Leben und Lieben von ellenorberlin ================================================================================ Kapitel 9: Kira ist krank ------------------------- * War ich eben noch hundemüde, umso wacher fühle ich mich jetzt. Kiras Wärme heizt meinen ganzen Körper wohlig auf und doch fühle ich keine Panik, keine Angst. Jeden Anderen hätte ich schon längst panisch von mir gestoßen. Es überrascht mich selbst so sehr, dass ich einen Moment brauche um zu merken, dass etwas über meine Taille streicht. Die Berührung ist sanft und ungewohnt, trotzdem schön, doch als mir bewusst wird, dass die tastenden Finger Kira gehören, stockt mein Atem für einen kurzen Moment, bis er eine Stelle berührt an der ich besonders kitzlig bin und ich nicht umhin kann mich unter seinen Fingern zu winden. Augenblicklich hört er auf mich zu streicheln. „Du bist ja wach.“, stellt seine dunkle Stimme hinter mir fest. Es klingt als sei er nervös, aber das bilde ich mir sicherlich ein. Kira ist nie nervös, er ist stark und selbstsicher, manchmal ein wenig egoistisch. Das genaue Gegenteil von mir. „Sorry...“, flüstert er leise und rückt etwas von mir ab. An der Stelle wo eben noch seine Hand lag, fühle ich nun eine traurige Leere. Ich drehe mich zu ihm um, kann aber durch die Dunkelheit nur sehr schwer seine Gesichtszüge erkennen. „Wie hat dir die Party gefallen?“, fragt er mich sachlich, als wolle er von etwas ablenken. „Fantastisch, hab mich noch nie so gut amüsiert.“, antworte ich ihm rüde mit trockener Stimme. „Du kannst mir also noch immer nicht verzeihen.“ Seine Stimme klingt etwas bitter und ich frage mich warum ich nur immer so abweisend sein muss zu jedem. Es ist fast schon ein Reflex und es funktioniert, denn alle wenden sich von mir ab. Ich kann schon fast gar nicht mehr anders, aber ich wünschte, ich könnte mich einmal normal mit jemandem unterhalten. „Ich mag einfach keine Partys.“ „War das Konzert denn genauso schrecklich?“ Betrübt versuche ich seinem Blick zu begegnen, aber ich kann kaum etwas erkennen. „Nein…das war sehr schön.“, flüstere ich resigniert. „Willst du beim nächsten Konzert auch dabei sein? Ich würde mich freuen.“ „Vielleicht.“ „Warum nur vielleicht?“ „Weil ich nachtragend bin.“ „Die Sache wird mir wohl ewig nachhängen.“ Er seufzt frustriert. „Was erwartest du?“ Ich bin schließlich kein Fangirly, das gleich ausflippt, wenn es Kira sieht. Bis vor kurzen kannte ich die Band ja noch nicht mal. „Ich würde dich gerne einmal lächeln sehen. Du lächelst nie.“, meint er kritiklos und ich werde etwas verlegen. Warum sollte jemand wie er so etwas von mir wollen? Er kann alles haben, was er will. Tausende Mädchen liegen ihm zu Füßen und dieser blonde, hübsche Sänger liegt mit mir in seinem Bett. Ich verstehe ihn einfach nicht… „Was ist eigentlich mit deiner Freundin?“, frage ich mutig, aber auch etwas unglücklich. „Freundin?“, fragt er verwirrt zurück. Was ist daran nicht zu verstehen? „Diese Leona. Müsstest du dich nicht mit ihr durch die Laken wälzen?“ „Leo ist nicht meine Freundin, nur eine gute Bekannte. Hast du deshalb so schlechte Laune, Kleiner?“, antwortet er und ich glaube er grinst dabei. Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig und frage mich, warum mich das erleichtert. Das sollte es nicht. Aber schleichend, immer weiter kriechen diese Gefühle aus meinem Herzen wie eine Horde kleine Ameisen, und tief in mir weiß ich schon längst, was gerade passiert, auch wenn mein Verstand es immer noch leugnet. Ein normaler Freund wäre nicht Eifersüchtig, ich schon. Ein normaler Freund würde sich nicht nach seinen Berührungen sehnen. Ich schon… „Du brauchst dir keine Gedanken darum zu machen, ich werde mit niemandem ausgehen, wenn du es nicht willst.