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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Moinsen,

Ich hab die Geschichte nach kleiner Überarbeitung mal wieder einsortiert. Also jetzt ein zweiter Versuch, sie hier auszustellen.

Es gibt nur wenige Kleinigkeiten vornweg:

Dies ist eine Vampirgeschichte. Allerdings keine à la Twilight, sondern die etwas dreckigere, entromantisierte Spielart. Blut wird nicht nur vergossen und mit Appetit getrunken, sondern auch aus verschiedenen Perspektiven diskutiert, etwa als Gegenstand von Ekel, Romantik, Angst oder Gier. Einige Darstellungen könnten daher eine leicht pervers anmutende Färbung haben. Wer eine Abneigung gegen Blut hat, wird eher keinen Spaß haben. ;)

Wichtig. Ich muss klarstellen, dass sich niemand, aber auch wirklich NIEMAND der hier eingebauten realen Personen jemals so verhalten würde. Ich hatte von Anfang an nicht vor, sie alle wie Engel darzustellen, und das wäre auch zu langweilig; man sollte nur nicht auf die Idee kommen, aus meinen Schilderungen auf das wahre Verhalten dieser Leute zu schließen. Ich kenne keinen von denen persönlich – wie auch – und sie gehören mir natürlich nicht.
Gleiches gilt für die Organisationen, die ich einbinde, seien es Geheimdienste, Konzerne oder sonstige.
Diese Geschichte ist REINE Fiktion! Sie dient der Unterhaltung und nichts anderem. Auch wenn ich nach meinen Möglichkeiten recherchiert habe, sollte man etwaige Zusammenhänge grundsätzlich nicht für bare Münze nehmen.

Und nun, vielleicht, ein wenig Spaß mit dem Blödsinn. =) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und ab hier geht es nun über den Stand hinaus, den ich damals hochgeladen hatte. Yay. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieser Teil ist prima geeignet, um ihn hungrig anzufangen und sich dann an entsprechender Stelle was zu essen zu holen. Wirkt dann erstaunlich viel besser! xD
Außerdem ist dies das Kapitel, in dem mit der höchsten Frequenz „Scheiße“ gesagt wird. Zählt doch nach! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Finaaaaaaaaaaale! Komplett anzeigen

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Schnödes Wasser

CATCH ME, SLAY ME, HUNT ME DOWN

VIKING’S BLOOD WILL MAKE YOU DROWN

FEEL IT FAN YOUR RAGE INSIDE

SHOW YOUR GODDAMN FANGS AND BITE!

– Blöder Refrain des Liedes „The Viking’s Blood“ der Kapelle Snowine, die darüber sagen wird, er sei nach einer Menge Kirschmet nebst Sichtung von „From Dusk Till Dawn“ getextet worden.

- -
 

Man sagt, in Wuppertal ist es Sommer, wenn der Regen warm wird. Laut vieler Statistiken ist die Hauptstadt des Bergischen Landes sogar die regenreichste Deutschlands. Wuppertaler Studierende sind sich einig, dass eine gigantische Glaskuppel über dem Campus von Vorteil wäre.

Auch am zweiten Oktober regnete es solche Massen, dass ganze Sturzbäche die kurvigen Straßen ins Tal hinab flossen, in das sich die Innenstadt drängte. In diesem Jahr war der Sommer nur winkend vorübergegangen. Es war noch nicht einmal acht Uhr, doch die Dämmerung ging bereits nahtlos in Finsternis über.

Zwei Studenten des Faches Sicherheitstechnik, die sich gerade erst eingeschrieben hatten und ihr Studium in zwei Wochen anzutreten gedachten, lehnten an der grauen Mauer des Wohnheims in der Max-Horkheimer-Straße und rauchten im Schutz des vorspringenden Daches mit klammen Fingern eine Zigarette, mit der sie sich ob der Kälte nicht lange aufhalten wollten. Ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock über ihren Köpfen warf ein gelbes Licht auf sie.

»Okay … Jetzt könnte er aber langsam mal kommen«, murrte der eine.

»Ruf ihn doch mal an.«

»Hab ich ja gerade. Geht nicht ran.«

Sein Gegenüber nahm gelangweilt den letzten Zug, ließ die Kippe fallen und trat sie aus.

»Wie kann man so lange brauchen, um einen Tennisschläger zu suchen? So riesig sind die Zimmer hier doch gar nicht.«

»Was heißt Suchen … Der räumt jetzt erst den Koffer aus.«

Sie grinsten einander an.

Und warteten weitere zehn Minuten schweigend.

Dann wandte der Erste sich ab. »Ich geh mal rauf und check das schwarze Loch in seinem Fußboden.«

»Hmmm … Dann kann ich genauso gut mitkommen. Besser als hier draußen frieren.«

Gemächlich trotteten sie zu einer der vielen Glastüren des Wohnheims, die ihnen Zugang zu den grauen Fluren verschaffte. Eine weitere Glastür trennte sie von jenem Korridor, in dem ihr Kommilitone erst vor kurzem Quartier bezogen hatte.

Die vierte Türe war seine. Der Zweite klopfte an. »Patti?«

Keine Antwort.

Sie tauschten einen Blick und drückten dann einvernehmlich ihre Ohren an die Tür.

Kein Geräusch drang heraus.

»Der ist bestimmt Kacken.«

Der andere schüttelte entnervt den Kopf und versuchte es in energischerem Ton: »Pattiiiii! Mann!«

Wieder nichts.

»Alter, was ist denn das für ’ne Scheiße, wir wollen los! Die warten da nicht auf uns!«

»Kannst laut sagen. Lass mal andere Seite versuchen.«

Jene Studenten, die par terre wohnten, mussten auf einen Balkon verzichten; stattdessen öffnete sich ihre Fenstertür auf der anderen Seite zum Innenhof hin, wo lärmende Mitbewohner um einen knisternden Grill herumstanden. Patti hatte seine Tür nie offen stehen, aber stets angelehnt.

Die Grillenden sahen auf, als die beiden Neuen sie mit knappen Grüßen passierten und auf Pattis Fenstertür zuhielten. Bunte Gardinen verwehrten die Sicht ins erleuchtete Zimmer.

Ohne Widerstand öffnete sich die Tür und ließ Pattis Freunde herein. Sie fanden den in Ungnade Gefallenen auf seinem Bett sitzend vor, die Stöpsel seines MP3-Players in den Ohren, bei geschlossenen Augen einen friedlichen Ausdruck im jugendlichen Gesicht. Neben ihm lag der Tennisschläger.

»Aaaah-ha! Deswegen hört der Herr also nichts!«

»Ey, was für’n Arsch. Und wir warten da unten auf ihn!«

Die beiden tauschten einen Blick wortloser Übereinkunft und schlichen sich an. Der Erste beugte sich über Patti, hob die Hand und näherte sie langsam der Nase des Freundes. »Uuuuund – … hab ich dich!« Er kniff zu. Sein Begleiter hinter ihm lachte.

Patti lachte nicht. Keiner seiner Muskeln hatte auch nur gezuckt.

Das Grinsen der beiden erstarb.

»Patti … Hallo?« Sie rüttelten an ihm; der Zweite verpasste ihm gar eine sanfte Ohrfeige. »Sag mal … Verarschst du uns?«

Patti schien nichts Scherzhaftes im Sinn zu haben. Als der Erste seiner Freunde mit wachsender Besorgnis seine Hand ergriff und nach dem Puls tastete, fand er nichts.

»Scheiße«, sagte er so wohlbetont, als handelte es sich um ein inbrünstiges Ave Maria. »Schei-ße … Scheißescheißescheiße!«

Ein Blick genügte, und sein Kommilitone las seine Gedanken. Sofort hatte er sein Nokia in der Hand und tippte hektisch.

»Bist du sicher …?«

»Seh ich aus wie’n Arzt? Jetzt ruf schon an!«, spie der andere.

Es dauerte einen quälenden Moment und zwei Freizeichen, bis sich in der Leitung etwas tat.

Der Erste, der immer noch das langsam kühl werdende Handgelenk seines Freundes umklammert hielt, verspürte zunehmend den Drang, auf die Toilette zu rennen. Seine Eingeweide schienen komische Verrenkungen zu vollziehen. Noch einmal zwang er sich, in Pattis ausdrucksloses Gesicht zu sehen, das aussah, als wäre er beim Musikhören eingedöst. In diesem Fall hätten sie sich einen Filzstift suchen und ihm einen Schnurrbart malen können. Oder Augen auf die geschlossenen Lider. Irgendetwas Albernes.

Doch jetzt, rief er sich ins Bewusstsein, war es mit so etwas vorbei – zumindest für Patti. Patti, den er erst vor einer Woche auf der Einführungsveranstaltung kennen gelernt und mit dem er zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckt hatte.

Er war hinüber.

Mausetot.

Und saß hier mit seinen Stöpseln im Ohr, als ginge ihn das alles nichts an.

Der junge Mann schluckte und machte einen großen Satz zur Badezimmertür.
 

Klaus Buschfeldt warf sein Handy über die Lehne auf den Rücksitz des alten Opel Astra und setzte den Blinker, um aus der Parklücke auszuscheren. Regen klatschte auf seine Frontscheibe, und die Wischer waren durch das Herumstehen auf dem staubigen Parkplatz so verzogen, dass sie laut knarrten und Schlieren hinterließen statt klarer Sicht.

Der Direktor der Musikindustrieüberwachung fluchte innerlich. Diese verdammten Freaks! Schlimm genug, dass sie ihre Arbeit auf sehr eigentümliche Art erledigten, aber mussten sie auch noch so tun, als wäre das alles ein Riesenspaß? Was war das wieder für ein kryptischer Hinweis gewesen, den er sich selbst zusammenreimen durfte? Er sah die SMS – so ganz ohne Interpunktion oder Beachtung gängiger Großschreibregeln – noch vor seinem geistigen Auge:

mission accomplished haben das ei im nest wiederhole der adler ist gelandet gehen uns jetzt pizza holen btw. kollateralschaden mit dem schweizer der den koffer hatte… weg verfolgt haben pfeiffer und elsi schon dran. over&out simon m.

Na prima. Offenkundig war die Mission im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen und mit »dem Schweizer« war sicherlich der Mitarbeiter von Roadrunner Records gemeint, der die Untersuchung angeregt hatte – doch was mit »Kollateralschaden« gemeint war, das wollte Buschfeldt sich gar nicht ausmalen. Als ein häufig verwendeter Begriff bezeichnete Kollateralschaden in der Regel etwas, das auf die Dauer nicht gerade zu biegen war. Zerstörte Beziehungen, etwa. Zerstörte Beziehungen zu Roadrunner Records? War es das? Würden sie jetzt ihr V-Personal abziehen und die Zusammenarbeit beenden müssen? Oder handelte es sich um etwas ganz anderes, etwa darum, dass der Schweizer bei dem Versuch, seinen ominösen Koffer in Sicherheit zu bringen, … ?

Sein Handy begann zu quäken. Er hatte den nervenzerreibendsten Klingelton gewählt, den er hatte finden können, damit er bei jedem Anruf genötigt war, ihn sofort anzunehmen. Jetzt allerdings hatte er das Telefon auf den Rücksitz geworfen. Das Genöle dauerte an.

Mit zusammengebissenen Zähnen steuerte er den Opel weiter durch Hildesheim. Es regnete nun schon den ganzen Vormittag, und aus allen Senken schoss das Wasser auf, wenn die Räder hineinrollten. Dark Knight nannten seine Agenten das Fahrzeug. Es war der Einsatzwagen der MIU, und dass Buschfeldt ihn heute selbst fuhr, war eine Ausnahme. Sein eigener Ford Cabrio hatte ein Problem mit den Bremsbelägen.

Als er eine Parkbucht fand, hielt er dankbar an und kroch halb über die Rückenlehne, um nach dem Mobiltelefon zu angeln. Natürlich waren seine Finger knapp zwei Zentimeter zu kurz. Er musste hinaus in den Regen und es holen.

Falls er gedacht hatte, dass sein Tag nach diesem Morgen und der schlecht verlaufenen Unterredung mit dem Bürgermeister Hildesheims nicht unangenehmer werden könnte, so lag er wieder einmal falsch; das Handy, das während der Fahrt fünfmal geklingelt hatte, zeigte die Nummer seiner Chefin an. Dr. Marianne Kircher – den Doktor hatte sie in Philosophie und Volkswirtschaft – leitete Abteilung 4 des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zu welcher die MIU gehörte. Allerdings saß sie gemütlich im Hauptsitz in Köln, wo garantiert die Sonne schien.

Buschfeldt fuhr sich mit beiden Händen durch das schüttere graue Haar und machte sich daran, sie zurückzurufen. Es musste sich wohl um ein weiteres Anliegen in Hildesheim handeln, und sie würde ihn nicht erst nach Alfeld weiterfahren lassen.

»Klaus, na endlich kriege ich Sie!«, begrüßte ihn die strenge, seltsam unfeminine Stimme. »Wieso gehen Sie denn nicht an Ihr Telefon?«

»Ich bin gefahren«, rechtfertigte er sich und zog die Nase hoch; aus seinem Haar rann ein dicker Wassertropfen über seine Schläfe.

»Ah! Wo sind Sie?«

»Noch in Hildesheim.«

»Gut, sehr gut. Wie lief das Gespräch?«

»Wie erwartet.« Mehr musste man dazu wohl nicht sagen. »Meine Agenten haben –«

»Ist mir schon zu Ohren gekommen, Klaus«, unterbrach sie ihn geschäftig. »Sie haben genau fünf Minuten für Ihre Schimpftirade, dann steht mein nächstes Meeting an.«

Er seufzte. Sie wusste vermutlich mehr über diesen dubiosen Kollateralschaden als er. Schließlich machten seine Leute kein Geheimnis daraus, dass sie ihn nicht mochten. »Diese Musiker«, sagte er fest, »sind die Hölle. Allesamt Rabauken und kindische Dummbeutel.« Er machte eine Pause, um auf ihren Widerspruch zu warten, doch es kam keiner. Das ermutigte ihn. »Ich brauche unbedingt mehr Unterstützung in diesem Bereich, mein Assistent lässt denen viel zu viel durchgehen … Sobald ich mal nicht in Alfeld bin, zünden die mir das Haus an …«

»Das ist mir neu«, sagte sie ohne Anteilnahme. »Vielleicht hätte ich Sie schon früher mal ausreden lassen sollen.«

»Hören Sie, warum können wir das Ganze nicht ein wenig … dezentralisieren? Sie auf andere Bereiche verteilen, dafür mehr Leute zur MIU holen, die entsprechend ausgebildet sind …?«

»Wissen Sie was, Klaus?«, unterbrach Fr. Kircher ihn schon wieder. »Ich werde Ihren Anregungen diesmal entsprechen. Ernsthaft. Naja, zumindest im Ansatz.«

Er furchte die Stirn. »Was soll denn das heißen?«

»Dass Sie einen weiteren Mann bekommen. Ein Kindermädchen, zu Ihrer freien Verfügung.«

Buschfeldt ahnte etwas. »Was hat dieser arme Mann verbrochen, dass Sie ihn versetzen?« Sicherlich etwas ganz Furchtbares. »Ist er aufgeflogen?«

»Sagen wir … er braucht einen Ortswechsel. Ich denke, die Arbeit bei der MIU wird ihm gut tun.«

»Wie Sie meinen.« Widerstand war ohnehin zwecklos. Wenn Kircher fand, dass dieser Mann eine so schreckliche Strafe verdient hatte, dann musste Buschfeldt seine Rolle als Folterknecht wohl oder übel annehmen. »War es das, was Sie mir mitteilen wollten?«

»Ja, deshalb habe ich ja gewartet, bis Sie sich beschweren. Ich dachte, Sie freuen sich, Klaus. Zwei Hände mehr, um die vielen Zügel zu halten.«

»Zwei fähige, hoffe ich. Wo kriege ich den Mann?«

»Deshalb hatte ich es so eilig, Sie in Hildesheim zu erwischen. Er wohnt dort. In Moritzberg.«

»Wie günstig.«

»Nicht wahr? Er ist vorgewarnt, überfallen Sie ihn ruhig. Ich schicke Ihnen die Adresse aufs Handy.«

»Oh, ja … vielen Dank.«

»Viel Vergnügen. Wir sprechen uns morgen. Auf Wiederhören, Klaus.« Sie legte auf, ehe er den Gruß erwidern konnte. Das tat sie immer. Musste so eine Emanzipationssache sein: Kircher konnte es nicht ertragen, wenn ein Mann das letzte Wort hatte.

Buschfeldt griff unter den Sitz, wo er sein Navigationssystem fand. Jetzt brauchte er wohl nur noch die SMS abzuwarten, und schon konnte er den Tag noch schlimmer machen, indem er ein ätzendes Gespräch mit einem unglückseligen Versetzungskandidaten führte.
 

Missmutig sah Friedrich Wunderbaum seiner Frau Christine dabei zu, wie sie ihre Fußnägel schwarz lackierte. Sie legte dabei eine Sorgfalt an den Tag, die ihn für gewöhnlich auf magische Art und Weise beruhigte. Obwohl jenseits der Vierzig, war Kitty auch optisch unverkennbar eine Liebhaberin der Schwarzen Szene, und er ließ es gut sein; wenn sie mit schwarzer Farbe auf ihren Nägeln oder Augenlidern hantierte, empfand er eine gewisse Befriedigung, eine Befriedigung darüber, dass er ein so toleranter Mann war, dass er diese eine Leidenschaft, die er mit ihr nicht teilen konnte, niemals als ein Hindernis angesehen hatte. Ja, wie säuberlich sie heute wieder mit dem Pinsel umging, um keine unsauberen Ränder zu streichen … Bei der Renovierung im letzten Jahr wäre ihm eine derartige Akkuratesse sehr willkommen gewesen, doch ein Farbroller war in Kittys Fingern beileibe nicht das gleiche.

»Du starrst mich schon wieder so an, Fritz«, sagte sie, ohne aufzusehen.

»Du bist der einzige Anblick, der mich nicht noch nervöser macht«, gab er zu.

»Ach, hör doch auf. Die werden dich nicht entlassen … Nicht wegen so was, Fritz.«

Er versuchte, woanders hinzusehen. Das Foto seiner Eltern, das an der Wand hing, fing seinen Blick. Ihr Lächeln wirkte plötzlich so tückisch … als wüssten sie ganz genau, was ihr Sohn heute angerichtet hatte.

»Ich dreh noch durch!«, schnaufte er, die Hände zu Fäusten ballend. »Wenn sie wenigstens anrufen würden! Und sagen: Jaah, Herr Wunderbaum, das war’s dann wohl mit Ihrer Laufbahn, alles Gute … Aber dann wüsste ich wenigstens bescheid! Mich so im Ungewissen zu lassen ist ja wie eine Strafe!«

»Genau«, sagte Kitty ruhig und lackierte weiter, »und wenn sie dich lange genug bestraft haben, bist du wieder an Bord.«

Als ob, dachte er. Die werden mich achteckig rauskanten. Wieder sah er das scheinheilige Lächeln des Barbesitzers vor sich, den er der Geldwäscherei hatte überführen wollen: Herr Schuster, wenn Sie in Marburg aufgewachsen sind und in Wetzlar leben, wie kommen Sie dann zu einem Brandenburger Kennzeichen? Einfach unglaublich, dass ihm ein solcher Fehler passiert war. Wie hatte er statt dem LDK-Kennzeichen, das für Lahn-Dill-Kreis stand, ein LDS-Kennzeichen für den Landkreis Dahme-Spreewald anbringen können? So etwas durfte nicht passieren, nicht bei seiner langjährigen Erfahrung! Alle Glaubwürdigkeit war damit dahin. Völlig aus dem Konzept gebracht, hatte er sich keine schlüssige Erklärung dafür einfallen lassen können. Brandenburg, ja, äh … ja.

Nun, Einpacken war wohl jetzt das Naheliegendste. Angenehme Zeiten als Diplomat gehörten damit der Vergangenheit an: Parken im Halteverbot … Ignorieren von Verkehrsregeln … Essen mit wichtigen Leuten in teuren Restaurants … und nicht zu vergessen: eine wirklich fürstliche Bezahlung. Wie sollte er Kitty ermöglichen, sich all diese Gothic-Musik nichtaussprechbarer Bands legal zu beschaffen (worauf er bestand) und dieses teure schwarze Lack-und-Leder-Zeug zu tragen (wobei sie ihn im entsprechenden Dessous durchaus zu verführen verstand), wenn das BfV ihn nicht behalten wollte? Es war möglich, dass er bei einem anderen Geheimdienst eine Anstellung fand, etwa als Auslandsdiplomat beim Bundesnachrichtendienst … doch dazu müsste er erst einmal bessere Fremdsprachenkenntnisse erwerben. Sein Französisch war ihm zuletzt auf dem Niveau A2 bescheinigt worden. Das bedeutete: Absolvent kann einfache Sätze verstehen.

Ehe er sich wieder Christine zuwenden und unangenehme Grübeleien in Gang bringen konnte, klingelte es an der Tür.

Kitty hob den Kopf. »Ich bin noch feucht, Fritz. Mach mal auf.«

Er machte auf dem Absatz Kehrt. Ich bin noch feucht, Fritz. Dieser Satz konnte auch bequem aus einem Film im Spätprogramm stammen. Nicht ich muss aufmachen, Kitty, du musst mich reinlassen, mein Teufelsweib! Das sangen sie doch immer in diesem Geträller, das sie sich in der Küche anhörte, Oooooh-hoo-hoo, du bist das Teufelsweib, oder so ähnlich. Ach, es war doch sowieso alles egal nach dem heutigen Tag …

Vor der Tür, die er schwungvoll öffnete, stand ein Mann mit grauer Halbglatze. Das verbliebene Haar hatte er sich über den Scheitel zu kämmen versucht, doch der Regen hatte seine Bemühungen sichtbar zunichte gemacht.

»Friedrich Wunderbaum?«

»Äh, ja. Kann ich was für Sie tun?«

»Sie könnten mich reinlassen. Klaus Buschfeldt.« Mit offenkundig routinierter Bewegung zückte er einen Ausweis und hielt ihn Fritz auf Augenhöhe hin. Das Papier wies ihn als BfV-Kollegen aus. Abteilung 4, wie er – Spionagebekämpfung.

»Bitte«, sagte Fritz und trat beiseite.

»Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden«, erklärte der streng aussehende Ankömmling, indem er den Regen abschüttelte. »Wir müssen über Ihre Zukunft sprechen.«

Fritz seufzte: »Sagen Sie mir einfach, dass ich raus bin.«

»Raus? Nein, nein. So weit wollen wir mal nicht gehen.« Ächzend richtete sich der geschätzte Mittfünfziger wieder auf. »Wir wollen mal versuchen, ob Sie nicht in einem anderen Bereich mehr Freude haben.«

Ich hatte immer viel Freude, dachte Fritz wehmütig. Falsch parken … »Und welcher Bereich wäre das?«

»Meiner. Die Musikindustrieüberwachung, kurz MIU.«

Fritz stutzte. »Müsste es dann nicht MIÜ heißen?«

Buschfeldt lächelte gequält. »Sie sind schnell im Denken, das gefällt mir.« Es klang wie: Sie sind ein Klugscheißer, das hasse ich. »MIU sieht besser aus und ist auslandsfreundlicher. Umlaute, Sie wissen schon.«

Fritz wusste nicht, aber Fritz ahnte. Allmählich sogar ziemlich viel. »Läuft wohl nicht alles so gut in Ihrem Bereich, mit der … Musik.« Musik, ja, und? Was machte man überhaupt bei der MIU? Durfte er das fragen, oder war er dann ein Vollidiot?

»Wir wissen«, sagte Buschfeldt gewichtig, »wo falsch gespielt wird – und damit meine ich nicht nur schiefe Töne. Wir beobachten, wo welches Geld landet, wo Willkür herrscht, wo unschöne Umstände totgeschwiegen werden, und genauso, wie Kapellen ausgeschlachtet und den konsumierenden Massen ihr Musikgeschmack quasi diktiert wird. Wussten Sie, dass vielen Kapellen durch den finanziellen Einsatz reicher Konzerne zu Ruhm verholfen wird? Nein, das wussten Sie nicht, aber wir wussten es. Es gibt noch viel mehr düstere Machenschaften, die man mit Musik so betreiben kann, Herr Wunderbaum. Allerdings …«

Und nun wurde sein euphorischer Ausdruck jäh wieder düster. »… genießen wir beim BfV nicht den besten Ruf. Es ereignen sich zuweilen schwer kontrollierbare Dinge … Dinge, die uns den Beinamen ›X-Akten des BfV‹ eingebracht haben, falls Sie diese Anspielung verstehen.«

»Ja, ja, verstehe ich.« Kitty liebte Akte X.

Buschfeldt sah sich zum ersten Mal eher beiläufig in der Diele um. Fritz erinnerte sich plötzlich, dass er als Hausherr auch Pflichten hatte.

»Oh, ooh, kann ich Ihnen was anbieten, Herr Buschfeldt? Einen Tee?«

»Nun, angesichts Ihrer Versetzung wäre doch eher etwas zum Anstoßen angebracht … Wie wär’s mit einem Gläschen Sekt?«

Fritz hielt inne und überlegte fieberhaft. Hatten Sie Alkohol im Haus? Sekt? Wein? An Kittys Geburtstag war doch alles vernichtet worden … und seitdem …

Er begann den Kopf zu schütteln. »Tut mir Leid … Haben wir nicht. Ich kann Ihnen … Wasser anbieten.«

Buschfeldt sah enttäuscht aus. »Wasser«, wiederholte er müde. »Na gut … dann holen Sie uns Wasser.«

Fritz kam der Aufforderung nach. Es ging, so erinnerte er sich mit Nachdruck, beim Anstoßen ja auch eher um die Geste als um den Inhalt des Glases. Genau!

Also stießen sie mit stillem Wasser an. Immerhin war es nicht aus der Leitung.

»Na dann, willkommen bei der MIU. Sie haben Glück, die Zentrale ist nicht weit weg.«

Fritz setzte sein Glas ab. »Oh, ich muss … mich erst irgendwo melden?«

»Das wäre von Vorteil. Kennen Sie Alfeld?«

»Hm, kann sein …«

»Dort gibt es eine Papierfabrik. Sie ist der Sitz der MIU.«

Fritz stutzte. Das war höchst seltsam. Augenscheinlich stimmte es, dass in der Musikindustrie nicht alles mit rechten Dingen zuging.

»Um dort reinzukommen, brauchen Sie eine Parole, die ich Ihnen noch auf anderem Wege übermitteln werde. Ich erwarte Sie am Montag um zehn Uhr im Besprechungsraum.« Mit diesen Worten leerte der MIU-Direktor sein Glas und stellte es schwungvoll auf den Tisch. »Ich möchte mich dann verabschieden und für die … Gastfreundschaft danken.«

»Gern …«, murmelte Fritz, um Worte verlegen. »Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht …«

»Ach, das sehen wir dann, wenn ich Sie in Ihr neues Aufgabenfeld einweise. Machen Sie sich nicht unnötig Sorgen, es wird Ihnen gefallen. Viel Abwechslung.« Er hielt Fritz die Hand hin. »Einen angenehmen Abend.«

»Ebenfalls.«

Fritz sah zu, wie Buschfeldt aus der Tür stapfte, noch einmal winkte und zu seinem Auto trat, einem etwas mitgenommen aussehenden Opel Astra. Hoffentlich, dachte Fritz, ist das kein Maßstab für die Dienstwagen …

Als er die Tür hinter sich schloss, stand Kitty in der Diele. »Und?«, fragte sie.

»Alfeld«, antwortete er. »Montag.«

»Siehst du! Ich hab doch gesagt, die werfen dich nicht raus.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn auf die Nase und trollte sich dann zur Couch, um einen aufgeschlagenen Vampirroman beiseite zu räumen und sich in das Polster sinken zu lassen. »Dann hast du ja morgen frei, und wir können einen Film ausleihen …«

»Aber nicht den mit Patt Robertson, oder wie der heißt.«

»Dann einen anderen. Komm, rutsch rüber. Der Abend gehört uns!«

Ihr schwarzgerändertes Lächeln war so aufreizend, dass Fritz nicht widerstehen konnte, sich der ersehnten Erleichterung hinzugeben. Er hatte seinen Job doch nicht verloren. Im Gegenteil – er hatte ein neues Einsatzgebiet! Innerlich frohlockte er, als er Kitty küsste. Die MIU sollte nur kommen – was komische Sachen betraf, so war er auf alles vorbereitet.

Papierparole

Der Morgen hing trüb wie ein schmutziges Geschirrtuch über Alfeld an der Leine, als Fritz seinen Ford Fiesta in der Nähe der Papierfabrik parkte. Er traute sich nicht, auf das Grundstück zu fahren. Womöglich war das nicht erwünscht; außerdem fuhr er noch immer mit dem LDS-Kennzeichen, und unauffällig war das sicherlich nicht. Eher ein Zeugnis seines Versagens.

Das Gebäude, dominiert von Weiß und Dunkelrot, ragte wenig ansehnlich vor ihm auf. South African Pulp and Paper Industries Limited, kurz SAPPI, war, wie er im Internet recherchiert hatte, der Hauptarbeitgeber der Stadt Alfeld. Noch immer zerbrach er sich den Kopf darüber, warum sein neuer Arbeitsplatz sich ausgerechnet im Keller einer Papierfabrik befinden musste. Ergab das einen Sinn? Wieso hatte die MIU keine schmucken Büroräume hinter verglasten Fenstern? Wieso ein Keller? Es war doch viel gesünder, bei Tageslicht zu arbeiten!

Kopfschüttelnd betrat er das Gelände. Buschfeldts Anweisungen, wie er die Fabrik zu betreten hatte, hallten noch in seinem Hinterkopf wider: Agenten sollten nicht den Haupteingang benutzen, sondern sich an der Rückseite des Gebäudes durch einen Handscan Zugang verschaffen. Fritz jedoch war zum ersten Mal hier; für ihn gab es noch keine Erkennungsdatei. Er musste auf gewöhnlichem Wege hinein.

Drinnen empfingen ihn eine beinahe unangenehme Wärme und der Lärm vieler tätiger Papierstanzen. Es roch nach Chemikalien und Holz. Das Licht war grell, doch seine Augen gewöhnten sich unerwartet schnell daran.

Eine junge Mitarbeiterin, die aus einem angrenzenden Korridor herbei sprang, hieß ihn mit einem Kopfnicken willkommen. »Guten Tag. Bitte nichts anfassen.« Dann wollte sie auch schon weitereilen.

»Moment, Moment!«, hielt Fritz sie auf. »Ich – ich wollte eigentlich …«

»Sekunde«, antwortete sie und rieb sich die Ohren. »Oh Gott, diese Stanze kann einen taub machen. Aber sonst wäre es so still.«

Fritz merkte auf. Das war er – der Satz, den Buschfeldt ihm genannt hatte und auf den er nun mit der richtigen Antwort reagieren musste. Puuh, beinahe hätte ich das auch noch verbockt. Stattdessen seufzte er und fragte theatralisch: »Tja, was ist nur aus der guten alten Musik geworden?«

Die junge Frau nickte nur abwesend, fuhr sich durch das blondierte Haar und winkte ihm dann, ihr zu folgen. »Hier lang.«

Er kam einfach mit, als ließe er sich nur als interessierter Kunde etwas zeigen. Sie führte ihn ein paar Gänge hinunter, vorbei an dunklen und erleuchteten Räumen, aus denen die verschiedensten Geräusche und Gerüche drangen. Fritz erkannte, dass hier nicht nur Papier hergestellt, sondern auch allgemein Holz verarbeitet wurde.

Seine Führerin hielt in einem ansonsten leeren Korridor vor einem Treppenabgang, der mit zwei Ketten versperrt war. Mit einer Hand nahm sie die Absperrung beiseite, mit der anderen deutete sie hinunter. »Bitteschön, viel Vergnügen.«

Fritz drehte sich perplex nach ihr um, doch sie lächelte ihn nur an. Dem Ton nach hätte sie ihn ebenso gut in eine römische Arena geschickt haben können. Ihr rundes Gesicht verriet jedoch keine Arglist.

Ver…gnügen? »Äh … danke.«

Sie wartete doch tatsächlich, bis er auf der ersten Stufe abwärts stand, um dann die Ketten wieder vorzuhängen. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich und ging dann schnellen Schrittes den Gang wieder zurück.
 

Fritz lauschte seinen eigenen Schritten auf den weißgefliesten Stufen. Die Decke war niedrig, doch dieser Umstand besserte sich, sobald er unten angekommen war und sich erneut in einem Korridor mit Türen zu jeder Seite wiederfand. Die Beleuchtung war ein wenig schlechter als oben, außerdem entdeckte er – sehr zu seiner Überraschung – neben der ersten Tür in einer Halterung eine brennende Fackel. Das war eine mehr als merkwürdige Dekoration, doch Fragen würde er ohnehin eine Menge zu stellen haben, wenn er hier erst einmal endlich empfangen wurde.

Glücklicherweise stand an dieser ersten Tür gut lesbar das Wort SEKRETARIAT. Er griff nach der Klinke und drückte die Tür auf, die leichter war, als sie ausgesehen hatte, und so bereitwillig aufschwang, dass er schier ins Zimmer stürzte.

Hinter einem Schreibtisch starrte ihn eine blutjunge Blondine mit Hornbrille wie vom Donner gerührt an. Vor ihr lag eine geöffnete Tüte Gummibärchen, und auch ihre Faust, die sie halb zum Mund erhoben hatte, enthielt eine große Portion der bunten Tierchen.

»Ääääh – Entschuldigung«, beeilte sich Fritz und nahm Haltung an. »Ich hätte vielleicht anklopfen sollen. Ich bin der Neue.«

Das Mädchen starrte ihn weitere drei Sekunden lang an, dann kam jäh Leben in sie und ihre Hände ließen die Süßigkeiten so rasch verschwinden, dass sie nur noch als vage Ahnung im Raum vorhanden blieben. Blitzschnell hatte sie einen Kugelschreiber in der Hand. »Ja, bitte?«

Er bemerkte ihr Namensschild, das sie als Susanne Schröter auswies, und erklärte: »Friedrich Wunderbaum … Ich soll mich hier melden. Buschfeldt …«

»Ooooh, ah ja. Ja.« Sie blätterte in einem Terminkalender und fand den Eintrag. »Sie sind ein bisschen früh, wir hatten Sie erst um zehn erwartet.«

»Naja, das ist ja nur noch eine Viertelstunde.«

»Der Chef wird sich ein wenig verspäten. Gehen Sie bitte weiter bis zur dritten Tür rechts, das ist das Besprechungszimmer.«

»Vielen Dank.« Er schenkte ihr ein professionelles Lächeln, das sie eher kläglich erwiderte, und verließ das Büro.

Azubi, dachte er, unübersehbar. Kaum achtzehn und noch mit ganz großen Vorstellungen von einem Beruf beim Geheimdienst …

Er folgte dem Gang. Weitere Fackeln gab es nicht, aber auch sonst nichts an den Wänden. Eine Tür auf der linken Seite trug die Aufschrift KÜCHE, und jemand hatte mit Filzstift ›Wer den geheimdienstlichen Kaffeekocher klaut, ist ein schlechter Mensch‹ dazugeschrieben.

Rechts waren die Türen spärlicher, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Stimmen drangen an sein Ohr, wenn auch nur leise; das Holz mutete massiv an. Als Fritz soeben die Hand hob und anklopfen wollte, vernahm er zwei hastige Schritte in seine Richtung und dazu den gedämpften Ruf »Ich mach sie mal auf, damit wir Chefchen kommen hören!«. Er versuchte, noch rechtzeitig beiseite zu springen, schaffte es jedoch nicht, sodass ihn die mit voller Wucht aufgestoßene Tür frontal an der Stirn traf und ins Taumeln brachte.

»Gnaaah

»Huch«, sagte der Übeltäter. »Wo kommen Sie denn her?«

Fritz rieb sich die Schläfe. Als er die Augen wieder öffnete, sah er in ein misstrauisches Gesicht, das eindeutig von zu vielen Haaren umrahmt war. Sie fielen als Mähne über die Schultern des Mannes, der seinen Blick nun prüfend an Fritz herab gleiten ließ.

»Hm, sind Sie der Neue? Buschfeldts Neuanschaffung aus Hildesheim?«

»Ich … ich bin Fritz.«

»Ich bin …« Der andere hielt kurz inne, als überlegte er, welchen Namen er nennen sollte. »… Falk.«

»Ist das echt ein Name?«, fragte Fritz lahm.

»Wenn man mich so nennt, dann ist das wohl ein Name, ja.« Der Mann packte seine Hand, ohne dass sie ihm hingehalten worden war, und ließ sie dann wieder los, um den Gang hinunter zu spähen. »Ist Buschfeldt noch nicht da?«

»Nein, er verspätet sich.«

»Auch gut. Komm rein, Fritz.« Falk hielt ihm die Tür auf, sodass Fritz in den Besprechungsraum schlüpfen konnte. »Setz dich einfach irgendwohin.«

Fritz sah einen großen runden Tisch vor sich, der ihn spontan an König Artus’ Tafelrunde erinnerte. Daran saßen weitere sechs Leute, alle männlich, soweit Fritz erkennen konnte. Aber das war ja auch richtig so, fand er. Wenn das hier wirklich die X-Akten des BfV waren, dann war es sicher ganz gut, dass keine Frauen mitmischten.

Die sechs sahen auf, als Fritz sich zu ihnen gesellte, unterbrachen jedoch nicht ihre Gespräche für ihn. Sie saßen nicht alle beieinander, sondern hatten unterschiedlich viele Plätze ausgelassen und somit Grüppchen gebildet.

»Wir sind ziemlich wenige heute«, erklärte Falk, »nur ein kleiner Bruchteil. Weißt du, wenn wir den Auftrag kriegen, hierher zu kommen, dann kommen immer nur die von uns, die gerade Zeit haben.« Er wies zum Tisch. »Na komm, nimm Platz.«

Fritz zögerte und sah zu, wie Falk selbst sich neben einem anderen Mann niederließ, der ihm auf den ersten Blick nicht unähnlich sah, ihn jedoch so deutlich überragte, dass alle anderen im Raum vergleichsweise klein wirkten.

Fritz’ Annäherung war inzwischen allgemein aufgefallen, und man wandte ihm einen zunehmenden Anteil an Aufmerksamkeit zu. Offensichtlich warteten sie ab, ob er etwas sagen würde. Fritz wollte sich eigentlich nur hinsetzen, musste jedoch feststellen, dass auf allen noch freien Stühlen zwischen den Agenten irgendwelche Taschen lagen, wohlgemerkt unterschiedlichster Art. Darauf also warteten sie gerade: Ob er sich trauen würde, von einem von ihnen einen Sitzplatz zu verlangen. Das war Männergetue, und damit war Fritz vertraut. Sein Blick fiel auf einen sesselartigen Stuhl mit Armlehnen, der um einiges bequemer wirkte als die, auf denen die Leute saßen.

»Das ist der Chefsessel«, sagte der große Mann neben Falk. »Buschfeldts Thron.«

»Komm doch hierher«, bot ihm jemand zu seiner Linken an und rettete ihn damit aus der merkwürdig angespannten Situation. Der Mensch sah unheimlich aus; er trug einen schwarzen Ledermantel und war kahl bis auf einen schwarzen Pferdeschwanz. Als sich ihre Blicke begegneten, schenkte ihm der Fremde ein etwas spöttisches, jedoch warmes Lächeln. »Du kommst auch nicht jeden Tag in ein HQ unter der Erde, was?«

Fritz schüttelte den Kopf und setzte sich.

»Also, guckt ihn euch an, das ist Fritz«, verkündete Falk in freundlichem Ton. »Ich glaube, Buschfeldt hat ihn engagiert, um auf uns aufzupassen.«

Die Männer lachten auf und tauschten amüsierte Blicke. Fritz fühlte sich plötzlich ganz und gar nicht mehr wohl.

»Aber wir wollen es ihm nicht so schwer machen. Wir sind ja nette Leute.« Falk streckte den Arm zur Tischmitte hin aus und bekam den karierten Block zu fassen, der dort lag. Auf der obersten Seite stand etwas geschrieben, aber er riss sie einfach ab und faltete sie in der Mitte, um mit einem schwarzen Filzstift etwas darauf zu schreiben.

»Ah!«, rief der Große neben ihm und grinste. »Gut, ich mach mit.« Auch er riss eine Seite ab.

Die Übrigen zuckten die Schultern und wandten sich Fritz zu.

»Und was weißt du über unsere Arbeit?«, fragte der Mann, der zur anderen Seite des Unheimlichen saß. Er war blond und etwas zerzaust und trug auf beiden Seiten kleine runde, silberne Ohrringe. »Weißt du überhaupt, was wir hier machen?«

»Noch nicht«, gab Fritz zu. Es hatte keinen Sinn, etwas anderes zu behaupten.

»Das hab ich mir gedacht.« Der Blonde schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

Die Übrigen saßen zu weit entfernt, als dass Fritz sich mit ihnen hätte unterhalten können. Er sah einen Dunkelhaarigen neben dem Blonden, dann, ein paar Stühle weiter, einen breitschultrigen Mann mit ganz kurzem, hellem Haar und an seiner Seite einen jungen Schlanken mit langer blonder Mähne, der etwas unschlüssig von einer Seite zur anderen schaute.

Als Falk ihnen eine gefaltete Blockseite zuschob, erkannte Fritz, dass er Namensschilder gebastelt hatte. Vor ihm und seinem großen Freund waren die Namen FALK und LASTERBALK zu lesen, und zu Fritz’ Nachbar hatte er schmunzelnd ein Schild mit der Aufschrift ASP geschickt.

