Bitte bleib bei mir! von _Shirley (BBC Sherlock) ================================================================================ Kapitel 20: Geschwisterliebe und Normalität? -------------------------------------------- 20. Geschwisterliebe und Normalität? Wochen zuvor: „Oh, ich sehe Sie haben sich bereits eingerichtet“, drang eine samtige Frauenstimme ins Zimmer. So melodisch und angenehm, dass sie einem auch das Telefonbuch hätte vorlesen können und trotzdem wäre man in dieser klaren, stimmlichen Reinheit ertrunken, ohne auch nur einmal vor Langeweile zu Gähnen. „Wie hübsch!“ flötete die liebliche Stimme und John hätte seine Bücher – welche er gerade ins Regal räumte – gerne einfach fallen gelassen um sich augenblicklich zu der Frau umdrehen zu können. Das hätte allerdings ein wenig komisch gewirkt. So schob er die letzten Schmöker, die noch auf seinem Schoß ruhten, einfach recht unbedacht und ohne System ins Regal und war erleichtert, als er den Rollstuhl endlich drehen konnte. Kurz fürchtete er noch, die Bilder in seinem Kopf, von der zur Stimme passenden Schönheit könnten eine törichte Fantasie sein, die sich jetzt als falsch herausstellen, und wohl einen peinlichen Moment nach sich ziehen würde. In der Zimmertür stand eine Frau Mitte 30 in der typischen weißen Tracht einer Pflegerin. Sie war klein, höchstens 1,65 groß. Sie war nicht übermäßig dünn, aber ihre Statur ging immer noch als schlank durch. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten im Nacken verschnürt, welcher von einer Blumenhaarspange zusammengehalten wurde. Sie schenkte ihm ein Lächeln. Peinlich berührt stellte er nach einer kleinen Ewigkeit fest, dass er die Dame nicht wie befürchtet hässlich, sondern sehr hübsch fand und sie trotz allem nur dümmlich anstarrte und bisher noch kein Wort gesagt hatte. Seine Wangen röteten sich leicht und für einen Moment sah er beschämt zur Seite. Reiß dich gefälligst zusammen du Idiot, mahnte er sich in Gedanken. Für wie alt soll die Frau dich denn halten, 15? „Ähm, Hi, ich bin John Watson“, stellte er sich endlich vor. Rollte mit dem Stuhl ein wenig weiter zur Tür und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie freundlich und schenkte ihm wieder ein – wie er fand – bezauberndes Lächeln. „Hallo, John. Ich darf Sie doch John nennen?“ fragte jetzt sie peinlich berührt, als ihr die persönliche Anrede auffiel, die ihr einfach so leicht von den Lippen gegangen war. „Klar, würde mich sogar sehr freuen, ähm…“ „Oh Entschuldigung!“ jammerte sie und fasste sich gegen den Kopf. „Wo bin ich wieder mit meinen Gedanken. Ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Silvia Reynolds. Aber sagen Sie doch einfach Vivi zu mir, das machen hier alle und ich hab das Gefühl, ich rede schon wieder zu viel. Entschuldigung.“ John lachte herzlich, „das macht doch nichts, ich hatte bis vor kurzen noch einen Mitbewohner, der hat immer reicht schnell gesprochen. Und das war noch eine seiner erträglicheren Eigenheiten. Ich bin also vieles gewöhnt.“ Seltsam, obwohl jede Erinnerung an Sherlock meist dem Schmerz eines Dornes glich, der tief in einer offenen Wunde steckte, war die Erwähnung seines Namens jetzt kein bisschen unangenehm. Was vielleicht an der charmanten Besucherin lag, die seine Gedanken und Gefühle sofort in ihren Bann gezogen hatte. „Na das freut mich! Ich biete all meinen Patienten – oder Opfern, wie mein Bruder sie immer so gerne nennt – an, mich einfach zu unterbrechen – wenn ich sie denn dazu kommen lasse – na sich eben einfach bemerkbar zu machen, wenn ich zu viel Rede. Das passiert schon mal – also das ich zuviel Rede meine ich – gut, es kommt auch oft vor das man mich darauf hinweist. Aber ich rede nun einfach gerne und ja, mein Bruder hat auch sein ganzes Leben lang behauptet, mein Opfer zu sein.