“ Und wieder sagt er solche Dinge, die für mich keinen Sinn ergeben. Ich kann doch nicht für ihn bestimmen mit wem er ausgehen darf… Außerdem…schmerzt es. Ich weiß, dass ich nur eine flüchtige Bekanntschaft in seinen Augen bin und trotzdem wünsche ich mir, er würde einfach nur für mich da sein, wie in den vorigen Nächten, wo er zu mir gekommen ist, als ich ihn brauchte, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Wäre Kira nicht da gewesen, wäre ich wohl zerbrochen. Langsam und schleichend beginnt mein Leben sich um ihn zu drehen und ein klein wenig fürchte ich diese Veränderung. Das Mondlicht erhellt das Zimmer nur sehr spärlich, trotzdem kann ich seine nun fast wie Silber leuchtenden Haare erkennen, die sich auf dem Kissen ausbreiten. Einige Strähnen schmiegen sich weich an sein Gesicht und fließen ihm über die Schulter. Bisher habe ich nur mal ein paar seltsame Typen in der Schule gesehen, die so langes Haar hatten, das war aber struppig und matt. Doch bei ihm sieht es schön aus, weich und glänzend, trotzdem nicht Mädchenhaft. Da würde viel eher ich als Mädchen durchgehen, als er. "Warum hast du eigentlich so lange Haare?“, frage ich etwas schüchtern. „Weil es mir so gefällt. Früher hatte ich einen ganz grausamen Haarschnitt. Als Kind hat mich meine Mutter ständig zum Friseur geschleift, weil ich so einen kräftigen Haarwuchs hatte. Ich glaube das hat sie fast wahnsinnig gemacht.“ Er lacht bei seinen Worten etwas trocken. Ich bin ganz still, weil mir wieder bewusst wird, wie wenig ich über Kira eigentlich weiß und dass er der erste Mensch seit langem ist, bei dem es mich auch tatsächlich interessiert, was er erzählt. „Sie hat immer darauf geachtet, dass meine Haare kurz und ordentlich sind, als wären wir beim Militär. Sie mochte es so.“ „Und du nicht.“, schlussfolgere ich. „Ich habe es gehasst.“ Ich frage mich, wie seine Kindheit wohl so war und ob es einen Grund gibt, weshalb er genauso alleine wohnt wie ich, auch wenn man unsere Situation wohl nicht vergleichen kann, denn er hat immerhin das Geld dazu und jede menge Freunde, die ihn unterstützen. Doch ich traue mich nicht zu fragen, weil es mir zu privat vorkommt. Ich habe kein Recht mich so in sein Leben einzumischen und ich will nicht Damons Verdacht bestätigen, dass ich Infos sammeln würde, nur um sie an Presse oder sonst wen zu verkaufen. Bei den Gedanken an Damon verdüstert sich mein Gesicht, ohne dass ich es verhindern kann und ich muss hart schlucken. „Ist was nicht okay?“, fragt mich Kira und richtet sich etwas auf. „Nein, es ist nichts.“ „Du wirkst aber nicht so.“ „Ich musste nur über etwas Unangenehmes nachdenken.“ „Hat der Typ dir wieder aufgelauert?“, fragt er urplötzlich mit einem aggressiven Ton in der Stimme und ich weiß nicht wie er gerade jetzt auf diese Idee kommt. „Nein, das ist es nicht.“ „Sicher?“ „Ja.“, meine ich bestimmt, was ihn verstummen lässt. Stoff raschelt als Kira sich wieder etwas in die Kissen sinken lässt, mich aber weiterhin ansieht. „Danke…“, flüstere ich leise und hoffe fast, dass er mich nicht gehört hat, doch ich irre mich. „Wofür?“ „Dass du mir geholfen hast und geblieben bist, obwohl ich dich so blöd angemacht habe.“ „Passiert dir wohl nicht oft, dass du Hilfe bekommst, was? Keine Sorge, du gewöhnst dich schon noch dran.“ „Hmm.“, summe ich nur und ziehe meine Knie etwas an. „Ich hab ins Schwarze getroffen, oder? Tut mir leid, Kleiner.“ „Du kannst nichts dafür.“ Nein, ich bin ganz alleine daran schuld… „Ich hoffe die Anderen haben dich nicht genervt? Tom ist ein Idiot, wenn er betrunken ist.“ „Nein, Tom ist in Ordnung.“ „Aber?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Aber gedacht. Muss ich dir immer alles aus der Nase ziehen?