»Ah-Es-Peh?«, las Fritz, und der Genannte seufzte.

»Ich frag mich, was die Ö-Striche sollen«, murrte der Blonde neben Asp, der vergeblich versuchte, das gefaltete EINHÖRN vor sich zum Stehen zu bringen.

Falk und Lasterbalk lachten einfach weiter und verteilten die Schilder SIMON M., IN.GO und PFEIFFFER an die Umsitzenden.

»Drei F«, murmelte letzterer. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie oft ich den Witz schon ertragen musste. Pfeiffer mit drei F

»Old but gold«, sagte Lasterbalk.

»Chefchen hat noch keins«, stellte Falk fest. »Das muss schon noch sein.«

»Den kenne ich«, wehrte Fritz ab.

»Trotzdem, keine halben Sachen.« Er beschriftete eine weitere Seite mit K. ZWERGNUDEL und schob sie an Buschfeldts Platz. »So, nun hat alles seine Ordnung.«
 

Fritz war sich nicht sicher, was er von seinen neuen Kollegen halten sollte. Insgesamt wirkten sie ihm wohlgesinnt – auch wenn sie ihn mit falschen Namen veräppelten –, aber sie sahen einfach alle komisch aus. Keiner von ihnen trug Anzug und Krawatte. Insgesamt erinnerten sie ihn eher an Rockstars als an BfV-Agenten.

»Ihr müsst mich aufklären«, sagte Fritz hilflos. »Wer oder was seid ihr?«

»Wir sind die MIU«, erklärte Lasterbalk. »Das weißt du wahrscheinlich. Wir behalten die Musikindustrie im Auge. Das können wir besser als andere Leute, weil wir selber dazu gehören.«

»Ihr …? Achso«, begriff Fritz, »ihr seid … Musiker!«

»Wow. Das hat ja gar net lange gedauert …«

»Und ich hab echt erwartet, dass Buschfeldts neuer Sklave ’n bisschen Grips hat«, kommentierte der Mann hinter dem IN.GO-Schild mit etwas herablassendem Lächeln. »Aber vielleicht haben wir ja Glück und er lernt bald, dass er uns nicht zu viel auf die Finger gucken darf.«

Fritz duckte sich unwillkürlich. »Ich weiß nicht, welche Rolle mir Buschfeldt bei der Arbeit zugedacht hat. Vielleicht soll ich ihm einfach nur assistieren.«

»Einen Assistenten hat er. Aber der ist auf unserer Seite.« IN.GO lächelte weiterhin süffisant. »Du übrigens auch, wenn du schlau bist.«

»Nun mach ihm nicht auch noch Angst«, ging Falk ihn an. »Er ist doch erst fünf Minuten hier!«

»Eigentlich sechseinhalb«, korrigierte Fritz, unruhig auf die Uhr sehend.

»Nanu, du bist ja ein Klugscheißer.«

»Pssst, pssst, Leute, er ist im Anmarsch!«, wisperte plötzlich der junge Blondschopf neben Ingo.

Sofort nahmen alle Haltung an, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Falk langte noch einmal über den Tisch, um das K. ZWERGNUDEL-Schild ordentlich gerade zu rücken.

Dann näherten sich Buschfeldts Schritte, bis er schließlich eintrat.

»Guten Morgen«, sagte der Direktor murrig und ließ seine Ledertasche auf den Sessel fallen. »Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr eure Taschen nicht auf die Stühle legen sollt?« Er besah sich die lichten Reihen seiner Untergegeben. »Weniger als ein Drittel von euch ist hier, sehe ich das richtig? Ich sehe hier nur … sieben.« Er bedachte die Musiker der Reihe nach mit einem scharfen Blick. »Wo sind die Übrigen?«

»Beschäftigt«, antwortete Lasterbalk. Offensichtlich war er so etwas wie der Gruppensprecher.

»Genau zwei sind im Einsatz, der Rest hat keine Entschuldigung.« Erst jetzt wandte Buschfeldt sich Fritz zu, der immer noch das Namensschild anstarrte. »Schön, dass Sie hergefunden haben, Herr Wunderbaum. Verzeihen Sie meine Verspätung.«

»Guten Morgen, Herr Zwww– … Buschfeldt.« Er wurde rot.

Ein unterdrücktes Kichern machte die Runde.

Buschfeldt bemerkte das Schild, las es und warf es dann kommentarlos über seine Schulter. »Also gut, wenden wir uns den Themen des Tages zu.« Leise ächzend nahm er Platz. »Erster Punkt des Tages: Das Azathioprin geht zur Neige. Darauf habe ich beim letzten Mal schon hingewiesen.«

»Jaa, jaa, is’ ja gut«, rechtfertigte sich Ingo augenrollend. »Treuenbrietzen hat den Auftrag seit letzter Woche, Eric bringt es mit. Wahrscheinlich.«

Fritz brannte darauf zu fragen, was Azathioprin war und weshalb ein Kaff in Brandenburg (ihm fiel sein LDS-Kennzeichen wieder ein) es liefern sollte; doch er war noch nicht an der Reihe, Antworten zu verlangen.

Buschfeldt seufzte angespannt. »Zweiter Punkt: Es gab seltsame Todesfälle in Wuppertal.«

»Das stand in der Zeitung«, sagte Lasterbalk achselzuckend. »Hat aber nix mit Musik zu tun.«

»Abgesehen davon, dass die Opfer sämtlich während des Musikhörens an Herzversagen gestorben sind, nein.« Buschfeldt lächelte freudlos. »Wir haben in der Tat noch keinen Auftrag, uns damit zu beschäftigen, aber ich wollte euch gern einmal unter die Nase reiben, dass Musik tödlich sein kann.«

Die Männer sahen beiseite.

»Nun denn … Punkt drei: Friedrich Wunderbaum steigt in unser Team ein. Er kommt auch aus Abteilung 4 und wird die MIU hoffentlich bereichern.«

Fritz lächelte dünn in die Runde. Dann, als alle schwiegen und ihn ansahen, fiel ihm auf, dass wohl ein paar Worte von ihm erwartet wurden. »Ja … danke, Herr Buschfeldt. Ich freue mich, euch alle kennen zu lernen, und hoffe auf ein … angenehmes Arbeitsklima.«

»Hängt von dir ab«, raunte jemand, vermutlich Ingo.

»Schön.« Buschfeldt klatschte in die Hände, als würde von ihm verlangt, gute Stimmung zu verbreiten. »Willst du ihm die Räume zeigen, Simon? Sie müssen wissen, Friedrich: Subway To Sally ist die bekannteste Kapelle, die bei der MIU tätig ist.«

»Nein«, sagten Einhörn und Pfeiffer mit drei F simultan. Der Direktor beachtete sie nicht.

Indes sah Simon von Fritz zu Buschfeldt und wieder zurück. »Joah … wieso nich’? Komm, ich zeig dir alles.«

»Du zeigst, Schmittchen, aber ich komme mit«, kündigte Falk munter an.

»Ich auch«, sagte Asp. Dann sah er zu seinem Nachbarn.

»Mir ist das zu blöd«, erklärte Einhörn und stand auf. »Wir sehen uns später.«

»Ich hab dich nicht entlassen, Einhorn!«, sagte Buschfeldt streng. Nun war er es jedoch, der ignoriert wurde.

Simon, Asp und Falk sahen ihn kurz fragend an, dann, als der Chef ihren Blick nicht erwiderte, setzten sie sich gemeinsam in Bewegung.
 

Sobald sie den Besprechungsraum mit den anderen zurückgelassen hatten, wandte Fritz sich unbehaglich an Asp: »Hat er irgendwas gegen mich?«

Asp furchte die Stirn. »Wer? Buschfeldt?«

»Nein … der andere.«

»Micha? Nein, Fritz, das hat nichts mit dir zu tun. Micha ist genervt davon, dass Buschfeldt Subway To Sally immer bevorzugt. Die zwei können sowieso nicht gut miteinander.«

Simon übernahm die Führung, beide Hände in den Taschen. »Sooo«, sagte er vor der Tür, auf welcher KÜCHE stand. »Hier kann man kochen … wenn man will. Bodenski kann gut kochen, leider ist er nicht da. Lasterbalk hat’s aber auch drauf. Kantine? Fehlanzeige, gibt’s nicht.«

Falk ergänzte: »Trotz der Warnung, die wir auf das Schild geschrieben haben, verschwindet die Kaffeemaschine manchmal. Wir wissen nicht, woran das liegt, aber sie taucht immer wieder auf.«

Die Tour ging weiter.

»Das«, sagte Simon an einer späteren Tür, die er nicht öffnete, »ist der Ruheraum. Wenn man von einem Nachteinsatz kommt, kann man sich drinnen schlafen legen. Ansonsten ist da nichts, das Zimmer ist ausdrücklich nur zum Pennen gedacht.«

»Und was ist da?«, wollte Fritz wissen und deutete auf die Tür gegenüber.

»Oh, das ist ein Aufenthaltsraum. Da haben wir Sofas … und ’nen Fernseher …«

»Um die Nachrichten zu verfolgen natürlich, nicht etwa, um Musiksender zu gucken oder so«, fügte Falk mit gewichtigem Nicken und verschmitztem Lächeln an.

»Genau

»Eigentlich fehlt jetzt nur noch der Bockshof. Den zeigen wir dir auch noch.«

»Bockshof?«, echote Fritz in neuerlicher Verwirrung. »Was soll das sein?«

Falk schien zu überlegen, wie er es umschreiben sollte. »Im Grunde ist es … so ’ne Art Krankenstation. Nicht so überflüssig, wie man denken sollte. Und wir haben dort ein geheimes Labor …«

»Was wird da erforscht?«

»Naja …« Falk rang mit sich.

»Wir besprechen das lieber erst später mit dir«, sagte Asp. »Das hat noch Zeit.«

»Ja, richtig. Guter Einwand.«

Sie folgten dem Gang bis zum Ende, wo eine schwere Betontür einen neuen Bereich abgrenzte. An der Wand hing ein Schild mit der Aufschrift Dr. Jan Saltz. Auch hier stand eine gekritzelte Nachricht mit Filzstift dabei: welcome to the bockshof, der doc hier is stockdoof.

Simon klopfte an. »Bock, bist du da?«

»Bin gleich da, ihr Süßen!«, antwortete eine fröhliche Stimme von drinnen. Eine Männerstimme, wohl gemerkt.

Fritz’ Verwirrung trieb seinen drei Begleitern erneut Erheiterung in die Züge, und sie kämpften mit dem Grinsen, als der Arzt öffnete. Dr. Saltz – oder Bock, warum auch immer – erschreckte Fritz beinahe mehr als Falk oder Asp. Seine langen Haare waren dabei nun nicht mehr ausschlaggebend, aber seine schwarzlackierten Fingernägel umso mehr.

Wie bei Kitty!, dachte Fritz entsetzt.

»Na, Neuer?«, grüßte Saltz und strahlte ihn an. »Fein, dass du mir hallo sagst!«

»Bock, das ist Fritz«, stellte Simon vor. »Fritz, das ist Bock. Unser schw– … unser Arzt.«

»Hab keine Angst, wenn du mal auf seinem Tisch liegst«, sagte Falk. »Er begrabbelt dich nicht. Das macht er nur bei Lasterbalk.«

»Ach wo, ich bin nur so feinfühlig, dass ihr es einfach nicht mitkriegt!«, behauptete der Arzt und machte dabei eine Handbewegung, die Fritz beunruhigte.

»Haben Sie, äh, hier unten viel zu tun?«, erkundigte er sich deshalb schnell.

»Hach, nein … Nicht, wenn keine Einsätze stattfinden. Aber es gibt genug Laborarbeit. Davon erzähle ich dir ein andernmal, Fritz. Du musst ja bestimmt erst mal gaaanz viele neue Eindrücke sacken lassen.« Bock zwinkerte ihm vergnügt zu.
 

Als sie sich verabschiedet hatten, hatte Fritz es eilig, in den Besprechungsraum zurückzukehren. Die übrigen Türen bedachte er nur mit kurzen Blicken.

»Unsere Bandräume willst du wohl nicht sehen …«, begann Falk.

Aus Pflichtbewusstsein stoppte Fritz doch und schaute sich die nächstbeste Tür an. Darauf stand SALTATIO MORTIS. WER TANZT STIRBT NICHT.

»Da fehlt ein Komma«, sagte er. »Es heißt, Wer tanzt Komma stirbt nicht. Außerdem ist das falsch – gerade beim Tanzen kann man als älterer Mensch schnell mal einem Herzinfarkt oder Hitzschlag erliegen.«

»Ah je, du bist wirklich ein Klugscheißer.« Falk seufzte. »Eigentlich benutze ich solche Wörter eher ungern, aber ich werde dich ab jetzt nur noch Klugscheißer nennen, bis du das abgestellt hast.«
 

Als Fritz am Abend im Bett lag, kroch seine Frau gurrend neben ihn. Ihre Fingerspitzen kitzelten ihn an Orten, die selbst das Duschwasser nur auf der weichsten Stufe erreichte, und sie gab ihm honigsüße Namen, während sie ihre Beine um seine Hüfte schlang.

»Nicht jetzt, Kitty«, murmelte er. »Ich muss über zu vieles nachdenken.«

Verblüfft hielt sie inne. Es war seit mindestens fünfzehn Jahren nicht vorgekommen, dass er sie abwies. »Stimmt was nicht, Fritz?«

»Nein, nein … Es war nur alles ein bisschen … komisch heute.«

»Sind die Leute da so hässlich zu dir?«, fragte sie nach. Offenbar hatte sie die Hoffnung noch nicht auf gegeben, denn mit jedem Wort blies sie ihm mehr Atem ins Ohr als nötig.

»Nein … Die sind in Ordnung … Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich auf die aufpassen kann. Die sind so überhaupt nicht wie andere, die machen alle so … ihr eigenes Ding … Die haben in allem ein System, das nicht mal Buschfeldt kontrollieren kann. Sie veralbern ihn von früh bis spät …« Und er war sicher, dass er nur einen ganz, ganz kleinen Teil davon gesehen hatte.

»Dann musst du mitspielen«, stellte sie fest. »Ganz einfach. Lass dir die Regeln erklären und steig mit ein.«

»Wir fangen morgen mit Ermittlungsarbeit an. Die machen garantiert alles völlig anders, als ich es gelernt habe.«

»Dann musst du eben was Neues lernen.« Kitty ließ sich nicht abschütteln. »Fritz, du bist erst dreiundvierzig. Es ist nie zu spät für neue Denkanstöße!«

Anstöße, dachte Fritz. Das trifft’s.

Sie biss ihn ins Ohrläppchen und schnurrte: »Bift du ficher, daff du fon flafen willft, mein Hengft?«

»Ja, bin ich. Nimm mein Ohr aus dem Mund, Kitty. Gute Nacht.«

Sie seufzte enttäuscht und gehorchte. »Na, dann bis morgen …« Damit kehrte sie ihm den Rücken.

Fritz lag noch eine ganz Zeitlang wach und versuchte, sich nicht auszumalen, was für Erkenntnisse der nächste Tag wohl bringen mochte.

Blut ist dicker als Bier

Buschfeldt drückte Fritz einen Schlüsselbund in die Hand, der grob geschätzt hundert Schlüssel hielt und gefühlt drei Kilo wog.

»Das wird Ihre erste Aufgabe sein, Herr Wunderbaum. Sie sind unser Schlüsselwächter. Beweisen Sie uns, dass Sie Verantwortung übernehmen können.«

»Ist das ein Witz?« Es rutschte ihm einfach heraus, dabei hatte er noch nie eine vertikale Bewegung an Buschfeldts Mundwinkeln registriert.

»Ich mache nie Witze«, entgegnete der Direktor. Fritz glaubte ihm sofort.

An diesem Morgen befanden sich in der MIU-Zentrale dieselben Leute wie am Tag zuvor. Einige begrüßten ihn, andere nicht. Überhaupt schienen einige seiner Kollegen einander mehr zu mögen als andere, woraus er schloss, dass sie in derselben Kapelle spielten; andere gingen sich zwar nicht kategorisch aus dem Weg, wechselten jedoch nicht mehr Worte als nötig.

Asp indes schien sich mit allen gut zu verstehen, aber er schien auch einen sehr verträglichen Charakter zu haben. Fritz nahm sich vor, Menschen nie wieder nach ihrem äußeren Erscheinungsbild zu beurteilen.

»Buschfeldt wird dir im Laufe des Tages eine wichtige Frage stellen«, warnte Asp ihn. »Überleg dir gut, wie du sie beantwortest.«

»Was für eine Frage soll das sein?«

»Das wirst du schon sehen.«

»Ich hasse diese Geheimniskrämerei.«

Der finster aussehende Mann bedachte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln und tätschelte ihm die Schulter. »Glaub mir, du wirst dir später wünschen, er hätte dich nicht danach gefragt.«

Fritz zögerte und folgte ihm dann. »Eins muss ich aber wissen, weil ich das wahnsinnig irritierend finde!« Asp wartete auf ihn, und Fritz fragte: »Was, bitteschön, sollen diese Namen? Dieses … Asp und … Lasterbalk …«

»Ach, das … Ein leidiges Thema. Unsere Künstlernamen gelten als Codes. Buschfeldt besteht darauf, dass wir sie im Umgang verwenden, aber kaum jemand macht das. Du wirst also nach und nach auch alle bürgerlichen Namen erfahren, auch wenn wir sie offiziell nicht benutzen dürfen – naja, außer bei Saltatio Mortis. Die halten sich daran. Sie sind noch nicht so lange bei der MIU wie wir anderen.«

»Ah … okay.«

Jäh ertönte Buschfeldts Stimme den Gang hinunter: »Ihr redet mir alle schon wieder zu viel! Geht an die Arbeit, ihr habt noch einen Kollateralschaden zu beseitigen!«

Asp warf einen unbehaglichen Blick in die Richtung von Buschfeldts Büro. »Ein Kollateralschaden ist … gebauter Mist.«

»Hatte ich auch kürzlich«, murmelte Fritz.
 

Der Vormittag verlief aus Fritz’ Perspektive relativ ereignislos. Dies lag vermutlich daran, dass er den Musikern keine große Hilfe war. Falk und ›Schmittchen‹, wie Simon häufig genannt wurde, waren in Alfeld unterwegs und besorgten etwas, das sie ›Hyperborea‹ nannten. Fritz hatte nicht erfahren, worum es sich dabei handelte; vermutlich etwas ähnlich Mysteriöses wie dieses Treuenbrietzen-Zeug, dessen Namen er vergessen hatte. Ob es sich dabei wohl um Drogen handelte? Schließlich war allgemein bekannt, dass Musiker Unmengen an verbotenen Substanzen konsumierten – und die Vielfalt, die sich dem Verbraucher in dieser Szene bot, war schier nicht zu überschauen. Vielleicht, grübelte Fritz, waren einige dieser schrägen Typen wirklich gefährlich abhängig von etwas, das Buschfeldt für sie beschaffen musste, damit sie nicht beim Arbeiten den Löffel abgaben.

Unschlüssig entschied Fritz, der jungen Sekretärin Susi beim Sortieren einiger Akten zur Hand zu gehen, während sie Telefonate führte. Als er heimlich unter ihren Tisch lugte, der ein kleines Fach enthielt, konnte er dort mindestens drei angefangene Gummibärchentüten entdecken.
 

Gegen Mittag verstreuten sich die Agenten. Nur Pfeiffer blieb da, an einem Laptop sitzend und über ein Headset ständig mit jemandem Kontakt haltend, der sich offenbar außerhalb der Stadt aufhielt. Aus den Wörtern, die er dabei benutzte, wurde Fritz nicht schlau und gestand sich ein, dass man ihn nicht alle BfV-Codes gelehrt zu haben schien, bevor er zur MIU versetzt worden war.

Auch Fritz verließ also die Zentrale, schaute sich ein wenig in Alfeld um – so bestaunte er etwa ganze fünfzehn Minuten lang das Fagus-Werk, das Walter Gropius gebaut hatte und das sich damit rühmte, ein UNESCO-Weltkulturerbe zu sein – und kehrte um Punkt vierzehn Uhr zurück in den Keller der SAPPI-Fabrik.
 

Buschfeldt fing ihn bereits an der Tür zum Besprechungsraum ab.

»Herr Wunderbaum, auf ein Wort.« Er winkte ihm zu folgen.

Sofort fiel Fritz Asps Warnung wieder ein, Buschfeldt würde ihn etwas Brisantes fragen wollen. Nervös setzte er sich dem Direktor gegenüber und faltete seine schweißfeuchten Hände auf dem Tisch.

Buschfeldt fuhr sich durch das graue Haar und bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Nun stehen Sie an der Schwelle einer neuen Episode, Friedrich. Was halten Sie bisher von der MIU?«

Ist das die Frage, auf die ich gefasst sein sollte?, grübelte Fritz. Sie klang so harmlos.

»Äh … ich weiß nicht, so viel habe ich ja noch nicht gemacht …«

»Mir geht es dabei auch vorrangig um die Mitarbeiter. Glauben Sie, dass Sie auf Dauer mit denen zurechtkommen werden?«

Das war schon etwas heikler … aber eigentlich auch nicht so schwierig.

»Naja … ja, schon«, antwortete Fritz. »Sie scheinen alle recht verträglich zu sein.«

Buschfeldt sah ihm fest in die Augen. Er wirkte müde und irgendwie alt. »Also«, seufzte er schließlich, »dann haben Sie jetzt die Wahl. Eine Wahl, die Sie nur einmal haben werden, also wählen Sie gut. Wollen Sie die rote oder die blaue Pille?«

Pille? Fritz starrte ihn an. »Rot oder blau?«

»Das ist aus einem Film namens Matrix. Subkultur. Ich hielt die Metapher für mittlerweile allgemein geläufig. Präziser: Ich biete Ihnen hiermit die Chance, den fahrenden Zug noch zu verlassen. Auszusteigen, quasi. Wenn Sie diese Chance nicht nutzen und sich stattdessen entscheiden, bei uns zu bleiben, werden Sie in Sachverhalte eingeweiht werden, die den Namen ›X-Akten des BfV‹ durchaus verdienen. Und die Schweigepflicht wird eine Herausforderung sein. Machen Sie sich das bewusst.«

Fritz hörte sich das an – und wusste jetzt, weshalb man seinen Fragen ständig ausgewichen war. Verschwörungen! Alles voll davon!

»Was passiert, wenn ich aussteige?«, verlangte er zu wissen. »Bekomme ich meine alte Stelle zurück?«

»Nein«, sagte Buschfeldt.

»Also wäre das mein … Karriereende.«

»Ja.« Der Direktor faltete die knochigen Finger ineinander. »Unter Umständen ein lebensrettendes.«

»Ist es so schlimm?« Eine gewisse verirrte Belustigung konnte Fritz sich nicht verkneifen; Buschfeldts Trauermiene wirkte einfach furchtbar übertrieben. »Ich bin dreiundvierzig, also, ich glaube nicht, dass mich noch irgendwas aus der Bahn werfen kann. Und wenn ich weiter beim BfV arbeiten darf – mit dem, was ich kann –, dann steht meine Entscheidung wohl fest, egal wie viele X-Akten auf mich warten.«

Sein Chef sah immer noch unglücklich aus. »Wie Sie meinen, Friedrich. Ist das endgültig?«

»Ja.« Fritz bemühte sich um ein sicheres, souveränes Nicken.

»Gut. Dann holen wir jetzt die anderen.«

In dem Moment, in dem Buschfeldt sich aus seinem Sessel erhob, streckte Falk den Kopf zur Tür herein. »Wir sind wieder da«, meldete er. »Vorräte aufgestockt.« Er nickte in Fritz’ Richtung. »Weiß er es schon?«

»Er ist kurz davor, es zu erfahren. Wenn du so nett wärst, die Übrigen zu versammeln.«

»Aber gern.« Eine unterschwellige Vorfreude schien Falk zu ergreifen, während er sich scheinbar gemäßigt auf den Weg machte. Nur Sekunden später machte die Nachricht in allen Zimmern die Runde: »Der Klugscheißer wird die rote Pille schlucken! Alle kommen, großes Kino!«
 

Fritz fühlte sich entsetzlich beobachtet, als die Runde wieder zusammen saß. Alle musterten ihn mit weit größerem Interesse als am Tag zuvor.

»Ein bisschen Mumm hast du scheinbar doch«, ließ sich sogar Ingo Hampf herab zu bemerken. »Wirst es nicht bereuen. Jetzt kommt Schwung in dein ödes Leben, glaub’s mir.«

Der Mann namens Einhorn fehlte, aber Dr. ›Bock‹ Saltz war anwesend und rieb sich seelenruhig die Hände mit Pflegelotion ein.

»Also«, eröffnete Buschfeldt die Sitzung, »ich werde Ihnen jetzt nahelegen, wieso die MIU nicht das ist, was sie zu sein scheint.«

Mitten in die anschließende Stille hinein schlich sich ein leises Geräusch – eine Art Klicken, das klang, als würde ein winziges Klappmesser aufschnappen.

»Hey!«, rief Buschfeldt. »Habe ich euch dazu aufgefordert?«

»Ich war es nicht«, wisperte jemand, »ich war es nicht ichwaresnicht!«

»Was ich Sie fragen wollte, Herr Wunderbaum: Was wissen Sie über Vampire?«

Über den Raum sank eine Geräuschlosigkeit herab wie ein Betoneimer auf den Grund des Meeres. Mit Bestürzung nahm Fritz zur Kenntnis, dass jetzt niemand mehr lächelte. Alle Augen waren voller Ernst auf ihn gerichtet. Selbst Lasterbalk und Falk tuschelten nicht, sondern beobachteten gespannt seine Reaktion.

»Ääh«, begann Fritz, »Vampire, ja … Wieso Vampire?«

»Naja, weil die … gefährlich sind«, sagte Simon Schmitt.

»Weil die scheißlange Zähne haben«, sagte Ingo Hampf.

»Und weil die sich bei ALDI immer auf die Sonderangebote stürzen«, sagte Asp.

Fritz erwiderte die starrenden Blicke mit immer größer werdendem Missgefühl. »Sprechen wir von diesen Zombies, die Menschenblut trinken und in der Sonne zu Staub zerfallen?«

»So in etwa«, nickte Lasterbalk. »So ganz in etwa.«

»Also, meine Frau liebt Geschichten über Vampire. Sie hat diesen ganzen Twilight-Mist verschlungen.«

»Wir reden hier von richtigen Vampiren«, verwies ihn Yellow Pfeiffer mit angewiderter Miene. »Von Vampiren mit zweieinhalb Zentimeter langen Eckzähnen. Von Vampiren, die im Dunkeln sehen, ohne Mühe Knochen durchbeißen und jeden Tag das Blut von Menschen trinken wie Fassbrause.«

Ein eben noch belustigtes kleines Tierchen in Fritz’ Brust machte sich plötzlich ganz klein. »Vampire«, wiederholte er tonlos.

Falk wandte sich unerwartet freudig an ihn: »Magst du Vampire, Fritz?«

»Ich … glaube nicht, nein.«

»Schade. Aber vielleicht werden sie dir beim Vampir-Aufklärungsunterricht ja sympathischer.«

»Beim … was?«

»Das ist dann wohl mein Stichwort!«, frohlockte Dr. Saltz und sprang auf, dass sein Kittel flatterte. »Also lehn dich zurück und genieß die Freakshow!«

Susi kam herein und schob einen Rolltisch mit einem Beamer darauf vor sich her. An diesen war Pfeiffers Laptop angeschlossen.

»Alle Lämpchen leuchten«, sagte sie hilflos, »ich hoffe, das stimmt jetzt so.«

»Das ist prima, danke, Susi«, übernahm Bock das Gerät. Er richtete das sich langsam färbende Projektionsbild auf die weiße Wand des Raumes und machte Simon einen Wink, das Licht zu löschen. »Vampire«, begann er dann, »sind uns ziemlich ähnlich. Das liegt daran, dass sie nicht geboren, sondern gemacht werden. Alle Vampire kommen also als Menschen zur Welt. Ein Mensch wird erst durch einen anderen Vampir selbst in einen Vampir verwandelt. Ist das verstanden, Fritz?«

»Ja, das war mir schon klar«, antwortete Fritz, der sich vorkam wie in einem schlechten Film. Was um alles in der Welt sollte dieser Vampirmist? Wenn es Vampire wirklich gab – vor seinen Augen entstanden Bilder von geifernden, bluttriefenden Fratzen –, dann wollte er sich lieber eine Kugel geben. Welch grauenhafte Vorstellung, von einem Blutsauger in den Hals gebissen zu werden! Das konnte einfach nicht Buschfeldts Ernst sein. Kurz kam in ihm der Gedanke auf, dass diese Leute, die hier um ihn herum saßen, sich nur wie ein Geheimdienst aufführten, in Wirklichkeit aber einer Gruppierung gefährlicher und völlig verrückter Verschwörer angehörten. Oder war das hier vielleicht ein Test?

»Den Vorgang dieser Verwandlung nennt man Transformation, aber dazu später«, fuhr der Arzt inzwischen ungerührt fort. »Zunächst mal was viel Wesentlicheres: Vampire sind keine Monster, wie man es oft in der Popkultur zu sehen bekommt. Sie können sich immer entscheiden, und die meisten sind friedlich.«

»Das ist wichtig, merk dir das«, bekräftigte Falk.

»Damit geht einher, dass es nicht … sagen wir … nicht unbedingt schlimm ist, ein Vampir zu sein.«

»Moment mal, Moment mal!«, unterbrach Fritz konsterniert. »Was heißt hier ›nicht schlimm‹? Vampire trinken Blut, oder nicht? Und derjenige, der gebissen wird, wird auch ein Vampir!«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Der Biss löst keine Transformation aus –«

»Also, man stirbt, wenn man gebissen wird, ja?«

»Nein, das auch nicht. Lass mich ausreden –«

»Man verblutet oder wird bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken! Das weiß man doch!« Fritz ließ sich nicht beirren.

Er war überrascht, als Lasterbalk ihn plötzlich süffisant anlächelte. »Dann will ich sehen, wie du auf einen Schlag fünf bis sechs Liter Bier trinkst, Kumpel. Beweis mir, dass das geht. Und Blut ist noch dicker und gehaltvoller als Bier, wenn ich daran erinnern darf.«

Dr. Saltz, ein wenig verdrießlich darüber, ständig unterbrochen zu werden, fuhr fort: »Vampire trinken etwa einen halben Liter, sagen wir, bis zu sechshundert Milliliter. Damit sind sie völlig zufrieden. Das ist nur ein kleines Bisschen mehr als die Menge, die bei einer Blutspende auch entnommen wird. Also überhaupt nicht dramatisch.«

Fritz dachte darüber nach. Diese Vampirsache schien allen hier ernst zu sein, niemand machte Witze darüber. Das konnte nur bedeuten, dass er deshalb nichts von Vampiren wusste, weil … »Die Geheimdienste …«, stammelte er, »… sie halten es … geheim.«

»Das ist der Job von Geheimdiensten«, erinnerte Ingo ihn überflüssigerweise. »Deshalb heißt das Geheimdienst, kapiert?«

»Fritz«, sagte Bock beinahe zärtlich zu ihm, »bist du bereit für noch eine Wahrheit?«

»Noch eine?« Er bereitete sich auf das Schlimmste vor. »Werwölfe? Drachen?«

»Nein, also … mir persönlich reichen Vampire vollkommen. Aber Fritz … Wir haben welche hier.«

»Hier?« Fritz fuhr entsetzt zusammen. »Wo?« Hektisch sah er sich in dem dunkeln Raum um. Die Gesichter der Umsitzenden wurden nur schwach vom Schein des Beamers bestrahlt, der den Bildschirmschoner zeigte. »In deinem Labor? Experimentierst du mit ihnen?«

»Äh … nö, ich meinte eigentlich … hier im Raum.« Bock machte eine Geste über alle Köpfe hinweg.

In Fritz gefror etwas. Sein Mund wurde ganz trocken. »Ihr seid alle Vampire?«, krächzte er und merkte schon, wie sich sein Puls beschleunigte. Wie konnte er am schnellsten hier rauskommen? Sie saßen näher an der Tür als er. Was war er nur für ein Idiot? So vertrauensselig, so naiv – !

»Fritz!«, sagte Bock streng. »Entspann dich! Sofort! Du fällst ja gleich in Ohnmacht! Niemand hier tut dir etwas, hörst du? Wir sind nicht alle Vampire!«

»Ich sehe viel zu gesund aus für einen Vampir«, murmelte Pfeiffer und betrachtete seine Fingernägel.

»Wie ich schon sagte, Vampire sind keine Monster, und sie kommen auch in der Regel gut mit dem Vampirsein zurecht, also guck jetzt hier rüber, Fritz, damit ich dir was über Vampirphysiologie erklären kann.« Dr. Saltz drückte eine Taste am Laptop, damit der Bildschirmschoner verschwand. Dann öffnete er ein PDF.

»Hat’s net mal für PowerPoint gereicht?«, beschwerte sich Lasterbalk.

»Hey, ich arbeite dran! Nächstes Mal kannst du ja die Präsentation vorbereiten.« Ein Bild erschien; es zeigte Christopher Lee in einem Filmausschnitt aus Dracula von 1958. »Fritz, was sehen wir hier?«

»Zähne … und rötliche Augen …«, brachte Fritz hervor. Er konnte den Blick nicht abwenden.

»Sehr gut. Die Zähne und die Augen sind die wichtigsten Erkennungsmerkmale, jedenfalls für einen Laien. Du wirst aber zugeben, dass wir dich gut getäuscht haben. Oder kannst du mir sagen, wer von uns ein Vampir ist und wer nicht?«

»Ich will darüber nicht nachdenken«, gab Fritz zu, und er hatte jetzt wirklich Angst. »Ich will es gar nicht wissen. Ich hätte doch lieber die blaue Pille. Kann ich das nicht einfach alles vergessen?«

»Zu spät«, sagte Buschfeldt mit eherner Miene. »Jetzt müssen Sie sich zusammenreißen.«

»Wenn wir mit dem Unterricht fertig sind, wird es dir besser gehen«, versprach ihm Dr. Saltz. »Es ist erst mal wichtig zu wissen, warum Vampire eigentlich Blut trinken. Wenn man das verstanden hat, ist es gar nicht mehr so schaurig. Zunächst mal gibt es auch Tiere, die Blut trinken: Mücken … Flöhe … Zecken … ’ne Menge anderes Krabbelzeug … Blutegel … Würmer … Fische … Fledermäuse … und eine Art der Darwinfinken.« Bock drückte immer dieselbe Taste, und die Bilder huschten vorbei. »Für sie ist Blut eine Energie- oder Proteinquelle, oder beides. Man spricht von Haematophagie. Vampire, Fritz, können das Essen, das wir Menschen zu uns nehmen, nicht mehr richtig verwerten; sie haben nur noch eine sehr begrenzte Fähigkeit, Nahrung in Kleinstbausteine aufzuspalten. Unser Blut ist aber für eben diese Kleinstbausteine – Proteine, Kohlenhydrate, Fette, Salze und was du noch so alles kennst – das Transport- und Lösungsmedium. Wenn ein Vampir unser Blut trinkt, kriegt er also alle Nährstoffe so, wie er sie braucht, um gesund und munter zu bleiben.«

Fritz schniefte. »Na toll … Das beruhigt mich enorm.«

»Im Grunde wollen Vampire auch nur leben und satt werden. Sie haben den Trieb, Blut zu trinken – Haematophilie –, und das ist auch gut so, denn sonst würden sie nicht überleben.« Bock nickte Simon zu, der den Arm ausstreckte und das Licht wieder anmachte. »So, jetzt werde ich dir das Vampirgebiss erklären – und dazu, Fritz, werde ich einen von uns outen.«

Alle am Tisch raunten verhalten und tauschten wissende Blicke. Jedoch niemand verriet sich.

Fritz’ Haut kribbelte. Bock würde einen Vampir enttarnen! Ihm war klar, dass er denjenigen fortan auf ewig meiden würde. Und am besten auch die anderen, denn es waren sicher noch mehr Vampire unter ihnen.

Jemand seufzte. »Na gut, na gut … Ich mach es freiwillig.« Zu Fritz’ Schrecken erhob sich Falk und trat neben Dr. Saltz. »Guck nicht so entsetzt, Fritz, es ändert nichts.«

Bock grinste erfreut. »Zähne«, befahl er.

Falk öffnete den Mund und hob die Oberlippe, damit Fritz die Zahnreihe darunter sehen konnte. Es gab dasselbe Klickgeräusch, das vorhin schon im Dunkeln ertönt war, und seine Eckzähne – denen Fritz erst jetzt ansah, dass sie unauffällig spitz waren – sprangen um einen vollen Zentimeter Länge hervor.

Vampirzähne.

Echte Vampirzähne.

»Der Eckzahn – also Caninus – eines Vampirs ist ungemein scharf«, erklärte Bock. »Umgangssprachlich nennen wir ihn Fangzahn, aber das wird seiner Funktion nicht gerecht. Der Zahn dient nämlich nicht zum Fangen – also zum Beutegreifen –, sondern zum Punktieren eines Blutgefäßes. Deshalb heißt er korrekt Blutzahn, wissenschaftlich Dens sanguinis.« Er nickte Falk zu, und dieser ließ die Zähne geräuschlos wieder so weit verschwinden, dass es unauffällig aussah. »Das Auswerfen und Einziehen läuft über einen willentlich ausgelösten Reflex. Es gibt auch im Unterkiefer Fangzähne, die aber viel kleiner und unbeweglich sind. Die großen liegen im Mund auf ihnen, sodass die Zähne sich gegenseitig anschleifen und immer messerscharf sind. Man spricht von Dens sanguinis major und minor

Fritz hätte nie gedacht, einmal einen derart wissenschaftlichen Vortrag über vampirische Mundwerkzeuge zu hören. Ihn überlief ein Schauder nach dem anderen, und er fühlte auf seinem Hemd die Schweißflecken unter den Achseln, die immer größer wurden. Das eigentlich Erschreckende war, dass der Arzt in seiner Arbeit total aufging: Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, während er die Funktionsweise der Zähne schilderte. Sie wären scharf wie Skalpelle und hart wie Diamant, betonte er, und sie könnten mitunter Stahl durchschlagen.

»Falk, du bist noch nicht entlassen. Eins müssen wir Fritz auch noch zeigen.« Er holte einen Schwamm und ein kleines Gläschen aus der Kitteltasche.

»Ach nö!«

»Doch, Falk, sei so nett.«

»Ah je, ich hoffe, du hast diesmal einen sauberen genommen.« Falk ließ die Zähne hervorschnappen und biss in den Schwamm. Dieser färbte sich langsam dunkel.

»Die Fangzähne können noch was anderes: Sie bringen Gift in die Wunde«, sagte Bock feierlich.

»Gift?« Fritz wähnte sich einer Ohnmacht nahe. »Auch das noch! Ist das … dieses Zeug, das da runter tropft …?« Er wies schwach auf Falks Kinn.

»Nee, daf ift Fabber, mein Lieber«, korrigierte Letzterer. »Ih kann den Mund niht fumahen, mit dem Fwamm. Daf könnteft du auch nicht.«

Lasterbalk grinste. »Ja, Vampire fangen nach dem Biss kräftig an zu sabbern. Das ist aber sinnvoll, weil die Wunde dadurch betäubt wird. Kein Mensch würde sich beißen lassen, wenn das die ganze Zeit so wehtun würde.«

Vorsichtig, um die Zähne nicht zu berühren, nahm der Doktor Falk den Schwamm aus dem Mund und drückte ihn über dem Gläschen aus. Eine klare, blass mintgrünliche Flüssigkeit sammelte sich darin. »Voilà

Jetzt wurde es Fritz wirklich zu viel. »Stopp, stopp«, stöhnte er, »so geht das nicht … Vampire, und … nein … Ich muss euch was Wichtiges sagen, etwas, das ihr noch nicht wisst …« Er schluckte, und seine Kehle fühlte sich steinhart an. »Ich, ich bin Hämatophobiker … Ich habe eine Riesenangst vor Gift, vor spitzen Dingen … und vor allem – vor Blut

Wir sind nicht tot, wir sind nur anders

»Fritz, ich muss mich wohl korrigieren: Gift ist auch ein sehr inadäquater Begriff.« Dr. Saltz nestelte unbehaglich am Kragen seines Kittels. Ihm schien aufgefallen zu sein, dass Fritz’ Unwohlsein zu einem nicht unwesentlichen Teil in seiner Vortragsweise begründet war. »Wir nennen es Gift, aber es ist eigentlich keins. In den Zähnen sind Giftkanäle wie bei Schlangen, daher kommt das wohl. Also … Es ist eine Droge, ein Sedativ. Sie sorgt dafür, dass der Gebissene für etwa zwanzig Minuten ruhiggestellt wird.«

»Wir Vampire verstoßen ständig gegen das Betäubungsmittelgesetz.« Falk zuckte die Schultern und setzte sich wieder hin.

»Der Wirkstoff ist einzigartig«, fuhr Bock fort. »Er macht schläfrig und gleichgültig, steigert dabei aber den Blutdruck und die Pulsfrequenz, damit das Blut sich im Körper schneller bewegt. Das soll wohl das Trinken erleichtern. Alle Schutzreflexe bleiben dabei erhalten. Es wird berichtet von einer … angenehmen Somnolenz.«

Fritz rieb sich die Stirn; das Trieseln in seinem Kopf wollte nicht verschwinden. »Und wenn man nicht wieder aufwacht?«, murmelte er.