“ Kurz holte sie tief Luft und sah John entschuldigend an. „Und ich mache es schon wieder. Rede ohne Punkt und Komma. Bitte unterbrechen Sie mich doch!“ Wieder brachte sie John damit zum lachen. „Ach was, Sie haben so eine schöne Stimme, da hört man doch gerne zu.“ Zu Johns großem Erstaunen wurde Silvia bei diesen Worten leicht rot im Gesicht. Verlegen fasste sie sich mit der Hand vor den Mund, offenbar bemüht, diesen charmanten Herrn nicht gleich wieder mit einem Redeschwall zu überfallen. „Na jeden Falls bin ich Ihre Pflegerin und Ansprechpartnerin für alle Fragen und Probleme. Bitte scheuen Sie sich nicht, nach mir zu rufen. Ich bin gerne für sie da.“ Ja, ja, ja, ja!! Meine Pflegerin, für mich zuständig! Gott, John Watson, hast du ein Schwein! Ein selten dämliches Lächeln zierte Johns Gesicht, als Vivi ihn durchdringend ansah, offensichtlich wartend auf einen Kommentar. „Das freut mich wirklich sehr“, sagte John nachdem er seine Sprache endlich wieder gefunden hatte. „Obwohl ich dachte, so hübsche Pflegerinnen gäbe es nur in Hollywood Filmen.“ Wieder errötete Vivi, die offenbar nicht wusste wohin mit ihren Händen und deshalb spielten ihre Finger nervös miteinander. John hatte schon befürchtet, sein Kompliment wäre zu viel des Guten gewesen, aber er fühlte sich seit Wochen zum ersten mal wieder richtig wohl in seiner Haut. Auch wenn er normalerweise dezenter flirtete, zumindest so kurz nach dem ersten kennen lernen, wollte ihm dies hier nicht gelingen. Gerade jetzt war es ihm egal was er alles von seinem alten Leben hatte zurücklassen müssen, all die Verluste waren vergessen, denn das hier war der Startschuss für ein neues Leben und es fühlte sich so unbeschwert und normal an, das John bei dem Gedanken schwer schlucken musste. Seit seinem Eintritt in die Arme hatte er jedwede Normalität eingebüßt und auch wenn Sherlock ihm ins Leben an sich zurück geholfen hatte, war ihre gemeinsame Zeit doch alles andere als Normal gewesen. Da er jetzt zurückblicken konnte, weit weg von London und von Sherlock, wurde ihm erst richtig bewusst, wie ungesund diese Verbindung zwischen ihm und dem Detektiv eigentlich gewesen war. Und wie weit ihn das Leben in der Baker Street doch von all dem entfernt hatte, was eben der Norm entsprach. Ja, streng genommen sollte er Sherlock vielleicht dankbar sein. Dieser hatte ihm geholfen, ihn vielleicht sogar vor sich selbst und der Zivilen Welt gerettet, die nach dem Kriegseinsatz auf ihn eingestürzt war. All die Fälle mit Sherlock, das Abenteuer, der Nervenkitzel, all das hatte er damals gebraucht um runter zu kommen. Und jetzt war er angekommen, wieder zurück in einem geregelten Leben um es so zu gestallten wie er es eigentlich immer vorgehabt hatte. Mit einer hübschen Frau an seiner Seite, einem kleinen Häuschen irgendwo auf dem Land und spielenden Kindern im Garten. „Also…“ begann Vivi und zögerte leicht. „Es hat mich gefreut dich…Sie...“ verbesserte sie sich schnell, „kennen zu lernen und wie gesagt, wann immer…Sie etwas brauchen, ich helfe gern.“ Sie strich eine lästige Haarsträhne aus ihrem Gesicht, welche der Blumenhaarspange entkommen war und schob sie mit einer so feinen Geste hinter ihr Ohr, dass Johns Blick dabei an ihren feingliedrigen Fingern klebte. Ihre Finger, sie waren lang und schmal…fast wie die von Sherlock. John stutzte, aus welchen Untiefen seines Bewusstseins war dieser Gedanken entkommen? Sherlock hatte nichts mehr in seinem Leben verloren! Na zumindest bis er es wieder im Griff hatte. Erst dann würde er genügend Mut und Stärke beisammen haben, um dem Detektiv wieder begebnen zu können. Und zwar auf gleicher Augenhöhe! Was natürlich nur eine Metapher war. „Ich wollte Sie nicht verlegen machen, Entschuldigung. Eigentlich bin ich auch nicht so aufdringlich, aber ich bin sicher, Sie werden von vielen Patienten, Kollegen und allen anderen Männern umschwärmt. Da will ich halt keine Ausnahme sein.