“ „Ja.“ „Du machst es mir wirklich nicht leicht.“ Ich seufze. „Aber Damon.“ „Was ist mit ihm?“, fragt er verwirrt nach. „Du wolltest doch mein ‚Aber’ wissen.“ „Erklärst du mir auch, was du damit meinst?“ „Nein, ich lass dich dumm sterben.“, antworte ich trocken, aber nicht ganz ernst. Er schweigt, aber ich kann ihm nicht ansehen, ob er beleidigt ist. Vielleicht ist er es auch einfach nicht gewohnt Widerworte zu bekommen. „Du machst mich fertig, Kleiner.“, meint er frustriert. „So bin ich nun mal, gewöhn dich dran.“ „Das glaube ich nicht.“, flüstert er leise und ernst. Verblüfft hebe ich meinen Kopf wieder etwas an und starre in die Richtung, in der ich seine Augen vermute. „Ich glaube, dass du nicht so kalt bist, wie du gerne tust. Du verbirgst dich, weil dir so schreckliche Dinge andauernd passieren.“ „Wenn ich nicht so schwach wäre, dann würde mir das alles gar nicht erst passieren.“, gebe ich leise zu und senke den Kopf. „Du bist nicht schwach.“ „Nein?“ „Nein…“ Eine meiner Haarsträhnen fällt mir in die Stirn, doch Kira streicht sie mir sogleich behutsam davon. „Ich habe noch keinen stärkeren Menschen kennen gelernt, als dich.“, sagt er sanft und es hört sich fast an, als meine Kira dies tatsächlich ernst. Ich lächle etwas schief, wegen seiner verrückten Worte. Er brauch mich nicht anzulügen, nur um mich aufzumuntern, ich weiß selbst dass ich klein und schwach bin. Seine Worte sind an mich vollkommen verschwendet und irgendwann wird er es auch merken. „Erzählst du mir nun, was du mit Damon meinst?“, fragt er besonnen. „Er kann mich nicht leiden.“ „Warum glaubst du das?“ „Nur so eine Ahnung. Aber das ist okay, die Meisten können mich nicht leiden.“ Ich möchte ihm nicht gestehen, dass ich sein Gespräch belauscht habe, da er sonst bestimmt wütend wäre. „Nein, das ist nicht okay. Ganz und gar nicht.“ Doch, und ich verstehe immer noch nicht warum Kira mich mag. An mir ist nichts Liebenswertes. „Mach dir um Damon nicht so viele Gedanken, er ist kein schlechter Kerl, nur sehr vorsichtig. Er hat gedacht du könntest wieder einer dieser verrückten Fans sein, weil wir da mal einen etwas unerfreulichen Vorfall hatten. Es gibt einfach zu viele scheinheilige Menschen da draußen, die nur wegen unserer Bekanntheit mit uns befreundet sein wollen. Der Fluch der Berühmtheit.“ Bei dem letzten Satz muss Kira leise lachen, aber ich weiß nicht warum er das witzig findet. „Das muss furchtbar sein.“ „Man muss nur genauer hinsehen und darf nicht jedem auf Anhieb vertrauen.“ „Nein, ich meine, berühmt zu sein…das muss schrecklich sein.“ Eine seltsame Stille legt sich über uns und langsam merke ich wieder die Müdigkeiten in meinem Körper und muss verhalten Gähnen. „Du solltest schlafen, es ist spät.“, flüstert Kira mir zu. „Ja.“ „Schlaf gut.“ Seine Stimme wird immer leiser und mir fallen die Augenlider zu, als Kira mir angenehm langsam über die Wange streicht. „Du auch…“, murmle ich. Es ist hell, als ich das nächste Mal erwache und ich blinzle einige Momente vor mich hin, da mein Körper sich noch so schwer anfühlt. Ich habe traumlos geschlafen, das erste Mal seit Tagen. Was mich aber am meisten verblüfft ist, dass ich überhaupt geschlafen habe, so lange an einem Stück. Das habe ich schon lange nicht mehr. Bisher immer nur in den Nächten, als Kira bei mir war. Allerdings kann ich nicht sagen, ob es wirklich an Kira liegt, oder auch nur daran, dass ich seit Jahren nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen habe. Ich fühle mich ausgeruht und mir ist wunderbar warm. Sehr warm. Als ich mich etwas bewegen möchte, spüre ich einen Widerstand hinter mir und weiß auch nun woher die Wärme kommt. „Hmm“, höre ich Kiras dunkle Stimme schläfrig grummeln und muss innerlich lächeln. Sein rechter Arm liegt wieder auf meiner Taille und als ich versuche mich vorsichtig herauszuwinden, ohne ihn endgültig zu wecken, schlingt er unerwartet seine Arme um meinen Körper und zieht mich an sich, wie eine Katze, die ihre Jungen zu sich drückt. Sein Rücken schmiegt sich an meinen, und ich kann seine Atmung in meinem Nacken spüren. Heiße Luft. Es ist nur heiße Luft und trotzdem wird mir ganz schwummrig davon. „Kira?