»Oh, keine Sorge, das tut man. Das Gift ist eine reine Hilfe beim Biss, um Fluchttrieb und Gegenwehr zu unterbinden, und hinterlässt überhaupt keine Folgeschäden. Naja, außer vielleicht ungewohnt lebhaften Träumen in der folgenden Nacht. Es ist ein kleines bisschen psychoaktiv, das ist alles.«

»Warum erzählt ihr mir das alles?« Es war eine Frage, deren Antwort Fritz eigentlich nicht wirklich wissen wollte, aber das alles ergab keinen Sinn. Worauf wollten sie ihn vorbereiten? Auf die Zusammenarbeit mit Vampiren – oder den Kampf gegen sie? Oder, noch schlimmer, darauf, dass er sich von ihnen beißen lassen sollte? Versuchten sie etwa, ihm das schmackhaft zu machen? Hatten sie völlig überhört, wie sehr er sich vor Blut fürchtete? Bock war kommentarlos über dieses Geständnis hinweggegangen!

»Weil du verstehen musst, warum wir sind, wie wir sind«, übernahm Falk in ruhigem Ton die Antwort. »Und was auch immer du jetzt denkst: Niemand hier will, dass dir auch nur das Geringste zustößt. Wenn du das möchtest, verbürge ich mich persönlich für deine körperliche Unversehrtheit.«

Du als Vampir, dachte Fritz bitter. Klar. So wie der Fuchs gerne auf das Kaninchen aufpasst, nicht wahr? Sein Herz pochte wie eine Trommel.

»Könnten wir jetzt weitermachen?«, ließ sich Buschfeldt ungeduldig vernehmen. »Ich hätte den Aufklärungsunterricht gerne bis vier beendet.«

Der Direktor verhielt sich tatsächlich ungeahnt kalt. Fritz fragte sich, wie er auf diese Lawine erschreckender Wahrheiten reagiert hatte. Sicherlich nicht mit derselben steinernen Miene, die er jetzt zur Schau stellte.

»Meine Frau«, sagte Fritz leise, »ist Tierärztin. Sie kennt sich mit Bissen aus. Ich weiß, dass lange Zähne furchtbare Infektionen verursachen, die potenziell tödlich sind. Sagt bloß, dass ihr mich schon wieder mit irgendeiner Erkenntnis beruhigen könnt.«

»In der Tat, Fritz«, erwiderte Bock. »Ich kann dich schon wieder mit einer Erkenntnis beruhigen. Vampirbisswunden, mein Freund, sind nämlich die unproblematischsten Wunden der Welt. Sie sind immer ganz sauber und heilen hervorragend. Folgen gibt es auch nicht: kein Nachbluten, keine Hämatome, keine Narben. Wirkt das deiner neurotischen Angst ein wenig entgegen? Ja?« Der Arzt versuchte ihn anzulächeln, aber Fritz dachte gar nicht daran, es zu erwidern. »Jede Behandlung würde die Wunde nur dreckiger machen. Und was das Gift betrifft: Es ist ein klasse Zeug. Wenn Vampirbisse in der Gesellschaft nicht so gefürchtet und verschrien wären, könnte man es glatt als Therapieform gegen das Burn-Out-Syndrom und Ähnliches etablieren.«

»Das gibt mir schon wieder fast den Rest.«

»Ach, Fritz, gib uns doch eine Chance. Du steckst jetzt in dieser Sache drin und wir wollen dir alles so einfach wie möglich machen. Wir erzählen dir alles, was du wissen willst, also frag ruhig.«

»Fällt mir schwer zu glauben, nach allem.« Das war ernst gemeint. »Aber wie – w-wie oft …« Fritz stellte fest, dass er anfing zu stottern. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch dieses Symptom tief sitzender Ängste endlich zutage trat. »… muss ein Vampir … B-Blut trinken?«

Bock schürzte die Lippen. »Naja, zwischen den Mahlzeiten sollten nicht mehr als sechsunddreißig Stunden liegen, sonst kommt es zu Aushungerungssymptomen. Der Blutdurst ist sehr unangenehm und geht, wenn er nicht bald nach Einsetzen gestillt wird, mit schmerzhaften Krämpfen einher. Außerdem verliert der Körper eines Vampirs bei Nahrungsentzug die Fähigkeit, seine Temperatur aufrecht zu erhalten, was zu Auskühlung führt. Wegen all dieser bösen Folgen ist Aushungern eine beliebte Methode, um Vampire grausam zu foltern oder sogar hinzurichten.«

»Was uns zu ’nem neuen Thema bringt«, warf Ingo Hampf ein. »Vampire töten.«

»Diese Lektion ist noch net dran!«, widersprach Lasterbalk in scharfem Ton.

»Ach nein? Ich würde es begrüßen, wenn ihr Fritz schon mal auf euren Vampirhenker vorbereiten würdet. Für den Fall, dass wir ihn demnächst brauchen.«

Lasterbalk seufzte. »Also gut … Pass auf, Fritz, es gibt tatsächlich Vampire, die … naja … schon Monster sind. Die sind net … kultiviert, also, sie fallen Menschen an, so zum Spaß, oder töten sie … auch zum Spaß.«

»Und mit denen haben wir in der Vergangenheit schon oft schwer gerungen«, ergänzte Asp düster.

»Ja … Aber es gibt Menschen, die Vorteile im Kampf gegenüber Vampiren haben. Und wir haben solche Leute bei der MIU.«

»An erster Stellen stehen die Locksänger«, erklärte Falk, »oder Rattenfänger, wie wir sie auch gerne nennen. Das ist eine Band, die Musik machen kann, die Vampire gewissermaßen hypnotisiert. Das funktioniert nur mit bestimmten Musikstücken, den Lockstücken. Die werden meist volkstümlich überliefert.«

»Wir haben fast alle mal als Locksänger angefangen«, ergänzte Simon. »Sogar die von uns, die …« Er wurde merklich leiser. »… selber Vampire sind.«

»Naja, naja«, relativierte Hampf sofort. »Problematisch daran ist, dass Vampire gegen Lockstücke, die sie immer wieder hören, immun werden. Der ganze Mittelalter-Mus funktioniert deshalb nicht mehr so gut.«

»Im Moment haben wir eine sehr gute Locksängerband namens Faun«, sagte Lasterbalk. »Die graben überall neues Zeug aus, das wirkt. Aus allen Enden der Welt schleppen sie Lockstücke an. Sie sind sehr effizient.«

»Und wenn die Vampire dann rauskommen … dann erledigt ihr sie, oder was?«

»Ja, zum Beispiel.«

»Wenn das so nicht klappen sollte«, führte Pfeiffer geheimnisvoll aus, »dann haben wir noch eine ganz spezielle Waffe … einen –«

»– ein fettes Ass im Ärmel!«, beendete Simon Schmitt den Satz. »Wir haben einen Vexecutor

Einen was? Fritz drehte das Wort umständlich im Mund hin und her. »Einen Wichs– …?«

»Das ist kurz für Vampire Executor, so ein blödes Wort. Es ist jemand, der das Herz eines Vampirs anhalten kann – nur durch Gedankenkraft!«

»Oh … Klingt übel.«

»Jaha! Damit kriegen wir jeden bösen Vampir voll am Arsch, glaub mir!«

»Und wer von euch kann so was?«, fragte Fritz zweifelnd.

Falk sagte: »Einer von uns, von Saltatio Mortis. Fritz, das ist ungemein wichtig: Dieser Jemand darf nie, ich wiederhole, niiie erfahren, dass wir Vampire sind … oder dass es überhaupt Vampire bei der MIU gibt.«

Fritz stutzte. »Moment mal … Ihr belügt ihn?«

Alle am Tisch senkten den Blick.

»Halten Sie einfach dicht, Herr Wunderbaum«, ordnete Buschfeldt an. »Wir holen diesen Mann nur dann zu uns, wenn wir ihn wirklich brauchen. Der Aufwand, ihn zu täuschen, ist immens. Und jetzt Schluss mit dem Thema.« Er rückte mit dem Stuhl ab, um aufzustehen. »Die Einführung ist beendet. Wir machen eine kurze Pause.«

»Und danach arbeiten wir dann auch mal?«, fragte Lasterbalk mit gefurchter Stirn.

»Ja, das wäre mal eine Abwechslung für euch«, brummte der Chef. »Wunderbaum?«

Fritz hob den Kopf. »Ja?«

»Gehen Sie vor die Tür, frische Luft schnappen. Sie sehen ja entsetzlich aus.«

Dieser Aufforderung kam Fritz mit Freuden nach.
 

Yellow Pfeiffer zog das Beamerkabel aus seinem Laptop und setzte sich mit dem Gerät wieder an den runden Tisch. Fritz sah ihm zu, wie er in beachtlicher Schnelle eine Reihe scheinbar nichtssagender Zeichen in ein Suchfeld tippte, woraufhin sich ein schwarzes Fenster mit unzähligen Zeilen weißer Codes öffnete.

Die anderen waren noch nicht wieder zurück; nur Asp, das sah Fritz aus dem Augenwinkel, kam gerade wieder lautlos zur Tür herein.

»Was liest er da?«, fragte er den Schwarzgekleideten und nickte in Pfeiffers Richtung.

»Wahrscheinlich Koordinaten, die ihm der MAD schickt.« Asp hob die Achseln, um sein Desinteresse zu bekunden. »Er spioniert für sie Server aus und solche Sachen … setzt Sicherheitsprogramme außer Gefecht.«

»Also ein Hacker.«

»Oooooh ja.«

Fritz entschied sich, zu ihm zu gehen; dieser Mann war einer derjenigen, mit denen er bisher nur wenige Worte gewechselt hatte. »Ähm … Yellow Pfeiffer?«

»Wenn Buschfeldt nicht im Raum ist, kannst du mich auch Boris nennen. Ist mir ziemlich Banane.« Pfeiffer hatte nicht aufgesehen; seine Augen bewegten sich immer noch rasant von Zeile zu Zeile. Die Zeichen spiegelten sich in seinen Pupillen. »Übrigens, du … nimmst das ganz gut auf, was wir dir heute erzählt haben. Es gibt andere, die wirklich ausrasten. Hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du so cool bleibst.«

»Ich auch nicht.« Mit einer Bemerkung über seine Weinerlichkeit hatte Fritz eher gerechnet, aber sicher nicht mit einem Lob. Es ließ ihn kurzzeitig den Faden verlieren.

Pfeiffer öffnete ein Nachrichtenfenster, überflog den Inhalt in für Fritz unverfolgbarer Geschwindigkeit und sagte, immer noch ohne aufzusehen: »Alex? Micha fragt, ob das Versteck noch da ist.«

»Selbstverständlich!«, antwortete Asp, als wäre es Blasphemie, etwas anderes zu behaupten.

»Gut zu wissen.« Pfeiffer tippte weiter.

Fritz setzte sich neben ihn und begann unschlüssig: »Boris?«

»Ja?«

»Woran erkenne ich … einen Vampir?«

»Wenn die Blutzähne nicht draußen sind – man nennt das übrigens Auswerfen, dieses Rausschnappen –, dann bleiben nur die Augen.« Pfeiffer tippte immer noch weiter, tipptipptipptipptipp. »Die Augen sind sehr hell … meistens weiß, aber auch bläulich oder gelblich … und die Reflexionen in ihnen stehen auf dem Kopf.« Tipptipptipp. »Aber bei MIU-Vampiren bringt das nichts, die tragen Kontaktlinsen zur Tarnung.«

»Oh.« Mist. Fritz kratzte sich im Nacken. »Wie viele von uns … also, hier in der Zentrale … sind Vampire?«

»Vier.«

»Scheiße, gleich vier

»Du gewöhnst dich dran.«

Fritz seufzte gequält. Vier Vampire, und er konnte sie nicht einmal erkennen … »Ich weiß nicht, ob ich mich an rumlaufende Tote gewöhnen kann, die mein Blut aussaugen wollen, ganz ehrlich.«

Jäh hielt Pfeiffer irritiert inne. Seine Finger erstarrten in der Tippbewegung, und er drehte den Kopf, um Fritz direkt in die Augen zu sehen. »Tot, ja?«

»Ääh …« Fritz verstand die Nachfrage nicht. »Vampire sind doch untot, oder so … Sie laufen rum, aber ohne Herzschlag, ohne … ohne alles …«

Einen Moment lang dachte er, der Musiker mit dem dunklen Irokesen würde ihn anspringen, aber schon entspannten sich dessen Züge wieder, und er lachte sogar. »Jaja … Zombies, die nicht verwesen … die Nahrung aufnehmen müssen … die komischerweise durch einen Pflock ins Herz getötet werden können … die sogar, in manchen Geschichten, Sex mit Menschen haben … Ehrlich mal, findest du nicht, dass das für Tote viel zu lebendig klingt?« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Untot ist ein bescheuertes Wort für etwas, das es nicht gibt. Vampire werden nur deshalb für Wiedergänger gehalten, weil bei der Transformation Scheintodzustände eintreten und man sie dann oft fälschlicherweise bestattet. Aber sie leben, genau wie wir, sie sind nicht tot. Sie atmen, essen, schlafen, pinkeln … und bluten, wenn man sie verletzt.«

Plötzlich fiel Fritz der gestrige Tag ein, als Falk ihn mit der Tür erwischt hatte. Zur Begrüßung hatte der langmähnige Mann seine Hand genommen. Fritz konnte sich nicht an eine Empfindung besonderer Kälte erinnern, offensichtlich also war Falks Hand normal temperiert gewesen. »Ich verstehe«, sagte er. »Aber … wenn hier Vampire und Menschen zusammenarbeiten … wie sorgt ihr dafür, dass die Vampire euch n-nicht…?« Ihm kam schon wieder das Stottern hoch.

Zum Glück riet Pfeiffer seine Gedanken. »Hier wird nicht gebissen«, sagte er kategorisch. »Es ist die oberste Regel: Andere MIU-Agenten werden nicht um Blut erleichtert. Buschfeldt hat ein scharfes Auge darauf.«

»So, hat er das.«

»Innerhalb der Bands ist das wieder was anderes. Es gibt – jedenfalls denke ich das – durchaus Bands bei der MIU, in denen die Vampire das Blut anderer Bandmitglieder trinken. Aber … das ist ein Thema, über das man sich nicht austauscht, das müssen alle Bands selber handhaben.«

Dies war ein höchst merkwürdiger, fand Fritz, aber auch guter Kompromiss, um Unstimmigkeiten vorzubeugen. Er fragte: »Habt ihr in eurer Band … Wie hieß sie noch …?«

»In Extremo.«

»Habt ihr Vampire?«

»Ja. Einen.«

Fritz nickte langsam. »Danke für die Antworten.«

»Ach, nicht dafür«, antwortete Pfeiffer unberührt.

Gerade wollte Fritz aufstehen und sich wieder zu Asp setzen, als auf dem Bildschirm des Laptops jäh ein Bild aufflackerte; es handelte sich ganz offensichtlich um eine Webcam-Übertragung, doch es war nur eine dunkle, staubige Zimmernische zu sehen.

»’Tschuldige, Boris«, sagte eine verdrießliche Stimme, »die Cam ist mir schon wieder hinters Regal gefallen.«

Pfeiffer griff nach dem Headset. »Schon klar … Ist ja nichts Neues.«

Hinter Fritz öffnete sich die Tür, und Falk und Lasterbalk kamen herein.

»Ah!«, rief Falk, als er den Bildschirm sah. »Elsi ist wieder am Start. Hat er was Neues?«

»Pssst, er redet noch.« Pfeiffer horchte, und niemand unterbrach ihn dabei. »Hm, ist ja komisch … Wieso denn das?« Wieder lauschte er der Antwort. »Na prima … Ja, ich sag es ihm.«

»Was?«, fragte Lasterbalk eifrig. »Wer und wie?«

»Elsi hat Nachricht von der Polizei in Wuppertal. Wir kriegen die komischen Todesfälle.«

»Ach was! Die, die gar nichts mit Musik zu tun haben?«

»Naja, wenn du Herzversagen beim Musikhören als nichts bezeichnest, dann ja.«

Lasterbalk frohlockte. »Ui, das ist schön! Ich sag es Buschfeldt.«

Während er hinausging, seufzte Pfeiffer und sagte zu Fritz: »Daran wirst du dich auch gewöhnen müssen: Man wird hier schnell etwas makaber.«
 

Buschfeldt wirkte an diesem Abend reichlich müde – weit müder, als Fritz sich selbst fühlte, und das nach all den Wahrheiten.

»Ich habe es befürchtet«, brummte der Direktor, als ihm die Sachlage berichtet worden war. »Wahrscheinlich konnten die immer noch keine vernünftige Todesursache feststellen. Man muss sich das überlegen, alles junge Leute … Wie viele sind es inzwischen?«

»Drei«, antwortete Pfeiffer.

»Da stimmt irgendwas ganz gehörig nicht.« Buschfeldt atmete tief durch. »Na gut, Männer. Ich will das ganze Team in Wuppertal, plus jeden, der sich außerdem noch freimachen kann. Und ich will euch jeweils zu zweit an der Spurensuche.« Sein Blick richtete sich auf Fritz. »Wunderbaum? Morgen suchen Sie sich jemanden aus, mit dem Sie gut auskommen und der Sie einarbeiten kann. Sie haben bis zum Abend Zeit. Übermorgen früh fahren wir ab nach Wuppertal.«

Unter den Musikern erhob sich eine Geräuschkulisse von nachdenklichem Geseufze bis hin zu augenrollendem Stöhnen.

»Wuppertal ist hässlich«, sagte Simon unzufrieden. »Ratten so groß wie Hunde.«

Fritz schnitt eine Grimasse. »Meine Frau wird nicht erfreut sein, wenn ich sie auf unbestimmte Zeit allein lasse.«

Nein, Kitty würde sich beschweren und plötzlich der Meinung sein, dass ihm dieser Job doch gar nicht so viel bedeuten konnte. Aber er gehörte jetzt zur MIU – jetzt mehr denn je – und musste seinen neuen Aufgaben pflichtbewusst nachkommen.

Auch wenn das, dachte er mit einem neuerlichen Anflug von Übelkeit, sicher noch verdammt eklig wird.
 

Als Christine nach Hause kam, saß Fritz vor dem Fernseher und verfolgte halbherzig die Spätnachrichten. Richtig zuzuhören war unmöglich, ihm ging noch zu viel durch den Kopf. Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Frau immer noch schmollen würde wegen der vergangenen Nacht, doch Kitty hatte andere Sorgen; sie erzählte kummervoll von einer Katze mit vereiterter Gebärmutter und regte sich dann mehr als eine Stunde wegen irgendeiner Lappalie über das Veterinäramt auf.

Auch jetzt hörte Fritz nur mit einem Ohr zu. Seine Gedanken kreisten um spitze Eckzähne und einschläferndes Gift.

Er wartete, bis er an der Reihe war, und fragte dann völlig zusammenhanglos: »Kitty … Wie hält man sich Vampire vom Leib?«

Seine Frau war überrascht; sie blinzelte ihn an, fing sich jedoch gewohnt rasch. »Och, naja, das weiß man doch, Fritz … Knoblauch natürlich … Kreuze … oh, und Sonnenlicht. Wieso fragst du?«

»Weil mir aufgefallen ist, dass sich das in den Darstellungen von Vampiren immer sehr stark unterscheidet … Zum Beispiel habe ich vorhin gelesen, dass Vampire Gift in den Zähnen haben …«

»Oh, nur in Twilight, glaube ich.« Kitty strich sich fahrig ihr schwarz gefärbtes Haar hinter die Ohren. »Ich weiß nicht mehr genau, wie das war, aber ich glaube, man stirbt entweder an dem Gift oder wird auch ein Vampir.«

»Wirklich? Ich hab gelesen, es soll ganz harmlos sein … und die Opfer nur am Weglaufen hindern.«

»Aber das wäre ja voll langweilig!«, stellte seine Frau empört fest.

»Mmmh, ja, vielleicht sind deswegen diese ganzen Horroraspekte viel weiter verbreitet …«

Kitty beobachtete ihn scharf. »Fritz, dir geht doch irgendwas durch den Kopf. Das sehe ich genau!«

Schuldbewusst sah er ihr in die Augen. »Du hast Recht … Ich muss nach Wuppertal, übermorgen. Kann dir noch nicht sagen, wann ich wiederkomme.«

»Wuppertal?« Sie brach fast zusammen. »Aber was willst du denn da?«

»Arbeiten!« Wie erwartet machte ihr weinerlicher Ton ihn ärgerlich. »Du bist doch ein großes Mädchen, du hältst es eine Weile ohne mich aus!«

Dazu sagte Kitty nichts mehr; offenbar war ihr wieder eingefallen, dass sie eigentlich mit ihm schmollte.

Als Fritz im Bett lag, suchten ihn bereits beim Einschlafen düstere Bilder heim. Ströme aus schwarzem Blut und klarem, grünlichem Gift verfolgten ihn. Immer, wenn er kurz vor dem Einschlafen war, schnappten vor seinem geistigen Auge Fangzähne aus Oberkiefern und rissen ihn ins Bewusstsein zurück. In seiner Angst dachte er sogar daran, wieder in die Kirche zu gehen … Vielleicht half es. Was hatte Kitty gesagt? Kreuze. Knoblauch. Sonnenlicht. Im Geiste lachte er bitter; jetzt wusste er, warum sich die MIU-Zentrale in einem Keller befand. Wie, fragte er sich, stellten es diese Musiker an, am Tage auf Freilichtbühnen zu stehen? Taten sie das überhaupt? Er musste mehr über diese Kapellen erfahren. Wie waren die Namen gewesen? Subway, irgendwas mit Subway … Aber wenn er das googelte, würde er wohl auf die Fastfood-Kette stoßen. Extrem– ? Irgendwie so was. Und dann noch Salto … Salatio … Nein, nicht ganz …

Fritz kniff die Augen zusammen. Vielleicht, dachte er, sollte ich morgen einfach zu Hause bleiben. Ich schmeiße den Job beim BfV. Wieso nicht? Plötzlich wurde ihm etwas leichter ums Herz. Das hätte ich von Anfang an machen sollen. Klar, Buschfeldt behauptet zwar, ich könnte jetzt nicht mehr raus … aber hey, was will er machen, wenn ich einfach kündige? Natürlich kann ich raus! Man kann immer raus!

Die Sache war klar. Er würde die Reißleine ziehen, hier und jetzt. Keine Vampire. Die gehörten nicht in sein Leben. Und Musik, die Herzversagen auslöste, genauso wenig. Fritz atmete tief durch. Er wusste schon, weshalb er nur Klassik und Jazz hörte!

Irgendwann – es schien sich um die frühen Morgenstunden zu handeln – war er vom Angsthaben tatsächlich so erschöpft, dass er einschlief.

Eine Handvoll Schlüssel

Man sagt, es gibt zwei Arten von Angst.

Die erste ist die Furcht, die sich auf etwas sehr Konkretes bezieht, das sich meist – aber nicht immer – meiden lässt; man hat ein klares Bild von dem, was man fürchtet, und kann lernen, sich dieser Furcht zu stellen. Angst jedoch ist per philosophischer Definition etwas ganz anderes: Sie ist das schaurige Gefühl der völligen Alleingelassenheit, das einen überkommt, wenn man nachts aus einem traumlosen Schlaf erwacht und sich plötzlich der Sinnlosigkeit des Lebens bewusst wird. Man realisiert, wie wenig Bedeutung das eigene Leben im Lauf der Welt hat, wie klein letztere sich im Vergleich zu den Ausmaßen des Universums darstellt und dass nichts von dem, was man in seinem Leben tun kann, auch nur den kleinsten Kratzer auf der durchsichtigen Hülle von Raum und Zeit hinterlassen wird. Angst ist die Angst vor der Existenz selbst, vor der Einsamkeit im endlosen Kosmos.

Aus der Tatsache, dass es zwei Arten von Angst gibt, lässt sich folgern, dass es auch zwei Arten von Angsthasen gibt. Die erste Art weiß, dass sie feige ist, und meidet die Angst – notfalls, etwa wenn es sich um wirkliche Angst handelt, durch die Flucht in Drogen und Nihilismus. Die zweite Art ist sich zwar ihrer Angst bewusst, hält sich aber trotzdem insgeheim für mutig. Immer wieder versucht sie, über die Angst zu triumphieren und so zu tun, als gäbe es nichts zu befürchten – nur, um dann mit umso lauterem Winseln den Schwanz einzukneifen. Angst zu überwinden ist schwierig. Sich von ihr zu befreien, ohne Hilfe schier unmöglich.

Friedrich Wunderbaum wusste das.
 

»Vergiss es, Fritz!«, rief Kitty, als sie im schwarzen Morgenmantel vor ihm in der Küchenzeile stand, voller Ärger. »Du wirst nicht den Kopf in den Sand stecken! Weiß der Geier, warum du plötzlich solche Angst vor der MIU hast – vorgestern war ja noch alles in Ordnung! Komm mir jetzt nicht wieder mit einem von diesen Aber-die-sind-gemein-zu-mir-Theatern. Ich dachte, das hätten wir hinter uns!« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Kitty, du weißt nicht, was da los ist!«, beharrte er, die Arme in die Luft werfend. Haareraufen und Händeringen hatte keinen Eindruck auf sie gemacht, und langsam gingen ihm die bedeutsamen Gesten aus. »Du könntest deinen Ehemann in Einzelteilen wiederkriegen! Die legen sich da mit Leuten an, die – ! Die – ! Oh mein Gott, Kitty, ich kann da nicht weitermachen!«

»Wollen wir wetten?«, gab sie keifend zurück. »Und wenn ich dich zur Tür rausprügeln muss, du wirst gefälligst zur Arbeit gehen!« Drohend nahm sie einen Kochlöffel aus dem Abtropfgitter.

Fritz wich zurück. »Du hast ja keine Ahnung!«, betonte er noch einmal, doch mittlerweile war ihm klar, dass er verloren hatte. Wenn er wirklich der MIU heute fernbleiben wollte, dann musste er es ohne ihr Wissen tun. Und ihr hinterher irgendwie seine Entlassung erklären.

Kitty schlug ihm mit dem Kochlöffel auf den Bauch, einmal, zweimal, bis er sich aus dem Zimmer bewegte. »Du wirst jetzt ins Auto steigen!«

»Ist ja schon gut! Du hast gewonnen!«

Also fuhr er los. Er nahm den Weg, der nach Alfeld führte, und wusste, dass Kitty dem Ford nachsah, bis er nach der ersten Biegung aus ihrem Blickfeld verschwinden würde. Danach folgte er der Straße immer noch. Er folgte auch weiterhin der Ausschilderung ›Alfeld (Leine)‹. In seinem Kopf war es leer; irgendetwas in ihm wollte nicht vom Schema abweichen, traute sich nicht, etwas Ungeplantes zu tun. Schließlich passierte er das Ortsschild Alfeld/Leine. Landkreis Hildesheim.

»Ich bin doch wieder hier«, sagte er laut vor sich hin.

Der Morgen war klar, nicht so neblig wie der letzte. Fritz parkte dort, wo er immer parkte. Und wartete, wie auch am Morgen zuvor, bis Punkt zehn Uhr.

Möglicherweise war die Mission in Wuppertal gar nicht so schlimm, wenn man so darüber nachdachte. Buschfeldt hatte sie alle dorthin beordert, und sie würden auch ausnahmslos hinfahren – aber im Endeffekt würde Fritz nur mit einem von diesen Leuten enger zusammenarbeiten müssen. Nicht mit allen. Er musste sich nur einen rauspicken, der harmlos war und einigermaßen präzise arbeitete. Auf keinen Fall, das verstand sich von selbst, durfte es ein Vampir sein. Falk schloss das schon mal aus, egal wie freundlich er Fritz behandelt hatte.

Also galt es heute, potenzielle Partner genauestens zu prüfen. Groß war die Auswahl ja nicht, schließlich waren kaum Mitglieder der Kapellen in der Stadt. Wenn Fritz sich recht erinnerte, waren zwei Bands eigentlich sieben- und eine achtköpfig. Und sieben waren sie jetzt insgesamt, ohne ihn selbst und Buschfeldt.

Was hatte es überhaupt mit dieser seltsamen Zahl Sieben auf sich?

Naja, jedenfalls waren unter diesen sieben nur drei Menschen.
 

Der erste, den Fritz auf dem Hof antraf, war Dr. Saltz.

»Oh«, sagte der Arzt sichtbar überrascht, »wir hätten nicht gedacht, dass wir dich noch mal wiedersehen. Wir haben schon an einem Plan gefeilt, dich aufzuspüren, einzufangen und mit scheußlichen Drogen dein Gedächtnis zu löschen!«

»Ahahaha«, lachte Fritz affektiert. »Wie denn? Mit Vampirgift?«

»Ach, Fritz. Vampirgift ist nicht potent genug, um mehr zu bewirken als ein kurzes Nickerchen. Sei nicht so zickig, alle machen sich schon Sorgen um dich und haben ein schlechtes Gewissen.«

Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage wagte Fritz anzuzweifeln. »Ich geh schon mal rein und … oder, nein, Moment mal. Bock? Kannst du mir nicht … Also, ich weiß, das ist nicht fair, aber … kannst du mir nicht sagen, wer …?«

»Wer von unseren Leuten ein Vampir ist? Nein, Mäuschen.« Der Arzt schüttelte entschieden den Kopf. »Tut mir Leid, aber das darf deine Wahl nicht beeinflussen.«

Na toll. Fritz machte sich auf den Weg zum Hintereingang. Aber ich werde rauskriegen, wer ein Vampir ist! Ich bin nicht ganz unvorbereitet. Ihr werdet schon sehen!
 

Auf dem Weg durch den gelb beleuchteten Kellergang, während er eine Tür nach der anderen mit dem unfassbar schweren, laut klappernden Schlüsselbund entriegelte, hielt er erstmals an der Tür zum Büroraum, der Saltatio Mortis gehörte. Fritz betrachtete das Poster, das mit Klebestreifen unter dem leidlich dummen WER TANZT STIRBT NICHT-Spruch angebracht war, und erkannte Falk und Lasterbalk darauf, nebst fünf anderen Männern. Das Bild sah ziemlich unheimlich aus, den Hintergrund stellte ein riesiger Vollmond dar. Den unteren Rand zierte der Schriftzug ›MPS-Nicht-authentisch-sondern-phantastisch-Tour 2011‹. Nachdenklich ließ Fritz seinen Blick über die mit glühenden Augen versehenen Gesichter gleiten. Hier war jemand wirklich bestrebt gewesen, die ganze Band grotesk-schaurig in Szene zu setzen. Als Fritz noch näher hinsah, bemerkte er überrascht, dass Falk mit sichtbaren Fangzähnen dargestellt war. Und nicht nur er – auch Lasterbalk.

Der also auch, dachte Fritz enttäuscht. Neben dem hätte ich mich fast sicher gefühlt …

Sein Blick wanderte zu dem halbnackten Mann im Vordergrund. Er sah ziemlich fies aus und hatte in beschwörender Geste die Hände erhoben. Leider wurde die majestätische Ausstrahlung, die ihm offensichtlich zugedacht war, dadurch zerstört, dass ihm jemand mit schwarzem Filzstift einen Schnurrbart gemalt hatte.

»Na, Fritz?«

Er fuhr zusammen. Falk stand hinter ihm und lächelte ihn an – wahrscheinlich, denn für Fritz sah es im Licht der frisch enthüllten Tatsachen verdächtig nach jenem Lächeln aus, mit dem man eine Speisekarte bedachte. Er hatte den Vampir nicht kommen gehört.

»Das ist unser MPS-Poster von diesem Jahr. Ja, ich weiß, ganz schön kitschig.«

Fritz nahm sich zusammen. »Ist er das?«, wollte er wissen.

»Wer?«

»Der Vampirtöter!«

»Oh, der Vexecutor. Ja, das ist er.«

»Mist«, murmelte Fritz ganz leise. »Der kann Vampire kaltmachen, aber mit dem kann ich nicht in ein Team …«

»Nein, kannst du auch nicht«, bestätigte Falk, der ihn trotzdem gehört hatte, ungerührt. »Du glaubst nicht, wie anstrengend es ist, vor dem alles geheim zu halten. Unglaublich.«

»Ihr haltet ihn also wirklich dumm.«

»So weit, so gut. Müssen wir leider.«

»Hättet ihr nicht auch mich dumm halten können?«

»Dich? Denkst du, wir machen uns diese unermessliche Mühe, wenn es nicht nötig ist?« Falk fixierte ihn listig. »Na, das könnte dir so passen.«

Widerstrebend wandte Fritz sich wieder dem Bild zu. »Wenn das hier schon so lange hängt, hat er denn … nie eure Zähne bemerkt?«

»Doch, aber er hält das für einen PR-Gag. Und wir tun ja extra so, als wäre es einer. Außerdem ist er von dem Schnurrbart immer viel zu abgelenkt, um darauf zu achten, wie wir anderen aussehen.«

»Ah.« Fritz schürzte die Lippen. »Er sieht echt gefährlich aus. Muss ein kaltschnäuziger Killer sein.«

Jetzt lachte Falk laut auf. »Jaah, genau! Sei froh, dass du nicht mit ihm arbeitest. Alea ist zum Fürchten, der macht dich eisekalt!« Er kicherte weiter, während er abdrehte und den Gang hinunter schlenderte.
 

Die anstehende Reise nach Nordrhein-Westfalen missfiel, wie Fritz feststellte, nicht nur ihm. Auch die anderen Agenten, die sich extra nach Alfeld bemüht hatten, waren insgesamt eher unerfreut.

»Wuppertal, Mann!«, hörte er Simon maulen. »Ein bisschen weiter südlich, dann hätten wir sagen können: Leckt uns, das ist Schandmaul-Bereich!«

»Die haben in der Vampir-Hochburg München genug zu tun, Schmittchen«, erinnerte ihn Lasterbalk.

Fritz kam dazu und versuchte, unbeteiligt zu wirken und sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. »Sagt mal«, begann er, »habt ihr irgendwelche Vorlieben, wer mit wem …?« Er sah fragend in die Runde.

»Das überlassen wir dir, Fritz«, antwortete Pfeiffer, da es sonst niemand tat. »Wir sind da ziemlich leidenschaftslos. Sowieso werden wir ständig in engem Kontakt sein, also ist es eigentlich egal. Alle bleiben zusammen.«

Somit verabschiedete sich Fritz von der etwaigen Möglichkeit, sich vor der Entscheidung gänzlich drücken zu können, und nutzte den Vormittag – was ihn einige Überwindung kostete – dazu, die anderen genau zu beobachten. Zuerst studierte er zusammen mit Asp den streng vertraulichen Polizeibericht, den Elsi, oder wie der hieß, ihnen auf elektronischem Wege hatte zukommen lassen.

»Keine pathologisch relevanten Auffälligkeiten«, rezitierte Asp mit gefurchter Stirn.

»Ich frag mich, was die sich davon erhoffen, dass wir da aufschlagen.« Fritz beobachtete, wie sich die bläulichen Lippen des anderen Mannes beim wiederholten Lesen bewegten. »Ich meine, was können wir rausfinden, was die nicht rausfinden?«

»Das wirst du schon sehen, Fritz«, antwortete Asp. »Wir haben unsere eigenen Methoden.« Er bedachte Fritz, wie schon so oft, mit einem halb besänftigenden, halb spöttischen Lächeln; dann hielt er plötzlich inne und legte den Kopf schief, Fritz eingehend musternd. »Nanu«, sagte er und schnupperte interessiert. Fritz wich zurück, aber Asp hatte schon die Hand ausgestreckt und in die Brusttasche seines Hemdes gegriffen. »Ach.« Er zog die Knoblauchzehe heraus und betrachtete sie wie etwas, das er noch nie gesehen hatte. »Fritz, wirklich, was hat denn das zu bedeuten?«

Fritz war selten zuvor so um Worte verlegen gewesen. »Ääh … hmm … also, nach gestern … Es ist …«

»Du weißt jetzt«, fiel ihm Asp ins Wort, wenn auch in geduldigem Ton, als spräche er mit einem Idioten, »dass wir alle sehr nette Vampire sind. Also … Brauchst du den noch?« Er warf den Knoblauch in die Luft und fing ihn wieder auf.

»Äh, nein … Du … kannst ihn haben …«

»Oh, danke. Ich liebe Knoblauch.« Er sah Fritz bedeutsam an.

»Ähm … Achso?«

»Fritz, ich habe gesagt: Ich liebe Knoblauch

»Äh, ja …«

»Muss ich noch konkreter werden?«

»N…nein.« Fritz schluckte hart. »Das heißt wohl … Knoblauch stört Vampire nicht.«

»Nicht per se. Wenn Menschen Knoblauch essen, sollte man die nächsten Stunden nicht aus ihnen trinken. Er verdirbt den Geschmack des Blutes. Aber ansonsten, ja, ein wundervolles Gemüse, man kann einfach alles damit würzen. Nur eben Menschen nicht.« Wieder versuchte Asp ein entwaffnendes Lächeln. In Fritz’ Augen wirkte es keinesfalls.

Er hat es niemals nötig, mir Knoblauch wegzunehmen, dachte Fritz, der das diskrete Outing sehr wohl verstanden hatte. Scheiße! Warum immer die, die nett zu mir sind?! »Also … kann man vermeiden, von euch gebissen zu werden, indem man Knoblauch isst?«

»Schon, aber einen wirklich hungrigen Vampir hält das auch nicht ab.« Asp lachte, als er Fritz’ Miene sah. »Du machst es dir selber unheimlich schwer, weißt du das?«

»Jaah … Ich weiß.« Fritz seufzte, verabschiedete sich mit einem Nicken und zog von dannen.
 

Simon Schmitt machte zunächst einen guten Eindruck; er wirkte motiviert und verhielt sich liebenswürdig. Jedoch, und das fiel Fritz ziemlich schnell auf, hatte er sichtbar keinen Plan. Er verwirrte sich selbst, als er versuchte, Fritz eine militärische Landkarte zu erklären.

»Warte, warte … Hm, nee, so war das nicht … Also, wenn mein Wehrdienst nicht schon so lange her wäre … Ähm … Egal, normalerweise funktioniert das irgendwie …«

Fritz lehnte sich zurück und rieb sich die Schläfen.

Ingo Hampf kam dazu und tat so, als würde er die erfolglose Mühsal seines Bandkollegen nicht zur Kenntnis nehmen. »Wollt ihr euch nicht mal um den logistischen Kram kümmern? Wir müssen ’ne Menge Zeug mitschleppen. Sollten vor allem an Azathioprin und Hyperborea denken.« Er sprach die beiden für Fritz immer noch mysteriösen Worte mit besonderer Betonung aus und sah ihn dabei eindringlich an.

Der traut mir kein Stück, dachte Fritz. Der weiß genau, was wie gemacht wird … und dass ich keinen Schimmer habe.

Er hörte Simon neben sich tief durchatmen. »Hyperborea«, sagte dieser mit merkwürdig verklärtem Unterton. »Ja … oh, ja, daran müssen wir denken …« Hampfs wissenden Blick über seinen Kopf hinweg schien der junge Mann nicht zu bemerken.

»Neuer, ich will dir Tacheles auftischen«, fuhr Ingo fort und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, um sich näher zu Fritz zu beugen. »In fünf Minuten wird Buschfeldt dich rausschicken. Wieso? Weil die Vampire Hunger haben. Und weil er sie nicht diskriminieren darf, indem er sie zwingt, sich dir zu offenbaren.«

»W-was? Hunger?« Fritz spürte neues Entsetzen in sich anwachsen. »Was heißt das, sie haben …?«

»Komm mit«, sagte Hampf und ging, ohne auf ihn zu warten.
 

Sie betraten die Küche. Ingo bückte sich und zog eine Klappe im Fußboden auf, die Fritz vorher gar nicht aufgefallen war. Darunter fand sich – sehr zu Fritz’ Erstaunen – ein tiefer, dunkler Raum, in den eine kleine Stiege hinabführte. Reihen dunkelgrüner Flaschen schimmerten bis zu ihnen hinauf.

»Ein Weinkeller?«, ächzte Fritz.

»Das ist besonderer Wein. Er wird in Landau in der Pfalz extra für uns hergestellt – teils in einem Winzerunternehmen, teils in einem Labor. Er heißt Hyperborea, nach einem mythologischen Land im Norden Griechenlands.« Ingo fixierte ihn aufs Neue mit seinem kritischen Blick und fuhr fort: »Ich will dir gar nicht erst irgendeinen Scheiß erzählen, deshalb sag ich’s dir: Der rote Trank in den Flaschen besteht zu mindestens achtzig Prozent aus Menschenblut.«

Etwas in der Art hatte Fritz befürchtet. »Und das«, würgte er, »werdet ihr gleich trinken …«

»Die von uns, die Vampire sind. Es macht das Beißen von Menschen natürlich unnötig.« Hampf ließ die Klappe wieder zufallen. »Jetzt weißt du bescheid. Ich halte nichts davon, dich mit Samthandschuhen anzufassen. Du willst einer von uns sein, also komm damit klar.«

Seltsamerweise führte dieses neue Wissen dazu, dass Fritz sich eine winzige Kleinigkeit besser fühlte. Er starrte immer noch auf die Klappe im Boden, als Hampf schon wieder gegangen war. MIU-Vampire wichen also auf ein eigens für sie hergestelltes Getränk aus, um ungefährlich zu sein. Wenn das nicht irgendwie erleichternd war …
 

Auf Buschfeldts Aufforderung hin verließ Fritz den Keller und wanderte ein wenig in den Arbeitsräumen der Fabrik umher. Er war ins Grübeln gekommen. Der Lärm der Stanze und das geschäftig herumlaufende Personal, dem er ständig im Weg zu stehen schien, lenkten ihn ein wenig ab. Er ließ Revue passieren, was er herausgefunden hatte: Falk, Lasterbalk und Asp waren Vampire. Aber wer war der vierte? Es blieben noch Simon, Ingo und Yellow Pfeiffer. Und theoretisch Bock, aber der war viel zu begeistert von Vampiren, um selber einer zu sein. Die anderen dagegen verhielten sich alle verdächtig unauffällig in dieser Hinsicht. Also, wer von den dreien war es? Die Bilanz sah so aus, dass sie alle nicht gerade für eine enge Zusammenarbeit in Frage kamen. Simon zog Chaos an, Ingo hielt nicht viel von Fritz und Pfeiffer übernahm das Supervising von seinem Laptop aus, wobei er kaum jemals den Blick vom Bildschirm wandte.

