Der Blick unseres Herrn schien indes von Sekunde zu Sekunde desinteressierter zu werden. In der Tat wusste ich, dass diese Art von Empfängen Luzifer immer unheimlich langweilten, doch sie gehörten nun einmal als ein festes Zeremoniell zum Protokoll. "TACETE!", durchbrach Baal nach einiger Zeit erneut völlig sinnlos die Stille. Er atmete tief ein und streckte sich etwas. "Die Engel der Prostitution." Ein Raunen ging durch die Menge. Viele Anwesende beugten sich vor, um einen Blick auf das, was da kommen würde, zu erhaschen. Ich selbst machte mir nicht die Mühe, mir den Hals zu verrenken. Engel der Prostitution - eine wahrlich schöne Beschreibung der vier Satansbräute. Es wurde gesagt, dass man sich an den Vieren gar nicht satt sehen könnte. Meine Augen hatten demnach schon seit Jahrtausenden im Hungerzustand verbracht, waren gar magersüchtig, denn ich konnte rein gar nichts an den vier Damen finden. Ich hatte in meinem Leben schon weitaus Schöneres gesehen. Wer den Erzengel Gabriel beim Bad im Vollmond überrascht, vergisst dies nicht so schnell und findet nichts Vergleichbares... Aber wie dem auch sei, ich betrachtete das Geschehen mit mäßigem Interesse - im Übrigen tat ich damit das Gleiche wie Luzifer. "Agrat Bat Mahlat und Eisheth Zenunim...", kündigte Baal mit geschwollener Brust an. Ein heiseres Kichern ließ die Flammen erzittern, als die zwei Grazien über den Thronweg zu ihrem Gemahl eilten, um sogleich unterhalb seines Throns auf großen Kissen Platz zu nehmen. Unter ihm, das war selbstverständlich. Luzifer selbst schien davon nichts mitzubekommen. Vielleicht ignorierte er sie auch absichtlich. Das wusste man bei ihm nie so genau, selbst mir war es nicht vergönnt, hier eindeutig zu interpretieren. Doch wäre es so gewesen, ich hätte ihn sehr gut verstanden. Fakt war, er würdigte die beiden keines Blickes. Die Schaulustigen hatten Agrat und Eisheth auf ihrem Weg begafft und sahen nun wieder erwartungsvoll geradewegs nach unten, wo bald die nächste der Vier auftauchen würde - die Reihenfolge des Auftretens war seit Anbeginn die gleiche geblieben. Naamah hieß sie, die schönste der vier Engel. Naamah - das bedeutete soviel wie die Angenehme. Angenehm war mir diese Person aber nicht. Sie war der Inbegriff der Wolllust und sie als Hure zu bezeichnen, schien mir noch sehr milde ausgedrückt. Doch in seinem allmächtigen Wesen kannte Luzifer - Seraph oder Satan - natürlich weder Eifersucht noch sah er eine der Vier als seinen Besitz an. Alle warteten. Auf Naamah. Wieder einmal vergeblich. In Baals Gesicht zeigten sich erste Anzeichen einer gewissen Angst, die sich erfahrungsgemäß in den nächsten Augenblicken noch steigern sollten. Er war der Zeremonienmeister und in diesem Sinne der Verantwortliche. Nach einer Weile, in der sich seine Angst mehr und mehr in Nervosität wandelte, die bis in die obersten Balkonreihen sichtbar war, räusperte er sich laut. Luzifer sah unverzüglich auf und eine seltsame Lebendigkeit funkelte in seinen eisigen Augen. Man konnte Baal förmlich im Boden versinken sehen. Mir gefiel dieser Anblick. Ein großer Höllenfürst, reduziert auf ein Häufchen Elend unter dem direkten Blick seines Vorgesetzten. Peinlich, peinlich... Das Leben wich aus den Flammensäulen, wie eingefroren standen sie bewegungslos da. Augenblicklich wurde es kälter. Scheue Blicke der Menge schweiften von Luzifer zu Baal, alle warteten. Dann, typisch für