“, frage ich etwas unsicher. „Hmm.“ „Wach auf.“ „Hmm“ „Kira…?“ „Du bist ja schon wach Kleiner.“, murmelt er leise und dann küsst er meinen Nacken. „Ja.“, sage ich eine Oktave zu hoch. Kiras Lippen liegen immer noch an derselben Stelle und mir wird ganz seltsam zumute. „Ist dir das unangenehm?“, fragt er vorsichtig. „Es kitzelt.“, meine ich nur unbestimmt. Mir sind seine Berührungen nicht unangenehm, nein, ganz im Gegenteil. Aber ihm sollte es doch unangenehm sein, schließlich bin ich ein Junge. Diese Spielereien sind doch nicht normal bei Freunden. So viel kann sogar ich mir zusammenreimen, so weltfremd ich auch sein mag. Laut klopft es unerwartet und ich zucke zusammen. „Pennst du noch?“, kommt es gedämpft durch die Tür. „Was willst du?“, grummelt Kira laut zurück, regt sich aber ansonsten kein Stück. Ich habe sogar das Gefühl, dass er sich noch etwas näher an mich drückt. Seine Haut strahlt eine wahnsinnige Hitze aus, im Gegensatz zu mir. Wahrscheinlich bin ich durch das Leben ohne Heizung selbst schon ganz ausgekühlt. „Tom hat auf mein Shirt gekotzt, ich muss mir eins von dir leihen.“ Ich spüre wie der Körper hinter mir seufzt. „Die Tür ist offen. Hol dir eins aus dem Schrank“, sagt er überraschend und ich kann gar nicht glauben, dass er ihn rein bittet. Immerhin macht Kira immer noch keine Anstalten von mir zu weichen, auch nicht als sich die Tür öffnet und ich Schritte höre. Aus den Augenwinkeln kann ich nun auch erkennen, dass es Damon ist, der uns stört. Ausgerechnet er. Aus der reinen Unfähigkeit irgendwie zu reagieren bleibe ich liegen, zumal Kira selbst ganz entspannt die Augen schließt, als gäbe es nichts, was ihm peinlich sein müsste. Dabei ist er doch derjenige über den man schlecht reden würde, dem ich Probleme machen könnte. Ist ihm das so gleichgültig? Damon visiert sofort den modernen Kleiderschrank an, wirft uns nur einen kurzen Blick zu. Dann noch einen, der etwas länger ist. Seine Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen und bilden eine tiefe Falte in der Mitte. Peinlich berührt ziehe ich die Bettdecke näher an meine Brust. Schwarzes Satin. Na wenigstens habe ich ein Shirt an, das sieht hoffentlich dann nicht ganz so verfänglich aus, wie es sich anfühlt. Ergeben schließe auch ich die Augen um seinen forschen Blicken zu entgehen und höre zu, wie sich die Schranktür öffnet und Stoff raschelt, als er sich ein Shirt heraussucht. „Kommt ihr bald auch runter? Ich bin gerade dabei die Anderen aufzuscheuchen. Ich würde gerne Frühstück bestellen.“ Die Schranktür schließt sich quietschend. „Irgendwelche besonderen Wünsche?“, fragt Damon sachlich. Kira richtet sich hinter mir auf und ich spüre seine Hand an meiner Schulter. Schüchtern sehe ich zu ihm auf, da er scheinbar eine Antwort erwartet, aber ich weiß nicht, was ich erwidern soll. „Ihr bestellt Frühstück?“, will ich deshalb dümmlich wissen. „Hm wir bestellen meistens, kochen tut hier keiner. Möchtest du was Bestimmtes?“, fragt er beinahe liebevoll. Ich schüttle verlegen den Kopf, da mir schon wieder Damons musternde Blicke unter die Haut kriechen. „Kannst du die Früchteplatte diesmal mitbestellen?