Aber ich kann nicht mit einem Vampir arbeiten, dachte Fritz fieberhaft, ich kann nicht! Was mache ich nur?!
 

Buschfeldt wartete auf ihn, als er wieder hinunter ging.

»Und?«, fragte er ungeduldig.

»Ich brauche noch Zeit.« Fritz mied den Blick des Direktors.

»Na schön, Friedrich«, seufzte dieser, »um halb acht schließe ich den Keller ab und fahre. Bis dahin treffen Sie Ihre Wahl, damit wir den Einsatz vorbereiten können. Ist das klar?«

»Ja …«

»Gut.«

Fritz warf einen Blick in den Aufenthaltsraum, fing kurz die Blicke der anderen auf und machte ratlos wieder kehrt. Er ging den Flur ein paar mal hin und her, las die Sprüche auf den Türen und betrachtete die Bilder. Darauf sah er Musikinstrumente, die er nicht kannte, und Szenen im hellen Tageslicht, die er sich nicht erklären konnte.
 

Als es dämmerte, verließ er die Fabrik und trottete über den leeren Hof an der Vorderseite des Gebäudes. Gepflegte Hecken schirmten den Blick auf die Straße ab. Fritz setzte sich auf eine der beiden betonierten Stufen vor dem Eingang und starrte vor sich hin. Es war still; die Fabrik war bereits geschlossen. Nur ein leises Summen aus dem Inneren der riesigen Betonzylinder ließ erahnen, dass einige Maschinerien noch arbeiteten.

Nachdem er etwa eine Viertelstunde mit reglosem Schweigen zugebracht hatte, waren Schritte auf dem Asphalt zu hören. Sie näherten sich zielstrebig und hielten genau vor Fritz an, sodass er gezwungen war, aufzublicken.

Fritz sah den Ankömmling wenige Meter neben sich im Halbdunkel stehen, die Hände in den Taschen und ihn unverwandt ansehend. Seine Augen bemühend erkannte er den blonden Mann, der auch am ersten Tag da gewesen war und dem Falk das EINHÖRN-Schild zugeschoben hatte.

»Hallo«, sagte Fritz.

»’n Abend«, sagte Einhorn. »Was’n los?«

»Nichts.« Fritz lächelte zynisch; Diplomatie war ihm vergangen. »Nur, dass ich morgen nach Wuppertal fahre, mit lauter Vampiren. Oh Mann … Ich hasse Vampire. Ich habe sie schon immer gehasst, seit meine Frau diese ganzen Bücher liest.« Er schnaubte leise, doch es half nichts.

»Ja, Vampire sind schon manchmal doof«, stimmte ihm Einhorn zu. »Also haben sie dir heute die ganze Story aufgetischt?«

»Ja … haben sie. Ich soll mit einem der anderen zusammenarbeiten … Aber ich weiß nicht, mit wem.«

»Ja, das sieht man. Du siehst echt verzweifelt aus.«

»Na hör mal … Ich weiß erst seit gestern, dass es Vampire gibt!«

»Jaja, schon gut.« Einhorn schob mit der Schuhspitze ein kleines Steinchen beiseite. Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen; er nahm die Hände aus den Taschen und ging wortlos in die Fabrik.

Nun saß Fritz wieder alleine im Dunkeln. Nur über ihm schien der Mond kühl vor sich hin. Fast voll war er. Hatten Vampire nicht irgendetwas mit Vollmond zu tun? Ach nein, erinnerte er sich, das waren Werwölfe.

Fünf Minuten später kam Einhorn zurück.

»Ich bin Micha«, sagte er ohne Einleitung.

»Ich bin Fritz.«

»Jaja, das hab ich mitgekriegt.« Er setzte sich neben Fritz auf die Stufe und holte etwas unter seiner Jacke hervor. »Hier, hab dir was mitgebracht. Scheinst du gebrauchen zu können.«

Fritz nahm die Bierflasche entgegen. Sie hatte einen Bügelverschluss. »Flensburger.«

»Das ist aus dem Vorrat von Asp, aber wir teilen uns das Versteck. Buschfeldt hat was dagegen.«

»Gegen Alkohol am Arbeitsplatz?« Fritz ploppte die Flasche auf.

»Nö, nur gegen Bier. Ey, wir sind Rockmusiker … Ohne Alkohol am Arbeitsplatz arbeiten wir nicht.« Micha grinste und hielt ihm seine eigene Flasche zum Anstoßen hin.

»Danke für das Bier«, murmelte Fritz und folgte der Aufforderung. Das leise Pling durchschnitt die nächtliche Stille.

»Du tust mir Leid«, antwortete Micha, als müsste er die Geste erklären. »Hoffe, das tröstet dich.«

Sie tranken schweigend. Fritz horchte auf vorbeifahrende Autos und versuchte, am Geräusch des Motors unterscheiden, ob es ein Diesel oder ein Benziner war.

Schließlich begann er vorsichtig: »Ich weiß mittlerweile von drei Leuten, die hier sind, dass es sich um Vampire handelt … aber Boris hat gesagt, es wären vier.«

»Na, ich sag dir bestimmt nicht, wer der vierte ist«, erwiderte Micha ungerührt.

»Aber du weißt es.«

»Na klar.«

Fritz kämpfte gegen die neuerlich aufsteigende Beengung in seiner Brust. »Ich habe solche Angst«, gestand er, und seine Stimme brach fast, als die Bangigkeit wieder in ihm aufstieg. »Du musst mir sagen, wer es ist, bitte! Ich – ich ertrage den Gedanken nicht, dass ich vielleicht einen ständig um mich hätte … einen, der das Blut von Menschen trinkt … bitte, du musst es mir sagen, bitte!« Selbst in seinen eigenen Ohren klang das Flehen erbarmungswürdig.

Der blonde Mann warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das wäre aber echt unfair von mir, weißt du.«

»Ich sage keinem, dass du es mir verraten hast! Bei dreien weiß ich es doch sowieso schon! Es geht nur noch um einen, den ich meiden muss!«

»Du sollst aber keinen von uns meiden, das ist doch die pointe daran.« Es klang wie Po-Ente; mit der französischen Aussprache schien er so seine Probleme zu haben. »Mann, Mann. Bei wem bist du denn sicher?«

»Falk, Lasterbalk … und Asp.«

»Na, herzlichen Glückwunsch, da hast du ja schon ’ne ganz gute Beobachtungsgabe. Also, bei Asp, das sieht ja ’n Vollidiot, aber die anderen … schon nicht schlecht.« Seinem Blick ausweichend, nahm Micha einen weiteren Schluck Bier.

»Wer ist der letzte?«, drängte Fritz weiter. Gleich hatte er ihn soweit, das wusste er. »Ist es Ingo? Oder Boris?«

Micha setzte die Flasche ab und leckte sich die Lippen. »Nee. Es ist Schmitti«, sagte er dann. »Das Simon-Ding. Scheiße, ich kann nicht fassen, dass ich dir das verrate.« Schnell trank er weiter.

»Simon«, wiederholte Fritz sinnend. »An den hätte ich zuletzt gedacht.«

»Ist auch nicht leicht, die Typen zu erkennen. Nicht mit Tarnlinsen.«

Jetzt, da er die Wahrheit kannte, beruhigten sich Fritz’ Nerven. Das Bier tat sein Übriges; er war fast entspannt. »Wie schafft ihr es, vor Buschfeldt Bier zu verstecken?«

»In einem Schrank, den er nicht aufschließen kann.«

»Ach ja? Aber ich kann alles aufschließen. Ich bin der Schlüsselwächter.« Fritz griff in seine Tasche und holte den schweren, polternden Schlüsselbund hervor.

Als Micha das Monstrum sah, lachte er laut. »Pass auf«, sagte er und griff selbst in die Jackentasche. Als er die Hand öffnete, lag darauf ein einziger Schlüssel. »Den hab ich Buschfeldt vor Jahren mal abgezogen. Ein Universalschlüssel. Der schließt nicht nur alle Schlösser im HQ auf, sondern auch alles andere, wo ich ihn reingesteckt kriege.« Grinsend ließ er den Schlüssel wieder verschwinden. »Na gut, Fritz. Ich bin eigentlich nur hier, um Boris abzuholen. Aber ich komme morgen mit nach Wuppertal. Wird ja vielleicht interessant.« Er erhob sich umständlich und schob die leere Flasche wieder unter die Jacke. »Mach dir keinen Kopf wegen der Vampire. Und unsere Leute, also… die sind alle prima. Naja, Ingo solltest du vielleicht nicht gerade nehmen, der mag keine Küken. Nimm am besten Lex … Ich meine Asp. Hammertyp. Der gibt zwar manchmal Sachen von sich, die ’n bisschen gruselig sind, aber eigentlich ist das ein ganz toller Kerl.«

»Ich weiß«, seufzte Fritz, »aber ein Vampir.«

»Ach, denk da einfach nicht daran. Wir sehen uns morgen.«

Als Micha wenig später mit Yellow Pfeiffer plaudernd gegangen war und auch die anderen nach und nach verschwunden waren, saß Fritz noch immer auf der Stufe und dachte nach. Eine ganze Weile grübelte er noch – so lange, bis er glaubte, die bestmögliche Lösung gefunden zu haben.
 

»Herr Wunderbaum, ich fahre jetzt«, sagte Buschfeldt, und seine Stimme verriet, dass er am Ende seiner Geduld war. »Wer soll denn nun mit Ihnen den Fall bearbeiten?« Er klappte seinen Taschenkalender auf, in dem er schon den ganzen Tag über Notizen festgehalten hatte, zückte einen Kugelschreiber und sah Fritz streng an.

Dieser holte tief Luft. »Sehen Sie es mir nach, aber ich kann nicht mit einem Vampir arbeiten. Jedenfalls jetzt noch nicht.« Buschfeldt starrte ihn weiter wartend an, also fuhr er fort: »Ich brauche jemand Normales, für den Anfang. Das mit den Vampiren wird schon noch, ja, ich gewöhne mich bestimmt daran, aber erst mal möchte ich keinen ständig in der Nähe wissen. In Ordnung?«

»Ich will einen Namen, Herr Wunderbaum – weiter nichts.« Nun war Buschfeldts Ungeduld beinahe greifbar. Die Spitze des Kugelschreibers verharrte nur Millimeter vom Papier entfernt.

»Okay, dann geben Sie mir Einhorn«, sagte Fritz. »Ich glaube, mit dem kann ich ganz gut.«

Buschfeldt wollte das gerade notieren, hielt jedoch kurz vor dem Losschreiben inne und sah Fritz an, als hätte der nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ist das Ihr Ernst, Friedrich?«

»Ja … Warum denn nicht?«

»Weil …« Buschfeldt begann freudlos zu grinsen, während er den Namen aufschrieb. »… weil das eine kuriose Wahl ist.«

»Aber wieso denn?«

»Nun ja … Michael Rhein ist ein Vampir.«

Stille trat ein. Man hätte, da war sich Fritz im Nachhinein sicher, ein Staubkorn fallen gehört.

»Er ist …«, begann Fritz, aber die Töne gingen in Krächzen unter. Sein Hals war rau wie ein Reibeisen.

»Der älteste Vampir, den die MIU hat«, fuhr Buschfeldt fort. »Seltsam, dass Sie das nicht wissen, wo Sie doch den ganzen Tag so detektivisch herumgespürt haben. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, sehen Sie … Sie erzählen mir, dass Sie mit Vampiren nicht können, aber mit dem wollen Sie arbeiten – mit einem stolzen, alten, bockigen Vampir. Wie witzig.« Er lachte kein bisschen.

Fritz erholte sich nur schwer von dem Schrecken. »Er ist – … Aber ich, ich – ich habe mit ihm Bier getrunken!«

Buschfeldts missvergnügtes Grinsen verschwand augenblicklich. »Ach, wirklich? Er weiß, dass ich das verboten habe. Bier tut Vampiren nicht gut. Da Sie das jetzt wissen, können Sie solch einem ignoranten Verhalten ja entgegenwirken.« Grimmig ließ er den Kalender verschwinden. »Sie beide melden sich also morgen früh um halb neun bei mir.«

»Aber – !«, begann Fritz entsetzt.

»Nichts aber, Friedrich. Sie hatten bis heute Abend Zeit und haben Ihre Wahl getroffen. Morgen um halb neun. Gute Nacht.«

Versalzen

Der vorerst letzte Morgen mit seiner Frau fiel Fritz unerwartet schwer. Er war es nicht gewohnt, lange von ihr getrennt zu sein; normalerweise waren seine Einsätze immer so lange im Voraus geplant gewesen, dass sie ihn begleitet hatte. Da Kitty ihre Praxis allein führte, konnte sie sie schließen, wann immer sie wollte; nun jedoch nicht, da sie für die ganze folgende Woche Operations- und Besuchstermine angenommen hatte.

»Du rufst jeden Abend an!«, verlangte sie. »Und jetzt gib mir einen Kuss!«

Er tat, was sie wollte, und nicht unfreiwillig.

»Friiitz … eins noch.«

»Ja?«

»Wenn du wieder da bist«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »wünsche ich mir, dass du was für mich tust. Du kannst, während du weg bist, schon mal darüber nachdenken.«

Das klang nach etwas Größerem. Am liebsten wollte er sofort widersprechen, ohne zu wissen, worum es überhaupt ging; dann besann er sich. Schließlich liebte er sie wirklich, und auch wenn ihre Wünsche oft absurd waren, so wollte er sie sich zumindest anhören. »Hmm, sehen wir mal.«

»Aaaalso … Ich wünsche mir, dass wir zwei, du und ich, immer einen Teil des anderen ganz dicht bei uns haben können, auch wenn wir getrennt sind. Es gibt solche kleinen Hohlperlen, die man um den Hals tragen kann, und in die man … Blut reintut.«

»Blut!«, ächzte er. Davon hatte er in jüngster Zeit wahrlich genug gehört.

»Dann kannst du mein Blut bei dir tragen und ich deins!«, fuhr Kitty fort und versuchte, ihn mit Begeisterung anzustecken. »Fritz, das ist viel intimer als jeder andere Schmuck! So persönlich!«

»Vor allem so eklig.«

»Och, Fritz! Das ist so romantisch!« Rasch umfasste sie seine beiden Hände und drückte sie. »Fritz!«

»Christine, du weißt genau, dass ich Angst vor Blut habe! Warum verlangst du so was von mir?« Im Grunde wollte er nicht ärgerlich sein, doch warum konnte sie seine Eigenheiten nicht akzeptieren? Schon immer hatte sie versucht, ihm einzureden, Blut sei romantisch. Und sogar erotisch. War das zu glauben? »Ich muss jetzt los.«

»Denk wenigstens drüber nach!«, flehte sie. »Es wäre sooo schön!«

»Mal sehen.« Nein! Blut um den Hals tragen war nun wirklich das letzte, was er wollte. Hoffentlich kapierte sie das, bis er wieder zurück war.

Er winkte ihr zum Abschied – natürlich, denn sie trennten sich nie im Streit, man wusste nie, was passierte – und stieg in den Ford.
 

Dass alles schiefgehen würde, stand ja ohnehin bereits fest. Am Abend zuvor hatte Fritz noch das Gefühl gehabt, es könnte doch etwas noch gut werden – aber bei der Feststellung, dass er sich mit der Wahl seines Partners auf unglaubliche Weise selbst ins Knie gesägt hatte, war ihm klar geworden, dass das Schicksal gerade Rugby mit ihm spielte. Dagegen konnte er nichts tun. Nun musste er es hinnehmen. Komme, was wolle.
 

Der Sonnenschein war wunderschön und ließ das Herbstlaub entlang der Straßen rot-golden schimmern. Kurz vor Alfeld passierte Fritz einige Kilometer Bodennebel, doch die wabernde Wand löste sich auf, sobald er in die Stadt hinein fuhr.

Auf dem Hof vor der Papierfabrik standen heute zwei weitere Fahrzeuge: der Opel Astra, mit dem Buschfeldt ihn Tage zuvor besucht hatte, und ein roter Ford Cabrio. Bei beiden Autos stand der Kofferraum offen. Fritz stellte seinen Fiesta daneben.

Dann wanderte er zur Hintertür, wo der Handscan fällig war, und traf dort auf Micha, bei dessen Anblick er unwillkürlich zusammenzuckte. Der Musiker rauchte in aller Ruhe eine Zigarette und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Für einen Vampir ist das einfach komisch, dachte Fritz argwöhnisch. Vampire sollten weder Bier trinken noch Zigaretten rauchen. Außerdem steht er mitten in der Sonne!

Micha sah ihn. »Morgen.«

So! Morgen sagte der einfach, als wäre gar nichts gewesen! Fritz dachte gar nicht daran, den Gruß zu erwidern; Unmut ergriff ihn. Einen großzügigen Abstand wahrend, rief er anklagend: »Du bist also ein Vampir!«

Micha, überrascht von der Feindseligkeit, schaute ihn fragend an. »Schon.«

»Und wieso hast du das mit keinem Wort erwähnt? Hieltest du das nicht für nötig? Wollen mich hier eigentlich alle nur verarschen?!« Ja, das wollten wohl alle. In ohnmächtiger Wut stampfte Fritz mit dem Fuß auf, da ihm nichts Besseres einfiel.

Micha beobachtete ihn noch gelassen. »Erstens: Du hast nicht danach gefragt.«

»Ich habe gefragt, wer alles ein –!«

»Zweitens: Woher soll ich wissen, dass du mit mir in ein Team willst? Du hast mich nur nach den anderen gefragt: Boris, Lex, Ingo, Simon. Ich kann keine Gedanken lesen. Du hättest ja mal was sagen können, ich hab das heute früh von Buschfeldt erfahren, danke auch.« Er ließ die Kippe fallen und trat sie aus. »Und jetzt komm … Wir haben zu tun.«
 

Falk, einen Karton im Arm, ging an ihnen vorbei, als sie dem unterirdischen Gang folgten.

»Den Weg in die Küche könnt ihr euch sparen, die Kaffeemaschine ist mal wieder verschwunden. Wir hoffen, dass sie einfach nur jemand eingepackt und ins Auto geräumt hat.«

»Boah, Scheiße!«, knurrte Micha und schlug im Vorbeigehen gegen eine Tür. »Wie soll ich ohne Kaffee Auto fahren!«

»Ich kann fahren«, sagte Fritz steif. »Ich brauche keinen Kaffee.« Das stimmte nicht ganz, aber einem Vampir traute er nicht.

Sie erreichten den Aufenthaltsraum, wo Asp und Lasterbalk einige der grünen Weinflaschen, in denen sich die Vampirnahrung befand, in gepolsterte Kisten stapelten. Pfeiffer saß daneben und warf ein paar kleine Tablettenpäckchen, die auf dem Tisch verstreut lagen, in eine Baumwolltasche. Er nickte Micha zu.

»Brauchst du Azathioprin? Es bleibt schönes Wetter heute.«

»Hab schon.«

Da Micha zu Pfeiffer ging, um ihm zu helfen, gesellte sich Fritz zu den beiden anderen. »Soll ich auch was tragen?«

»Das schaffst du Hänfling net«, behauptete Lasterbalk, der gerade eine der befüllten Kisten aufhob.

Fritz schnitt eine Grimasse und sah ihm nach. Dann nahm er eine der herumliegenden Flaschen in die Hand. Rein äußerlich unterschied sie nichts von einer gewöhnlichen Weinflasche; er kannte auch den Typ, in ihnen wurde traditionell Bordeaux abgefüllt. Der Inhalt sah durch das dunkelgrüne Glas fast schwarz aus. Das authentische Etikett trug in verschnörkelten Buchstaben die Aufschrift HYPERBOREA. Spätlese 2010.

»Du weißt, was das ist, oder?«, fragte Asp über seine Schulter.

»Ja, Ingo hat’s mir gesagt. Was ist da noch drin außer Blut?«

»Vor allem Rotwein, aber auch Gerinnungshemmer, damit das Blut flüssig bleibt. EDTA eignet sich am besten. Lecithine verhindern, dass das Blut sich in seine festen und flüssigen Bestandteile auftrennt. Um die Akzeptanz zu erhöhen – also, damit das Getränk trotz der ganzen Verwässerei besser schmeckt und auch getrunken wird –, werden Gewürze und Zuckerarten reingemischt. Je nach Jahrgang hat man einen anderen Geschmack, das ist die Tarnung.« Emsig fuhr er fort, die Flaschen zu stapeln.

»Und das Az– … dieses Medikament kriegt ihr aus Treuenbrietzen.«

»Ja, aus dem Johanniter-Krankenhaus. Wir müssen bald neues haben, du siehst ja, viel ist nicht mehr da.«

Fritz begnügte sich damit, einzelne Flaschen zu den Autos zu tragen. Offensichtlich waren die Vampire ihm an Körperkraft weit überlegen. Inzwischen waren alle eingetroffen, die er aus seinen ersten Tagen bei der MIU kannte, und zuletzt machten sich alle gemeinsam daran, für Dr. Saltz einen Teil seiner medizinischen Ausrüstung zu verladen.

»Ich weiß, dass Elsi behauptet, ich hätte in der Wuppertal-Basis genug Kram!«, rechtfertigte sich der Arzt, der selber nichts trug – vielleicht aus Angst, sich einen Nagel abzubrechen –, »aber manche Sachen kann man nicht überall gleichzeitig haben, und die Medikamente müssen gekühlt werden! Also tragt schon, husch husch!«
 

Es war fast elf Uhr, als sie alles in die drei Autos geräumt hatten. Buschfeldt erschien überhaupt nicht.

»Er nimmt den Zug, aber wir haben sein Auto, also beschweren wir uns nicht«, erklärte Pfeiffer achselzuckend. »Ist auch gut so, ich hätte keine Lust, mir die ganze Fahrt über das Gemaule anzuhören.«

Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Fritz setzte sich hinter das Lenkrad und griff nach seiner Sonnenbrille, ehe er den Motor startete. Im Rückspiegel sah er, dass Pfeiffer belustigt aus dem Fenster sah.

»Simon fährt den Dark Knight

»Wie, hat er keinen Führerschein?«

»Doch doch, aber wie viele von uns hat er noch nie einen Automatikwagen gefahren.«

»Wenn der Hampf dabei ist, passiert schon nix.« Micha machte es sich Fritz’ Meinung nach viel zu gemütlich neben ihm; es sah aus, als ob er lieber schlafen wollte, anstatt als pflichtbewusster Beifahrer die Straßenkarte zu studieren.

Buschfeldts Ford Cabrio, bemannt mit Falk, Lasterbalk und Asp, rollte als erstes vom Gelände der Fabrik.

»Fahr ihm einfach nach«, sagte Micha und machte dann tatsächlich die Augen zu.
 

Das schöne Wetter hielt sich leider nur bis zum Autobahnkreuz Dortmund/Unna, wo sie auf die A1 Richtung Köln und Düsseldorf wechselten. Am Horizont türmten sich schwarze Gewitterwolken, und die ersten Tropfen fielen bereits auf die Windschutzscheibe. Fritz nahm die Sonnenbrille endgültig ab, der Hoffnung beraubt, dass es wieder besser wurde.

»In Wuppertal regnet es schon den ganzen Tag, sagt der Wetterbericht.« Pfeiffer steckte das iPhone wieder ein. »Soll bis morgen so bleiben. Tja, Micha, keine Sonne mehr.«

»Wenn du ein Vampir bist, Micha«, sagte Fritz unwirscher, als er wollte, »wieso zerfällst du in der Sonne eigentlich nicht zu Staub?«

»Medis«, war die knappe Antwort. »Aber auch ohne würde ich nicht zu Staub zerfallen.«

»Sondern?«

»Glitzern.«

Fritz dachte, er hörte nicht recht, und fand diesen Verdacht bestätigt, als er im Rückspiegel Pfeiffers Bemühung, nicht laut loszulachen, gewahr wurde. »Haa haa! Was würde wirklich passieren?«

Endlich wurde Micha ernst. »Weißt du, das ist so was wie ein Defekt im Immunsystem. Wenn unser Körper UV-Strahlen registriert, macht er einen Riesenalarm. Unsere Haut wird starr, unser Kreislauf kackt ab, und wir kriegen ’ne Scheißangst zu sterben. Das geht alles wieder weg … aber es ist nicht auszuhalten, wenn man am Tage draußen irgendwas machen will. Die Pillen, die wir nehmen müssen, unterdrücken das. Ein … Immunsuppressivum, das Azathioprin heißt.« Er furchte die Stirn. »Ich hab Jahre gebraucht, um mir den Namen zu merken.«

Fritz wusste schon, dass er ihn sich nie würde merken können. Eigentlich wollte er noch mehr fragen, doch es dauerte ein paar Minuten schweigenden Fahrens, bis er sich dazu durchrang. »Findest du … es eigentlich okay … Menschen zu beißen?«

»Ja«, antwortete Micha ohne zu zögern.

»Na großartig.«

»Tja, wenn du mich hättest wissen lassen, was du vorhast … Deshalb wollte ich ja, dass du mit Lex gehst. Ich meine Asp. Der beißt nämlich überhaupt nicht. Aber ich beiße, und zwar wann immer es mir passt. Damit du’s weißt, Fritz.« Er sah wieder aus dem Fenster, wo Tropfen um Tropfen abperlte.

Leicht schaudernd versuchte Fritz, stattdessen aus Pfeiffers Blick zu lesen, doch der hinten Sitzende schaute unbeteiligt aus dem Fenster. »Ich hab gehofft, dass gar kein MIU-Vampir beißt, weil ihr diesen Wein habt. Wieso ist es dann überhaupt noch nötig?«

»Das ist schwer zu erklären«, wich Micha aus, »total schwer.«

»Und wieso beißt Asp dann überhaupt nicht?«

»Der trinkt gar kein pures Blut. Er traut sich nicht mehr, seit … Ach, er hat ’ne schwierige Vergangenheit, weißt du. Er wollte kein Vampir werden. Hat es gehasst. Kam mit dem Blutdurst nicht klar. Konnte sich nicht kontrollieren. Armer Kerl. Wurde Opfer von so ’ner Hetzjagd … und die Leute haben ihn … völlig zerhackstückelt, nach allem, was ich weiß, und ihn irgendwo verscharrt. Er hat ewig in Starre gelegen, und dann … ist irgendwas mit ihm passiert …« Es war unschwer zu erkennen, dass Micha die Formulierungen für Asps Tragödie ausgingen. »… Ich kann dir das nicht gut erklären, aber Lex hält den Teil von sich, der Blut trinkt, für böse und unterdrückt ihn. So richtig radikal. Er glaubt, dass er, wenn er was anderes als Hyperborea säuft, unberechenbar und gefährlich wird.«

»Und glaubst du das?«, fragte Fritz unbehaglich.

»Ich kenn seine dunkle Seite nicht«, antwortete Micha, »ich hab ihn noch nie was Blutrünstiges oder Brutales machen sehen. Aber er setzt sich in seiner Musik oft damit auseinander. Die gibt ihm viel Kraft, glaub ich. Soll ja auch so sein. Ähm … Dir wird auffallen, dass er Spiegel meidet.«

»Fritz, aufpassen!«, rief Pfeiffer plötzlich. »Kreuz Wuppertal-Nord, da müssen wir runter, Falk ist da auch gerade abgefahren!«

»Oh.« Fritz setzte den Blinker. »Ich muss besser hingucken. Wir reden später weiter.«
 

Über Wuppertal hingen die Wolken ganz besonders tief. Es war fast drei Uhr am Nachmittag, als die drei Autos in der Innenstadt auf einem kostenpflichtigen Parkplatz hielten. Fritz war auch jetzt einfach dem Ford Cabrio gefolgt.

Falk stieg aus; ihn störte der Regen offenbar nicht, denn er unternahm nichts, um sich davor zu schützen. Als Fritz das Fenster herunterkurbelte, um mit ihm zu reden, pfiff ein schneidender Wind herein.

»Also, Extremo-Team, Planänderung: Elsi hat sich grad gemeldet, wir sollen noch nicht zum provisorischen HQ in Elberfeld, sondern zur Polizeizentrale. Die ist in der Friedrich-Engels-Allee. Ach, fahrt mir einfach weiter nach, ja?«

»Was haben die denn für uns?«, wollte Micha wissen.

»Eine frische Leiche«, antwortete Falk, der schon wieder zum Auto ging. »Also nichts wie hin.«
 

Auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums parkten nur Streifenwagen, doch die drei zivilen Fahrzeuge wurden trotzdem von einem Polizisten heraufgewinkt. Der Mann trug der Kühle zum Trotz seine kurze Uniform und schien nicht zu frieren.

»Guten Tag, die Herren. Bitte gleich mir folgen.« Er winkte kurz in die Runde und ging voraus.

Die MIU folgte. Fritz versuchte, sich in Lasterbalks Windschatten zu halten, dessen flatternder Mantel ihn gut abschirmte. Ich hätte mich wärmer anziehen sollen. War ja klar.

»Wieso haben Sie hier eine Leiche?«, erkundigte sich Falk eher beiläufig, als sie das Gebäude betraten. »Ich dachte, hier gäb’s keine Forensik.«

»Stimmt, aber wir haben die Leiche noch nicht überführt, weil wir wussten, dass Sie ja quasi am Anrücken sind. Sie brauchen ja keinen Vorbefund, hab ich gehört. Wer von Ihnen ist denn der Arzt?«

»Ich«, sagte Bock, der die Fahrt mit Simon und Ingo gut überstanden zu haben schien.

Der Polizist bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, den er jedoch sofort zu verbergen suchte. »Gut, na dann … Bitteschön.«

In einem kleinen Nebenraum lag der Leichnam auf einem notdürftig mit Handtüchern bedeckten Tisch. Es war ein junges Mädchen, etwa siebzehn. Fritz’ Meinung nach sah sie gar nicht unbedingt tot aus. Ihre Kleidung war der, die Kitty gerne trug, ganz ähnlich; vielleicht ein wenig mehr Nieten, außerdem ein Nasen- und ein Lippenpiercing.

»Opfer Nummer vier ohne erkennbare Todesursache«, erläuterte eine soeben hinzugetretene Polizistin mit strengem Dutt. »Noch nicht obduziert, aber wir vermuten, dass sie auch zu dieser … Serie gehört.«

»Stöpsel in den Ohren?«, fragte Ingo.

»Ja.«

»Können wir das Gerät haben?«

»Das bekommen Sie, nachdem wir die Daten überspielt haben.«

Damit schien Ingo nicht ganz zufrieden zu sein, nickte aber einsichtig.

Vorsichtig trat Lasterbalk an den Tisch heran und berührte mit der Fingerspitze die Wange des Mädchens. »Die ist noch net ganz kalt«, stellte er fest.

»Nein, sie ist vor etwa zwei Stunden auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben, nachdem sie in einem Künstlerbedarfsladen zusammengebrochen ist. Eine Freundin hat den Notruf abgesetzt.«

Inzwischen hatte Bock seinen kleinen Koffer ausgeklappt, der, wie Fritz bemerkte, die nötigsten medizinischen Gerätschaften enthielt, die platzsparend genug verstaut werden konnten. »Würden Sie uns einen Moment allein lassen?«, fragte er die Beamten.

Diese tauschten einen Blick. »Wir haben von den Methoden der MIU gehört. Die X-Akten des BfV.« Der Mann hob die Hand an die Mütze, und beide gingen hinaus.

Fritz wandte sich ebenfalls zum Gehen und erwartete, dass die anderen außer Dr. Saltz ihm auch folgen würden, aber Falk erwischte ihn am Kragen und zog ihn sanft, aber bestimmt zurück. »Du bleibst hier, Fritz.«

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, holte Bock ein Gläschen aus dem Koffer. »Zwei Stunden, also … das klingt doch noch ziemlich frisch.«

»Ich beiß da bestimmt nicht rein«, erklärte Falk kategorisch.

»Das können wir uns auch nicht erlauben, weil die Leiche leider noch nicht obduziert ist.« Bocks Unterlippe verschwand zwischen seinen Zähnen. »Hmmm … Na, ich denke aber schon, dass ihr probieren solltet. Vielleicht finden wir ja was.« Er nahm eine Nadel zur Hand und punktierte damit die Vene auf dem linken Handrücken des Mädchens. Nur langsam quoll ein zäher, sehr dunkler Tropfen hervor, von dem Fritz sich mit weichen Knien abwenden musste. »Vampire können anhand des Blutes schneller Anomalien feststellen als Labore, Fritz«, sagte Bock an ihn gewandt. Wie immer, wenn er konzentriert arbeitete, wirkte er weder kokettierend noch aufgesetzt. »Aber sie können das Blut von Toten nur so lange trinken, bis die Verwesung fortschreitet. Danach zerfällt es, wird ungenießbar und sogar giftig für sie.« Inzwischen hatte sich das Gläschen etwa zur Hälfte mit Blut gefüllt. Bock drückte die kleine Wunde ab und reichte das Behältnis an Falk weiter. »Bitte, mein Lieber.«

»Immer ich. Na ja, wohl bekomm’s.« Falk kippte das Blut in einem Zug hinunter. Und verzog angewidert das Gesicht. »Ooooh, neeee! Ääärch!«

»Haltbarkeitsdatum wohl doch schon abgelaufen?«, witzelte Lasterbalk.

»Nein, das nicht … aber es schmeckt extrem nach Stress! Pfui, das ist wirklich non comestible

Micha erläuterte für Fritz: »Wenn der Mensch, den man beißt, Angst hat oder aufgeregt ist, gibt das eine … leicht herbe Note. Nicht unangenehm, eigentlich.«

»Aber so was Ekelhaftes hatte ich noch nie im Mund!«, beharrte Falk grimassierend. »So was … Überwürztes!«

»Tja.« Micha grinste Fritz schief an. »Stell dir vor, dir fällt der Salzstreuer in die Suppe.«

Fritz fand den Vergleich mehr als unappetitlich.

Brummend fuhr Falk fort: »Ich bin jedenfalls sicher: Herzversagen durch Stress.«

»Dann sind wir nicht viel weiter als vorher«, folgerte Doc Saltz sichtlich bekümmert. »Hab gehofft, wir könnten das Rätsel gleich lösen … Nicht nachweisbare Drogen, oder so.«

»Dann müssen wir wohl zurückverfolgen, was die Dame zuletzt gemacht hat. Ich meine, die Musik können wir zwar überprüfen, aber an der liegt’s sicherlich nicht. Wie auch? Da muss irgendeine Exposition vorgelegen haben. Musik, das sind ja nur … Schallwellen.«

Bock schien ihm nur teilweise zuzustimmen, jedenfalls ließ seine ernste Miene Zweifel erahnen. »Abwarten«, sagte er. »Ich denke, hier sind wir erst mal fertig. Lasst uns zum HQ fahren und uns einrichten, dann könnt ihr morgen früh die Spurensuche aufnehmen.«
 

Der provisorische Unterschlupf – für den ›HQ‹ eher ein Euphemismus war – befand sich unweit einer öffentlichen Badeanstalt namens Stadtbad, die allerdings gängig als Schwimmoper bezeichnet wurde. Fritz war froh, dass sie diesmal nicht in einem Keller hausten, dafür aber in einem leeren, recht baufälligen Haus, in dem es zwar die nötigsten Möbel, darüber hinaus aber nur weiße Wände und Linoleumboden gab. Außerdem war es ein großes Haus. Schon auf dem Weg aufs Klo verirrte er sich. Asp fand ihn und brachte ihn zurück in das, was als Seminarraum betitelt war: Tische und Stühle nahmen ein großes, hallenartiges Zimmer ein, an dessen Front ein Flipchart stand.

Die Übrigen hatten inzwischen Schlafräume und Kochnische in Augenschein genommen und sämtliche Schränke inspiziert.

»Also, eigentlich haben wir hier alles«, stellte Ingo, ausnahmsweise zufrieden, fest. »Müssen ja nicht das ganze Gebäude nutzen.«

Zuallererst beschlagnahmte Bock ein größeres Zimmer, das er als provisorische Praxis einrichtete. Genug Schränke hatte er dort nicht, weshalb er seine Utensilien einigermaßen sortiert auf vier ausladenden Sideboards verteilte.

Fritz vermutete, dass nichts weiter unternommen werden würde, als den Abend ausklingen zu lassen. »Wo bleibt eigentlich Buschfeldt?«, wollte er wissen.

»Der ist unterwegs, wird aber erst morgen hier sein«, übernahm Pfeiffer die Antwort. Längst hatte er seinen Laptop wieder angeschlossen und Kontakt zu dem Mann namens Elsi hergestellt. »Hat sehr, sehr schlechte Laune. Sein Anschlusszug ist ausgefallen, er hat zweieinhalb Stunden auf einen anderen gewartet.«

»Sänk ju for träwelling wis Deutsche Bahn!«, äffte Lasterbalk. »Zelte am Info-Point

Alle lachten. Witze auf Buschfeldts Kosten würden morgen ein Ende haben, also galt es, den Abend noch auszukosten.
 

Fritz hatte sich ein Zimmer ausgesucht und schlenderte gerade den Flur wieder hinunter, um nachzusehen, ob die Vampire weit genug von ihm entfernt nächtigen würden, als er eine Art Versammlung in Bocks Untersuchungszimmer bemerkte. Was besprachen die da ohne ihn?

»Hey«, sagte er möglichst laut, um seinen Unmut zu demonstrieren, »was gibt es denn so Wichtiges, dass ihr alle hier seid?«

»Du hast absolut nichts verpasst«, antwortete Hampf und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, in den Türrahmen. »Simon hat nur in den Flur gekotzt.«

Fritz schaute verblüfft; Lasterbalk lachte: »Eine schöne Einweihung, da wir kaum ’ne Stunde hier sind, haha!«

»Mein Gott, ich hab’s doch aufgewischt, also lasst mich«, beklagte sich Simon, der auf Bocks Liege saß und stur beiseite blickte.

»Erschreckend ist ja nicht, dass du uns in den Flur gespuckt hast«, erwiderte Bock murrig, »sondern was

Lasterbalk grinste immer noch. »Lass mich raten, was es diesmal war: Kekse, Cola, Erdnüsse? Lauter unverdaulicher Mist, wie immer?« Anders als der Arzt wirkte der große Mann gut amüsiert.

Simon protestierte schwach: »Aber ihr macht es doch auch!« Es war klar, dass er die anderen Vampire meinte. »Ihr esst den ganzen Tag Kuchen und trinkt Bier!«

»Den ganzen Tag? Stimmt doch gar nicht«, wehrte Micha die Behauptung ab.

»Und ihr kocht euch sogar Pasta mit Knoblauch!«

Falk und Lasterbalk tauschten einen vielsagenden Blick. »Schmittchen, wir sind viel älter als du.«

Asp unterstrich diese Aussage durch gewichtiges Nicken. »Du weißt, man kann dem Magen angewöhnen, auch Füllmaterial zu akzeptieren, mit dem er nichts anfangen kann … Aber das geht nun mal nicht so schnell.« Als er Simons leidvollen Blick sah, fügte er aufmunternd hinzu: »Hilfreich ist es, zwischendurch immer wieder Blut zu trinken. Wenn man als Mensch viel Alkohol trinken will, geht das ja auch besser, wenn man was Richtiges im Magen hat.«

Der junge Mann schnitt eine Grimasse. »Das versuch ich ja. Schon seit Wochen.«

»Man muss sich einfach Zeit geben. Hyperborea macht dir doch auch keine Probleme mehr. Einfach erst mal mehr Flüssigkeit, langsam von Wasser auf Tee umsteigen, dann mal Milch versuchen, später hier und da ein Stückchen Schokolade … ja, Schokolade macht erstaunlich wenig Probleme … und dazwischen immer ein paar Schluck Blut.«

»Ich bin eigentlich gar nicht dafür, dass ihr so viel Süßes esst«, sagte Bock verdrießlich. »Es gibt euch fast keine Energie, reine Ressourcenverschwendung. Haltet euch an Hyperborea, dafür haben wir das doch.«

»Nur weil wir Vampire sind, wollen wir eben nicht auf alle menschlichen Annehmlichkeiten verzichten. Du darfst ja auch Hyperborea trinken, wenn du magst«, bot Falk ihm halb scherzhaft an.

»Nee, danke, Schätzchen.« Saltz wandte sich an Simon. »Möchtest du beißen, oder …?«

Der Patient schüttelte den Kopf. »Nein, ich … mag das immer noch nicht.«

»Kommt noch«, sagte Micha zuversichtlich. »Bist ja noch klein.«

»Nur altmodische Vampire beißen gerne«, sagte Asp.

»Ich beiße auch gerne«, meinte Falk anmerken zu müssen.

Lasterbalk klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist ein altmodischer Vampir.«

Inzwischen holte Bock aus dem Sideboard, dessen Inneres sich für Fritz erst jetzt als ein großer Kühlschrank entpuppte, etwas heraus, das ihn aufgrund der roten Farbe zwang, beiseite zu sehen.

»Entspann dich, Fritz, das ist nur eine Blutkonserve. A positiv.« Er winkte grinsend mit dem Beutel.