“ Sie lachte, immer noch verlegen, aber zumindest wirkte die Stimmung viel lockere als anfangs. „Außerdem wäre das >du< schön, wenn es nicht zu indiskret wäre“, meinte John und kratze sich nun auch ein wenig verlegen am Kopf. „Ich weiß auch nicht warum ich mich hier gerade zum Idioten mache, auch wenn ich schon immer gewusst habe, dass ich dafür ein Talent besitze. Wahrscheinlich…“ John unterbrach sich und die jetzt nicht mehr verlegen wirkende Vivi lächelte ihn an. „Versteh schon, das hier“, und sie machte eine ausschweifende Geste die sich auf ihre Umgebung bezog, „ist noch so neu für…dich.“ Wieder lächelte sie ihn an. „Das geht allen am Anfang so. Nicht jeder kommt mit dem Schicksal klar, viele brauchen Jahre um zurück zur Normalität zu finden.“ John schüttelte bekräftigend den Kopf. „Ich denke mein Leben wird erst normal, jetzt wo ich hier bin.“ Ein glockenhelles Lachen erfüllte den Raum. „Also das hab ich so auch noch nie zu hören bekommen!“ sagte Vivi und kniete sich hinab um mit John auf gleicher Höhe zu sein. „Was muss in deinem Leben passiert sein, dass das hier wie Normalität wirken lässt?“ Wieder grinste John ein wenig übertrieben, doch die Nähe dieser Frau wirkte sich sonderbar extrem auf ihn aus. Einen Tatsache, die er in nächster Zeit wohl würde ergründen müssen. Aber ein Schritt nach dem anderen. „Weißt du, das wäre ein tolles Thema für den Kaffee, zu dem ich dich einladen werde.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an, dann erhob sie sich und schüttelte gespielt tadelnd ihren Zeigefinger. „Doktor Watson, sie sind mir ja einer!“ Dann sah sie nach links und rechts den Gang entlang und flüsterte ihm zu: „Normalerweise flirte ich nicht mit meinen Patienten – Gott, mein Chef würde mich umbringen – und normalerweise lass ich mich nach einem fünf Minuten Gespräch nicht schon zum Kaffee einladen...“ „Aber was ist schon Normal?“ fragte John im gleichen Flüsterton. „Doch wo wir gerade dabei sind, normalerweise flirte ich auch nicht gleich so wild drauf los…“ „Ja aber was ist schon normal?“ fragte sie und beide lachten, ob des Unsinns den sie redeten oder einfach aus der Verlegenheit, die diese Situation begleitete, das wussten wohl beide nicht so recht. Trotzdem war da etwas, nicht greifbar und noch viel zu neu und interessant um es überhaupt zu benennen. Es war nur ein vages Gefühl, eine flüchtige Empfindung die jedoch wegweisend wirkte. Wie ein geflüstertes Versprechen, wie ein Hauch Zukunft, wie Normalität. ******* John rollte mit seinem Stuhl durch den Gang. Vivi hatte ihn bis in den Flügel gebracht, in welchem sein Zimmer lag. Das große und weitläufige, sehr altertümliche anmutende Gebäude in welchem das Pflegeheim residierte, so erklärte sie ihm, wäre für alle Neuankömmlinge in der ersten Zeit das reinste Labyrinth an Gängen und Zimmern. An der Schwesternstation des Nordflügels angekommen, hatten sie sich für heute voneinander verabschiedet und John fuhr eiligst, von den Gedanken an eine Dusche getrieben, zu seinem Zimmer. Die erste Therapiestunde hatte ihn ziemlich erschöpft. Jedoch hatte er sein Zimmer kaum betreten, als er sich einem späten und unangemeldeten Besuch gegenüber sah, der seine weiteren Planungen mit einem gekreischten: „John!“ komplett über den Haufen warf und ehe er noch wusste wie ihm geschah, sich ihm auch gleich an den Hals warf. „Harry?“ entkam es ihm überrascht, ehe sie ihm die Luft mit ihrer stürmischen Umarmung raubte. „Harry, was machst du hier?