“, wendet sich Kira an Damon, der bereits zur Tür schreitet. Er trägt nichts weiter als eine schwarze Hose, die ihm tief auf der Hüfte sitzt, und hält in der Hand das Shirt umklammert. Seine Muskeln bewegen sich sehr geschmeidig unter der gebräunten Haut, die viel dunkler als Kiras ist. Damon könnte glatt aus einer Calvin Klein-Werbung entsprungen sein. „Sicher. Ich geh wieder runter, kommt ihr nach?“ „Hm. Erstmal duschen.“ „Okay.“, sagt der Schwarzhaarige und lässt uns wieder alleine. Wir gehen nacheinander duschen, erst er, dann springe ich ins Bad. Da mein Oberteil von gestern noch so verschwitzt ist, kann auch ich mir ein Shirt von ihm leihen und komme nicht umhin daran zu riechen, bevor ich es über meinen Kopf ziehe. Natürlich ist mir das Shirt viel zu groß, und auch wenn es frisch gewaschen ist, haftet daran sein Geruch wie in allem hier. Schlabberig hängt es um meine schmalen Schultern, doch Kira grinst mich nur schelmisch an, als ich wieder ins Zimmer schleiche, während ich mir wie ein kleiner Junge vorkomme, der die Sachen seines großen Bruders trägt. Als wir nach unten kommen klingelt es gerade an der Tür, da die Bestellung da ist, und zwei von Kiras Gästen kommen wenig später mit dem Frühstück ins Wohnzimmer zurück. Einige von ihnen sehen immer noch nicht ganz frisch aus mit den dicken Augenringen und dem blassen Teint, trotzdem unterhalten sie sich fröhlich, ich schweige, weil ich nichts zu sagen habe. Es ist für mich immer noch ungewohnt plötzlich so viele Menschen um mich zu haben, auch wenn es nur die Bandmitglieder, diese Leona und zwei weitere sind, deren Namen ich nicht kenne, aber Freunde von Tom zu sein scheinen. Ich bin mir sicher dass es gestern noch mehr waren, die scheinen aber längst gegangen zu sein. Der eine von den Beiden sieht ein wenig so aus, als würde er den Spitznamen ‚Satan’ viel mehr verdienen als ich. Die Andere ist in Mädchen mit dunkler Hautfarbe und geflochtenen Haaren, die man wohl Cornrows nennt. Hat mir zumindest gestern Tom verraten, als ich ihn verwirrt angesehen habe, wo er über ihre Frisur sprach. Das war noch, bevor Tom sturzbetrunken war und nur noch Unsinn aus seinem Mund floss. Leona und das Mädchen mit den Cornrows verschwinden kurz in der Küche um Geschirr zu holen, während der Rest fleißig unser Frühstück auspackt. Ich sitze möglichst weit am Rande vom Sofa, doch Kira lässt mich nicht davonlaufen und sinkt genau neben mir ins Polster. Hungrig betrachte ich den Tisch, der sich langsam mit belegten Brötchen, exotischen Salaten und anderen Dingen füllt, die ich zum Großteil noch nie gegessen habe. Es sieht teuer aus. Karotten sind keine Karotten, wie ich sie kenne, sondern zu kleinen Figuren geschnitten, Würstchen stellen winzige Oktopusse dar und selbst die Brötchen haben eine Form. Damon, der inzwischen nicht mehr halbnackt war, stellt jedem einen Becher mit frischem Kaffee hin, auch vor mir. Unglücklich betrachte ich das dampfende Getränk. „Haben wir keine heiße Schokolade oder Tee?“, fragt Kira Damon recht rüde. „Hab ich nicht bestellt, und seit wann trinkst du keinen Kaffe? Wäre ja was ganz Neues. Sonst inhalierst du das Zeug doch regelrecht.“ Blaue Augen schielen zu mir herüber und mir steigt Hitze in die Wangen, weil die Situation unangenehm ist. „Ich schau ob ich noch was da habe.“ Er nimmt meinen Kaffeebecher und schiebt ihn Sylvet zu, ehe er aufsteht. Ich sehe Kira erstaunt hinterher wie er in der Küche verschwindet und ich bin nicht der Einzige. „Kira macht Tee? Selber? Mit seinen eigenen Händen? Dass ich das noch erleben darf!“, witzelt Tom, dessen rote Haare ganz verwuschelt sind. „Vielleicht ist er ja krank.