Fritz hielt sich die Augen zu. »Das hab ich befürchtet.«

Ergeben streckte Simon die Hand nach dem Metallbecher aus, in den der Arzt die dunkelrote Flüssigkeit goss. »Gib es mir so, es muss nicht warm sein.« Immer noch vermied er es, den Blicken der Umstehenden zu begegnen. Er schaute in den Becher nippte fast schüchtern daran. »Tut mir Leid, Leute.«

»Du brauchst dich nicht zu schämen«, sagte Falk gutmütig. »Wir haben uns alle schon den Magen verdorben. Mehr als einmal. Das passiert so plötzlich, man schafft es nie bis zur Toilette.«

Als die Männer sich schließlich zerstreuten, wandte Fritz sich an Falk. »Wie lange ist Simon schon ein Vampir?«

»Weniger als zwei Monate. Er ist noch ein Baby, wie wir sagen, also ein ganz frischer.« Der andere seufzte. »Er hat noch nicht alles im Griff, macht sich aber ganz gut. Er hat eine harte Zeit hinter sich. Es war ziemlich verantwortungslos, ihn nach der Verwandlung einfach sich selbst zu überlassen. Eigentlich braucht er ihn noch.«

»Brauchen? Wen?«

»Na, seinen Erschaffer. Dessen Abkömmling er ist. Fritz, du brauchst noch ein paar mehr Vampirlektionen.«

Dessen war Fritz sich voll bewusst. »Aber nicht mehr heute.«

»Nein. Morgen, wenn wir den letzten Spuren der Opfer nachlaufen.« Falk wandte sich ab. »Gute Nacht.«
 

Als er im Bett lag, lauschte Fritz auf unheimliche Geräusche, doch es war nichts zu hören. Er hatte seine Zimmertür abgeschlossen. Sicher war sicher. Jedoch stellte er zuletzt beruhigt fest, dass auch die Vampire zu schlafen schienen, und tat es ihnen gleich.

Per- und kontrovers

Fritz wurde von Lärm geweckt, als es vor dem Fenster noch stockdunkel war. Das Stimmengewirr, das er hörte, klang nicht gerade nach einem Überfall – jedenfalls nicht durch Einbrecher. Irgendjemand anders war gekommen. Buschfeldt? Nein, sicher nicht, dafür jauchzten Falk und Lasterbalk viel zu laut. Außerdem war etwas zu hören, das nach Tapsen klang. Missmutig warf Fritz sich ein paar Klamotten über. Auch er musste erfahren, was da vor sich ging, sonst verpasste er nur wieder alles.

Als er seine Zimmertür öffnete, sprang ihm schwanzwedelnd ein kniehoher Hund entgegen und beschnupperte ihn rabiat. Fritz wich zurück und blinzelte das Tier aus müden Augen an. Es handelte sich unverwechselbar um eine Art Jagdhund: Ohren und Lefzen hingen schlaff, sein Fell war kurz, glatt und schwarzloh.

»Amboss, lass Fritz in Ruhe!«, hörte er Falk rufen, woraufhin der Hund sofort gehorchte. »Fritz, komm her, das Team hat Zuwachs!«

Fritz folgte Amboss – was für ein dummer Name! – in den Seminarraum, wo er außer den beiden Saltatio-Mortis-Musikanten zwei weitere Männer antraf, die gerade ihre nassen Jacken auszogen. Der erste – den Fritz auch auf dem MPS-Poster gesehen zu haben glaubte – wirkte jünger und auch eine Spur zierlicher als seine beiden Kollegen, was noch stärker ins Gewicht fiel, da der zweite Neuankömmling ziemlich kräftig und untersetzt war.

Lasterbalk machte eine übertriebene Geste. »Wir stellen vor: Das sind Elsi und KP. Mit vollen Namen El Silbador und Klaus-Peter Schievenhöfel.«

»Wir kennen uns ja schon indirekt, ne?«, sagte Elsi mit höflichem Lächeln und hängte seine Jacke über eine der Stuhllehnen.

Schievenhöfel war schneller damit fertig, ging zu Fritz und drückte seine Hand. »’n Tag, Wunderbaum! Ich bin Buschfeldts Assistent. Aber keine Angst, ich bin nicht wie er!« Er grinste breit. Seine Brille war so dick, dass die Augen dahinter ein wenig übergroß wirkten, aber er gab sich offen und freundschaftlich, was Fritz gut gefiel.

»Ihr habt Amboss nicht vorgestellt!«, beklagte sich Falk und bückte sich zu dem Hund, der wie verliebt um ihn herumwedelte. »Jaah, mein Großer! Hast du mich vermisst? Hast du? Hast du?« Der Hund ließ sich mit einem Wums auf den Rücken fallen. Seine Rute klopfte vor Freude laut auf den Linoleumboden.

»Vergiss es, der liebt nur die Katzenhaare an deinen Klamotten«, spöttelte El Silbador.

»Du bist ja nur neidisch. Fritz, Amboss ist ein wichtiger Teil des Teams«, erklärte Falk, während er das vergnügte Tier durchknetete. »Er ist ein Bluthund. Seine Spezialität sind Blutspuren, egal wie alt sie sind!«

»Wir hatten schon Angst, dass ihr Buschfeldt gleich mitbringen würdet«, wandte Lasterbalk sich an Elsi.

»Den? Oh Gott, na bloß nicht!«, sagte der nur.

Schievenhöfel hob seinen Jack-Wolfskin-Rucksack auf. »Aber wir haben was anderes mitgebracht! Ratet!«

»Nussplätzchen«, sagte Falk sofort.

»Ach Mann, kann man vor euch denn nichts geheim halten?«

»Vampir.«

»Ja, ja.«

»Fritz, KPs Frau ist eine der besten Bäckerinnen der Welt … und sie scheint Wert darauf zu legen, dass wir das immer wieder zur Kenntnis nehmen.« Lasterbalk hatte die Keksdose zuerst in der Hand und roch daran. »Ah, fantastisch! Die sind weg, bevor die anderen wach werden«, prophezeite er.

»Na, wehe!«, drohte Falk. Auch Amboss hob den Kopf.

»Wenn’s weiter nichts ist, gehe ich wieder schlafen«, murmelte Fritz und wandte sich zum Gehen.

Lasterbalk hielt ihn auf. »Nix da, wir haben heute viel zu tun! Geh lieber die anderen wecken. Wir machen auch Frühstück.«
 

Selbiges Frühstück nahmen sie alle gemeinsam im Seminarraum ein, nachdem sie die Tische aus der U-Form zu einer Art Tafelrunde, wie sie auch in Alfeld vorhanden war, zusammengeschoben hatten. Erstmals musste Fritz die Erfahrung machen, den Vampiren zuzusehen, wie sie aus Gläsern Hyperborea tranken. Zunächst fiel es ihm schwer, den Blick von der satt dunkelroten Flüssigkeit abzuwenden, aber nachdem er eine Weile beobachtet hatte, dass sie es tranken wie jedes andere Getränk – auf normale Weise, ohne Auswerfen der Zähne oder ähnliches –, verging sein Ekel langsam, und er konnte ein bisschen Brot mit Käse essen. Die Vampire aßen so gut wie nichts Richtiges, und wenn doch, dann nur sehr wenig. Besonders Simon hielt sich zurück. Er und El Silbador, der Schievenhöfels Kekse auch sehr zu mögen schien, führten angeregte Gespräche.

Außerdem wurde Azathioprin-50-mg in der Runde verteilt. Die Tabletten waren länglich und hatten eine Sollbruchstelle; jeder Vampir spülte eine davon mit einem Glas Leitungswasser hinunter.

»Man weiß ja nie, ob sie Sonne nicht doch mal wieder scheint«, sagte Asp stirnrunzelnd und kommentierte damit das anhaltende Prasseln an den Fensterscheiben.
 

Mürrisch nahm Fritz zur Kenntnis, dass es, als sie aufbruchsbereit waren, noch nicht einmal sieben Uhr war. Die Dunkelheit hatte sich nicht gelichtet. Er war nahezu alleine am Tisch sitzen geblieben, nachdenklich seinen schwarzen Tee nippend.

Wenn es doch nur schon heller wäre, dachte er sehnsüchtig. Einem Vampir möchte ich im Dunkeln erst recht nicht nahe sein …

Ingo Hampf, der hereinkam, um seine Tasse auszuspülen und wieder in den Schrank zu räumen, warf ihm einen düsteren Blick zu. »Schiebst du schon wieder Trübsal? Du kannst noch so sehr auf die Tränendrüse drücken, die Teamaufstellung bleibt, wie sie ist.«

»Mmmmmh«, machte Fritz.

»Hast du echt Angst vor Michael? Der kann ja nicht mal singen.«

In diesem Moment kam Asp dazu, und sein besorgter Blick ging zwischen beiden hin und her. »Lass ihn, Ingo.« Auch sein Ton klang mittlerweile angespannt. »Wenn du nichts Sinnvolles zu sagen hat, mach den Mund einfach gar nicht auf. Bitte.« Dann versuchte er wieder einmal, Fritz aufzuheitern: »Micha ist nicht der Besonnenste, aber er kriegt alles hin. Lauf einfach mit.«

»Trotzdem«, setzte Hampf hartnäckig hinzu, »solltest du zusehen, dass du ihm nicht im Weg bist. Wenn er es nämlich leid ist, auf dich aufzupassen, wird er dich im Stich lassen.«

»Unsinn«, widersprach Asp, »so was macht er nicht.«

Fritz fühlte sich unwohl. »Hätte ich nur gewusst, dass er ein Vampir ist …«

»Das braucht dich nicht zu beunruhigen. Du weißt, Kollegen anzufallen ist verboten.«

»Aber es scheint, dass der Kerl oft nicht das macht, was Buschfeldt will! Ganz ehrlich: Würde er mich beißen?«

»Nein. Hundertprozentig nicht.«

»Aber er hat mir damit gedroht!«

»Wahrscheinlich, um dir eins draufzugeben, weil du dich so aufführst.« Asp schmunzelte belustigt. »Aber Fritz, wenn du das wirklich befürchtest, dann freunde dich mit ihm an. Ein Vampir, der dich persönlich gut kennt, kann dich nicht beißen, wenn du es nicht erlaubst. Das nennt man Beißhemmung.«

Ingo erinnerte scheinheilig: »Die, werter Asp, greift aber nur, wenn er Fritz mag

»Ja, na gut«, räumte Asp ein, »das stimmt schon. Du musst ihm sympathisch sein.«

»Und wie soll ich das hinkriegen?«, fragte Fritz argwöhnisch.

»Oh, der Micha ist leicht zu beeindrucken«, behauptete Hampf. »Halt dich nur an eins: Sei keine Pfeife.« Glucksend ging er hinaus. »Sollte ja nicht allzu schwer sein!«

Asp rollte die Augen.

»Aber ich bin eine Pfei– …! Also, ich …«

»Hör auf, dich verrückt zu machen!«, befahl Asp streng und stand ebenfalls auf; selbst er schien jetzt von Fritz’ Gejammer genug zu haben. »Micha tut dir nichts, er ist wirklich nett, wenn man ihn kennt. Wäre er ein blutrünstiger Vampir, hätte man ihn längst gepfählt. Und jetzt Kopf hoch.«

Fritz trank seinen Tee aus und fügte sich in sein Schicksal.
 

El Silbador war offensichtlich kein Vampir. Er kam auch nicht mit, sondern blieb mit Yellow Pfeiffer im Versteck. »Wird hilfreich sein«, sagte er nur. Der Rest begab sie sich hinaus in die ungemütliche, nasskalte Finsternis.

»Also!«, übernahm Lasterbalk lautstark das Kommando, um den Regen auf dem Straßenpflaster zu übertönen. »Falk und ich untersuchen den Künstlerladen … hurra, Künstlerläden! Alex, du kommst alleine klar, guck dir das Wohnheim an, wo die erste Leiche war. Ingo, Schmittchen … Ihr wolltet ja unbedingt die Uni übernehmen. Jammert net, wenn ihr von Fans umgerannt werdet, Studenten sollen auch früh um acht schon recht munter sein. War ich damals net … Egal. Fritz, du läufst einfach Micha nach, ihr kriegt den tollsten Job: die Kneipe.«

»Kneipe?«, echote Fritz verwirrt. »Hat die denn schon offen?«

»Die hat noch offen … bis um acht! Ja, wir sind auch ganz platt. Nehmt die Schwebebahn Richtung Vohwinkel und steigt Hammerstein aus.«

»Oh, okay.«

»And now, dear friends, be off

Die Gruppe zerstreute sich in vier verschiedene Richtungen.
 

Die Schwebebahn jagte Fritz einen leichten Schrecken ein. Sie lief nicht auf Gleisen, sondern war an Trägern in ein Leitsystem eingehängt. Wann immer sie in den Bahnhöfen zum Halten kam, schwankte sie unter dem sich verschiebenden Gewicht aus- und einsteigender Leute.

Fritz sah aus dem Fenster auf das dunkel schimmernde Wasser der Wupper tief unter ihnen hinab und hoffte, es möge zumindest dämmern, ehe sie ihre Station erreichten.

Sein Wunsch erfüllte sich: Als sie Hammerstein erreichten, war der Himmel schon im Begriff, sich blaugrau zu färben.

Ein rothaariges Mädchen mit seinem Rucksack auf dem Schoß und einem In Extremo-Aufnäher auf der Jacke starrte Micha an, als traute sie ihren Augen nicht, und er lächelte sie breit an, bevor er Fritz vor sich zur Tür hinausschob.

»So, jetzt sind wir da. Gehen wir den Laden mal suchen. Wir müssen uns beeilen, wenn die um acht schließen.«

Fritz hatte sich ohnehin vorgenommen, sich in allem zurückzuhalten, und tat es auch. In sicherem Abstand ging er einfach nur hinterher.

»Wer ist denn hier eigentlich gestorben?«, rief er laut, um die Distanz zu überbrücken.

Micha, der sich gegen den kalten Wind hinter seinen Lammfellkragen geduckt hatte, missfiel es sichtlich, sich zu Fritz umdrehen zu müssen. »Irgend so ein Death-Metal-Fan. Kannst du mal ’n Stück näher kommen? Du darfst mir auch auffällig folgen.«

»Ich denk nicht dran«, antwortete Fritz. »Und was sollen wir die Kneipenleute fragen?«

»Du bist ’n Idiot. Ob ihnen an dem Typen was aufgefallen ist.«

»Nein, ich bin nur vorsichtig. Ist der auch einfach tot umgekippt?«

»Nee, du bist feige. Ja.«

»Du hast gesagt, du willst mich beißen. Wann war das?«

»Hab ich nicht gesagt. Vor drei Tagen, als da ein Metal-Stammtisch war.«

»Aber du hast es dir vorgenommen. Achso.«

Da Fritz den Abstand hielt, blieb Micha stehen. Fritz hielt ebenfalls an.

»Wenn du mit dem Scheiß nicht gleich aufhörst, beiß ich dich wirklich.«

»Versuch’s doch.«

Mit genervtem Stöhnen ging Micha weiter. Fritz beschleunigte seinen Schritt nur ein kleines bisschen, weil er leiser sprechen wollte. Sie durchquerten eine Straße mit Reihenhäusern.

»Bekommst du denn nie, äh, Appetit, wenn du … eine pochende Halsvene siehst …?«

»Venen pochen nicht, du Klugscheißer. Nur Arterien pochen, aber die sind meistens tiefer drinnen«, gab Micha lustlos zurück. »Vampire trinken aus Venen. Arterien stehen so unter Druck, da verschluckt man sich nur und das Opfer verreckt.«

»A-Aber es muss der Hals sein?«

»Ja. Ist einfach die beste Stelle. Ganz weiche Haut, die Zähne gehen rein wie in Butter … und sind genau so lang, dass sie die innere Halsvene anritzen. Passt wie ein Schlüssel ins Schloss. An anderen Körperstellen ist Beißen scheiße, man trifft nicht auf Blut oder reißt die Adern auf. Wenn man’s richtig machen will, beißt man in den Hals, genau mittig, kann gut trinken und macht nix kaputt. Ist bei Vampiren Instinkt.«

Fritz wünschte, er hätte nicht gefragt. »Micha … So, wie du darüber redest … Also, das ist echt eklig.«

»Findest du? Dann stell mir nicht solche Fragen. Ich rede gerne übers Essen.«

Mit Micha hatte er es sich auf jeden Fall verscherzt, keine Frage. Fritz verabschiedete sich schon mal von der Hoffnung, bei ihm eine Beißhemmung zu bewirken. Blieb nur das konsequente Abstandwahren. Das sah zwar komisch aus, war aber das sicherste.

Micha ging etwa fünf Minuten wortlos voraus, dann wandte er sich wieder um und sah aus, als könnte er es nicht fassen. Und das sagte er auch: »Ich kann’s nicht fassen, ey! Hast du echt Schiss vor mir? Ich mach doch nur Spaß, Mann! Kannst du dir vorstellen, wie abartig es ist, fremden Leuten am Hals rumzukauen? Denkst du etwa, da steh ich drauf? Das ist, als würdest du … dein Schnitzelschwein noch lebend in Stücke reißen!«

»Was soll denn das für ein Vergleich sein?«

»Du magst es doch auch lieber, wenn du es schon tot, zerteilt und sauber auf den Teller kriegst. Ich esse kein Fleisch, weißt du, aber ich muss nun mal Blut trinken. Und das mag ich auch lieber aus ’nem Glas, an dem man sich keine Krankheiten holt.« Er schnaubte. Dann, etwas leiser, fügte er hinzu: »Natürlich … gibt es immer wieder Momente, in denen man Blut gern mal pur und körperwarm genießen möchte. Vor allem, wenn man großen Hunger hat. Dann ist der Gedanke ans rohe Zubeißen echt … verlockend.«

»Ha!«, rief Fritz.

»Aber mal ohne Scheiß, an einem Vampirbiss ist noch nie jemand gestorben!«

Fritz hielt den Abstand mit aller Konsequenz. »Das Gespräch können wir hier im Prinzip beenden, da wir nicht auf einen grünen Zweig kommen werden!«

»Ja, scheint mir auch so!«

Sie grummelten beide. Auf der anderen Straßenseite hielt eine alte Dame mit ihrem Dackel an, um die streitenden Männer verächtlich anzusehen.

Irgendwann murrte Micha: »Da hinten ist es. Überlass mir alles und mach einfach nix, klar?«

Fritz schwieg beleidigt.

Sie betraten den Schuppen namens Bretterbude, der tatsächlich noch geöffnet hatte. Hinter der Theke, die mit Efeuranken aus Kunststoff verkleidet war, lehnte eine ziemlich müde aussehende Frau mittleren Alters und glotzte vor sich hin; die Kneipe war fast leer bis auf zwei ausdauernde Trinker, die sich eine Flasche Tequila teilten.

Fritz bedachte den Lautsprecher in der Zimmerecke mit einem hässlichen Blick. »Was ist das für ein fürchterlicher Lärm?«

»Slayer.« Micha trat an die Theke und lehnte sich mit beiden Unterarmen darauf, sodass die Bardame aus ihrem Halbschlaf erwachte und mit einem benommenen »Mmmmmh?« Kontakt zu ihm aufnahm. Verwundert war sie nicht; Micha sah ganz und gar nicht aus wie jemand, der hier nicht hingehörte. Fritz allerdings fühlte sich reichlich deplatziert.

»Wunderschönen guten Morgen, wir möchten ein paar Fragen stellen«, sagte Micha höflich und hielt der Frau – charismatisch lächelnd – seinen Ausweis hin.

Sie starrte ihn kurz an, murmelte dann ein weiteres »Mmmmmh« und wandte sich ab, um im Hinterzimmer zu verschwinden.

Kurz darauf erschien an ihrer Stelle ein Mann in der Tür, der einen etwas abgewetzten Anzug ohne Krawatte trug und nur mit einer Kopfbewegung dazu aufforderte, ihm zu folgen. Also traten Fritz und Micha hinter die Theke und in ein kleines … Büro war das falsche Wort, fand Fritz, doch das chaotische Zimmer diente wohl der Buchhaltung.

Mit einer knappen Geste bot der Inhaber den beiden je einen Stuhl an. »Nehmen Sie doch Platz.« Er griff unter den Schreibtisch und förderte eine Flasche Doppelkorn zutage. »Kann ich Ihnen ein Glas anbieten?«

»Natürlich nicht!«, rief Fritz sofort. »Wir sind im – !«

»Na klar, immer!«, fiel Micha ihm treffsicher ins Wort, ließ sich ein Glas einschenken, das ihm kommentarlos gegeben wurde, und trank es sofort aus.

Ihr Gastgeber stellte die offene Flasche auf den Tisch, ohne sie wieder zuzuschrauben, und leerte sein Glas genauso schnell, so als wollte er nicht langsamer sein als sein Gast; Fritz fiel auf, dass Micha das scharf beobachtete. »Also, was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

»Hier ist vor drei Tagen jemand gestorben. Können Sie uns irgendwas darüber sagen?«

»Nicht mehr, als ich der Polizei schon gesagt habe. Nichts Besonderes, der Kerl fiel um und war tot. Vielleicht hatte er einen on the rocks zu viel … Bei Leuten, die das Trinken nicht gewohnt sind, kann das vorkommen.« Es fiel auf, dass der Mann beim Sprechen zur Seite blickte; es sollte so wirken, als konzentriere er sich auf seine Erinnerungen, doch dafür antwortete er zu flüssig. »Noch einen?«, fragte er dann, wie um die Stille zu überbrücken, und befüllte sein Glas neu.

Micha reichte ihm auch seins. »Welche Art von Kunden kommen denn hier so rein?«, fragte er ganz zwanglos und kippte sich auch den zweiten Nordhäuser in die Kehle.

»Warum fragen Sie das?« Ihr Gastgeber holte auf und stellte sein Glas etwas zu laut wieder auf den Tisch.

Fritz stellte sich dieselbe Frage; ihm gefiel die Situation überhaupt nicht, aber er hielt tapfer den Mund.

»Weil Sie da was am Hals haben, das nicht so aussieht, als hätte Ihre Frau das gemacht.« Munter hielt Micha wieder das Glas hin.

Fritz erstarrte. Jetzt sah er es auch: Am Hals des Mannes waren zwei sehr kleine, gut heilende Wunden zu erkennen, die er selbst völlig übersehen hatte. Ihm wurde ganz kalt.

Derweil vernichteten Micha und der Wirt die nächsten zwei Zentiliter.

»Es ist … zu früh am Morgen für solche Gespräche«, wich ihr Gegenüber aus. »Die Nacht war lang, wissen Sie …« Allmählich tat der Alkohol seine Wirkung.

Allerdings nicht bei Micha. »Lassen Sie freiwillig an sich nuckeln oder fragt man Sie gar nicht um Erlaubnis?«, bohrte er nach.

Der Wirt, offensichtlich nicht willens, sich unter den Tisch trinken zu lassen, füllte hartnäckig die Gläser neu und verschüttete annähernd dieselbe Menge auf die Schreibfläche. »Das ist … meine Sache … wissn Ssie.«

»Okay, wie viele Vampire fragen Sie denn nicht nach Ihrer Meinung?« Micha trank das vierte Glas und leckte sich genüsslich die Lippen. »Na?«

»Das ssssind … viele, ich … iich frag doch nich’ jedn, woa herkommdddd.« Mühsam versuchte der Mann, sein Glas wieder vollzugießen. Es klappte nur zum Teil, doch das reichte ihm, und mit garstiger Miene leerte er es. »Chweiß nur … dass die kein Deutsssss sch-brechen. Sondern eine Sch-brache, die klinnnnnt wie … wie … wienkotzender … Dachs.«

Michas Augen verengten sich. »Is Gaeilge í an teanga seo«, sagte er auf einer Sprache, die Fritz noch nie gehört hatte. »Nach í

Der Barbesitzer nickte heftig. »Jaaah! Jaaah! Gnauso rehn die!« Er versuchte, auch Micha das Glas wieder zu füllen, doch der zog es mit einer so raschen Bewegung weg, dass der Schnaps sich ins Leere ergoss.

»Danke, wir sind hier fertig. Komm, Fritz.« Micha stand auf und berührte Fritz’ Schulter; er war überhaupt nicht betrunken, kein Stück, obwohl er nach dem Konsum dieser Menge Schnaps ziemlich danach roch. »Lass uns abhauen. Die wirklich interessanten Kunden kommen eh erst nach Sonnenuntergang vorbei.«

Als sie wieder draußen waren, konnte Fritz nicht anders, als bewundernd anzumerken: »Das war besser als Popcorn-Kino!«

»Tja. Sein Plan mit dem Alkohol war, denke ich mal, uns auszuhorchen und rauszukriegen, für wen wir arbeiten. Hat nicht geklappt. Wenn du erst mal so viele Leute befragt hast wie ich, Fritz, dann erkennst du irgendwann auf den ersten Blick, wer Eier hat und wer nicht.« Micha schob die Hände wieder in die Taschen. »Aber was wir gehört haben, ist mies. Wir müssen das den anderen sagen. Also nichts wie auf zum HQ.«
 

»Das hat’s voll gebracht.«

»Ich weiß, hätten wir uns schenken können.« Falk schüttelte sich den Regen aus der Jacke. »Aber den Punkt mussten wir nun mal abhaken.«

Sie schlenderten dem erwachenden Morgenlicht entgegen, froh darüber, dass der Regen geendet hatte. Am Horizont ließ ein leuchtendes Rot darauf schließen, dass das schlechte Wetter vorüber war.

Der Besuch im Künstlergeschäft hatte nichts ergeben; die italienischstämmige Besitzerin konnte nur schildern, wie das Mädchen an der Seite einer Freundin durch die Regale geschlendert und schließlich krampfend zusammengesackt war. Fünf Minuten später, so hatte es der Notarzt attestiert, war auch schon der Tod eingetreten. Mit bleichem Gesicht hatte die Zeugin auch nicht ausgespart, wie die Freundin des Opfers panisch durch den Laden gerannt war, die umstehenden Gaffer angeschrien und eine Handvoll teurer Weichminen-Buntstifte in die untätige Menge geworfen hatte.

Falk, der solcherart Geschichten natürlich aus langjähriger Berufserfahrung kannte, hatte nach Kräften versucht, Anteil zu nehmen, während Lasterbalk routiniert die Befragung führte – bis sie beide leider von dem schier endlosen Sortiment kuschelig aussehender Quastenpinsel abgelenkt worden waren, was die seriöse Wirkung wohl zerstört hatte.

Im Anschluss an diesen Besuch hatte eine Befragung der Freundin angestanden, die sich unmittelbar nach dem Ereignis einer polizeilichen Vernehmung verwehrt hatte. Zunächst war sie auch nicht in der Stimmung gewesen, diesbezüglich jemanden zu empfangen – sie war allein im Haus ihrer Dreier-Wohngemeinschaft, da sie von den Vorlesungen beurlaubt war –, doch wie es der Zufall wollte, hatte sie Falk und Lasterbalk erkannt, und Verwirrung machte Leute oft kooperativ. Sie hatte für sie einen Tee aufgesetzt und zögernd, jedoch nach Kräften Fragen beantwortet. Nichts von dem, was sie sagte, war neu. Vor dem Zusammenbruch habe sich das Opfer völlig unauffällig verhalten. Der MP3-Player befinde sich noch im Polizeipräsidium.

Zuletzt hatte sie sich behutsam erkundigt, ob sie über die Tatsache, dass zwei Mitglieder von Saltatio Mortis sie polizeilich befragt hatten, Stillschweigen bewahren musste.

»Das kannst du ruhig erzählen«, hatte Lasterbalk gesagt. »Das glaubt dir sowieso niemand. In Interviews werden wir das dementieren.«

Ein paar wärmere Worte waren Falk dann auch noch eingefallen, bevor sie das bemitleidenswerte Mädchen wieder verließen.

»Und jetzt?«, fragte Falk, die Hände in den Taschen.

»Jetzt fahren wir zur Polizeistation und holen uns diesen blöden Player. Ich will wissen, was da drauf ist, auch wenn’s uns wahrscheinlich kein Stück weiterhilft.«

Falk nickte zustimmend; dann grinste er plötzlich. »Stell dir vor, da ist nur unsere Musik drauf …«

»In dem Fall sollten wir schnellstens unser musikalisches Konzept überdenken.«
 

In der Kriminalhauptstelle wurde ihnen tatsächlich das Gerät ausgehändigt. Es war ein sehr altes Modell von Sony in Metallic-Blau mit nur 256 Megabyte Speicherplatz. Später, wenn wieder alle im HQ eingetroffen wären, könnten Elsi und Pfeiffer den Inhalt am Laptop untersuchen.

Als sie wieder im Stadtteil Elberfeld ankamen, war es schon fast elf Uhr. Die Sonne schien munter und trocknete die Pfützen. Da Wuppertal in einem Talkessel lag, strömte das Wasser in ganzen Bächen durch die Straßen, was die beiden Männer nicht ohne Staunen zur Kenntnis nahmen.

An der letzten Ecke, die sie von ihrem Unterschlupf trennte, gesellte sich beinahe lautlos eine dunkle Gestalt zu ihnen und passte sich ihrem Schritt an.

»Ah, Alex«, begrüßte ihn Lasterbalk. »Lass mich raten, du hast auch nix entdeckt.«

Als Asp nicht gleich antwortete, drehten sich beide nach ihm um und ließen ihn in ihre Mitte.

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Asp leise, jedoch mit einer Spannung in der Stimme, welche die anderen Männer alarmierte. »Der ganze Bezirk riecht nach Blut. Da müssen unartige Vampire sein, und zwar eine Menge. Überall sind Spuren.«

»Ah je«, seufzte Falk. »Hast du Bisse gesehen?«

»Sagen wir, auch innerhalb des Wohnheims waren verdächtig viele mit dicken Schals unterwegs. Bestimmt schämen sich alle für diese komischen Wunden, die sie vor dem letzten Vollrausch noch nicht hatten.« Er sagte es so ruhig, als hätte man ihn nach der nächsten Bushaltestelle gefragt. »Ich tippe auf Discos, gut versteckte Clubs oder –«

»Kneipen«, sagte Lasterbalk.

»Ich möchte nicht gleich darauf schließen, dass Micha und Fritz was gefunden haben, nur weil da jemand gestorben ist.«

»Ah, aber viele Kneipenbesitzer kennen sich untereinander. Warten wir’s ab.«

Sie zogen sich unauffällig in das leerstehende Haus zurück, nur um festzustellen, dass die anderen beiden Teams schon lange wieder da waren.

Amboss kam ihnen wedelnd entgegen, aber Falk begrüßte ihn eher beiläufig. »Habt ihr’s schon gehört?«, rief er in den Flur hinein. »In der Stadt sind impertinente Schwarzblütige.«

»Wissen wir längst!«, antwortete Simon und kam ihnen ein Stück entgegen. »Schön, dass ihr auch mal kommt!« Er winkte ihnen ungeduldig, ihm zu folgen.

Im Seminarraum hatten sich alle anderen schon auf die vielen Stühle verteilt. Das Flipchart erhielt endlich eine Funktion: Micha, neben dem mit bleichem Gesicht auch Fritz stand, hatte soeben die vagen Umrisse der Stadt Wuppertal mit einer Fettkreide skizziert.

»Also, Fritz und ich waren hier«, erläuterte er und zeichnete Hammerstein im Westen der Stadt ein. »Und obwohl unsere Leiche damit überhaupt nichts zu tun hat, scheint es der Treffpunkt für die Wuppertaler Vampire zu sein. Was komisch ist, weil im Vampirregister überhaupt kein Vampir mit dem Wohnort Wuppertal drin ist. Entweder heißt das, dass die alle nicht registriert sind … oder dass es keine deutschen Vampire sind.«

Das anschließende Schweigen war beinahe feierlich. Falk traute sich kaum, sich hinter dem Ohr zu kratzen. »Also«, sagte er vorsichtig, »wäre es möglich, dass wir es wieder mal mit einer ausländischen Vampirbande zu tun haben … mit einer neuen.«

»Oder mit einer, die wir schon kennen!«, knurrte Micha. »Ich bin nämlich fast sicher, dass das unsere alten Freunde von Fiacail Fhola sind.«

»Was?«, spie Ingo Hampf zähnebleckend. »Fiacail Fhola? Mit denen waren wir fertig! Die haben wir so platt gemacht, dass die in zweihundert Jahren ihre Hauer nicht mehr dreidimensional kriegen!«

Micha quittierte diesen Einwand mit einem energischen Kopfschütteln. »Es gibt außer denen keine Vampire, die Gälisch sprechen!«, beharrte er.

»Wie, du hast die reden gehört?«

»Nee, aber eins von ihren Trinkpäckchen hat sie gehört.«

»Und du glaubst, jeder Idiot kann Irisch von Russisch unterscheiden, ja?«

»Hört auf!«, fuhr Asp sie beide an. »Wir haben Wichtigeres zu tun!« Da Micha und Ingo schwiegen, fuhr er ruhiger fort: »Wir finden schon noch raus, wo die Vampire herkommen. Sobald wir ein lebendes Opfer finden, finden wir auch das Versteck. Aber erst mal …« Sein Blick richtete sich auf Fritz, dessen Nackenhaare jäh Männchen machten. »… müssen wir unserem Neuling noch beibringen, wie man mit bösen Vampiren umgeht.«

Alles halb so wild

»Der und ein Crashkurs im Töten von Vampiren? Ihr habt sie echt nicht alle.« Ingo tippte sich an die Stirn. »Glaubt ihr echt, Fritz geht mit ’ner Kanone auf die Bestie los? Der nimmt die Beine in die Hand und rennt!«

Fritz senkte den Blick; er wusste, dass auch Micha ihn kritisch betrachtete und diesmal mit Hampf annähernd einer Meinung war.

»Fritz braucht bestimmt nur ein krasses Abhärtungstraining«, ließ Simon zuversichtlich verlauten. »Wenn er weniger Angst hat, wird das schon.«

Wohl kaum, dachte Fritz traurig. Ihr werdet schon noch sehen. Ihr macht euch keine Vorstellung, wie feige ich wirklich bin …

»Also, Fritz«, begann Falk und bemühte einmal mehr das Flipchart, indem er die von Micha bekritzelte Seite umklappte und die Fettkreide zur Hand nahm. »Was wir dir jetzt beibringen, setzt Vertrauen voraus, weil du mit diesem Wissen auch uns schaden kannst. Ist das verstanden? Du darfst keine der Waffen, die wir dir geben, jemals gegen einen deiner Kollegen einsetzen!«

»Okay«, würgte Fritz hervor. Schnell zog er einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Vor seinem geistigen Auge sah er schon wieder Blut spritzen.

»Na gut. Was kennst du für Mittel, um Vampire zu töten?«

»S-Sonnenlicht?«

»Falsch.«

Fritz fiel wieder ein, was Micha ihm über ultraviolettes Licht erzählt hatte. »Ach nein, nein, es macht euch nur … sehr krank und …«

»Na gut, na gut«, nahm Lasterbalk diesen Faden auf, während Falk auf dem Papier mitschrieb, »reden wir zuerst über nicht tödliche Waffen. Also, Sonnenlicht. Wir von der MIU haben Azathioprin, aber außer uns – denn erst Bock hat das für uns rausgefunden – weiß keiner, dass Immunsuppressiva und speziell Azathioprin, das mit Sonnenlicht wechselwirkt, ein Schutz sind. Alle anderen Vampire sind also gezwungen, sich an die Nacht, die Dämmerung oder sehr bewölkte Tage zu halten. Gut. Außerdem für Vampire ganz, ganz schrecklich ist Natron … also Natriumhydrogencarbonat.«

»Ich hoffe, Fritz hat in Chemie nicht so gepennt wie ich«, lachte Simon.

»Natron ist zum Beispiel in Backpulver. Es verätzt die Haut von Vampiren, aber net die Schleimhäute. Also im Mund passiert nix, im Auge wird man vorübergehend geblendet. So, jetzt die fiesen Sachen. Wichtig zu wissen: Vampire sterben nicht von alleine. Sie sterben auch net durch unbedingt Wunden, denn die heilen innerhalb von Stunden oder Tagen, je nach Schwere der Verletzung. Blutverluste kann ein Vampir gut kompensieren, auch schwerwiegende, wenn die Blutung rechtzeitig gestillt wird. Will man einen sicher töten, muss man das Herz durchbohren, also so weit zerstören, dass es einfach net mehr schlagen kann.«

»Aha«, murmelte Fritz.

»Was auch funktioniert: Enthaupten. Die Trennung des Hirns vom Rest des Nervensystems ist mit dem Leben natürlich net zu vereinbaren. Außerdem wirkt noch Verbrennen … aber es ist schwierig, sicherzustellen, dass ein Vampir vollständig verbrennt, deshalb … naja. Wir halten uns an sichere Tötungsmethoden.«

»Und es macht euch dabei nichts aus, dass ihr … euresgleichen …« Fritz wusste nicht, wie er dieses ethische Problem in Worte kleiden sollte.

»Das war schon immer Gegenstand vieler Diskussionen«, übernahm Asp die Antwort, »und es ist schwierig, die Grenze zwischen bösen und guten Vampiren festzulegen. Oft ist es nicht so einfach wie mit Grün und Rot.«

»In der Regel haben wir keine Zeit, uns über so was den Kopf zu zerbrechen«, sagte Lasterbalk schlicht. »Also lassen wir es. Hm, hab ich eine Tötungsart vergessen? Ach ja, Aushungern.«

»Ah … also einfach kein Blut geben«, folgerte Fritz. »Wie lange dauert das?«

Den Vampiren schien schon der Gedanke daran zuwider zu sein. »In der Regel fünf Tage.« Falk kreuzte die Arme vor der Brust und sah zu Boden. »Am zweiten Tag geht es noch, nur sehr unangenehmes Hungergefühl. Am dritten fangen die Krämpfe an, der Bauch tut weh und irgendwann alles. Am vierten kommt dann eine Phase, in der man … wahnsinnig vor Hunger wird. Der Körper rafft noch mal alle Kräfte zusammen, um irgendwie an Blut ranzukommen. In dieser Phase fällt sogar die Beißhemmung aus. Wenn das wieder abklingt, ist man erst mal geistig wieder da, aber völlig erledigt … und stirbt schließlich langsam an Erschöpfung, bis alle Energie verbraucht ist und das Herz einfach stehenbleibt. Ich will mir das nicht ausmalen. Es soll grässlich sein.«

»Wir töten niemals durch Aushungern, musst du wissen«, ergänzte Dr. Saltz, »eben weil es so grausam ist. Es geht uns darum, Vampire schnell und effektiv zu beseitigen, nicht zu quälen.«

Diese Bemerkung weckte in Fritz eine Erinnerung. »Der Vampirtöter!«, quietschte er, als ihm wieder einfiel, dass die MIU ja noch eine ganz besondere Waffe in petto hatte. »Können wir ihn holen? Sollten wir das nicht machen?«

Ein Stöhnen schwappte durch den Raum.

»Ach, Fritz, das wäre wirklich übertrieben«, seufzte Falk. »Wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.«

»Tja, vielleicht solltet ihr aufhören, ihn anzulügen. Dann müsstet ihr euch nicht so anstrengen, eure Identität geheim zu halten.« Fritz funkelte ihn erhobenen Hauptes an, genau wissend, dass er Recht hatte. »Oder ist es euch egal? Ist dieser … Elias? … für euch nichts weiter als eine Waffe?«

»Alea ist sein Code. Aber sonst hast du Recht«, bestätigte Falk, »so ist es. Alea ist ein mächtiges Zerstörungswerkzeug, deshalb müssen wir ihn vorsichtig anfassen. Verstehst du? Bei jeder Waffe muss man dafür sorgen, dass sie ständig fehlerlos einsetzbar ist. Und ein Vexecutor ist nun mal das Wertvollste, was man als Anti-Vampir-Organisation haben kann.«

Lasterbalk kam ihm, erstmals um Worte bemüht, zur Hilfe: »Wir mögen es net, ihn zu belügen, aber es geht net anders!« Er holte tief Luft. »Es ist net schön, aber unbedingt nötig.«

»Also habt ihr Angst, dass er euch tötet, wenn er es weiß?«, bohrte Fritz.

»Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben Angst, dass er dann keinen mehr tötet. Hör zu: Alea muss ein Motiv haben, Vampire zu töten. Für ihn darf es nur böse Vampire geben. Blutrünstige, menschenverachtende Bestien … wie unsere Feinde. Wenn er rauskriegt, dass es auch nette, harmlose Vampire gibt, wird er sofort anfangen, seine Aufgabe als Vampirhenker moralisch zu hinterfragen. Das können wir einfach net zulassen. Alea ist ungemein wichtig für die MIU. Verstehst du das, Fritz?«

Unter seinem durchdringenden Blick hatte Fritz plötzlich das Bedürfnis, sich klein zu machen. Er war nicht einverstanden, war aber auch etwas verwirrt über diese Rechtfertigung. Jemand, dessen Beruf es war, Vampire allein durch Konzentration hinzuschlachten, würde ethische Bedenken haben? Das war schwer vorstellbar. »Na gut«, gab Fritz sich vorerst geschlagen. »Aber vielleicht seht ihr ja noch ein, dass wir ihn brauchen.«

»Erst mal räumen wir jetzt die ganzen Tische aus dem Weg«, entschied Hampf und machte eine Geste über das Zimmer hinweg, »und bringen dir bei, wie du dich verteidigen kannst.«
 

»Ich muss wohl dein Lehrer sein, weil du ja ausgerechnet mein Partner bist«, stöhnte Micha, »also bringen wir’s hinter uns. Hier.« Im Rund der beiseite geschobenen Tische stellte er sich Fritz gegenüber und hielt ihm eine kleine Lampe hin. »Mach die mal an.«

Fritz nahm das kleine Gerät in die Hand und entdeckte schließlich den Schalter. Ein dunkles, blauviolettes Licht sprang an, eine Strahlung, vor der Micha entsetzt zurücksprang.