“ fragte er ein wenig zornig. Die Angesprochen löste sich von ihm und besah sich ihren im Rollstuhl sitzenden, jüngeren Bruder. Als bräuchte sie einige Zeit um wirklich zu begreifen stand sie steif da, die Hand im entsetzen vor den Mund geschlagen. John kam sich sofort unwohl vor, denn er wollte weder mit solch leidendem Blick von seiner Schwester für einen Krüppel gehalten werden, noch von übertriebenem Mitleid für den armen Bruder überschüttet werden. Außerdem fühlte er sich in seinen verschwitzten Klamotten stinkig und unwohl und Harrys überraschender Besuch war kaum mit einer erfrischenden Dusche gleichzusetzen, die ihm vielleicht ein paar der verkrampften Muskeln gelockert hätte und möglicherweise auch seine Stimmung. Doch Harrys gerade einsetzende Schluchzer unter dem in den Händen versteckten Gesicht sprachen deutlich, in welche untiefen ihn dieser heutige Abend noch stürzen würde. „Harry!“ sagte er gedehnt und versuchte das ganze eher genervt als frustriert klingen zu lassen. Insgeheim rührte es ihn ja, wie seine Schwester auf seine Behinderung reagierte, aber er hatte sie schon als er verwundet aus dem Krieg zurückgekommen war nicht sehen wollen, jetzt im Rollstuhl vor ihr zu sitzen und sich die Tränen vorwerfen zu müssen war sogar noch unangenehmer. „Setzt dich!“ herrschte er die immer noch weinende Frau an, zog an ihrem Arm und schob sie Richtung Bett. Dort ließ sie sich auf der Kante nieder und präsentierte ihm große, verweinte Augen, an deren getuschten Wimpern die Feuchtigkeit der nunmehr versiegten Tränen glitzerte. „Oh Johnny!“ sagte sie mit erstickter Stimme und ein tiefes, schluchzendes Luft holen ließ ihren ganzen Körper erzittern. John verdrehte die Augen, das hier schien noch schlimmer zu werden als anfangs befürchtet. „Nenn mich nicht so!“ beschloss er mit fester Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem gibt es keinen Grund zu heulen, ich…“ „Keinen Grund?!“ Harry sprang auf, schob eine Strähne ihres langen, dunkelblonden Haares aus dem Blickfeld und hinter ihr Ohr, ehe sie die Hände in die Luft war und viel zu laut zu sprechen begann. „Herr Gott! Der Krieg hat dir schon schwer zugesetzt, jetzt bist zu Zivilist und wirst noch schwerer verletzt! Das ist doch alles die Schuld deines komischen Mitbewohners, ich…“ Jetzt war es an John seine Schwester zu unterbrechen. „Was soll das? Wir waren nie so dicke, als das du das Recht hättest, dich in mein Leben einzumischen! Wenn du also nur deshalb hier bist um mir Vorwürfe zu machen und zu erklären, wie ich mein Leben hätte führen sollen, dann verschwinde einfach wieder! Denn so etwas aus deinem Mund zu hören, wäre eine absolute Frechheit!“ Den letzten Teil hatte jetzt auch John geschrieen. Sein Frust, die Tatsache dass er heute völlig ausgepowert war und Harry die ihm wie immer nichts als Vorwürfe machte, all das war für Heute einfach zu viel. Wieder kämpfte Harry mit den Tränen. Gott, dieses so wichtige und schon so lang aufgeschobene Gespräch begann genauso grauenvoll wie all die anderen Gespräche, die er in seinem Leben schon mit seiner Schwester geführt hatte und wahrscheinlich würde es auch so enden wie immer. In Trümmern, mit Jahrelangem Schweigen und gegenseitigen Vorwürfen. Toll! „Ich bin hier her gekommen, weil mein Bruder durch einen Unfall im Rollstuhl sitzt und der Mann der ihm das Angetan hat es nicht für nötig hält zu helfen!“ „Du verstehst das nicht!“ „Nein, wie auch!“ rief sie. „Du lässt mich ja nicht an deinem Leben teilhaben!“ „Du hast ja dein eigenes Leben nicht im Griff, was also willst du auch noch mit meinen Problemen, hmm? Soll ich der Grund sein der dich wieder zur Flasche greifen lässt? Ist es das? Willst du wieder mit dem Trinken anfangen, deine angeschlagene Ehe ganz in den Graben fahren und mir wie immer für jedes deiner Probleme die Schuld geben? Ich dachte wenn ich dir eine Last abnehmen kann, dann wäre das willkommen, aber ich hab mich wohl geirrt.