“, wirft Sylvet grinsend ein, die sich gleich vier Brötchen und einen Berg Früchte auf den Teller quetscht. Will sie das etwa alles allein essen? Das würde bei mir für mindestens zwei volle Tage reichen. Damon sagt nichts, wirft mir aber einen nachdenklichen Blick zu. Ich frage mich, was er gerade denkt. Sicher glaubt er, dass ich Kira irgendwas schlimmes tun will. Dass ich schlecht für ihn bin und leider muss ich ihm da zustimmen, weil er höchstwahrscheinlicht sogar recht hat. Weitere Witze werden gerissen, als Kira sich wieder zu uns gesellt und mir eine dampfende Tasse Früchtetee in die Hand drückt. Ich warte etwas bis der Tee abgekühlt ist und als ich daran nippe, genieße ich den süßen Geschmack, der sich warm auf meine Zunge legt. Er hat Zucker rein getan. Viel Zucker. Ich mag es süß. „Da du gerade dabei bist, machst du mir auch einen Tee?“, fragt Tom mit süßlicher Stimme und grinst dabei von einem Ohr zum Anderen. Kira schenkt ihm nur einen vernichtenden Blick. „Du weißt wo die Küche ist, oder brauchst du einen Lageplan?“ Leona und Sylvet fangen an zu lachen und Tom schmollt. „Was Anderes habe ich leider nicht da.“, spricht seine Stimme wieder ganz sanft zu mir. Ich blicke zu ihm auf. „Ist schon okay, ich mag Früchtetee.“ „Ist er zu süß?“ „Nein, es ist perfekt.“ Er lächelt. Das Frühstück ist toll. Ich höre Kira gerne zu, auch wenn er nicht direkt mit mir spricht. Die Anderen unerhalten sich über alles Mögliche. Vieles verstehe ich nicht, da mir das Hintergrundwissen fehlt, aber es macht mir nichts. „Du Depp hast dich ganze fünf Mal komplett verspielt, hast du gestern was geraucht? Langsam übertreibst du’s echt.“, meint Sylvet. „Hey, immerhin war ich nicht betrunken. Außerdem darf ich dich an den Gig vor drei Jahren erinnern? Da warst du dicht wie ne Drossel“, rechtfertigt sich der Rothaarige. „Da waren wir alle dicht.“ „Eben. Das waren Zeiten.“, seufzt er theatralisch. „Und jetzt bist du alt?“ „Alt und knackig!“ Und dann lachen alle. „Und, wie fandest du das Konzert? War ich wirklich so furchtbar?“, fragt Tom und ich brauche einen Moment um zu merken, dass ich gemeint bin. „Äh, nein. Das Konzert war toll. Aber ich habe auch keine Vergleichesmöglichkeiten.“ „War das dein Erstes?“, fragt mich das Mädchen mit den Cornrows und ich nicke. „Und wie findest du die Songs? Diesmal haben wir paar ältere Schinken gespielt, aber fetzen immer noch, ne?“, fragt Tom euphorisch. „Äh, keine Ahnung. Ehrlich gesagt, habe ich gestern das erste Mal ein Lied von euch gehört.“ Meine Stimme wird zum Ende hin immer leiser. Verblüfft werde ich angestarrt und schlucke nervös. „Oh, okay.“, sagt schließlich Sylvet. „Nicht mal im TV?“, will der dunkelhaarige Satantyp wissen, dessen Haare ihm lang und glatt ins Gesicht fallen. An seiner Lippe hat er ein Piercing, auf dem er schon die ganze Zeit herumkaut. „Ich sehe euch ja ständig im TV. Man wird ja auch draußen regelrecht mit Plakaten erschlagen.“ Hm ich habe mich so daran gewöhnt niemanden direkt anzusehen, dass ich schon lange generell permanent auf den Boden starre, wenn ich unterwegs bin. Ich habe keinen Blick für so etwas wie Plakate. „Er hat keinen Fernseher.“, antwortet Kira für mich, als ich nichts erwidere. „Jetzt echt? So was gibt’s heute noch? Wow. Wie überlebst du das? Ich hab praktisch meine Kindheit vor der Glotze verbracht.“, staunt Tom. Mir behagt das nicht, also versuche ich das Thema zu wechseln. „Warum heißt ihr eigentlich Orphan? Ihr seid nicht alle wirklich Waisen, oder?“, frage ich vorsichtig, da ich nicht weiß wie heikel das Thema ist. „Das ist Sinnbildlich. Jeder von uns ist auf seine Weise zum Waisen geworden, deshalb haben wir uns für den Namen entschieden. Er passt am besten.