»Hey, hey, nicht in meine Augen, du Idiot! Bah, zum Glück hab ich die Linsen drin! Wäre jetzt glatt für ’ne Woche blind geworden! Fuchtel damit nicht vor meinem Gesicht rum!«

Schnell lenkte Fritz den Lichtstrahl ab. »’Tschuldige.«

»Oh, Mann. Also, das ist ’ne UV-Lampe. Gibt nur UV-A bis UV-B ab, ist für Menschen also ungefährlich. Am besten gewöhnst du dir an, die Lampe immer griffbereit in der Tasche zu haben und gleich anzuschalten, wenn dich ein Vampir anspringt.«

»Kriege ich auch noch was, das wirklich … verletzt?«, fragte Fritz vorsichtig. Er wollte kein Vertrauen missbrauchen, doch eine Schwarzlicht-Funzel führte nicht unbedingt dazu, dass er sich sicherer fühlte.

»Wenn du versprichst, nicht aus Versehen auf mich zu schießen, kriegst du ’ne Natron-Kanone«, bot Micha an.

»Oh ja!«

Vom Rand trat El Silbador zu ihnen und sagte entschuldigend zu Fritz: »Eigentlich benutzen wir Glock-18C-Pistolen, wahlweise mit Brückenmontage, Reflexvisier und Tactical Light, aber im Moment haben wir leider nur das zu vergeben, was die ganz Verwegenen von uns bevorzugen.« Er hielt Fritz mit dem Griffstück voran einen Revolver hin.

Fritz staunte nicht schlecht. »Ist das eine … Peacemaker …?«

»Das gleiche Modell, aber für Menschen ungefährlich«, versicherte Elsi. »Das Geschoss ist ein weiches Reiskorn, das Schießpulver ist mit Natron versetzt. Wirkt gut.«

Fritz wog den Revolver in der Hand. »Mit so was hab ich noch nie geschossen.«

»Üben«, sagte Falk. »Eine Schießausbildung hast du ja, und man gewöhnt sich schnell dran.«

Fritz nickte unschlüssig.

»So, das reicht.« Diesmal war es Micha, der die Lektion für beendet erklärte. »Pflock und Hammer würde ich ihm echt nicht in die Hand drücken. Er kann sich jetzt verteidigen. Suchen wir das elende Versteck.«

»Hee, hee, warte!«, hielt Ingo Hampf dagegen. »Wir alle müssen auf den Scheißer aufpassen, und ich sage, der kriegt ’nen Pflock-und-Hammer-Knigge!«

»Nein, kriegt er nicht!«, knurrte Micha. »Ich wäre der erste, den er abmurkst, wenn er Schiss hat!«

»Ah? Und das sollen wir dir glauben, dass du dir einfach nur Sorgen machst?« Ingo versuchte, Micha nieder zu starren, doch der Vampir blinzelte nicht mal. »Rhein, du blöder Idiot, raffst du nicht, dass unser Neuer nur deshalb in Erwägung ziehen würde, dich zu killen, weil er ständig denkt, dass du ihn frisst? Und checkst du nicht«, wandte er sich giftig an Fritz, »dass dein neuer Freund Michael dich an der kurzen Strippe hält, damit er keine Beißhemmung bei dir kriegt und dein Blut saufen kann, wenn Hyperborea mal knapp wird? Ey, ihr seid doch alle bescheuert! Keiner vertraut dem anderen, das ist so sonnenklar, und sobald Vampire in der Nähe wären, würdet ihr euch zuerst gegenseitig fertig machen! Sogar ein Vollpfosten merkt, dass ihr euch nicht grün seid!«

Fritz war bestürzt von den Vorwürfen, aber Micha schien vor allem wütend zu sein, denn er funkelte Ingo an, als würde er jeden Moment explodieren.

Falk trat entschlossen in ihre Mitte. »Jetzt ist mal bitte Ruhe im Karton, verstanden? Ingo, komm wieder runter. Wir regeln das, hier und jetzt.« Er atmete tief durch. »Fritz? Versprich, dass du Micha nicht pfählst. Micha? Versprich, dass du Fritz nicht beißt.«

»Das ist totaler Schwachsinn, dass ich Fritz beißen will!«, spuckte Micha. »Wie kommt der überhaupt darauf!«

»Versprich es.« Falk klang geduldig, aber auch irgendwie müde.

»Pffff, von mir aus. Fällt mir nicht schwer, was zu versprechen, wenn ich’s nicht mal im Traum machen würde!« Missmutig hob Micha den Blick und sah Fritz ins Gesicht. »Haben wir das jetzt geklärt?«

»Ich pfähle bestimmt keinen von euch«, versicherte Fritz, wenn auch steif. Im Moment wusste er gar nicht, was er tun wollte und was nicht. Er hätte gerade jeden Vampir pfählen können und fragte sich, ob es – wenn so etwas wie eine Beißhemmung existierte – auch eine Pfähl-Hemmung gab.

Falk seufzte erleichtert. »Halleluja. Können wir uns jetzt vertragen? Ja? Ich bin dafür, dass wir unseren Locksängern bescheid sagen. Oh, und Micha … Wir brauchen unsere Armbrustschützen. Sind die informiert worden?«

»Alle wissen bescheid«, sagte Micha knapp. »Wenn sie sich losmachen können, kommen die schon her. Was ist mit euren Leuten? Außer Sonnenscheinchen natürlich.«

»Eher Wackelkandidaten, wie immer.«

»Wir haben unseren auch bescheid gesagt«, meldete sich Simon zu Wort, »schon bevor wir losgefahren sind.«

»Dann können wir ja hoffen, dass Eric und Silvio sich auch mal her bequemen. Die müssten doch in Treuenbrietzen langsam fertig sein, außerdem brauchen wir die Tabletten.«

Fritz fragte nicht nach. Inzwischen musste er bei jedem Teammitglied, das hinzu stieß, fürchten, dass neue Unruhe in die leise eingeschlichene Hierarchie Einzug hielt. El Silbador hatte keine Probleme gemacht, aber Micha zuvor umso mehr.
 

Während Hampf und Falk die Suche nach den bissigen Vampiren – die erst bei einbrechender Dunkelheit Erfolg versprechen würde – vorbereiteten, schlossen Pfeiffer und El Silbador den MP3-Player des verstorbenen Mädchens an den Laptop an und öffneten die PlayList.

»Oha«, sagte Lasterbalk, der sich von hinten über die Schultern der beiden beugte. »Da ist ja ein InEx-Track drauf.«

»Welcher denn?«, wollte Bock wissen, der am Tisch daneben saß und bereits eine neue Dosis Azathioprin für jeden abzählte, da die Sonne inzwischen hoch am Himmel stand. »Einer von den neuen?«

»Küss mich«, antwortete Lasterbalk.

»Ooooh, wie schön du das gesagt hast!«

»Ach, Bock, halt die Klappe und zähl die Pillen.«

Fritz beobachtete stumm, wie die beiden Techniker auf den Bildschirm starrten.

»Kennt einer hier die Band Snowine?«, fragte Pfeiffer in die Runde. »Weil von denen hier ein ganzes Album drauf ist.«

»Mach ’nen Song an«, schlug Simon vor.

Was zwei Klicks später zu hören war und in Fritz’ Ohren einem musikalischen Inferno glich, entlockte den professionellen Musikern, von denen er umgeben war, nicht mehr als müde Blicke.

»Schlechter Black Metal?«, sagte Simon versuchsweise. »Klingt schon ’n bisschen lahm.«

El Silbador beugte sich tiefer über den Bildschirm. »Hab’s grad gegoogelt … Das ist eine lokale Nachwuchsband. Alles Studenten.«

»Na gut, da kann ja nicht viel rauskommen.«

»Ansonsten sind da noch … Gorgoroth, Satyricon … und noch andere, die ich nicht kenne. Wir müssen wohl weiter Google bemühen.«

Während er und Pfeiffer die Dateien durchgingen und nach Informationen suchten, kam auch Falk wieder dazu. Seine gute Laune hatte er offensichtlich wiedergefunden: Er blieb hinter El Silbador stehen, der ihn nicht beachtete, und tat so, als würde er an seinem Hals schnuppern. Halb scherzhaft bat er: »Elsi, darf ich dich beißen?«

Der Angesprochene sah nicht mal auf. »Mach doch, wenn du kannst.«

»Eben nicht. Ich muss dich fragen, du musst es erlauben.«

»Ach ja. Wenn das so ist … Nö. Verhunger doch.«

»Herzloser Sterblicher.« Kopfschüttelnd wandte Falk sich ab und holte eine Flasche Hyperborea aus dem Schrank über dem Flipchart. »Wer trinkt alles einen mit?«

»Ihr solltet alle trinken, es ist Zeit für die Tabletten«, sagte Bock. Seine Rolle als medizinischer Wachposten gefiel ihm mindestens genauso gut wie die als Vampirexperte.

Also setzten sich die Vampire zusammen und schenkten sich den tiefroten Trank ein, dessen Anblick und Geruch sie mit Wohlbehagen zu erfüllen schien. Fritz, der bis eben am Tisch gesessen hatte, rückte ein wenig ab.

»Ist … ist das wirklich Menschenblut?«, fragte er zaghaft, obwohl er die Antwort kannte.

»Na klar«, sagte Micha, ihn unverwandt ansehend.

»Wie grausam!«

»Ach Quatsch. Das Rote Kreuz muss total viel Spenderblut aussortieren, weil es den hohen Qualitätsanforderungen nicht entspricht. Das Blut können wir haben, unseren Mägen sind Reaktionen auf so unspezifische Tests scheißegal.«

Sie stießen an und tranken gemeinsam, als handelte es sich wirklich nur um Wein, der auf einer Feier ausgeschenkt wurde.

Wieder musste Fritz beiseite sehen und war bemüht, sich abzulenken. »Wieso ein griechischer Name?«, fragte er hastig.

Falk stellte sein leeres Glas hin. »Kennst du nicht diesen ollen Schlager? Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde … und so weiter. Ich glaube, generell hat das Lied dazu angeregt, Blut als Wein zu tarnen. Bizarr, aber es hat sich als gute Idee erwiesen.«

Micha, der als Einziger noch nichts getrunken hatte, warf Fritz einen forschenden Blick zu, den dieser nicht erwiderte; dann griff der Blonde entschlossen nach der Flasche, füllte sein Glas nur einen Fingerbreit hoch und schob es zu Fritz’ Entsetzen zu ihm hinüber. »Wir müssen dich mal ein bisschen abhärten. Trink.«

»Was?« Fritz hielt sich bibbernd die Augen zu. »D-Da ist Blut drin!«

»Na und? Viele Naturvölker trinken Blut.«

»Aber das ist Blut von Menschen

»Das kommt alles von glücklichen Spendern, also hör auf zu flennen und trink.«

»Wenn man als Mensch Blut trinkt, muss man sich übergeben!«, bockte Fritz.

Ausgerechnet Dr. Saltz hielt dagegen: »Aber doch nicht nach ein paar Schlucken, Fritz. Du kannst es wirklich bedenkenlos trinken. Wir haben es alle schon probiert, aus Neugier, und es ist nicht schlimm.«

Fritz traute seinen Ohren nicht. »Ich weigere mich, Blut zu trinken! Ich bin doch nicht pervers!«

Micha schüttelte seufzend den Kopf, nahm das Glas und trank den kleinen Schluck, um zugleich die Pille einzuwerfen; dann sagte er in verächtlichem Ton: »Und du willst Vampire töten, ja? Du hast doch gar keine Eier.«

Die anderen sagten nichts dazu; Fritz fragte sich, ob sie ihm zustimmten oder einfach keine Lust hatten, mit ihm zu streiten.

»Sortierst du immer alles nach ›hat Eier‹ und ›hat keine Eier‹?«, schmollte er.

»Ja. War bisher immer ein sinnvolles Kriterium. Und du hast keine, Fritz, ’tschuldige, aber du hast nicht mal ’n halbes Ei.« Immer noch kopfschüttelnd stand Micha vom Tisch auf und ging.
 

Noch eine ganze Weile lang sah Fritz Pfeiffer und El Silbador dabei zu, wie sie, sich leise unterhaltend, die Musik auf dem MP3-Player untersuchten. Dann trat Micha hinter ihn und ließ Fritz’ Jacke auf dessen Stuhllehne fallen.

»Komm mit«, sagte er. Seine eigene Jacke hatte er bereits an. »Los, du Pfeife, wir machen ’nen Spaziergang.«

Fritz war nicht sicher, was er davon halten sollte. Einerseits beunruhigte es ihn, dass Micha nur einen sehr kleinen Schluck Hyperborea getrunken hatte, gerade genug, um die Tablette zu schlucken, und deshalb sicherlich alles andere als satt war; andererseits hatte er mehrfach versprochen, Fritz nichts zu tun. »O…kay … Aber wohin denn?«

»Wir laufen ein bisschen durch Elberfeld. Es dämmert bald, dann gehen wir auf Vampirjagd. Aber vorher können wir noch was klären. Also los, beweg dich.«

Pfeiffer und Elsi sahen nur kurz auf, als Fritz sich umständlich erhob; dann beugten sie sich, offenbar ohne jede Sorge um sein Wohl, wieder über die Geräte.
 

Schweigend folgten Micha und Fritz der leeren Straße bergab, wo die Bebauung dichter wurde. Die Luft war schon schneidend kühl für Oktober. Nachdem sie eine lange Zeit nichts gesagt hatten und Fritz immer noch nicht wusste, was Micha eigentlich wollte, versuchte er, die ihm unangenehme Stille mit einem belanglosen Gespräch zu füllen.

»Wann werden denn die … Locksänger hier sein?«, fragte er beiläufig. »Wie hießen die noch?«

»Faun. Oh, das kann dauern, die sind viel unterwegs. Wir werden ja sehen, ob wir sie überhaupt brauchen, oder ob wir alleine klar kommen.«

»Wenn ihr … also du und deine Band … auch als Locksänger angefangen habt … Wie ging das denn, wenn du selber schon ein Vampir warst?«

Micha hob die Schultern. »Ich bin alt, die meisten mittelalterlichen Sachen haben auf mich nicht mehr so viel Wirkung, aber auf die jungen Vampire schon. Naja, jetzt nicht mehr, weil so viele Bands das Zeug rauf und runter spielen. Auf dem letzten Album hatten wir gar kein Lockstück mehr drauf. Wirkt eh nicht. Und anderen Kram, hast Recht, kann ich nicht singen, sonst würde ich mich dauernd selber hypnotisieren.«

Fritz unterdrückte ein Schmunzeln; diese Vorstellung war irgendwie kurios. »Ist das schon mal passiert?«

»Na klar, ich bin ja nicht zu hundert Prozent gegen alles immun, was wir mal live spielen wollten. Da hilft nichts anderes, man muss sich das immer und immer wieder anhören. Bei manchen Stücken war’s aber so beschissen, dass wir die nie live spielen konnten.«

»Bringt es denn irgendwas, sich als Vampir selber in Trance zu singen?«

»Nee. Gar nix. Man steht blöd in der Gegend rum und kriegt nichts hin.«

Jetzt musste Fritz doch lachen. Hektisch versuchte er, sein Amüsement unter Kontrolle zu bringen. »Ahaha, ha, tut mir Leid, aber das ist so, ihihi …«

»Ach, lach doch, du Pfeife. Du wirst dich noch wundern, was Rattenfänger für ’ne Macht über Vampire haben.« Micha löste seinen durchdringenden Blick von Fritz, sah wieder geradeaus und fing leise an zu singen:

»Greif ich ein’ Akkord,

Geh’n sie mit mir fort.

Mit dem ganzen Pack

Verlasse ich die Stadt.

In der Nacht, in der Nacht,

In der Nacht, in der Nacht.

In der Nacht, in der Nacht,

In der Nacht, auf der Jagd …

Oh Mann, alter Song. Ewig nicht gesungen.«

In Fritz’ empfindlichen Ohren hatte das Lied in der Einsamkeit des schwindenden Tageslichts etwas Bedrohliches, und Michas harte, raue Stimme tat ihr Übriges. Er zog sich den Reißverschluss der Jacke höher. »Äh, ich glaube, ich verstehe schon …«

»Trotzdem wird’s dir nicht gefallen. Bezirzte Vampire verhalten sich oft – …« Micha unterbrach sich und blieb jäh wie angewurzelt stehen. »Fritz, hörst du das?« Er lauschte.

Fritz tat es ihm gleich. Bis auf den eher fernen Verkehrslärm war zunächst nichts zu hören; dann jedoch drangen auch an seine Ohren hektische Kampfgeräusche. Ganz in der Nähe stieß ein Mann einen hellen Schrei aus.

»Schnell, Fritz, komm.« Micha packte ihn am Arm und zog ihn mit, um die erste Ecke, durch eine Häuserschlucht, dann um eine zweite Biegung. Er schien genau zu wissen, wo der Lärm herkam.

Fritz hatte Mühe, nicht zu stolpern. Zwischen einem baufälligen Haus und einem Supermarkt namens Akzenta verlief eine schmale Straße, auf der sie anhielten; an der Rückseite des vernachlässigten Gebäudes bewegten sich Schatten.

»Keine Vampire«, raunte Micha, »aber dafür genau das, was wir brauchen.« Er nahm die Hände aus den Taschen und schlich sich ein paar Schritte an, während Fritz sich nicht von der Stelle rührte, was – zum Glück! – offenbar auch nicht von ihm erwartet wurde. Das Wimmern des jungen Mannes wurde nun wieder lauter. Mit einem kleinen Satz verschwand Micha im Schatten der Hausrückwand.

Dann, ehe Fritz richtig gucken konnte, flüchtete ein magerer, ärmlich aussehender Kerl mit einer Sporttasche im Arm in langen Sprüngen ins Licht der befahrenen Straße. »Danke!«, rief er schrill über die Schulter, während er so schnell wie möglich das Weite suchte, und drehte sich kein zweites Mal um.

»Lass mich los, du Wichser!«, fauchte ein anderer Mann, der eine schwarze Mütze und eine goldene Kette trug und den Micha nun an einem Arm ins Licht zerrte, voll überschäumendem Zorn. »Du kriegst gleich auf die Fresse, Alter! Lass loooos

Micha schleppte ihn nicht zur Straße, sondern blieb mit ihm hinter dem Haus, gerade genug im Licht, dass Fritz ihn und seinen Gefangenen sehen konnte. »Steh nicht rum, Fritz, komm her!«

Fritz war mehr als nur flau im Magen, als er sich in Bewegung setzte. In ihm machte sich ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl breit. »Was hast du vor, Micha?«, fragte er ängstlich. »Du – du wirst doch nicht …«

»Oh doch«, gab Micha schonungslos zurück, »jetzt gibt’s Abendbrot. Und du guckst gefälligst hin!«

Der Kleinganove in seinem Griff rollte wild die Augen und rotzte auf den Asphalt; er schlotterte am ganzen Leib, wie Fritz sehen konnte, denn er war es nicht gewohnt, jemandem körperlich unterlegen zu sein. »Lass mich los!«, schrie er, und seine Stimme brach hysterisch.

»Oh Gott, Micha, hättest du nicht Hyperborea trinken können?!«, kreischte Fritz und warf die Hände hoch. In ihm kämpfte der Drang, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen, siegessicher um die Vorherrschaft.

»Ich kann lange Zeit drauf verzichten, Leute zu beißen, aber ich will, dass du’s dir anguckst. Damit du siehst, dass ein Vampirbiss überhaupt nichts Schlimmes ist.«

»Vampir?«, wiederholte der Gefangene in Michas Griff und zappelte wie ein Fisch am Haken, jedoch ohne Erfolg.

»Nichts Schlimmes?!«, echote Fritz. »Du willst sein Blut trinken!«

»Mein Blut will der?!«

»Ja, aber du musst keins sehen, Fritz, weil ich keins verschütte!« Micha versuchte es immer noch über die Vernunftsschiene. Gab der sich denn nie geschlagen? »Guck, ich schmeiß den Typen hin …« Er packte den Mann im Nacken und trat ihm einfach die Beine weg, sodass dieser lang hinfiel, und beschwerte mit dem Ellenbogen seine Brust. »… wie wir Vampire das so machen …«

»Hör auf!«, kreischte Fritz.

»Jaah, genau!«, stimmte das Opfer im Sopran mit ein. »Hör auf deinen Freund!!«

Niemand beachtete ihn.

»Du willst ihn beißen wie ein Tier!«, fuhr Fritz hilflos fort. Auch er zitterte am ganzen Körper. »Ich muss kein Blut sehen, Micha, ich habe Fantasie!«

Micha, halb auf dem Mann liegend und ihn mühelos am Boden haltend, verdrehte die Augen. »Mann, du Nervensäge! Ich bin ein verdammter Vampir, ich muss Blut trinken, sonst krepiere ich!« Wütend darüber, nicht verstanden zu werden, funkelte er Fritz an. »Was bitte wäre dir denn recht? Wenn ich die ganze Zeit so tun würde, als wäre ich wie du? Ich kann sauberer beißen, als du ein Hähnchen zerteilen kannst! Vampire sauen wenigstens nicht rum beim Essen! Wir haben bessere Tischmanieren als ihr alle zusammen! Was willst du überhaupt?!«

»Werde ich mal gefragt, was ich will?«, quiekte das Opfer.

»Halt die Fresse!!«, schrien Fritz und Micha unisono, woraufhin der Mann still war und sich wimmernd zusammenrollte.

Fritz waren die Argumente ausgegangen; er fuhr fort, Micha anzustarren, mit aller Inbrunst, die man in einen Blick nur legen kann. Micha starrte zurück, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt.

Dann, nach einer schieren Ewigkeit, löste er den Blick, ließ seufzend den Mann los und stand auf. Wie ein Gepard schnellte seine Beute aus der Seitenlage hoch und sprintete quer über die Straße, bis sie zwischen zwei Reihenhäusern verschwand.

Fritz drückte sich unwillkürlich mit dem Rücken an die Hauswand. Es war naheliegend, dass Micha ersatzweise ihn anfallen würde, der ihn um seine Mahlzeit gebracht hatte.

Doch hier unterstellte er ihm zu Unrecht das scheinbar typische, unberechenbare Verhalten eines hungrigen Vampirs, denn Micha schob einfach nur resigniert die Hände wieder in die Taschen und murmelte im Vorbeigehen: »Lass uns mal zurückgehen. Es wird schon dunkel.«

Falsche Zähne

Wie ein schwarzes Tuch fiel die Dunkelheit über das bergische Städtchen in Nordrhein-Westfalen. Ein anhaltender Nieselregen setzte ein, was die Bewohner Wuppertals nicht anders erwartet hatten.

Im MIU-Unterschlupf waren nach einem ziemlich gehetzten Abendessen alle nötigen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen worden.

»Ich schlage vor, dass ihr zusammenbleibt«, ordnete Schievenhöfel behutsam an. Anders als Buschfeldt versuchte er nicht, die Männer zu dominieren. »Teams sind zu gefährlich, wir wissen nicht, wie viele es sind.«

»In Ordnung«, nickte Falk. »Hat jeder eine Lampe und eine Natron-Kanone?«

Fritz vergewisserte sich, dass er beides griffbereit hatte. In den letzten beiden Stunden hatte er intensiv trainiert, die UV-Lampe flink aus der Jackentasche zu befördern und sie gleichzeitig so in die Hand gleiten zu lassen, dass sein Daumen auf dem Schalter zu liegen kam. Obwohl alles in ihm dagegen protestierte, sich in die Nähe gefährlicher Vampire – Bestien, wie seine Kollegen sie zu nennen pflegten – zu begeben, wusste er doch, dass er im Kreise der MIU-Leute sicherer war als überall sonst. Seltsam; noch vor kurzem hatte er das völlig anders gesehen. Ein Teil von ihm sah es immer noch so … doch mit diesem diskutierte er jetzt nicht.

»Nehmt die Linsen raus«, verlangte Ingo Hampf und deutete überflüssigerweise auf seine Augen. »Damit ihr seht, wo wir hingehen. Fritz und ich können nur blind hinterher stolpern, wenn wir auf Licht verzichten sollen.« Es war das erste Mal, dass er Fritz beim Namen nannte.

»Ah, inzwischen vergisst man das schon ziemlich oft«, murmelte Lasterbalk.

Alle Vampire griffen sich in die Augen und zogen die farbigen Kontaktlinsen ab, um sie in kleine Schälchen mit Kochsalzlösung zu legen. Einmal mehr wurde Fritz bange, als er die vampirischen Iriden in ihren wahren Farben leuchten sah: Asp hatte strahlend weiße Augen, Falk und Lasterbalk gelbliche und Micha hellblaue, genau wie Simon, der heftig blinzelte, um die neue Sehschärfe zu adjustieren.

Er ist nicht mal zwei Monate alt, erinnerte sich Fritz. Auch für ihn wird das eine Feuerprobe.

Er schielte zu Micha, der mit seinen leuchtenden Augen so gespenstisch wirkte, dass er ihn kaum wiedererkannte. Natürlich fing Micha diesen Blick auf; er kräuselte die Lippen und warf seine Fangzähne aus, welche bedrohlich die gelbe Zimmerbeleuchtung zurückwarfen.

»Oh, Scheiße«, jammerte Fritz.

»Heul doch.« Micha ließ die Hauer wieder verschwinden und wandte sich als erster der Tür zu.

Asp, der den erneuten kurzen Konflikt nur mit einem Stirnrunzeln quittierte, folgte ihm dichtauf.
 

Als sie in den Regen traten, hielt gerade ein Taxi auf der ansonsten leeren Straße direkt vor dem okkupierten Gebäude. Prompt blieben alle Vampire stehen und wandten sich ab, halb die Augen schließend.

»Wer ist das denn bitte?«, raunte Falk.

Lasterbalk sah vorsichtig hin. »Ach du Schande … Es ist Chefchen!«

Die im Regen stehende Gruppe staunte nicht schlecht, als der Direktor der MIU schniefend und unter einen Regenschirm geduckt auf sie zugehumpelt kam.

»Das war die schlimmste Reise meines Lebens!«, fauchte er ohne ein Wort der Begrüßung. »Der Ersatzzug war so voll, dass ich über eine Handtasche gestolpert bin und mir den Knöchel verstaucht habe. Ich kann euch sagen, irgendjemand wird dafür verklagt.« Umständlich den Schirm mit einem Arm haltend, fischte er in seiner Jacke nach einem Taschentuch. »Wohin geht ihr?«, verlangte er dann endlich zu erfahren.

»Pfeiffer und Elsi sind drinnen, die erklären dir das«, antwortete Falk ruhig. »Wir haben ein Schwarzes-Blut-Problem.«

Alle verkrampften sich. Wenn das jetzt eine Information zu viel gewesen war, würde Buschfeldt sie alle festhalten, bis er die ganze Geschichte kannte. Zum Glück schien diesem viel zu sehr daran gelegen, einen warmen, trockenen Ort aufzusuchen, denn er ließ sie mit den Worten »Baut keinen Mist« stehen und hielt auf das Haus zu.

»Glück gehabt.« Lasterbalk ließ den angehaltenen Atem erleichtert ausströmen. »Dann mal los. Werter Asp, zeig uns den Weg in das fangzahnverseuchte Areal.«

Asp nickte und übernahm die Führung.

Sie umgingen die großen Straßen, jede Ansammlung von Menschen meidend. Hier und da begaben sie sich in so dunkle Ecken, dass Simon Ingo und Falk Fritz an die Hand nahm, da sie als Menschen absolut nichts sehen konnten. Fritz fragte sich immer noch, warum er unbedingt mit musste und nicht, wie Bock, KP, Yellow Pfeiffer und El Silbador, zurückbleiben durfte.

»Weil du an die Arbeit rangeführt werden musst«, war Falks Antwort, als er danach fragte. »Die anderen haben jeder schon Vampiren in die Augen gesehen und, bis auf Bock, auch schon welche eigenhändig erledigt.«

Natürlich, dachte Fritz kummervoll. Der Regen hatte ihn schon fast bis auf die Haut durchnässt.
 

Als sie einer gewundenen Straße bergauf folgten, von der verschiedene Einfahrten zu Studentenwohnheimen abzweigten, spürte Fritz Anspannung in den Bewegungen der Vampire.

»Es riecht schlimm nach Blut hier, der Hammer«, murmelte Simon Schmitt.

»Ja, aber ich finde es schwer zu beurteilen, wo genau das herkommt.« Asp blieb stehen und kostete die Luft regelrecht aus; Fritz konnte im Halbschatten sehen, wie seine Nasenflügel sich blähten. »So viele Spuren. Der Hund wäre hier wahrscheinlich winselnd im Kreis gelaufen.«

»Die Wohnheime sind’s jedenfalls nicht«, stellte Falk fest. »Folgen wir mal der Straße.«

Wieder entfernten sie sich weiter vom lebendigen Zentrum der Stadt. Die Straßenlaternen vereinzelten sich, bis das Tal zu Ende war. Fritz bemerkte, dass alle ihren Schritt beschleunigt hatten. Falk neben ihm bebte wie eine überspannte Bogensehne, um dann plötzlich, scharf Luft holend, seitlich aus der Gruppe auszubrechen.

»Da!«, knurrte auch Lasterbalk und folgte ihm.

Die übrigen Vampire nahmen ebenfalls die Witterung auf, und Micha packte Fritz am Arm, um ihn mit ins Dunkel zu ziehen. »Massenweise Blut!«, zischte er.

Dann, zwischen einer Hecke und einem Straßenrand-Dickicht, kamen die sieben abrupt zum Stehen.

»Meine Fresse!«, stieß Simon bewundernd hervor.

Falk neben ihm wisperte: »Himmel, was für’n Gemetzel.«

Kälte packte Fritz. Er konnte nichts sehen. »Wwwww-was habt ihr denn da?«

»Wir stehen«, erklärte Micha in sachlichem Ton, »vor zwei Leichnamen. Die ziemlich voller Blut sind.« Dann, als hätte er vorhersehen können, dass Fritz’ Knie gleich nachgeben würden, griff er nach ihm und hielt ihn fest. »Bleib senkrecht, Fritz, und schalte mal das Kopfkino aus.«

»Danke für den guten Rat!«

Asp und Lasterbalk waren schon in die Knie gegangen.

»Probierst du?«

»Hmmm.« Fritz hörte Lasterbalk leise schmatzen. »Schmeckt gut, kein Stress.«

»Aber die Sache ist klar, oder? Der Hals total aufgerissen, alles voller Blut … Hier war kein Vampir am Werk. Jedenfalls kein hungriger.« Für Fritz ergänzte Asp: »Vampiren ist es ein Gräuel, Blut einfach zu verschütten. Sie würden nie so brutale Wunden reißen.«

Lasterbalk stimmte ihm sofort mit deutlichem Nicken zu. »Außerdem hat hier niemand getrunken. Viel zu viel Blut, die Frauen sind beide verblutet. Und der Biss stammt auch net von Fangzähnen. Die hätten net so tief ins Fleisch gegriffen. Außerdem ist nirgends Speichel, obwohl Vampire beim Beißern sabbern wie Pawlows Hunde.«

Mit all diesen Details war Fritz überfordert; er fühlte bereits Übelkeit seine Kehle hinauf kriechen, als hätte jemand einen Scheinwerfer auf die beiden für ihn unsichtbaren Menschenkörper gerichtet. »Aber warum dann der Hals?«, würgte er.

»Ganz einfach«, sagte Ingo leise und tonlos, »damit die Leichen morgen jemand findet … gut versteckt sind sie ja nicht … und dann glaubt, es wären Vampire gewesen.«

»Ja, irgendjemand will uns hier in ein ziemlich schlechtes Licht rücken«, bestätigte Lasterbalk finster. »Aber wieso bloß? Warum sollten Fiacail Fhola sich selber diskreditieren?«

»Vielleicht waren die es nicht. Könnten einfach Vampirhasser gewesen sein. Vielleicht eine Bande, die weiß, dass Eff Eff in der City sind.«

»Oder dass wir in der City sind.« Micha gab ein hässliches Geräusch von sich. »Weißt du, Fritz, auch wir guten Vampire, die wir uns für Menschen den Arsch aufreißen, sind beim eingeweihten Teil der Gesellschaft beschissen unbeliebt. Wir müssen uns dauernd gegen solche Wichsereien gegen uns verteidigen.«

Leise seufzend richteten sich alle wieder auf.

»Wir müssen das melden«, sagte Asp. »Hoffentlich erkennen die Wissenden den Unterschied. Die Wunden sind untypisch, zu groß, zu zerfetzt, bluten viel zu stark … und sowieso ist die Arterie für Fangzähne schlecht zugänglich.«

Ingo Hampf schnaubte verächtlich. »Pah, ich glaub nicht, dass die das unterscheiden. Die werden das sehen, Terror machen und versuchen, neue Hetzkampagnen gegen Vampire durchzudrücken. Menschen sind scheiße, das wisst ihr so gut wie ich. Und ich kann das sagen, weil ich selber einer bin. So!«

Lasterbalk tätschelte seinen Arm. »Hast ja Recht, alter Freund. Trotzdem sollten wir uns jetzt net aufregen, sondern unsere neuen Kumpels bei der Polizei benachrichtigen. Alex, Falk, geht mal gucken, ob ihr noch mehr frische Leichen findet, ja?«
 

Fritz blieb unschlüssig und immer noch mit seinem flauen Magen kämpfend bei Lasterbalk stehen, während die Übrigen ausschwärmten, um das Gebiet zu scannen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er konnte schwarze Flecken im Gras zu seinen Füßen erkennen, deren Anblick ihn frösteln machte.

»Ist alles okay, Fritz?«, erkundigte Lasterbalk sich schließlich besorgt. »Wir konnten net wissen, dass wir hier Tote finden würden. Eigentlich wollten wir nur das Versteck suchen und wieder abziehen, bis Verstärkung da ist.«

Das heißt also, dass ich mal wieder nur riesiges Pech habe? »Ooooh, mir geht’s gut«, behauptete Fritz mit wackeliger Stimme.

»Ich frag nur, weil du net danach aussiehst.«

»Naja … So lange hier kein böser Vampir auftaucht und mich anspringt … geht das schon.«

Plötzlich trat raschelnd eine Gestalt aus dem Dickicht. »Und wer sagt, dass das nicht passiert?«, säuselte sie. Es war eine Frau, und sie war halbnackt. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihren Brüsten.

Fritz stellten sich die Nackenhaare auf. Sofort packte ihn Lasterbalk und warf ihn mit einer recht brachialen Bewegung hinter sich.

»Wer bist du und was willst du?«, fuhr er die Fremde an.

»Oh, schöner Mann, teilst du etwa nicht?«, fragte sie spitz. Langsam machte sie einen Schritt vorwärts, dann noch einen.

Lasterbalks Hand schloss sich um Fritz’ Arm wie ein Schraubstock, indes er ihn hinter seinem Rücken festhielt. »Was wollt ihr in Wuppertal?«

»Was wollt ihr in Wuppertal?«, gab die Vampirin die Frage zurück. Fritz bemerkte einen eigentümlichen Akzent in ihrer Art zu sprechen. »Wir haben einfach nur Hunger … aber ihr spielt wieder mal die Schoßhunde der Regierung.«

»Kannst du mir das erklären?« Lasterbalk machte eine Kopfbewegung zu den beiden Leichen rechts neben ihm.

»Nein, mein Hübscher. Ich bin nur hier, weil ich Blut gerochen habe, unwiderstehlich viel Blut.« Ihre Zunge schnellte vor, als sie sich die Lippen leckte. »Aber ihr wisst, wie es mit Toten ist … Sie werden so schnell kalt.« Bestimmend nickte sie in Fritz’ Richtung. »Teil deinen Menschen mit mir. Ich werde nicht zu viel nehmen, wenn dir das wichtig ist. Ich weiß ja, dass ihr Menschenfreunde da sehr penibel seid. Wir trinken nur ein bisschen … und während er seinen Rausch ausschläft, bekommst du den besten Sex deines Lebens.«

»Oha, wie offensiv!«, sagte Lasterbalk. Er wirkte verdattert; sein Griff lockerte sich sogar ein wenig, was Fritz beunruhigte. »Ich hab erwartet, dass du das ein bisschen blumig umschreiben würdest, wie Frauen das eben so machen.«

Die Fremde lachte auf, ein volles, nicht gestelltes Lachen. »Ihr Menschenfreunde bleibt immer so jungfräulich, egal wie oft man euch durchnimmt! Es ist immer wieder schön.«

»Ah, so? Wahrscheinlich. Allerdings hab ich heute schon was anderes vor, und der Mensch hinter mir ist net so scharf auf einen Biss … auch net auf deinen.«

»Ich glaube nicht, dass ich ihn darüber entscheiden lasse«, entgegnete sie.

»Na, das glaube ich aber schon. Denn wenn du ihm zu nahe kommst, wird das leider nix mit uns.« Man merkte Lasterbalk an, dass ihm das Gespräch trotz aller Vorsicht einen gewissen Nervenkitzel bescherte. Neugierig testete er aus, wie weit sie gehen würde.

Sie näherte sich um weitere zwei Schritte und tat gekränkt. »Das ist hart. Ich rieche den Saft und komme hierher … und finde nur Tote, deren Blut kalt wird …«

»Schmeckt noch, ich hab’s probiert.«

»… und deren Fleisch schon im Morgengrauen seinen Zerfall beginnen wird. Warum gönnst du mir nicht einen kleinen, warmen Schluck?«

»Nein!«, kiekste Fritz.

»Tja, du hast ihn gehört.«

»Ich frage keinen Menschen um Erlaubnis!«, tobte sie los. Ihre nackten Flanken bebten. »Geh beiseite, oder ich nehme mir, was ich will!«

»Versuch es«, grollte Lasterbalk und warf aus. Fritz hörte das Klicken.

Auch die Frau stieß ihre Zähne vor und ging drohend in die Hocke. Fritz’ Finger schlossen sich um die UV-Lampe in seiner Tasche. Er war bereit.

Sie schnellte hoch wie eine Sprungfeder. Fritz war zu langsam, sein verkrampfter Daumen konnte die Lampe nicht anschalten. Lasterbalk warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihn und zog mit der Linken die Natron-Kanone. Der Schuss ging meilenweit daneben.

Doch etwas anderes traf. Ein Sirren durchschnitt die Luft, laut wie ein Peitschenhieb, und dann ragte ein metallgeflügelter Bolzen aus der Brust der Vampirin, die kreischend zurückfiel. Ihr Blut spritzte auf und beschrieb in der Luft einen roten Bogen, der ihrem Sturz nicht folgen zu können schien. Starr blieb ihr Körper im Gras liegen.

»Ha’ick dich jekricht!«, gellte eine ferne Stimme triumphierend über die Straße. »Hahaha!!«

»Vergiss es, Basti, das war nicht deiner«, belehrte ihn jemand anders, ebenfalls von weit weg. »Ich hab die Tante erledigt.«

»Sicher? Ach, Mann. Ick wollte auch ma den ersten Kill haben.«

»Da hilft nur Üben, fürchte ich, und ein haaaaaaartes Training für Körperbeherrschung!«

Fritz lag im Gras, halb unter Lasterbalk, der ihn wie ein Felsblock am Boden hielt und in Hab-Acht-Stellung den Hals reckte, um sehen zu können, wer da kam. Allerdings entspannte er sich gleich darauf und kam ohne Mühe wieder auf die Füße. Fritz nahm seine angebotene Hand.

»He, Balken!«, rief der erste der beiden Männer, deren Schritte sich raschelnd näherten. »Noch eena inner Nähe?«

»Nee, Herr Lange, kommense ruhig her!«, imitierte Lasterbalk den Berliner Dialekt und ging den Ankömmlingen entgegen. »Marco, warst du das eben?«

»Meine leichteste Übung!«, antwortete der andere munter.

Fritz staunte, als er die beiden Silhouetten sah: Die Männer trugen jeder eine Armbrust, mächtige, schimmernde Waffen, die er sonst nur aus Filmen kannte. Ansonsten sahen sie unauffällig aus, waren, soweit er erkennen konnte, in leichte Windjacken gekleidet.

Lasterbalk wirkte ungemein erleichtert. »Fritz, darf ich bekanntmachen? Van Lange – naja, für uns Basti – und Flex, der Biegsame, unser bester Armbrustschütze, eigentlich Marco. Spielen beide bei In Extremo, also in Michas Strolchbande.« Dann wies er mit beiden Händen auf Fritz. »Das ist unser Neuer, Friedrich Wunderbaum. Wir … härten ihn gerade ab.«

»Dit sieht man«, kicherte Lange. »Blass wie’n Laken und um Haaresbreite ’nem Biss entjangen, wa?«

»Ääh, ja«, räumte Fritz schüchtern ein. »Wir hatten Glück, dass ihr da wart.«

»Glücklicher Zufall, ja«, stimmte ihm Flex zu. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig und katzenhaft. »Als wir das HQ endlich gefunden hatten, wurden wir euch sofort hinterhergeschickt. Keine Minute zu spät, wie’s aussieht.«

»Aber wirklich … Ich glaub, ich hab nachgelassen.« Lasterbalk rieb sich das Kreuz. »Wie auch immer, suchen wir die anderen zusammen. Bestimmt hat der Blutduft noch mehr Vampire angezogen.«

Die drei nahmen Fritz in ihre Mitte und überquerten die Straße in langen Schritten. Als Kampflärm sie erreichte, spannten Flex und Lange alias Marco und Basti routiniert ihre Armbrüste und nahmen Gestalten ins Visier, die Fritz kaum erkennen konnte. Fast sehnsüchtig wünschte er sich, eine Ausbildung mit dieser tödlichen Waffe genossen zu haben.

Aus der Distanz erledigte Flex zwei junge männliche Vampire, die Simon in die Mangel genommen hatten, und Lange erwischte eine weitere Frau, die Hampf mit gebleckten Fangzähnen anfiel, zumindest an der Schulter; für Ingo reichte dieser Schockmoment, um mit der rechten Hand seinen speziell dafür gefertigten Holzpflock aus dem Gürtel zu ziehen, und einen Stoß später war das Problem erledigt. Fritz bewunderte die ungeahnte Schnelligkeit des muskulösen Mannes.