“ John drehte sich mit dem Rollstuhl von seiner Schwester weg, fuhr zum Bett und hievte sich hoch. Er legte sein unbewegliches, rechtes Bein auf seinen linken Oberschenkel und begann damit, sich die Sportschuhe auszuziehen. Zwar war Harry zu ignorieren kein all zu Erfolg versprechender Plan, denn meist brodelte sie vor sich hin um dann ihre ganze Energie für einen letzen, wütenden Ausbruch zu sammeln, doch er hatte jetzt keinen Elan um sich weiteren Vorwürfen stellen zu können oder sich und sein bisheriges Leben gar zu verteidigen. Nicht vor ihr, nicht vor Harry! Er hatte was aus seinem Leben gemacht, sie nicht. Von Anfang an hatte sich Harry in eine Dummheit nach der anderen verrannt, hatte nie Hilfe annehmen wollen und letzen Endes hatte sie alle Fehler ihrer Jugend einfach auf ihre Familie geschoben, die angeblich nicht als Stütze für sie da gewesen wäre und von denen sie zu wenig Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt bekommen hatte. Und nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte es nur noch John gegeben, der von da an seinen Kopf hatte hinhalten dürfen. Klar, wer wurde nicht gerne um drei Uhr morgens von der Polizei aus dem Bett geklingelt, weil die betrunkene Schwester gerne aus der Zelle abgeholt werden wollte. Natürlich hatte man als Student auch nichts Besseres mit seinem hart ersparten Geld zu tun als es für Strafzettel, Kautionen und dergleichen auszugeben, nur weil die Schwester weder Geld noch Skrupel zu besitzen schien. Seit er denken konnte war es immer um Harry gegangen, um ihre Probleme und die, die sie den Eltern bescherte, deren Aufmerksamkeit – auch wenn Harry das anders sah – immer der missratenen Tochter gegolten hatten und nie dem braven kleinen Buben der ja allein zurecht kam. Daran hatte sich nie etwas geändert, auch nach dem Tod der Familie und Johns frustrierter Flucht aus einem Leben, das ihn zu entgleiten schien und schon lange jedwede Besonderheit hatte einbüßen müssen. Natürlich war Harry gegen die Arme gewesen, schließlich hatte sie ihn nie verstanden. Nun, vielleicht hatte sie ihm aber auch nur nie wirklich zugehört, wenn er mal – was ohnehin selten genug vor kam – von seinen Gefühlen berichtete, seinem Leben, seinen Probleme, Träume oder Ziele. Immer stand Harry über allem und anscheinend zeichnete sich dieser Trend jetzt erneut ab. Warum nur war er so naiv gewesen sich irgendwelche Hoffnungen zu machen? Vielleicht traten ihn in letzter Zeit einfach gerne alle die ihm irgendwie etwas bedeuteten mit Füßen, vielleicht war das eine Strafe von einem Gott, an dessen Existenz John nicht zu glauben bereit war, oder war da einfach nicht mehr, war das alles was die Welt ihm zu geben bereit war? „Hör zu, John“, begann Harry und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken. Dabei verschmierte sie Wimperntusche und Liedstrich und verteilte die dunkle Farbe auf ihrer Wange. Erst jetzt bemerkte John, wie mitgenommen seine Schwester aussah. Die Kleidung war ungebügelt und wies einige Flecken auf, so als hätte sie einfach angezogen, was sie am Morgen in der Wohnung auf dem Boden gefunden hatte. Die Schminke kaschierte nur spärlich die dunklen und schweren Tränensäcke unter ihren Augen. Die Haut hing Faltig über ihren markanten Wangenknochen und ließ erkennen, dass Harry in letzter Zeit stark abgenommen haben musste. Wieder der Alkohol? Dabei hatte John gedacht, seine Schwester hätte viele alte Gewohnheiten hinter sich gelassen. Wieder ein sehr naiver Gedanke. Warum sollte sich Harry je ändern? „Ich weiß das alles ist schwer für dich und deshalb weiß ich auch, dass du das was du sagst nicht so meinst.