“, klärt mich Damon auf, allerdings verwirrt mich das nur noch mehr und wirft weitere Fragen auf, doch ehe ich fragen kann platzt das Cornrow Mädchen dazwischen. „Ihr müsst ja eh bald los, ich denke ich werd dann auch die Biege machen. Kommst noch mit zu mir?“, fragt sie den Typ mit dem Lippenpiercing. „Klar.“ „Dann werd ich auch bald gehen.“, meint Leona. „Wohin müsst ihr denn?“ will ich von Kira wissen. „Ins Studio, wir wollten noch an einem neuen Song arbeiten. Wenn du willst kannst du mitkommen.“ „Nein, ich störe nur.“ „Unsinn, du kommst mit.“, beschließt er für mich. Nachdem auch Sylvet ihr mittlerweile fünftes Brötchen verschlungen hat, will ich gerade anfangen den Tisch abzuräumen, doch Kira hält mich ab. „Lass, das erledigt meine Haushälterin.“ „Haushälterin?“ Das ist wirklich eine ganz andere Welt. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der eine eigene Putzfrau hat. „Sei froh, dass er eine hat, sonst würd’s hier aussehen wie auf ’ner Müllhalde und Kira wäre längst verhungert.“, sagt Tom sarkastisch. „Du übertreibst.“ „Du hast noch nie selbst gekocht.“, meint Damon sachlich. Ich mag es nicht, wenn man ihn so schlecht dastehen lässt und in mir kommt ein Drang hoch, den ich bislang noch nie hatte. „Das stimmt nicht.“, meine ich bestimmt und Tom sieht mich an. „Wie jetzt?“ „Er hat schon mal gekocht, bei mir.“ Tom stutzt, und nicht nur er. „Hmpf das kann man nicht kochen nennen. Ich hab dir nur Nudeln gemacht.“ „Und die Suppe.“ „Die kam auch nur aus der Dose.“ „Trotzdem.“ „Ist gut. Du brauchst dich nicht für mich rechtfertigen.“, lächelt er und ich werde etwas rot. Tom atmet zischend aus und lacht. „Da kriegst du den ganzen Morgen kaum nen Ton raus und dann klatschst du so eine Sensation auf den Tisch.“ Na und? Ich bin nun mal nicht der gesprächigste Mensch auf Erden. „Ich glaube, Kira ist doch krank.“, wendet er sich mit dem letzten Satz an Sylvet. „Er hat gekocht, da kann was nicht stimmen.“ Bald machen wir uns alle fertig, die zwei Freunde von Tom sind schon gleich nach dem Frühstück verschwunden, deshalb sind wir jetzt nur noch zu fünft. Gerade binde ich meine ausgetretenen Schuhe zu als mir siedend heiß ein Schauer über den Rücken fließt, weil ich meine Tasche vermisse. „Verdammt.“, entfährt es mir und ich bekomme Kiras volle Aufmerksamkeit. „Meine Tasche. Ich….glaube ich habe sie beim Konzert vergessen. Ich habe sie dort an der Garderobe abgegeben und nicht wieder abgeholt.“ Mir wird heiß und kalt zugleich. Oh nein…wenn die weg ist, hab ich ein Problem, da war mein Portmonee drin, dementsprechend auch meine Monatskarte für die Bahn. „Die bekommen wir schon wieder. Wenn Sachen nicht abgeholt werden, dann lagern die das erstmal als Fundsache ein. Ich kümmer mich nachher drum, okay?“ „Okay.“, stimme ich betrübt zu. Ich fühle mich einfach nicht wohl, wenn ich nicht weiß, ob mit meiner Tasche alles in Ordnung ist. Ich hoffe nur es wurde nichts geklaut. Eine neue Fahrkarte kann ich mir diesen Monat nicht leisten… Meine Stimmung bleibt auch weiterhin getrübt, als wir auf den Parkplatz treten und dort auf Kiras Auto zusteuern. Mir wird etwas mulmig bei dem Gedanken mich auf den Rücksitz mit zwei anderen quetschen zu müssen, doch ich werde zum Glück kommentarlos auf den Beifahrersitz gedrückt und schnalle mich hastig an, bevor er es sich anders überlegt. Mir fällt auf, dass Damon kurz zögert und mir kommt der Gedanke, dass normaler Weise wohl er vorne sitzt. Das wird seine Sympathie zu mir sicherlich nicht gerade fördern. Die Fahrt ist entspannend, weil niemand von mir erwartet zu reden und so höre ich zu wie Tom und Damon sich streiten, wegen dem Kotzunfall letzte Nacht. Für mich hört es sich nicht an, als ginge es um das versaute Shirt, sondern eher um die Geste an sich. War wohl nicht das erste Mal. Oje. Wenig später parken wir auf einen Hinterhof und stehen vor einem nicht gerade modernen Gebäude. Die Fassade ist verrissen und alt. Der untere Teil ist überall mit Graffiti beschmiert. „Schau nicht so, die Räume hier nutzen wir schon ewig. Klar könnten wir was Besseres haben, aber das hier hat Charm.