Asp und Micha waren – vermutlich aufgrund ihrer deutlichen Überlegenheit – nicht behelligt worden, und auch Falk wurde in keinen Kampf verwickelt. Die Gruppe kam im dünnen Licht wieder dort zusammen, wo die beiden ersten Leichen lagen.

»Noch vier andere Tote«, sagte Simon hastig atmend, »aber immerhin keine anderen Vampire mehr.« Er rieb sich das schweißverklebte blonde Haar aus dem Gesicht.

»Da kommt man hierher … und schon nix als Ärger«, kommentierte Basti Lange.

Ihn und Flex hießen alle warm willkommen, auch Ingo. Micha wurde von Lange knapp, von Marco recht stürmisch begrüßt, und er freute sich auch sichtlich, seine Freunde zu sehen. Fritz war ein wenig erstaunt, wie herzlich egal es diesen beiden Menschen zu sein schien, dass ihr Sänger ein Vampir war.

»Ihr habt euch ganz schön viel Zeit gelassen«, sagte Micha beinahe vorwurfsvoll.

Flex rechtfertigte sich prompt: »Wir hatten keine Ahnung, dass es so dringend ist. Boris hat uns erst mal ganz kurz und knapp erzählt, was überhaupt los ist, sonst wüssten wir immer noch nichts.«

»Ich staune ja, dass es nach so vielen Jahren immer noch so blöde Kommunikationsfehler zwischen uns gibt.«

Während des folgenden Austauschs übernahm es Falk, der Polizei von Wuppertal eine die Umstände erläuternde Mitteilung zu machen. Gezwungenermaßen würde die MIU nicht abziehen können, solange die sechs Leichname nicht gegen weitere Vampirangriffe gesichert waren, also harrten sie an Ort und Stelle aus, bis endlich Sirenengeheul in der Ferne das Eintreffen der Ordnungshüter ankündigte.

Fritz fühlte sich ausgesprochen müde, aber irgendwie war er auch stolz auf sich: Er hatte seinen ersten Vampireinsatz gemeistert, wenn auch nicht unbedingt mit Bravur, doch das war egal; er hatte einen Leichenfund und sogar einen Vampirangriff überstanden, ohne dass ihm schlecht geworden und ohne dass er ohnmächtig geworden wäre – was er eigentlich erwartet hatte. Flankiert von den beiden neu eingetroffenen Armbrustschützen fühlte er sich nun, da sie im Dunkeln den Rückweg antraten, so sicher, dass ihm richtig leicht ums Herz war.
 

Buschfeldt nahm die Nachricht weit weniger gelassen auf als erwartet. Leise unflätig fluchend, was Fritz noch nie bei ihm gehört hatte, wanderte er den Flur auf und ab, und niemand wagte es, ihn anzusprechen. Amboss folgte dem Direktor freundlich wedelnd, trat jedoch nach einer barschen Abweisung den Rückzug an und hielt sich wieder an Falk.

»Ich kann mir denken, was er machen wird«, teilte Lasterbalk den anderen flüsternd mit. »Ich warte eigentlich nur drauf, dass er das vom Kriminalamt bestätigt kriegt.«

Fritz wusste nicht, was er damit meinte, aber ehe er nachfragen konnte, nahm Buschfeldt ihn auch schon mürrisch beiseite und zeigte, die anderen forschend ansehend, mit dem Finger auf ihn. »Was kann Wunderbaum bisher? Ich hoffe, ihr habt ihn ordentlich unterrichtet.«

»Ähm … Er hatte ’ne Einführung mit UV-Lampe und Natron-Kanone«, antwortete Falk wahrheitsgemäß.

»Das ist aber ein bisschen dünn, findet ihr nicht? Wieso habt ihr ihm nicht Pfählen beigebracht?«

»Seine Schuld.« Ingo machte eine Kopfbewegung zu Micha. »Hat um seine Haut gefürchtet.«

Buschfeldts Miene wurde noch finsterer. »Einhorn, du wirst ihn an dir selber üben lassen, ist das klar? Kann eurer Vertrauensbasis nicht schaden, da ihr Partner seid.« Das Wort triefte vor Ironie. »Außerdem will ich, dass wir das Vertuschungsprogramm reaktivieren. Wie viele falsche Vampire haben wir?«

Lasterbalk zählte: »Elsi, Ingo und Basti … Macht drei.«

»Schön, dass du rechnen kannst.« Mit verkniffener Miene wies der Chef auf Fritz. »Wir nehmen ihn mit rein.«

»?«, kam es fassungslos von Micha. »Du willst aus Fritz ’nen Fakefang machen? Kannst du vergessen, das packt der nicht. Der hasst Vampire ja noch mehr als du, und dann soll er so tun, als wäre er selber einer?«

»Nach deiner Meinung hat niemand gefragt«, verwies ihn Buschfeldt.

»Ich sage meine Meinung, wie’s mir passt.«

»Na, solchen Elan würde ich lieber bei der Arbeit sehen.« Der Direktor gab Fritz einen leichten Schubs in Michas Richtung. »Los, worauf wartet ihr? Pfählen üben, Vampirverhalten anlernen. Einen Trainer haben wir ja hier.« Diese Bemerkung galt Yellow Pfeiffer. »Also, holt die Matten. Ich will, dass Wunderbaum in zwei Tagen ein glaubwürdiger Fakefang ist.« Damit rieb er sich die Hände an der Hose ab, als habe er schmutzige Dinge herumgetragen, und wandte sich der Küchenzeile zu. »Es ist erst kurz vor zehn, da könnt ihr noch was schaffen. Ich werde sogar persönlich Kaffee kochen«, setzte er zynisch hinzu und griff schon nach dem Wasserhahn. »Oh, und noch was. Keiner mault, ist das klar? Ich will Alea.«

Ja!!, dachte Fritz und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Endlich! Der Killer!!

Wie erwartet stöhnten alle anderen theatralisch auf.

»Boss, seine Anwesenheit im Stützpunkt wird alles sehr schwierig machen, das wissen Sie«, wandte Schievenhöfel sacht ein.

»Unsinn, Übertreib nicht, Klaus-Peter. Diese Vampire hier schaffen es schon seit Jahrzehnten, eine ganze Konsumgesellschaft zum Narren zu halten, obwohl sie ständig in der Presse und sogar im Privatfernsehen präsent sind. Da wird ja wohl ein einzelner, nicht gerade für sein Misstrauen bekannter Mensch keine neue Herausforderung bedeuten. Bisher ist immer alles gut gegangen, wenn er da war.«

»Aber oft nur um Haaresbreite«, murmelte Falk. »Und Alea ist in letzter Zeit etwas … unangemessen neugierig. In Afrika war das ganz schlimm …«

»Papperlapapp. Ich will, dass er noch heute informiert wird, und ich werde persönlich prüfen, ob das auch passiert. Silbador?«

»Ja, ja«, gab sich Elsi geschlagen und nahm schon hinter Pfeiffers Laptop Platz, um die Nachricht aufzusetzen. »Begeisterterweise wird er wohl spätestens übermorgen hier sein.«

Fritz konnte sich der allgemeinen Beunruhigung über das baldige Eintreffen des Vexecutors nicht anschließen. Er war ausgesprochen erfreut. Jemanden in der Nähe zu wissen, der Vampire nur durch manifeste Willenskraft töten konnte, erfüllte ihn mit tiefer Erleichterung. Das Training zu einem – wie hieß das? – falschen Vampir würde ihn hinreichend ablenken, um die Wartezeit zu überbrücken. Und außerdem, erinnerte er sich, würde er jetzt pfählen lernen – die sicherste Methode, einen Vampir für immer loszuwerden.

Alles wird gut, dachte Fritz sehnsüchtig und fühlte neuen Optimismus in sich keimen. Bald muss ich keine Angst mehr haben! Hurra!

Falsche Wörter

Im Seminarraum waren die Tische und Stühle noch immer entlang der Zimmerwände aufgereiht. Die leere Mitte wurde nun eingenommen von einer Sportmatte mit den Ausmaßen viermal vier Meter, an welcher Simon Schmitt gerade eine Reihe von Ventilen aufgedreht hatte und nun forschend beobachtete, ob die noch leeren Hohlräume sich auch wirklich mit Luft füllten.

Falk, Lasterbalk und Asp waren mit Amboss trotz der späten Stunde noch aufgebrochen, damit der Bluthund die Wege der Vampire, die sich bei den Leichen aufgehalten hatten, zurückverfolgen konnte. Geduldig hatten sie Fritz erklärt, dass es nicht zulässig sei, als Vampir in Deutschland nicht registriert zu sein, und dass es sinnvoll wäre, nähere Informationen über die Herkunft dieser unliebsamen Gäste einzuholen. Hinweise auf Fiacail Fhola, oder wie diese Bande hieß – Fritz wusste immer noch nichts darüber –, seien nicht von der Hand zu weisen.

In der Zwischenzeit, darauf hatte Buschfeldt bestanden, sollte Fritz lernen, einen Vampir sauber zu töten. Schlimmer noch: Er hatte es Micha auferlegt, sich als Übungsobjekt zur Verfügung zu stellen – und der Lehrer war niemand anders als Ingo Hampf, den Fritz schon während des Kampfes gegen die fremden Vampire um seine Fähigkeiten beneidet hatte.

Ingo und Micha stellten sich einander auf der Matte gegenüber, ersterer euphorisch, letzterer sichtbar abgeneigt.

»Ich bringe dir jetzt bei, einen Vampir zu töten«, sagte Hampf ernsthaft. »Das ist kein Spaß, kapiert? Jede Bewegung muss schnell und gezielt sein. Ich mach’s dir vor, denn ich bin der beste Pfähler des Teams.«

»Ja, er pfählt so viel, wir nennen ihn schon Vlad Ţepeş«, fügte Micha zynisch an.

»Also, Fritz.« Ingo hielt den glatten, angespitzten Pflock aus Eichenholz hoch. Fritz sah ihn erstmals aus der Nähe: Der Pfahl war lang und schlank, seine Spitze bildete ein scharfer, einen Zentimeter langer Eisendorn. Am oberen Ende des Pflocks waren im Holz Kuhlen für die Finger eingelassen, dünn mit Schaumgummi ausgekleidet, welches das feste Zupacken erleichterte und zugleich das Abrutschen verhinderte, da es Schweiß aufsaugen konnte. Ingo erklärte: »Das ist deine Waffe. Prinzipiell kann man den Pflock mit der Hand einrammen, wenn man genug Power hat, aber das ist was für Fortgeschrittene. Wir fangen mit dem Hammer an.« Er hielt besagten hoch; der Hammer war ebenfalls aus Holz, ansonsten aber unscheinbar. »Er ist leicht, aber wenn man einigermaßen fest damit zuschlägt, kriegt man den Pflock easy going durch ’ne Vampirbrust getrieben. Ich zeig’s dir mal. Schön hingucken.«

Nach kurzem Anpeilen ging er Micha frontal an, warf ihn mit seinem Gewicht auf den Rücken, sodass er auf ihm saß, und zog mit einer fließenden Seitwärtsbewegung gleichzeitig Pflock und Hammer aus dem Gürtel, wie Fritz es schon zuvor bei ihm gesehen hatte. Nur Millimeter über Michas linker Brustseite stoppte die Spitze mitten in der Bewegung. »Hast du gesehen? Du darfst nie aus den Augen verlieren, wo das Herz ist. Wenn du zustichst, muss der Pfahl seinen Weg zwischen zwei Rippen finden. Aber nicht zu weit links. Das Herz sitzt fast mittig. Wenn du es verfehlst, durchbohrst du nur die Lunge, und der Vampir hustet dir Blut ins Gesicht, ohne zu sterben.«

Leise stöhnend zog Fritz sich einen Stuhl heran und sank darauf.

Micha wand sich unter Hampf hervor und sprang auf die Füße. »So, und jetzt zeigen wir dir, wie das aussieht, wenn der Vampir sich wehrt.« Er ließ die Zähne hervorschnappen und griff Ingo an.

Dieser verteidigte sich vehement, mit allen Mitteln vermeidend, dass Micha ihn wirklich zu packen bekam – denn dann, das wusste Fritz, war es vorbei; ein Vampir war einem Menschen immer körperlich überlegen. Eine Weile rangen sie heftig miteinander. Fritz blieb die Anspannung nicht verborgen; noch machten die beiden nicht ernst, doch es war zu sehen, wie mühsam sie sich zurückhielten.

Überraschend stießen Van Lange und Flex hinzu und staunten nicht schlecht.

»Oh! Guck dir das an!«

»Na endlich wieder ’ne Rauferei! Diesmal sogar zwischen Subway und InEx! Hee, wartet, ick muss mir erst überlegen, uff welcher Seite ick bin!« Grinsend schnappte Basti sich einen Stuhl und setzte sich neben Fritz. »Macht hinne, ick will Blut sehen!«

»Ich nicht«, murrte Fritz.

Angesichts der Zuschauer nahmen die beiden Gleichstarken sich merklich zurück. Wieder schaffte Ingo es, indem er zuerst nach rückwärts auswich und dann sein Gewicht einsetzte, Micha auf die Matte zu werfen, doch letzterer stieß ihn mit beiden Händen hart gegen die Brust, ihn einen ganzen Meter hoch in die Luft befördernd.

»Ooooh, dit jibt Tote!«

»Hey, seid nicht so grob!«, rief Flex, über dessen jugendliche Züge jäh Besorgnis huschte.

Noch einmal rang Ingo Micha zu Boden und platzierte die Pflockspitze. Er holte sogar mit dem Hammer aus, nur um ihn in letzter Sekunde doch noch abzulenken. Verächtlich musterte er seinen unterlegenen Kontrahenten, der ihn mit gebleckten Zähnen und heftig atmend anstierte.

»Da, Fritz. Kannst du gleich übernehmen für nachher, wenn du einen Vampir spielen musst. Tu immer so, als seiest du der Netteste überhaupt, um dann später so auszusehen – Zähne gefletscht, wilder Blick, sabbernd.« Schnaubend stieg er von Michas Brust.

Letzterer holte tief Atem und zog die Fangzähne ein. »Fritz, der böse Onkel will nur, dass du Angst vor mir hast … Das siehst du hoffentlich.«

»Dafür muss ich mich nicht mal anstrengen, weil du dich schon von alleine wie ’ne Bestie benimmst, Rhein.«

»Ich? Du willst einen noch größeren Schisser aus ihm machen.«

»Ich will nur, dass er auf die Realität vorbereitet ist«, behauptete Ingo. »So, und jetzt trab an, Fritz. Mal sehen, was du dir abgeguckt hast.«

Etwas wackelig erhob sich Fritz von seinem Stuhl und streckte die Hände nach Pflock und Hammer aus, die Hampf ihm hinhielt. »Aber ich bin ein Schwächling …«

»Ach wo, es kommt auf Schnelligkeit an.«

Micha trat vor ihm zurück und schob demonstrativ die Hände in die Taschen. »Da, guck, ich wehre mich auch nicht. Aber denk bloß nicht dran, mich wirklich zu pfählen, klar, denn sonst …«

»… reiß ich dir die Kehle raus!«, äffte Hampf. Mit verschränkten Armen verließ er den provisorischen Kampfring und nahm, etwas entfernt von Flex und Lange, auf einem weiteren der vielen Stühle Platz.

Fritz fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nahm den Pflock fest in die linke Hand, den Hammer in die rechte. Es war gar nicht so einfach, auf die linke Brust eines Menschen zu zielen, wenn man die Waffe selber in der linken Hand hielt – man musste irgendwie überkreuz greifen –; aber nur mit der rechten Hand, das wusste Fritz, würde er ordentlich den Hammer schlagen können und nicht sich selbst treffen, tollpatschig wie er war.

»Komm, Fritz, pfähl mich«, ermunterte ihn Micha. »Gib’s zu, das hast du schon seit ’ner Weile vor.« Er lächelte knapp.

Fritz erwiderte die Geste nicht; er hatte noch nicht vergessen, wie Micha vor seinen Augen einen Menschen hatte beißen wollen und dies auch noch argumentativ begründet hatte. Alle Kräfte zusammen raffend, ging er leicht in die Hocke, zielte kurz – und sprang vor.

Micha war wie eine Wand, an der er einfach abprallte. Kurz konfus, fand er das Gleichgewicht gleich darauf wieder und hängte sich dann so energisch an Michas Seite, bis dieser schließlich – ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen – doch noch umfiel.

Flex und Sebastian bogen sich vor Lachen. »Ach du Scheiße, lass unseren Sänger ganz! Den alten Sack brauchen wir noch für die Sterneneisen-Tour!«

»Fritz, so wird das nix«, murmelte Micha, als Fritz, über ihm kniend, es endlich geschafft hatte, seinem Gürtel den Hammer zu entreißen. »Bis du das Ding draußen hattest, hätte ich dich zehnmal verspeist und deine Knochen als Zahnstocher benutzt.«

»Ich hab doch gesagt, ich kann es nicht!«, gab Fritz wütend zurück und rappelte sich hoch, wobei er fast ein weiteres Mal umgefallen wäre. »Ich bin kein Vampirkämpfer!«

»Dein Gejammer geht mir langsam gründlich auf die Eier, weißt du.«

»Na, dann sieh doch zu, dass du jemand anderem zugeteilt wirst! Jemandem, der –« Angriffslustig wiederholte Fritz die so frequente Metapher. »– Eier hat

Micha verdrehte die Augen. »Mann, jetzt lass nicht die Zicke raushängen.«

»Ich meine es aber ernst!« Umgeben von guten Armbrustschützen und Pfählern war es leicht, einem Vampir gegenüber Mut zu zeigen. »Wir können uns nicht leiden, du und ich, ich bin ein Schwächling und du hast keine Geduld mit mir. Warum hältst du dich eigentlich so zurück? Wenn ich dir so auf die Eier gehe, Michael Rhein, dann mach doch, was du die ganze Zeit machen willst! Bitteschön, beiß mich

Was dann passierte, sobald er diese Worte ausgesprochen hatte, würde Fritz nicht so schnell wieder vergessen. Es ging alles zu schnell, als dass seine Sinne es hätten verfolgen können. Er sah nur, dass alle im Raum gleichzeitig reagierten. Sie sprangen auf wie bei einem Bombenalarm. Basti packte Fritz und zerrte ihn grob beiseite, während Ingo und Marco sich gleichzeitig auf Micha stürzten und ihn wieder auf die Matte warfen, sich diesmal nicht darum kümmernd, ob sie ihn verletzten oder nicht. Mit einem rauen Schrei, der Fritz das Blut in den Adern gefrieren ließ, versuchte Micha, sich unter dem Gewicht der beiden Männer hoch zu kämpfen, schaffte es aber nicht, weil sie ihn mit aller Macht und allem Körpereinsatz am Boden hielten und nicht zuließen, dass er auch nur eine Hand nach Fritz ausstrecken konnte. Fritz stolperte; Lange zog immer noch an ihm, darum bemüht, ihn so weit wie möglich von Micha wegzuschleppen.

»Scheiße!«, rief Basti. »Wieso habt ihr es ihm nicht gesagt, wieso habt ihr es ihm nicht gesagt?!«

Keiner konnte ihm jetzt antworten. Ingo und Flex hockten hartnäckig auf Micha, dessen Gegenwehr allmählich erstarb, doch immer noch zuckte er und sein ganzer Körper wurde von Krämpfen durchlaufen.

»Alles cool, Micha«, sagte Marco betont ruhig, als wäre wirklich nichts, und tätschelte ihm die Schulter. »Entspann dich. Ist schon vorbei.«

Das laute, stoßweise Atmen des Sängers wurde nur minimal ruhiger. Zitternd befreite er seine rechte Hand aus Ingos Griff und rammte sich die ausgefahrenen Fangzähne in den Handrücken; ein dünnes Rinnsal Blut perlte hervor. Erst danach begann er sich zu beruhigen.

Flex tätschelte ihn fortwährend weiter. »Alles gut, alles prima«, wiederholte er. »Lass dich von zwei kleinen Worten nicht irre machen.«

Ruhe kehrte wieder ein.

Vorsichtig löste Lange seinen harten Griff um Fritz’ Brust. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und erklärte schwach: »Hör mal, du … du darfst nie ’nen Vampir dazu auffordern, dich zu beißen, wenn du dit nicht willst. Haste kapiert? Nie – nie – niiiiemals.«

Fritz glaubte, sich übergeben zu müssen. Haltlos klappte er einfach zusammen und blieb auf dem Linoleumboden liegen, während sich alles über ihm drehte. Entfernt bekam er mit, dass Hampf und Marco von Micha abließen, der ebenfalls leise keuchend liegen blieb.

»Was du gerade gesehen hast«, erklärte Ingo, »oder besser, was du gerade ausgelöst hast, war der sogenannte Beißzwang. Bitte einen Vampir, dich zu beißen, und er muss es tun – ob er will oder nicht.«

Fritz stöhnte nur leise. Er konnte nicht fassen, dass man ihn erst jetzt auf diesen Umstand hinwies.

»Janz schön fahrlässig«, schnaubte auch Basti Lange. »Soweit ick jehört hab, war Fritz schon hundertmal mit Vampiren alleene. Ihr hättet ihm ja mal stecken können, dass man Vampire nicht zum Beißen einlädt.«

»Ich dachte, er wüsste das«, murmelte Ingo. »Hatte bisher nicht so viel mit ihm zu tun. Michael hätte ihm das sagen müssen!«

»Ich dachte auch, er weiß es«, verteidigte Micha sich schwach. »Als ich dazukam, war der Vampirunterricht ja längst durch.« Mühsam stand er von der Matte auf, machte zwei taumelnde Schritte und fing sich dann. Fritz konnte ihn sehen; er sah völlig fertig aus. »Das tut mir Leid, Fritz. Ehrlich. Ich würde dich nie beißen, scheißegal wie sehr du mich provozierst. Das musst du mir glauben.«

»Stell dir vor«, wimmerte Fritz, denn mehr brachte er nicht zustande, »ich hätte das zu dir gesagt, als wir alleine waren …«

»Naja, naja«, räumte Ingo an Michas Statt sofort ein, »Fritz, gestorben wärst du nicht. Prinzipiell ist das alles ja nicht tragisch. Wir sind alle schon gebissen worden. Ich glaube, wir müssen dir mal ’n bisschen den Horror davor nehmen. Wenn du ’nen Vampir zum Beißen aufforderst, naja, haste halt die Zähne drin. Na und? Wenn er keinen Hunger hat, wird er nicht saufen, also passiert weiter nischt. Das Blöde ist halt das Gift, denn das wird unwillkürlich ausgestoßen, dann bist du erst mal ’ne Weile zu nix zu gebrauchen. Aber alles nicht lebensgefährlich. Wenn wir jetzt nicht da gewesen wären, hätte Micha dich halt gebissen. Wär’s halt passiert. Dumm gelaufen, aber naja.«

»Dumm gelaufen für mich«, brummte Micha, »denn ich hätte dafür den Pflock gekriegt. Ist wie bei wilden Tieren, die dämliche Leute angreifen und dafür erschossen werden.«

»Sei nicht albern, hier wird keiner gepfählt.« Ingo hielt Fritz die Hand hin. »Na komm.«

Vorsichtig ließ Fritz sich hochziehen. Seine Muskeln gehorchten ihm schon wieder. Er schaffte es sogar, Michas Blick zu begegnen, der ihn mit großen, besorgten Augen anschaute. Er war total geschwitzt, seine blonden Haare zerzaust und nass. Nein, das wusste Fritz, ihm konnte er beim besten Willen keinen Vorwurf machen. Nicht für das, was er war.

»Komisch nur«, murmelte er, »dass nichts passiert ist, als Falk Elsi gefragt hat, ob er ihn beißen darf … Elsi hat gesagt ›Mach doch‹

»›Mach doch‹ ist nicht das gleiche wie ›B-B-B–‹ …« Micha verschluckte sich fast an den Worten. »… Du weißt schon.«

»Du meinst ›Beiß mmmmmm –‹« Schnell hielt Basti Fritz den Mund zu.

»Untersteh dich, du Vollidiot«, murmelte Micha zerschlagen, wandte sich ab und trottete zur Tür. »Ich geh mir … was zu trinken holen. Und dann geh ich ins Bett. Reicht mir für heute.«

»Naja, es ist nach elf«, pflichtete ihm Flex nach einem Blick auf die Uhr bei. »Ihr solltet morgen mit dem Unterricht weitermachen.«

Auch Fritz hielt das für eine gute Idee. Er hatte sich lange nicht so erledigt gefühlt.

Während er jedoch aus dem Raum trottete, hörte er noch einmal Ingo leise zu Marco raunen: »Weißte was? Ich glaube, so ’n kleiner Zwischenfall musste echt mal sein. Kann den beiden nur gut tun, wenn sie einfach mal damit klarkommen müssen, dass sie verschieden sind. Die müssen lernen, sich zu trotzdem respektieren und am gleichen Strang zu ziehen. So ’ne Klatsche war echt nötig, wenn du mich fragst. Vielleicht kapieren sie’s jetzt mal.«

Flex’ Antwort erreichte Fritz’ Ohren nicht mehr, aber er wollte sie auch nicht hören.
 

Am folgenden Morgen war auch der Suchtrupp zurückgekehrt. Fritz verschlief; die Übrigen ignorierten sein Fehlen in Anbetracht des vorausgegangenen Abends.

»Wir glauben, dass der Eingang am Bahnhof ist«, erklärte Asp, als sie gemeinsam frühstückten. »Also ganz woanders, als wir dachten. Amboss hat die Spur zielstrebig verfolgt, und er hat sich noch nie geirrt.«

»Dann stürmen wir die Bude, sobald Alea hier ist«, entschied Falk. »Oder, Chefchen?« Es missfiel ihm sichtlich, für alles Buschfeldts Erlaubnis einholen zu müssen.

»Sehe ich auch so«, antwortete dieser jedoch unerwartet kooperativ und nippte an seiner Kaffeetasse. »Seid ihr draußen anderen Vampiren begegnet?«

»Nein. Scheint sich rumgesprochen zu haben, dass wir hier sind.«

»Na, besser so. Hauptsache, sie haben nicht bemerkt, dass ihr rumgeschnüffelt habt.«

»Ich denke nicht, wir waren wirklich vorsichtig.«

In der Ecke piepte der Laptop, und Pfeiffer stand auf, um nach dem Gerät zu sehen. »Ah ja«, meldete er, »Alea ist ganz euphorisch aufgebrochen und wird heute Abend hier sein.«

»Euphorisch, jaja«, feixte Falk. »Wir wissen ja alle, wie sehr er seinen Job als Todesengel liebt.«

»Fritz wird sich besonders freuen, dass er kommt«, ergänzte Lasterbalk vergnügt. »Der kann’s gar net erwarten.«

Falk sah ihn schief grinsend an. »Balki, du weißt schon, was für ein Bild Fritz von Alea hat, oder? Er hält ihn für Blade in Weiß. Er denkt, Alea geht kalt lächelnd in das Versteck, schnippt mit den Fingern, und alle Vampire fallen tot von der Decke.«

»Naja, ist doch nur knapp an der Realität vorbei, oder?«

Der ganze Tisch lachte.

Es folgte eine Runde Hyperborea, das tägliche Ritual, dann wurde die Arbeit aufgenommen: Alles im Unterschlupf, das auf Vampire hinwies, musste vor Alea versteckt werden. Keine leichte Aufgabe. Besonders Fritz, da kam man stillschweigend überein, brauchte unbedingt ein ganz besonderes Briefing.
 

»Micha, willst du nicht mal Fritz wecken gehen?«

»Wieso ich?«

»Weil du für ihn zuständig bist«, antwortete Boris.

»Tse! Der wird einen super Start haben, wenn ich das erste bin, was er sieht … nach gestern.«

»Du kannst ihn ja auch nett wecken. Indem du ihm was ins Ohr röhrst.«

Schievenhöfel kam hinzu. »Zankt nicht«, bat der mollige Assistent gemütlich, »ich wecke ihn schon.«
 

Fritz hatte, nicht gerade zu seinem Erstaunen, einen Alptraum gehabt, in welchem ihn ein bissiger Vampir niederstreckte und die Hauer in seinen Hals grub. Allerdings war dieser Vampir nicht Micha gewesen; diesem war stattdessen die Rolle zugefallen, Fritz geduldig zu erklären, wie ungefährlich das war, was ihm gerade passierte. »Hab dich nicht so, du Pfeife, so weh tut das nicht«, hatte er gesagt, während die Bestie Fritz’ Blut trank und er hilflos mit ihr rang. »Wir haben doch alle nur Hunger.«»Hilf mir!«, hatte Fritz geschrien, wild und erfolglos um sich tretend, doch Micha hatte nur dagestanden, die Hände in den Taschen, und kopfschüttelnd gesagt: »Mann, du hast echt keine Eier.«

Völlig verwirrt und trübsinnig stellte Fritz sich unter die Dusche und ließ sie mindestens zehn Minuten laufen. Dann kroch er zum Seminarraum, um seinen Unterricht anzutreten.

»Oha«, begrüßte ihn Pfeiffer. »Schön, dass du auch mal kommst.«

»Mmmmmh«, machte Fritz und rieb sich die Stirn. »Ich hab ganz vergessen, dass du der Trainer für die falschen Vampire bist.«

Pfeiffer zog die Brauen hoch. »Trainer? Ich bin eigentlich nur ein besserer Sandsack. Unser bester Fakefang ist Basti, der wird dir zeigen, wie du dich verhalten musst. Mich darfst du dann auf die Matte werfen.«

»So isses!«, rief Sebastian, der soeben ins Zimmer kam und sich genüsslich streckte. »Wiiiir … machen dich zu ’ner verblüffenden Vampirkopie, damit du erstens von unseren richtijen ablenken kannst … und zweitens unseren Feinden vermittelst, dass du ’n schwierijer Gegner bist. Das wirkt dann nämlich janz anders, als wenn so’n Vollpfosten wie du da aufschlägt. Also, red’s dir ein: Du bist ein Vampir und hammerstark!«

»Ich bin ein Vampir … und hammerstark«, murmelte Fritz.

»Prima. Was wir dir jetzt beibringen – dit macht dir bestimmt keenen Spaß – ist dit Beißen. Du überzeugst nur, wenn du ’nen möglichst echten Biss bringst. Klar? Und hier kommt Boris ins Spiel. Boris?«

»Ja, ja.« Ergeben stieg Pfeiffer zu Lange auf die Matte. »Beiß mich.«

Na toll, dachte Fritz erschlagen.

Sebastian fiel seinen Kollegen an, und zwar exakt so, wie es sich bei Micha schon angedeutet hatte, als er den Gewalttäter hatte beißen wollen: Er griff mit einer Hand in Pfeiffers Haarschopf und trat ihm zugleich lässig die Beine weg, sodass der andere seitlich auf die Matte fiel, nur aufgefangen vom Griff des anderen und einigermaßen vorsichtig abgelegt; dann warf sich Basti mit dem Ellenbogen fest über Boris’ Brust und bog seinen Kopf zurück, um sich über die nun gut zugängliche, ungeschützte Halsseite zu beugen.

»So! Zack! Haste jesehen? Jetzt könnte ick prima speisen, wenn ick ’n Vampir wär.«

»Mahlzeit«, sagte Pfeiffer, der es offensichtlich gewohnt war, zu Übungszwecken derart unsanft behandelt zu werden.

Fritz besah sich das Ganze nachdenklich. »So in etwa greift ein Vampir also an.«

»Nicht in etwa, sondern jenau so. Dit ist Instinkt, ’ne automatisierte Handlung, die läuft nie anders ab. Bissgriff heißt dit.«

»Und wieso schmeißt ein Vampir sein Opfer auf den Boden?«

»Aus mehreren Gründen«, antwortete Boris, der sich nun wieder aufrappelte. »Erstens würde das Opfer durch das Gift sowieso umkippen … und sich dabei vielleicht verletzen. Der Bissgriff sieht brutal aus, macht aber garantiert nichts kaputt. Zweitens ist die Vene, in die der Vampir reinbeißt, im Sitzen oder Stehen fast leer. Da könnte man kaum was raussaugen, das Trinken wäre sehr kraftaufwändig. Wenn der Mensch aber liegt, am besten noch mit dem Kopf leicht nach unten, ist die Vene gut gefüllt, und man kann ohne Anstrengung daraus trinken. Das Blut fließt einem sozusagen von alleine in den Mund.«

Fritz wurde von einem Gänsehautschauer geschüttelt. Basti sah es und lenkte ihn sofort ab, indem er ihn fragte: »Willste jetzt selber ma probieren?«

Fritz wollte ganz und gar nicht, tat es aber dennoch. Pfeiffer ließ sich von ihm hinschmeißen wie ein Dummy, immer und immer wieder, ohne sich zu beschweren. Basti Lange beobachtete Fritz’ Bemühungen kritisch, während er sich das Kinn kratzte, und schüttelte jedes Mal nur den Kopf, wenn Fritz nach seiner stümperhaften Ausführung des Bissgriffs zu ihm aufsah.

»Dit überzeugt mich nicht, Fritz. Dit würde ooch ’nen Vampirkenner nicht überzeugen.«

Sie übten den ganzen Vormittag, aber noch waren Fritz’ Erfolge mehr als bescheiden. Lange sah dies allerdings nicht dramatisch: »Dit wird schon«, sagte er zuversichtlich.

Hin und wieder kam einer der anderen vorbei, um die Fortschritte zu beobachten. So etwa ließ sich irgendwann Micha blicken, doch auch er hatte zunächst kein Wort des Lobes übrig: »Nicht so schlaff, Fritz! Mit viel mehr élégance!« Es klang wie olle Gans.

Auch Dr. Saltz kam aus seinem kleinen Reich geschlichen und sah eine Weile zu. »Fritz«, sagte er schließlich behutsam, »du musst dich ein bisschen mehr einfühlen. Guck mal: Da, neben der Kehle, läuft eine superleckere Vene entlang, die innere Drosselvene, die Vena jugularis interna. Die äußere interessiert dich nicht, die ist recht dünn und mickrig, aber die weiter innen ist superb. Du hast Hunger, deine Zähne wollen da ran. Also mehr Elan! Sonst kriegst du nichts zu essen! Du kannst das Blut schon riechen, es strömt da vorbei, heiß und spritzig, nur eine Zahnlänge entfernt …«

»Hör auf, Bock«, sagte Micha und schlürfte hörbar. »Ich sau mich ein.«

»Und mir wird schlecht«, jammerte Fritz.

Basti lachte laut und rollte sich auf der Matte vor Vergnügen. »Ey, so ’nen Unterricht hatte ick lange nicht! Ihr seid so geil!«

»So wird das nie was«, seufzte Pfeiffer. »Aber Fritz, mal was anderes … Alea wird heute Abend hier sein.«

»Oh! Ja, ja, das ist gut«, freute sich Fritz.

»Dir ist klar, dass du dichthalten musst wie Fugenschaum? Auch wenn dir das nicht gefällt?«

»Jaah, jaah.«

»Wenn du dich verplapperst, sind wir alle gearscht«, unterstrich Micha die Dringlichkeit dieser Forderung. »Wenn Sonnenscheinchen dich was fragt, musst du ’ne Antwort geben können. Zum Glück ist er echt gutgläubig und schnell zufrieden, wenn man ihm irgendwas auftischt.«

»Ich werde mir Mühe geben«, versicherte Fritz.

»Das hoffen wir.«

»Können wir jetzt weitermachen?« Van Lange wies auf die Matte. »Fritz kann immer noch nüscht und meine Lust auf Comedy ist noch nicht jestillt. Also?«

»Ich geh dann mal wieder.« Grinsend und kopfschüttelnd zog Bock sich aus dem Trainingslager zurück. »Viel Spaß noch.« Micha begleitete ihn, und die beiden Männer verschwanden durch die Tür.

Grüblerisch sah Fritz ihnen nach. Dann wandte er sich, einer spontanen Eingebung folgend, an die beiden übrigen Musiker. »Boris, Basti, sagt mal … Hat – Hat Micha euch schon mal … gebissen?«

Die zwei wirkten verwundert über die Frage. »Äh … nein«, übernahm Pfeiffer die Antwort. »Wieso fragst du das?«

»Ich dachte, es wäre irgendwie … naheliegend.«

»Findest du? Ich sehe keinen Grund, das zu erwarten, und wir haben auch ehrlich gesagt nie daran gedacht, es ihm anzubieten. Wozu auch? Ich denke mal, Freunde beißt man nicht, deshalb gibt es ja die Beißhemmung. Und … man kann schon leicht vergessen, dass Micha ein Vampir ist. Er benimmt sich ganz normal, also denkt man irgendwann gar nicht mehr darüber nach. Wir sind ständig mit ihm zusammen, wenn wir auf Tour oder im Studio sind, aber … über Beißen und Bluttrinken reden wir echt nie.«

»Nie?«, hakte Fritz nach.

»Nein, nie.« Pfeiffer zuckte die Schultern. »Ist einfach kein Thema bei uns.«

Diese Antwort machte Fritz noch nachdenklicher, obwohl er nicht genau wusste, warum.
 

Als sie am Nachmittag die Übungen einstellten, hatte Fritz zumindest die Empfindung, sich ein wenig vampirischer zu fühlen. Er versuchte weiterhin, sich wie einer zu bewegen, das Gefühl von unmenschlicher Stärke nachzuempfinden. Was ihm nicht gelingen wollte, war das Verständnis für Blut. Er hasste Blut, und darüber konnte er so viel nachdenken wie er wollte; nichts würde das jemals ändern.

Inzwischen hatte El Silbador aktuelle Meldungen aus der Polizeizentrale empfangen. Es gab eine weitere Studentenleiche, die Musik hörend und ansonsten anhaltspunktslos verstorben war, aber immerhin keine neuen zerfetzten Körper.

»Eine gute Nachricht, oder nicht?«, kommentierte Falk. »Vielleicht reißen sie sich endlich zusammen.«

»Ich glaub nicht, dass es damit erledigt ist«, seufzte Pfeiffer. »Wenn wirklich Fiacail Fhola in der Stadt sind, dann kommt das dicke Ende noch.«

»Unsinn. Wenn wir erst mal unseren Vexecutor hier haben, ist Ruhe.« Ingo faltete die Tageszeitung, in der er geblättert hatte, ziemlich lieblos zusammen und warf sie beiseite. »Ich werd uns mal was zu essen machen. Alea hat bestimmt auch Hunger, wenn er ankommt.« Mit diesen Worten verzog er sich in die Küche.

Fritz hielt es kaum noch aus; er wollte den Schrecken aller bösen Vampire endlich kennen lernen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass der Strudel von Ereignissen, in den er hineingezogen wurde, im Begriff war, unaufhaltsam an Windstärke zuzulegen.

Falsche Freunde

»Erklärt mir«, verlangte Fritz endlich, »was Fff … Fiäkl Olla, oder wie die heißen, eigentlich sein soll. Ist das ein Orden? Eine Sekte? Was bedeutet das Wort überhaupt?«

»Es bedeutet ›Blutzahn‹«, sagte Falk. »Du weißt schon, das wissenschaftlich korrekte Wort für den vampirischen Caninus. Dens sanguinis

Der Seminarraum war zum Aufenthaltsraum schlechthin geworden, auch wenn es dort etwas unbequem war, seit er als Tobezimmer zweckentfremdet wurde. Die meisten der Tische standen noch immer am Rand, und über die Turnmatte musste man hinübersteigen. Vor den Fenstern dämmerte es mittlerweile; Ingo Hampf war unverändert gänzlich lärmfrei am Kochen.

»Und welche Sprache soll das sein? Gälisch, oder wie?«

»Irisches Gälisch, ja. Fiacail Fhola ist eine Bande aus Irland. Deshalb fragen wir uns auch, was die hier wollen. Sie sind ein … wie kann man sagen … Netzwerk aus Vampiren, die sich nicht den Menschen unterordnen wollen. Najaah, es lässt sich ja nicht leugnen, dass Vampire von wissenden Menschen allgemein eher schlecht behandelt werden, aber unserer Meinung nach ist das noch lange kein Grund, Menschen zu terrorisieren. Aber genau das tun die. Sie sind – das kannst du dir denken – Bestien, das heißt, sie lehnen Rücksicht gegenüber Menschen, also Beute, prinzipiell ab.«

»Was net heißt«, warf Lasterbalk ein, »dass Fiacail Fhola nur aus Vampiren bestehen würde. Witzigerweise haben die eine ganze Menge menschlicher Sympathisanten. Wir vermuten, dass die auch Vampire werden wollen, irgendwann. Oberhaupt des Ganzen ist übrigens ein Vampir namens Paul Frais. Keine Ahnung, ob das sein echter Name ist, und genauso wenig wissen wir, wie alt er ist. Schade, denn das hätte einen großen Vorteil für uns. Vampire werden stärker und trickreicher mit der Anzahl der Leben, die sie gelebt haben. Wir Vampire sind ja net alterslos, Fritz, aber wir können uns verjüngen und ein Leben von vorne anfangen, wenn das aktuelle dem Ende zugeht. Je älter man ist, desto mehr nützliche Sachen kann man lernen. Besonders begehrt: Abkömmlinge erschaffen. Von uns hier in der MIU sind nur ganz wenige alt genug dafür.«

Fritz stützte das Kinn auf die Faust. »Ihr wisst also nicht, was dieser Frais alles kann.«

»Genau.«

»Aber ihr seid sicher, dass er noch an der Macht ist? Wann habt ihr zuletzt gegen diese Bande gekämpft?«

»Vor ein paar Jahren in Irland.« Bei der Erinnerung daran stahl sich ein breites Lächeln auf Falks Gesicht. »Der erste große Einsatz von Lámh Dé. Unvergessen.«

Schon wieder so ein schreckliches Wort. Fritz imitierte die Aussprache mühsam: »Und was soll das sein … Loww Dschäh

»Wir haben Verbündete in Irland«, erklärte Lasterbalk. »Die staatliche Vampirfang-Organisation, Fírinne. Das bedeutet ›Wahrheit‹. Die irische Präsidentin, Mary McAleese – übrigens selbst eine Vampirin – leitet sie persönlich. Lámh Dé ist der Name, den sie Alea gegeben haben, es heißt ›die Hand Gottes‹. Lustig, nech? Sie selber haben keinen Vexecutor und hatten auch nie einen, deshalb sind sie einfach unfassbar fasziniert von Aleas Fähigkeiten. Ich glaube, sie würden ganz Irland an Deutschland abtreten, nur um ihn zu kriegen.« Er und Falk tauschten ein wissendes Lächeln.