“ „Was?“ John war zu perplex um wirklich zu protestieren! Natürlich meinte er alles was er sagte so, warum zum Teufel war das nicht angekommen? Hatte er nicht laut genug geschrieen? Doch John war zu müde und einen weiteren Streit wollte er auch nicht provozieren. Also sie in ihrem Irrglauben lassen und den letzen Kommentar einfach hinunter schluckten. Wie immer eben. Natürlich war diese Situation hier nicht die Beste um endlich ein wirklich klärendes Gespräch zu führen aber gab es für Familienzwiste jemals wirklich passende Momente? „Red einfach weiter“, meinte er gedehnt und machte eine wegwerfende Geste. Harry war das kurze Zögern von Seiten ihres Bruders ohnehin gänzlich entgangen und so marschierte sie vor ihm im Zimmer auf und ab, während sie sprach. „Ich weiß das alles muss schwer für dich sein und wahrscheinlich brauchst du erst Zeit für dich um alles zu verarbeiten. Du wirst sehen, wenn du erst einmal einsehen kannst, welch schlechter Einfluss dieser Sherlock doch für dich war, dann…“ Jetzt reichte es John! Er unterbrach seinen Schwester grob, denn das hier war nicht zum aushalten! Er fühlte sich zurückversetzt in ihre Kindheit und konnte Mutter und Vater hören, wie sie Harrys schlechten Umgang bekrittelten. Das war Sherlock gegenüber höchst unfair und streifte die Wahrheit nicht einmal! Außerdem hatte sie kein Recht dazu sich vor ihn zu stellen und wie ihre Eltern zu ihm zu sprechen. „Wag es nicht!“ zischte er deshalb und Harry erschrak wirklich über die Kälte in Johns Stimme. „Du hast keine Ahnung! Du hast dich nie für mein Leben mit Sherlock interessiert und jetzt glaubst du dir aus verzerrten Bildern ein Urteil über uns fällen zu dürfen und das auch noch mit den Worten unserer Eltern?“ John bebte vor Wut. Liebend gerne hätte er noch mehr gesagt! Nur einmal wollte er Harry all das sagen was ihn bewegte. Die vielen Wunden die ihm durch sie zugefügt worden waren, doch er bremste sich. Das hier sollte nicht so enden, nur einmal wollte er sich nicht im Streit von ihr trennen, sondern mit einem ernst gemeinten, >bis bald<. Nur einmal. Harry überwand den ersten Schreck schnell, lachte abfällig und lief wieder wie eine Irre durch den Raum. „Dein Leben mit Sherlock, Urteil über euch!“ wieder schnaubte sie belustigt doch als sie stehen blieb und John durchdringend an sah, da fehlte der Spott gänzlich. „Warum hast du mir nie gesagt dass ihr zusammen wart?“ Sie schien enttäuscht. John fauchte entrüstet und gestikulierte dabei wild mit den Armen, „weil wir keine Beziehung hatten! Wir sind Freunde, nicht mehr.“ „Na klar, warum bist du nicht wenigstens in dieser einen Sache mal ehrlich zu mir? Immerhin ist das etwas, worin wir uns ähneln und wir beide wissen, dass wir außer unserem Blut sonst nicht viel gemeinsam haben.“ Daraufhin hatte John nichts zu erwidert, bei Gott, egal was er gesagt hätte, geglaubt hätte sie ihm ohnehin nicht. Hatte sie sich doch ihre Meinung gebildet und würde an diesem Irrglauben festhalten. Doch die Bestürzung in ihrem Gesicht, die echte Trauer darum nicht einmal in dieser einen – angeblichen - Sache Johns Vertrauen zu genießen waren echt. Wieder wischte sie Tränen aus ihren Augen, wieder schmierte sie dabei einen leichten, schwarzen Film über ihr Gesicht. „Ich…“ stammelte sie und brauchte ein wenig um sich zu fangen. Dann straffte sie ihre Gestallt und sah John mit einem leeren Blick an, als wäre er ein völlig Fremder für sie. „Ich werde jetzt gehen. Aber ich komm am Wochenende wieder. Vielleicht denken wir beide in dieser Zeit über manches nach, das gesprochen wurde.