“, spricht mich der Rothaarige an. „So kann man das auch bezeichnen.“, meint Damon trocken. „Jetzt komm mal wieder runter, Mann.“ Ich beachte die beiden Streithähne nicht weiter und folge Kira zum Eingang. Drinnen erinnert alles ein wenig an ein Industriegebäude und ich nehme stark an, dass ich damit schon ganz richtig liege. Der Fahrstuhl mit dem wir fahren ist alt und klapprig, aber wir kommen heil oben an und steuern direkt ein paar gemütlich aussehende Räumlichkeiten an. Erstaunt bemerke ich auch, dass wir nicht alleine sind. Ein Typ, etwa mitte zwanzig, begrüßt alle mit einem vertrauten Handschlag, als seien sie alte Freunde und dann sitzen wir erstmal in einem Vorraum in einer Runde auf gemütlichen Sofas. Es werden irgendwelche Dinge besprochen von denen ich keine Ahnung habe. Es geht um Songs, Melodien und sonstiges Arrangement. Irgendwann schalte ich einfach ab. Es ist inzwischen Mittag, ich sitze mit einer Cola, die mir Kira in die Hand gedrückt hat, eingesunken auf einem Sessel und vor mir liegen viele Blätter verstreut durcheinander auf einem Tisch. Kira und Damon haben die Köpfe darüber zusammengesteckt, während Tom und Sylvet vor irgendwelchen Notenblättern sitzen, wobei sich der Rothaarige inzwischen eine Gitarre aus einem Raum geholt hat und verschiedene Tonreihenfolgen ausprobiert. „Spiel das noch mal.“, sagt gerade Sylvet und Tom wiederholt die Griffe. „Das können wir so nehmen, dann passt hier das Hihat im achtel auch.“ Kira blättert nachdenklich durch ein ramponiertes Notizbuch. Seine Haare hat er mit einem Zopf zurückgebunden, damit sie ihm nicht störend in die Augen fallen und er trägt eine von diesen Jeans, die an einigen Stellen extra abgewetzt wurde, damit sie kaputt aussieht, es aber nicht ist. Dazu einen Nietengürtel mit silberner Kette und einem grauen Fuchsschwanz. Sein Hemd ist mit schmalen Strichen grau gemustert und hat einen fusseligen Aufdruck auf der Brust. Unglücklich sehe ich an mir herab und stelle wieder fest, wie langweilig ich gegen ihn aussehe, selbst wenn ich seine Sachen trage. Vielleicht würde es besser aussehen, wenn mir das Shirt passen würde. Ich habe mir noch nie wirklich Gedanken darum gemacht was ich anhabe, aber gerade schäme ich mich ein wenig dafür so unmodisch zu sein in der Gegenwart von den Anderen. Sogar die zierliche Sylvet trägt ein rockiges Outfit mit kariertem Rock und Stiefeln auf denen der Schriftzug ‚Let’s rock’ prangt. So klein wie ich bin, würde ich eher in ihre Klamotten passen, als in Kiras. Ich nehme mir gedanklich vor, dass, wenn ich irgendwann mal wieder etwas Geld übrig habe, ich mir neue Klamotten kaufe, auch wenn das wohl noch dauern kann. „Was hältst du hiervon?“ Kira schiebt Damon sein Notizbuch zu und dieser liest laut den Text. „I'm one player only, who mixes words instead many cards. You stole my lonely words. Now, I keep silent this one phrase for you. Now, you have my words inside of your hands” Nachdenklich wiederholt er den letzten Satz mehrmals. „Das ist schön“, murmle ich unüberlegt und Kiras Augen blitzen auf. „Ich bin nur froh dass du deine Kreativität wieder hast.“, seufzt der Schwarzhaarige müde. „War ja höchste Zeit, die Lieder für das neue Album müssten längst stehen. Wem oder was haben wir denn den glücklichen Zustand zu verdanken?“ „Sagen wir, ich hatte eine Muse.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)