solche Situationen, bewegten sich die Mundwinkel Luzifers und formten ein ganz und gar süffisantes Lächeln. Ich musste unweigerlich ebenfalls lächeln - spöttisch in Baals Richtung. In einer schier unglaublich müden Geste hob Luzifer seine linke Hand ein Stück von der Armlehne des Throns und winkte ab. Das hieß, er ließ sie wieder fallen. Wiederum standen Baal seine Emotionen mitten ins Gesicht geschrieben: Er war - um es salopp auszudrücken – platt, unfähig, sich noch einen Millimeter zu bewegen, oder gar einen Satz zu sprechen. Und wieder waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Er tat mir fast ein bisschen Leid. Aber nur fast. Eindringlich, abwartend, als wollte er Baal damit an etwas Wichtiges erinnern, ruhte Luzifers Blick auf dem Zeremonienmeister. Ich weiß nicht, ob Baal in diesem Moment einfach nur vollkommen weggetreten oder einfach nur zu stumpfsinnig war, um die Zeichen seines infernalischen Imperators zu verstehen, jedenfalls reagierte er nicht. Erst als der Hall federleichter Schritte erklang, atmete Baal wieder durch. Nur, um sogleich wieder zu erstarren, weil er sich seines Fehlers bewusst wurde. Glücklicherweise war der Aussetzer diesmal nur von kurzer Dauer: "Äh-... ähem...", räusperte er sich verlegen. Die Gestalt war mittlerweile auf seiner Höhe, hielt nun aber höflich inne und sah ihn abwartend an. Luzifer hatte derweil den Kopf auf einer Hand aufgestützt und schien unheimlich amüsiert. "Lilith", klang es kurz, knapp und unbetont aus Baals Kehle. Wie auch zuvor zeigte sich der Imperator gnädig. Das wunderte mich nicht, denn er hatte nun etwas ganz anderes im Kopf, nämlich das engelsgleiche Wesen, das nun wieder auf ihn zuging. Lilith war wohl die einzige, die es sich gefallen ließ, mit einem Engel verglichen zu werden, denn sie war nie einer gewesen. Sie war Satans Liebling. Aus ganz klaren Gründen: Weder Gott noch Adam, für den sie ursprünglich und noch vor Eva als Frau vorgesehen gewesen war, waren mit dem Temperament und der Emanzipiertheit Liliths zurechtgekommen. Also hatte Gott sie Luzifer im Grunde geschenkt und sich damit selbst gedemütigt; er hatte – nach Luzifer -ein zweites, großes Wesen erschaffen, von dem er sich viel erhofft, das ihn aber ent- und getäuscht hatte. Dies verschaffte Lilith zweifellos Privilegien. Sie saß – nein, sie thronte direkt an Luzifers Seite, wenn auch nur auf der Armlehne. Diese Geste des Höllenregenten war zugleich wieder charakteristisch für ihn: Auf der einen Seite demonstrierte er, dass er es nicht nötig hatte, sich über allen Dingen präsentieren zu müssen. Er konnte auch zu Niederrangigen aufschauen, weil sie ihm dann immer noch bedingungslos untertan waren. Dies zeigte auch die Struktur des Saales: Obwohl der Thron natürlich leicht erhöht stand, sahen wir alle zu ihm hinab. Doch andererseits wäre es ihm wohl nie in den Sinn gekommen, Lilith einen eigenen Thron zuzusprechen. Luzifer war alleiniger Thronhalter und natürlich hatte niemand Einwände. Zwar gab es immer wieder Tumulte und kleinere Aufstände, nicht selten trieb der Hunger nach immer mehr Macht einzelne Fürsten dazu, ihre Grenzen zu überschreiten. Aber im Endeffekt stand die Masse der Gefallenen und Dämonen hinter ihrem einen Herrn und bestätigte ihn durch schier wahnsinnige, inbrünstige Treue. Luzifer war demnach fast ein demokratisch gewählter Gott. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)