“ Dann ging sie, ohne ein Aufwidersehen oder auch nur einen Blick zurück zu werfen. Ja, John hatte dieser Abend vieles zum Nachdenken beschert, doch er zweifelte ernsthaft daran, dass dies auch auf seine Schwester zu traf. Tief seufzend, zog er sich aus und rollte mit dem Stuhl geradewegs unter eine entspannende, kalte Dusche. ******* Wie versprochen kam Harry am Wochenende und zwar am späten Nachmittag des Samstags. Sie hatten zusammen Tee getrunken und nicht ein einziges Mal gestritten. Harry hatte John von der Therapie erzählen lassen und nicht einmal einen Versuch unternommen, das Thema auf Sherlock oder den Unfall zu lenken. Sicher kostete ihr das einen menge Kraft, denn er wusste wie sehr die Neugierde ihr unter den Nägeln brennen musste. Doch sie riss sich zusammen und das freute ihn irgendwie. Da er von Harry ohnehin nicht viel erwartete, waren es schon die kleinen Dinge, die ihm das lange verlorne Gefühl zurückgaben, sie wären sich wirklich liebende Geschwister. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange genug an, um Harrys nächste Patzer alle wieder wett zu machen. Klar versprach sie wieder zu kommen. Vor Vivi behauptete sie sogar, ihren kleinen Bruder von jetzt an zur Seite zu stehen und das solange, bis er wieder ganz genesen war! Ein großes Versprechen und eine große Lüge. Ihr nächster geplanter Besuchstermin wurde per Telefon verschoben. Zweimal. Dann sagte sie ihn ab, jammerte was von Stress im Job. Bat um Johns Verständnis, denn immerhin hatte sie diese Stelle doch gerade erst angetreten und da musste man eben so, wie der Chef es verlangte. John setzte sein übliches, falsches Lachen auf und versicherte, dass es kein Problem sei. Für ihn zeichnete sich bereits ein bekannter Verlauf für die kommenden Ereignisse ab. Er kannte das. Sie versprach Dinge, sie versprach immer so viel doch nie wurde etwas eingehalten. John war es inzwischen gewohnt von ihr im Stich gelassen zu werden und wenn nicht mal seine Behinderung etwas an Harrys Prioritäten ändern konnte, dann würde er seiner Schwester nie genug bedeuten um wirklich mal ein Versprechen einzuhalten. Es würde wieder so wie immer enden. Alles würde im Schweigen gefangen bleiben und irgendwann zur Gänze zerbrechen. Von gelegentlichen Anrufen zum Geburtstag oder Weihnachten abgesehen. Das übliche halt, was einem die gute Erziehung gebot. Manchmal fragte sich John, wie es wohl zu dem Bruch zwischen Mycroft und Sherlock gekommen war. Gut, Mycroft war ein Kontroll-Freak und das wahrscheinlich nicht erst seit Gestern, aber Sherlock hatte immerhin stets einen Bruder besessen, dem er nie egal gewesen war. Wusste der das überhaupt zu schätzten? Wohl eher nicht. Aber andererseits war Sherlock auch ein sehr komplizierter Mensch. Wer auch immer den Streit begonnen hatte, der die Beziehung der Brüder so zerrüttete, beide waren zu stur und vom falschen Stolz geblendet, um wieder aufeinander zu zugehen. Er hatte Harry immerhin einen Change gegeben. Die ungefähr hundertste und wieder hatte sie sie nicht genützt. Aber immerhin war sie Geschwister und John war nicht interessiert daran, für den Rest seines Lebens mit Harry so zu verkehren, wie es die Beiden Holmes Brüder untereinander taten. Zumindest bis zu diesem Morgen vor seiner Operation, zu der ihm die Ärzte hier geraten hatten und über deren Optionen er lange nachgedacht hatte. Als er Harrys Meinung hatte hören wollen, versprach sie, ihm bei zu stehen und für einen Moment hatte er ihr geglaubt. Sie war so offen und herzlich gewesen, so als würde ihr wirklich an seinem Schicksal liegen. Ein leichter Hoffnungsschimmer, den sie an eben jenem Vormittag zunichte machte. „Was hast du erwartet? Das ich mein Leben auf Eis lege und mich nur um dich kümmere?“ Danach rief John sie nicht mehr an und wann immer ihre Nummer auf dem Display seines Handys aufleuchtete, drückte er den Anruf weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)