»Und ihr habt Fiäkl Olla damals alle gemeinsam zerschlagen …«

»Ja«, nickte Falk. »Das Gute ist, dass Alea jetzt unter dem Namen Lámh Dé auch Fiacail Fhola gut bekannt ist. Tja, so eine lebende Legende spricht sich rum. Unsere Feinde wissen, was er kann, und machen sich in die Hosen, wenn er auf den Plan tritt.«

»Genau, und nur auf diese Weise haben wir damals Eff Eff bei den, wie Micha wohl sagen würde, Eiern gehabt. Wir, also Saltatio Mortis, waren gerade bei der MIU aufgenommen worden – was Subway To Sally gut fanden und In Extremo net so, aber egal –, da kriegten Fírinne die ersten Probleme mit diesen Irren und baten uns um Hilfe. Aleas Fähigkeit hatten wir zu dem Zeitpunkt schon erkannt, aber net in allen Ausmaßen. Wir haben ihn ermutigt, die Vampire zu töten, und er hat es getan. Einen nach dem anderen. Paul Frais ist bald ausgetickt vor Angst. Zuletzt ist er mit ein paar wenigen Übrigen abgetaucht und ward net mehr gesehen. Naja, bis heute.«

»Oh je.« Fritz starrte, von neuerlichen, unangenehmen Ahnungen gepackt, vom einen zum anderen. »Wenn das also wirklich die sind, die uns hier Probleme machen …«

»Dann wird es haarig«, nickte Falk, »und deshalb müssen wir das Versteck am Bahnhof auch sofort säubern. Dumm, dass wir unsere Locksänger nicht herkriegen, Faun sind anderswo unterwegs. Es kann also sein, dass die ganze Vampirschar sich verkrümelt, wenn wir Alea zu ihnen bringen … Das kann gut für uns sein, weil sie dann weg sind, aber auch schlecht, weil wir sie nicht kriegen. Außerdem gibt es uns Anlass zur Sorge, dass Paul Frais sich offenbar überhaupt wieder blicken lässt. Hat er keine Angst mehr? Hat er eine Möglichkeit gefunden, sich gegen uns zu wehren? Wir wissen es nicht. Werden es wohl in Bälde erfahren. Wirst du mitkommen, Fritz?«

Fritz zog die Brauen hoch. »Muss ich denn?«

»Das wird Chefchen entscheiden. Wenn er meint, er hätte dich noch nicht genug gequält …«

»Ich finde, das hat er«, murmelte Fritz düster.

Kurz nachdem ein unschlüssiges Schweigen eingesetzt hatte, kam Simon Schmitt in den Seminarraum gehuscht. »Alea kommt!«, wisperte er sichtbar hektisch. »Schnell, schnell, schnell weg!« Er deutete auf eine angebrochene Packung Azathioprin, die unschuldig auf dem Tisch lag und die Falk hastig ergriff und in eine Tasche steckte.

Fritz duckte sich unwillkürlich. Der Killer, dachte er. Muss mich gut mit ihm stellen. Auch wenn er richtig fies und grausam und brutal ist … Es könnte lebensverlängernd sein!

Jemand kam herein, aber es war nur Ingo. »Ihr könntet mal den Tisch decken«, sagte er. »Fritz? Geh mal draußen die Außenleuchte anschalten. Gleich neben der Haustür ist so ein kleiner weißer Knopf, drück den. Sonst findet man den verfickten Eingang im Dunkeln nicht.«

Widerstrebend tat Fritz, wie ihm geheißen, auch wenn er seit den letzten Tagen gar nicht mehr gern allein im Dunkeln war. Der Flur erschien ihm unnormal lang und finster. Draußen, stellte er mit noch größerem Unbehagen fest, hatte es schon wieder zu regnen begonnen.

Fritz tastete an der nassen Hauswand nach dem Lichtschalter, möglichst ohne über die Schwelle in den Regen zu treten. Sein Arm war minimal zu kurz. Die Augen gegen vorwitzige Tropfen zusammenkneifend, reckte er die Finger noch weiter.

»Warte, ich mach schon. Bin ja sowieso nass«, sagte jemand und schaltete das Licht ein.

Fritz erschrak. Sein Blick, jäh erhellt, fiel auf einen jungen Mann, einen halben Kopf kleiner als er, dem Regenwasser aus teilweise rot und schwarz angefärbtem Haar perlte und der einen markanten Kinnbart trug. Was wollte der Typ denn jetzt? Verdammt, sie warteten doch auf den Killer! Offensichtlich hatte der dreiste Kerl vor, das Haus zu betreten.

»He, Sie können hier nicht rein!«, beeilte sich Fritz und versperrte den Weg.

»Hä? Wieso nicht?«, fragte der Fremde verwundert und blieb im Regen stehen.

»Weil das hier kein öffentliches Gebäude ist! Das ist ein – Wohnhaus!« Scheiße, niemand hatte ihn auf neugierige Passanten vorbereitet! Vielleicht war das sogar ein Vampirspion! Allerdings – wenn, dann ein verdammt harmlos aussehender. Er war ja nicht mal besonders groß, nur irgendwie drahtig, und seine Augen sahen für einen Vampir viel zu offensichtlich freundlich aus. Keine Aura des Undurchschaubaren umgab ihn. Fritz plapperte weiter: »Also, wie Sie sehen, sind hier keine Namensschilder, das Haus steht also offiziell leer. Vielleicht kann ich Sie ja doch noch überzeugen, dass Sie sich in der Tür geirrt –«

»Ah, Musik!«, unterbrach ihn der Fremde, als wäre ihm etwas Wichtiges wieder eingefallen. »Genau! Es ist so still …! Nee, Mist, das war’s nicht. Moment, Moment. Irgendwas mit Musik war das doch …« Angestrengt nachdenkend wischte er sich das nasse Haar aus der Stirn. »… Moooooment …«

Fritz ließ perplex die Schultern fallen. Was zum Kuckuck …?

»Musikmusikmusikmusik … Ach ja! ›Was ist nur aus der guten alten Musik geworden‹?«, zitierte der Fremde endlich triumphierend die Parole, die Fritz in der Papierfabrik in Alfeld benutzt hatte, um sich Zugang zu verschaffen. »So! Kann ich jetzt bitte rein? Ist echt eklig nass hier draußen.«

Fritz’ Verblüffung fühlte sich grenzenlos an. »Aber wir … wir erwart– …« Und dann machte es in seinem Kopf endlich PLONK, und zwar so laut, dass es zwischen den Ohren weh tat. »Moment mal … Sie – ich meine, du bist Alea? DuuuScheiße, der Bart passt …

»Ääh … Ja?« Der Angesprochene zuckte die Schultern, was eine Menge Wassertropfen dazu veranlasste, von seiner Jacke abzuspringen. »Wer denn sonst? Kennen wir … uns überhaupt …?«

»Äh – nein.« Wie in Zeitlupe trat Fritz von der Tür weg und starrte sicherheitshalber noch einmal an Alea vorbei, als könnte es sich immer noch um einen Irrtum handeln. »Ich – ich bin Fritz. Entschuldige, aber ich hab mir dich irgendwie anders vorgestellt.«

»So? Und wie?«, fragte Alea, während er, im Flur den Regen abschüttelnd, Fritz vorsichtig anlächelte. »Du wirkst so … enttäuscht.«

»Naja, ich … ich hab dich mal auf ’nem Poster gesehen, da sahst du … gefährlicher aus. Naja, ist ja auch egal!«, versuchte Fritz hektisch, den ersten Eindruck zu retten. »Ich weiß nur, dass du Vampire töten kannst! Das finde ich spitze!«

Aleas Lächeln verschwand. »Oh, ja«, seufzte er.

Mist, dachte Fritz. Irgendwas stimmt mit dem Typen nicht. Vielleicht sollte ich die Klappe halten.

Er führte Alea durch den schummrigen Gang – inzwischen konnte er die weißen Flure halbwegs voneinander unterscheiden – an den Türen vorbei, die zu den Schlafzimmern führten, bis in den Seminarraum, wo sich scheinheilig lächelnd alle MIU-Mitglieder eingefunden hatten und ihren Teamkameraden nun begeistert willkommen hießen wie einen verlorenen Sohn. Besonders zum Tragen kam dieser Vergleich, als Lasterbalk, neben dem Alea tatsächlich wie ein Kind wirkte, ihn an die Brust drückte und ihm mit den Worten »Na, mein kleiner König?« auf den Kopf patschte.

»Hört auf, hört auf«, protestierte Alea schwach, als ihm jeder mindestens einen freundschaftlichen, aber deshalb nicht minder schmerzhaften Knuff verpasste. »Jetzt ist’s genug, ich … Hey, ich bin klatschnass … Sagt mal, bin ich hier auf ’nem Meet-and-Greet mit lauter Groupies? Hört auf jetzt!«

»Lasst unsere Killermaschine in Ruhe und kommt essen!«, forderte Hampf die Männer endlich mit Nachdruck auf.
 

Kurze Zeit später saßen sie alle mehr oder minder friedlich, aber wie immer laut redend, um den Tisch. Alea kommentierte die herrschende Unordnung und die Übungsmatten nicht; sicherlich kannte er das sogenannte Vertuschungsprogramm, in dem Menschen die Rollen von Vampiren übernahmen. Fritz fiel auf, dass sogar Buschfeldt gut gelaunt aussah. Er selbst saß zwischen Sebastian und Simon, dem Lasterbalk gerade ganz leise von rechts zuraunte: »Net spucken, Schmittchen. Iss vorsichtig.«

Der jüngere Vampir hob nur kühl eine Augenbraue. »Ich hab’s kapiert.«
 

Nach dem glücklicherweise ereignislos verlaufenen Abendbrot kehrte postwendend wieder Ernst in die Runde ein.

»Du weißt, wieso du hier bist«, sagte Buschfeldt streng.

Alea sah ihn aufmerksam an. »Ja.«

»Wir nehmen ein Vampirversteck hoch, von dem wir nicht wissen, wie viele Schwarzblütige sich dort aufhalten.«

»Ja, ich weiß.«

»Bist du bereit, deine Fähigkeiten einzusetzen?«

»Wenn’s nicht anders geht«, wich Alea aus. Er wirkte angespannt.

»Gut, das muss reichen.« Mit gewichtigem Nicken fuhr der Direktor, an die ganze Runde gewandt, fort: »Ich will nur diejenigen auf der Pirsch, die zu was zu gebrauchen sind. Alea, Falk, Lasterbalk, Asp, Hampf, Einhorn, Lange, Flex.« Sein Finger war vom einen zum anderen gewandert. »Der Rest bleibt hier.«

Fritz fiel ein Stein vom Herzen. »Ich muss nicht mit!«, brachte er selig hervor, was die anderen dazu veranlasste, ihm schräge Blicke zuzuwerfen.

»Moment mal, ich denke, Fritz ist jetzt mein Baby«, erinnerte Micha und zeigte mit dem Daumen auf ihn. »Muss ich ihn nicht mitschleppen?«

»Wenn du dir einen Klotz ans Bein binden möchtest, gerne.« Buschfeldts Gesicht hatte wieder die übliche, unbewegte Miene angenommen. Widerwillig korrigierte er sich: »Ich halte Friedrich einfach für noch nicht ganz einsatzbereit, was das Zerschlagen eines Vampirnests betrifft. Aber ihr arbeitet ja daran, nicht wahr?«

»Wir üben weiter, während ihr weg seid«, versicherte Pfeiffer.

Damit war das Ganze beschlossene Sache, und das Einsatzteam rüstete sich ohne Verzögerung zum Aufbruch. Fritz nahm mit Verwunderung zur Kenntnis, wie unwohl sich Alea angesichts seiner Aufgabe zu fühlen schien, und sprach ihn darauf an.

»Du … Du magst es nicht, Vampire zu töten, oder?«

Alea schüttelte nur den Kopf. »Nee … nicht so.«

»Warum nicht? Du kannst dir nicht vorstellen, was ich tun würde, um mit dir zu tauschen! Wenn ich Vampire so erledigen könnte, wie ich’s von dir gehört hab, dann würde ich mich so unendlich sicher fühlen … Das wäre traumhaft!« Er meinte es ganz ehrlich.

Diesmal rang sich Alea immerhin ein schwaches Lächeln ab, das jedoch sofort verschwand, als er erklärte: »Fritz … so heißt du, ne? Fritz, glaub mir, es ist nichts, wirklich gar nichts Angenehmes daran, jemanden vom Leben zum Tod zu befördern. Ich mache das nur, wenn es wirklich keinen anderen Weg gibt. Ich behaupte, das, was ich mache, ist sogar noch schwieriger als jemanden einfach … zu erschießen, oder so. Wenn man sich auf einen Herzschlag konzentriert und spürt, wie er … langsamer wird … und schließlich aufhört … fühlt man sich grausam. Klar. Eigentlich sollte keiner die Macht haben, so was auf so einfache Weise zu machen. Ich wünschte, ich könnte das nicht, ganz ehrlich.«

»Oh.« Aus dieser Perspektive hatte Fritz die Angelegenheit noch nicht betrachtet; er versuchte, sich darauf einzulassen, doch so richtig gelang es ihm nicht. Dass Alea diese Fähigkeit gern los wäre, wollte einfach nicht in seinen Kopf. »Aber du … machst es ja trotzdem«, stellte er schließlich fest.

»Naja, weil ich Menschen beschützen muss. Manchmal muss man von zwei Entscheidungen eben die treffen, die für einen persönlich erst mal unangenehmer ist, aber die dann insgesamt einen … hm … höheren Zweck hat.«

Nach diesem Gespräch wusste Fritz nicht mehr so richtig, was er von Alea halten sollte. In jedem Falle war er maßlos enttäuscht darüber, die Geheimwaffe der MIU eher als Pazifisten zu erleben, auf den die Beschreibungen lieb und nett weit besser passten als tödlich und gefährlich.
 

Im HQ zurück blieben außer Fritz noch Bock, Buschfeldt, Schievenhöfel, Simon, Pfeiffer und El Silbador. Letztere holten sich, nachdem das Jagdteam aufgebrochen war, aus der Polizeizentrale das iPhone des jüngsten Opfers, denn natürlich war auch dieses mit aufgesetzten Kopfhörern gestorben. Fritz setzte sich gelangweilt neben sie, während sie die Tracklist durchgingen.

»Diese komische Wuppertaler Studentenband ist auch wieder dabei«, stellte Boris fest.

»Snowine … Was soll denn bloß heißen? Ist das ein Mix aus Snow und Wine?«, mutmaßte Elsi, das Kinn auf die Faust gestützt.

Fritz lauschte ihrer Diskussion nur mit halbem Ohr, bis er sich plötzlich angesprochen fand.

»Du bist ganz schön ernüchtert davon, wie Alea wirklich ist, oder?«, fragte Elsi ihn neckend. »Aber wir haben dir gesagt, dass er kein Superheld ist.«

»Ihr habt mir nicht gesagt, dass er es hasst, Vampire zu töten«, grummelte Fritz.

»Den Job hasst er wirklich, ja. Da ist er doch lieber Spielmann.«

Fritz schüttelte nur betrübt den Kopf. »Spielleute … Mann. Seid ihr das eigentlich alle?« Ihm fiel wieder ein, dass er eigentlich vorgehabt hatte, mehr über die Musik seiner Kollegen in Erfahrung zu bringen; er befürchtete jedoch, dass es in die Richtung ging, die Kitty so mochte, und auf dieses Geträller, gemischt mit harten Gitarrenklängen, brannte er nicht gerade. Ach, Kitty, dachte er sehnsüchtig. Wie gerne hätte er sie jetzt auf dem Schoß sitzen gehabt, ein Glas Wein in der Hand und der Tatort im Fernsehen …

»Ja, sind wir alle«, beantwortete El Silbador die Frage, von der Fritz schon fast vergessen hatte, dass er sie gestellt hatte. »Falls es dich wundert, dass wir alle in einer ähnlichen Musikrichtung tätig sind: Das liegt an den Vampiren. Die MIU beschäftigt nun mal Vampire, und Vampire lieben Sackpfeifenmusik.«

Dies weckte nun doch Fritz’ Aufmerksamkeit. Verdattert drehte er sich nach Elsi um. »Vampire stehen auf dieses ätz– … dieses Gedudel?«

»Hmmm.« Boris nickte. »Woran das liegt, weiß man nicht, aber die Töne klingen in Vampirohren offenbar wundervoll. Dabei ist es auch ganz egal, was für ein Typ Sack es ist oder aus welchem Kulturkreis die Musik kommt. Vampire lieben Säcke. Entweder spielen sie selbst einen, oder sie tummeln sich eben da, wo andere Leute einen spielen.«

»Kennst du das MPS, Fritz?«, fuhr Elsi fort. »Das größte Mittelalter-Festival Europas. Wir von SaMo betreuen das jeden Sommer, weil sich unter den Besuchern etliche Vampire tummeln, um sich die Abend- und Nachtkonzerte anzuhören. Bisher waren sie immer friedlich, aber man weiß nie; deshalb haben wir zu fast allen Terminen eine Locksängerband dabei, meistens Faun. In jeder Saison müssen wir den Veranstalter aufs Neue überzeugen, uns auch fürs nächste Jahr wieder einzubuchen, damit wir unsere Arbeit machen können. Zum Glück kennen wir ihn schon lange. Es ist ein echt harter Job, den zweiten Tag jedes Wochenendes brauchen wir immer zum Auswerten der Beobachtungen. Aber es ist wichtig, und da wir mit dem MPS überhaupt erst bekannt geworden sind, ist das jetzt natürlich unser Hauptaufgabenbereich.«

»Verstehe«, murmelte Fritz. Ein Mittelalter-Festival voller Vampire? Er staunte und war zugleich erleichtert, dass Kitty ihm noch nie damit in den Ohren gelegen hatte. Komisch eigentlich, vielleicht wusste sie gar nichts davon. »Darf ich mir den Laptop mal … leihen?«, erkundigte er sich dann. Pfeiffer und El Silbador schauten gleichermaßen verblüfft zurück. »Ich möchte mal ein bisschen … ins Internet.«

Die beiden tauschten einen Blick. Dann zuckte Pfeiffer die Schultern. »In Ordnung. Tob dich aus. Aber denk dran, dass wir weiter Pfählen und Vampirverhalten üben müssen. Buschfeldt wird das prüfen.«

»Das hat Zeit. Meine Recherchen nicht«, insistierte Fritz.

Daraufhin überließen ihm die beiden Techniker das Feld.
 

Amboss hob die Nase und schnüffelte sichtbar. Seine Schwanzspitze wackelte wie ein empfindlicher Sensor.

»Merkwürdig«, bemerkte Asp leise. »Als wir zuletzt hier waren, hat er sofort verrückt gespielt.«

»Sicher, dass er nicht nur irgendwas zu fressen gerochen hat?«, murrte Ingo.

»Du unterschätzt diesen Hund«, belehrte ihn Falk.

Sie standen tief unten in den Eingeweiden des Wuppertaler Hauptbahnshofs in einem Bereich, der durch eine Glastür mit der Aufschrift ›Nur für Personal‹ vom Rest des verlassenen Bahnsteigs abgetrennt war. Die Wände und die niedrige Decke waren roh betoniert und tropften; zwei graue Türen zweigten ab, hinter der linken befanden sich Reinigungsutensilien. An der rechten, die verschlossen war, schnupperte der Bluthund.

Nach eher kurzer Diskussion entschieden die Ermittler, die für Amboss nur wenig interessante Tür dennoch zu öffnen. Micha versuchte, seinen Universalschlüssel in das leicht rostige Schloss zu zwingen, und hatte Erfolg. »Ich staune immer wieder«, kommentierte er.

Hinter der Tür empfing sie Dunkelheit.

»Licht?«

Van Lange betastete die feuchte Wand. »Nö. Aber zum Glück können einije von uns ja trotzdem sehen.«

»Ich hätte«, begann Alea prompt, wie jedes Mal, »übrigens auch endlich gerne mal solche leuchtenden Kontaktlinsen, mit denen man im Dunkeln sehen kann. Warum krieg ich so was als Einziger nie? Ich soll doch die Vampire erledigen.«

»Weil wir genau eingeteilt haben, wer die Vorhut ist«, beeilte sich Falk, »und das sind nun mal wir –« Damit meinte er Lasterbalk und sich selbst. »– Michael und Alex. Du bist wertvoll und bleibst hinten, das ist sicherer.« Rasch wechselte er das Thema, während er sich umsah. »Hier scheint nicht oft jemand reinzukommen, jedenfalls kein Mensch. Wenn ihr sehen könntet, wie’s hier aussieht! Alles voll mit … Stroh und … Klamotten? Könnten auch Decken sein. Ein paar Werkzeuge … Einfach lauter Schrott. Typisches Vampirlager.«

»Vampire brauchen halt keen Licht … und keene Ordnung.«

»Da kenn ich aber noch andere, Basti«, sagte Micha und rümpfte die Nase. »Übrigens riecht’s hier irgendwie eklig, aber ich weiß nicht genau, wonach.«

»Mottenkugeln?«

»Kann sein.«

Alea, den Falk und Lasterbalk schützend zwischen sich hielten, als könnte ihn aus dem Nichts etwas anfallen, schloss halb die Augen und konzentrierte sich. Die Übrigen hielten an, als sie sahen, dass er auf seine ganz eigene Art Ausschau hielt.

»Es sind … Es ist …«, begann er schließlich unschlüssig.

»Ja?«

»Ich – ich weiß nicht. Hier waren viele, richtig viele …« Wie in Trance begann er weiterzugehen.

Ein paar Schritte später fing Amboss an zu knurren und erstarrte zur Salzsäule. Sein Nackenfell sträubte sich.

»Hier müssen welche sein!«, flüsterte Lasterbalk angespannt. »Schnell! Sortieren wir schon mal die Babys raus! Alea? Micha? Bereit?«

Micha drehte sich nach Alea um, von dem er wusste, dass der immer noch nichts sehen konnte. »Das gleiche wie immer?«, fragte er.

»Okay.« Alea öffnete die Augen und nickte. »Bin soweit.«

Auf Lasterbalks Zeichen hin stimmten sie zu zweit jenes Lockstück an, das ihnen bisher stets gute Dienste geleistet hatte, wenn es darum ging, neu erschaffene Vampire zu bezirzen. Es war alt, und alte Vampire waren lange gegen seine Wirkung gefeit, doch bei denjenigen, die es noch nicht kannten, war der Effekt seit Jahrhunderten bemerkenswert. Leise sangen sie:

»Ai vist lo lop, lo rainard, la lèbre,

Ai vist lo lop, lo rainard dancar.

Totei tres fasiàn lo torn de l’aubre,

Ai vist lo lop, lo rainard, la lèbre,

Totei tres fasiàn lo torn de l’aubre,

Fasiàn lo torn dau boisson folhat …«

Nichts tat sich. Einen Moment lang horchten die Männer ins muffige Dunkel, und nur Amboss’ leises Knurren war zu hören; dann gaben sie auf.

»Test negativ«, stellte Falk fest. »Keine jungen Vampire.«

»Da!«, rief Lasterbalk plötzlich aus und zeigte jäh so wild fuchtelnd auf etwas, dass er Alea die Schulter rammte. »Leiche! Los, rüber!«

Unwillkürlich sortierten sich die Acht in jene, die sehen konnten, und jene, die blind blieben; letztere verharrten unschlüssig an Ort und Stelle, während die Erstgenannten sich um einen Körper scharten, der etwas abseits zwischen zweien der Stroh- und Deckenhügeln lag, die den hallenartigen Raum anfüllten.

Asp kniete sich als erster zu der älteren Frau, deren halb ergrautes Haar sich aus ihrem ordentlichen Dutt gelöst hatte, und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Auf den ersten Blick fehlte ihr nichts; sie trug die Kluft einer Reinigungskraft.

»Es ist die Putze!«, sagte Lasterbalk überflüssigerweise.

»Ja, das sehe ich auch … Aber woran ist sie … oh.« Asp hatte den Kopf der Frau nach links gedreht, weshalb nun ihre rechte Halsseite sichtbar wurde. »Frische Bisswunden«, murmelte er.

»An einem Biss stirbt man aber net.«

»Ich sagte Wun-den. Das ist ein Plural.«

»Was

Nun bückten sich alle vier und beglotzten das Opfer. Was sie sahen, ließ sie schaudern: Nicht nur ein Vampir hatte die Unglückselige gebissen, sondern, soweit die vielen Zahneinstiche eine Schätzung zuließen, mindestens fünf.

»Die haben ja ’ne Party gefeiert!«, sagte Falk fassungslos.

»Wenn jeder von denen einen halben Liter Blut oder mehr getrunken hat, ist das als Todesursache durchaus plausibel.« Asp erhob sich mit einem tiefen Atemzug.

Lasterbalk nickte langsam. »Sie sind entdeckt worden … und abgehauen. Aber net ohne die Entdeckerin zu bestrafen und dafür zu sorgen, dass sie nix verrät. Und net ohne einen leckeren Abschiedssnack.«

»Die Arme«, murmelte Falk teilnahmsvoll. »Stellt euch das mal vor … Man wird von zig Bestien gleichzeitig gepackt … liegt auf dem Stein, platt durch das Gift … und wird von einem nach dem anderen ausgesaugt … bis man endlich alle Stadien des hämorrhagischen Schocks durchlebt hat …«

»Seien wir froh, dass Fritz net hier ist. Das wäre Stoff für seine Albträume.«

Währenddessen standen die menschlichen Teilnehmer der Expedition unverändert nahe der Tür und lauschten mit Unbehagen.

»Seid ihr fertig?«, fragte Ingo und staunte selbst, wie hohl seine sonst so kräftige Stimme klang. »Der Hund hat sich beruhigt … Es ging wohl nur um die Leiche.«

Lasterbalk ergriff den blutleeren Körper und warf ihn sich einigermaßen behutsam über die Schulter. Zynisch meinte er: »Die Polizei wird kotzen. Wieder ein Vampirgräuel.«

»Scheiße, dass Vampire so brutale, scheußliche Viecher sind!«, zischte Alea, und in seiner Stimme schwang schwelender Zorn mit. Niemand korrigierte ihn; natürlich nicht. »Diejenigen, die das gemacht haben … die hätte ich erledigt!«

»Das wissen wir«, sagte Micha knapp. »Aber jetzt müssen wir abhauen. Hier ist nichts mehr zu holen. Nur die Tatortreinigung hat hier noch was zu tun.«

So mussten die Acht unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Auf dem Weg durch den Bahnhof kamen ihnen wenige, bereits winterlich gekleidete Reisende entgegen, die nicht einmal ahnten, was sich in unmittelbarer Entfernung vor kurzem ereignet hatte.

Essig bei die Fische

Hamm ist eine Stadt in Nordrhein-Westfalen, flankiert von Kamen, Bergkamen, Lippetal und dem kleinen Unna, nur um ein paar zu nennen. Man sagt, Hamm sei die zweiundvierzigst größte Stadt Deutschlands und weise ein überschäumendes Kulturangebot auf.

Tatsächlich ist Hamm im Herbst einfach nur kühl und überschaubar. Die Straßen sind voller Blätter und es fällt nicht weiter auf, wenn ganze Hügel davon am Wegesrand einer Abfuhr harren. Blut fällt auf roten Blättern auch nicht auf, jedenfalls nicht so sehr wie auf grünen. Vampire finden zahlreiche Möglichkeiten, in der wimmeligen Stadt unterzutauchen. Vielleicht ist dies der Hauptgrund dafür, dass Fiacail Fhola sich Hamm aussuchten, um damit fortzufahren, seltsame Todesfälle zu verursachen – und dies wiederum war der Grund dafür, dass die Musikindustrieüberwachung ihnen endlich auf die Schliche kam.
 

Zwei Tage, nachdem das Vampirversteck im Wuppertaler Hauptbahnhof leer vorgefunden worden war, traf das ganze Team der MIU, angefordert durch einen typischen ungeklärten Todesfall, in Hamm ein. Neben Fritz’ Auto, Buschfeldts Cabrio und dem geheimdienstlichen Dark Knight gab es nun auch noch Schievenhöfels VW Golf, sodass die nunmehr fünfzehn Personen ohne Platzprobleme ob all ihrer nicht gerade raumsparenden Gerätschaften anreisen konnten.

»Sieh an, es regnet nicht!«, frohlockte Falk, als sie aus den Autos stiegen. »Aber wo sind wir hier eigentlich?«

»Im Künstlerviertel«, erklärte El Silbador mit Blick auf einen etwas zerknitterten Stadtplan. »Das ist die Martin-Luther-Kirche …« Er zeigte auf besagtes sakrales Gebäude. »… und wir wohnen jetzt … hier.« Sein Finger richtete sich auf die Hauswand unmittelbar neben ihnen, an der die vier Autos parkten; sie gehörte zu einem mehrstöckigen, hellgrau gestrichenen Gebäude.

»Naja, ist doch hübsch. Auf, richten wir uns ein.«

Neben der Eingangstür im Erdgeschoss befand sich ein Schaufenster unter einer grün und weiß gestreiften Markise. Es war jedoch leer.

»War wohl mal ein Laden«, sagte Schievenhöfel.

Im Inneren des Hauses war alles aus Holz, das in warmen Farben lasiert war und Heimeligkeit ausstrahlte. Das Treppenhaus war eng und knarrte, die Türen splitterten an den Rändern ein wenig und quietschten zum Teil auch bei sanftem Öffnen, doch diese gewissen Gebrechlichkeiten eines alten Hauses waren den Männern um einiges willkommener als die schmucklos weißen Tapeten, von denen sie im Wuppertaler Stützpunkt umgeben gewesen waren. Hier waren die Wände ganz und gar nicht weiß: Sie waren hellrot oder sanft gelb gestrichen und fast vollständig eingenommen von Kunstdrucken aller Art, sei es Rembrandt, van Gogh, Dalí oder Caspar David Friedrich.

»Schick«, kommentierte Simon.

»Na, ich weiß nicht«, murrte Ingo. »Könnte einen auf Dauer ’n bisschen wuschig machen.«

Buschfeldt nahm kommentarlos seine Vorrechte in Anspruch und suchte sich zuerst ein Zimmer; danach wies er seinem Assistenten eines zu. Die Übrigen verteilten sich auf Zimmer mit zwei oder drei Betten. Sobald die Küche und die Badezimmer inspiziert worden waren, begann Dr. Saltz damit, eines der größeren freien Zimmer als neuen ›Bockshof‹ einzurichten. Er machte sogar ein entsprechendes Schild aus einer leeren Blockseite und bemalte es mit Kringeln und Schnörkeln, um es der allgemein kunstbeherrschten Atmosphäre anzupassen – mit mäßigem Erfolg.

»He, es sind ja schon Leute hier!«, stellte Lasterbalk überrascht fest, als er eins der letzten Zimmer bereits belegt vorfand. »Was hat denn das bitte zu bedeuten?«

El Silbador versuchte vergeblich, ihm über die Schulter zu schauen, und duckte sich schließlich unter einem Arm des Hünen durch. »Da liegt ein Zettel auf dem Bett, der könnte die Frage beantworten.« Neugierig nahm er das Stück Papier, setzte sich auf die Matratze und las laut vor: »Hallo Freunde, wenn ihr das hier lest, sind wir schon bei der Polizei und begutachten die Leiche. Werden gegen Mittag zurück sein. Haben stapelweise Aspirin mitgebracht, wie angefordert, ist in der Küche. Im Kühlschrank ist Obstkuchen. Kommt nach zur Wache, wenn ihr wollt. Bis später. Eric und SRR.« Er sah auf. »Soso, die beiden sind endlich da, wurde ja Zeit. Aspirin … na klar. Nette Alea-Tarnung.«

»Guck an«, grinste Lasterbalk. »Chefchen wird sich freuen, jetzt haben wir noch ein paar Leute mehr und ein paar Probleme weniger.« Damit verschwand er aus der Tür, um die Nachricht weiterzuleiten.
 

Fritz hatte sich zusammen mit Simon Schmitt einquartiert, der nicht widersprochen hatte. Nun suchten sie wieder nach den anderen. In diesem Haus gab es keinen Aufenthaltsraum, nur ein Wohnzimmer mit zwei durchgesessenen Sofas, das an die eher kleine Küche angrenzte. Aus diesem Grund sammelten die Männer zunächst aus allen Schlafzimmern die Stühle ein, die dort nicht gebraucht wurden, und stellten sie ziemlich eng beieinander in die Stube.

Falk, Lasterbalk und Alea saßen dort schon, als die beiden kamen. Simon gesellte sich sofort zu ihnen, aber Fritz zögerte; irgendwie fühlte er sich noch immer nicht voll in die Gruppe integriert.

Alea schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Komm schon, setz dich hin! Wir beißen nicht!«

Wenn du wüsstest, dachte Fritz und erwiderte das Lächeln etwas zaghaft, ehe er sich dazu setzte. Nach und nach trafen die Übrigen ein.

Sebastian begann Kaffee auszuschenken, den die beiden MIU-Agenten, die Fritz noch nicht kannte und die jetzt fehlten, offensichtlich bei ihrer Ankunft am Vormittag aufgebrüht hatten.

»Der ist fast kalt«, stellte Asp enttäuscht fest.

»Tja, Herr Spreng, wennse wat Warmet wollen, dann müssense schon ’n Bier bestellen«, feixte Basti. »Sind jetzt alle da?« Er versuchte, die Runde zu überschauen, und trat widerwillig beiseite, als Buschfeldt mit grimmiger Miene den Standort an der Front des Wohnzimmers beanspruchte.

»Weg mit dir, Lange. Ah – keiner hat rumgetrödelt. Na gut, wir wollen die Besprechung hinter uns bringen. Also, zu meiner Zufriedenheit sind nun auch noch zwei unserer Besten von Subway To Sally –« Fritz sah, dass alle von In Extremo die Augen verdrehten. »– dem Aufruf gefolgt und zu uns gestoßen. Ich habe mit der Polizei gesprochen, während ihr so emsig um die Zimmer gestritten habt, und es gibt bereits eine zweite neue Leiche hier in Hamm. Gleich im Anschluss werde ich daher mit Klaus-Peter, Friedrich, Einhorn und Lasterbalk zur Polizei fahren, wo wir die anderen treffen. Irgendwelche Einwände?«

»Wieso ich?«, fragte Lasterbalk.

»Berechtigte Einwände?«, ging Buschfeldt darüber hinweg. »Keine? Gut.« Es war offensichtlich, dass er außer Micha einen in seinen Augen zuverlässigeren Vampir dabei haben wollte, aber ob Aleas aufmerksamer Präsenz konnte er diese Tatsache nicht begründen. »Dann fahren wir jetzt los.«
 

Fritz nahm seine Jacke und sein Portemonnaie, das er sich in die Gesäßtasche seiner Hose schob, und trottete zu Lasterbalk, der schon an der Tür wartete und dabei einen gerahmten Gemäldedruck an der Wand so eindringlich anstarrte, als habe er ihn kritisch zu bewerten. Als Fritz bei ihm war, erkannte er das Bild; es war Der Schrei von Edvard Munch.

»Komisches Bild«, sagte er.

»Find ich net«, erwiderte Lasterbalk. »Eigentlich trifft es das Thema sogar ziemlich gut.«

»Was meinst du damit?«

»Der Maler hatte Umgang mit Vampiren. Er hat sogar ein Ölbild mit einer Vampirin drauf gemalt, die einen Mann beißt. Überhaupt war seine Kunst ein bisschen … naja … gruselig. Aber bei dem hier –« Er deutete auf Der Schrei. »– sind wir uns sicher, dass der Schrei, der ihn dazu inspiriert hat, von einem Vampir kam. Alte Vampire können auf eine Art und Weise schreien, dass ganze Bäume ausgerissen und Häuser abgedeckt werden. So was muss er gehört haben.«

»Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt.« Fritz starrte das Bild an. »Wie nennt man diese Fähigkeit?«

»Der Schrei«, antwortete Lasterbalk achselzuckend. »Witzigerweise haben Subway daraus einen Dauer-Bühnengag gemacht, indem sie bei jedem Auftritt das Publikum bitten, ihnen den Schrei zu schenken. Wär lustig, wenn wirklich mal ein alter Vampir dabei wäre, der sie dann einfach alle … wegpustet.« Der große Mann lachte vergnügt. »Schade, auf die Idee ist noch keiner gekommen.«

»Seid ihr fertig?«, bellte Buschfeldt, als er, Micha und den fröhlichen Schievenhöfel im Gefolge, angehinkt kam. Sein Knöchel tat augenscheinlich trotz Bocks Pflege immer noch weh. »Dann können wir ja los.«
 

In der Grünstraße Nummer zehn befand sich das Polizeipräsidium. Sie parkten direkt auf dem Hof, wie immer – mit zwei Autos, da sie die anderen beiden Agenten gleich mitnehmen wollten –, und wurden bereits erwartet. Man führte die Fünf durch das etwas schlecht beleuchtete Gebäude an zahlreichen Informationstafeln vorbei.

Mitten auf dem Gang kamen ihnen zwei Männer entgegen, die keine Polizeiuniform trugen; einer war hager, hatte langes schwarzes Haar und trug einen dunklen Mantel, der andere war etwas gedrungener und weißblond, wirkte schlecht gelaunt und starrte zu Boden, bis die beiden Gruppen aufeinander trafen.

»Tja, ihr habt leider Pech«, sagte der Hellhaarige, bevor jemand ein Wort des Grußes in den Mund nehmen konnte, »sie haben die andere Leiche längst in der Pathologie. Da müssen wir noch vorbeifahren.«

»Ja, wir freuen uns auch, euch zu sehen«, sagte Lasterbalk ein wenig tadelnd, aber er meinte es ernst, anders als vermutlich Buschfeldt.

»’tschuldige, Lasterbalk. Wir hatten keinen schönen Tag bisher.« Der Blick des Blonden fiel auf Fritz und wurde sofort misstrauisch. »Und wer ist das?«

»Friedrich Wunderbaum«, stellte ihn Buschfeldt vor. »Unser Neuer. Friedrich, das sind Sugar Ray und Eric Fish.«

Da Fritz diese Codenamen erst im Kopf wiederholen musste, vergaß er, die Hand hinzuhalten, und beide ihm fremden Männer zogen ihre eigenen darum wortlos wieder zurück.

»Na los, beeilen wir uns«, drängte Eric und ging los. Ihm schien es ganz und gar nicht fremd zu sein, Anweisungen zu erteilen. Fritz war froh, als der durchdringende Blick sich von ihm löste und auf die Doppeltür nach draußen gerichtet wurde.

Micha indes hatte sich im Hintergrund gehalten und wurde deshalb erst jetzt überhaupt bemerkt, da die Gruppe kehrt machte, Er und Eric Fish tauschten einen längeren Blick, dann sagte letzterer seufzend: »Michael, das Einhorn.«

»Eric, der Fisch«, gab Micha ungerührt zurück. Mehr hatten sie einander nicht zu sagen.

Fritz staunte über diese unterkühlte Begrüßung und fragte sich, warum die beiden Männer sich nicht mochten.
 

Das Evangelische Krankenhaus in der Werler Straße beherbergte eine der ansässigen Pathologien. Hier wurde die Leiche eines jungen Mannes untersucht, der in das ›Wuppertaler Schema‹, wie es mittlerweile in ganz Westfalen genannt wurde, hervorragend passte. Als die MIU-Ermittler im bläulichen Licht um den toten Körper herumstanden und die Kälte des Raumes zu ignorieren versuchten, war es Lasterbalk, der schließlich die Initiative ergriff.

»Also gut, ich mach’s. Wenn alles stimmt, müsste dieser Typ extrem nach Stress schmecken. Finden wir’s raus.«

»Der ist schon seit zwei Tagen tot«, erinnerte ihn Schievenhöfel. »Er wurde nur später gefunden. Das Blut ist schon nach unten gesackt und geronnen, wie du siehst. Bist du sicher, dass du probieren willst?«

»Ein Tropfen – na, sagen wir Krümel – wird mich schon net umbringen.« Lasterbalk nahm die Hand des Toten, hielt dann noch einmal inne und wandte sich an Sugar Ray: »Du hast den anderen probiert, oder?«

»Ja«, antwortete dieser ruhig. »Er war bitter. Abstoßend bitter.« Er sprach fast unbeteiligt und so leise, dass Fritz sich automatisch vorbeugte, um ihn besser hören zu können.

»Gut, das passt.« Lasterbalk schaute sich kurz im Labor um und vergewisserte sich, dass kein Unwissender in der Nähe war, dann warf er aus und ritzte den herabhängenden, schwarz verfärbten Daumen der Leiche vorsichtig an seinem linken Fangzahn an. Alle starrten ihn an, seine Reaktion abwartend, und er enttäuschte sie nicht, als er das Gesicht verzog und vor Ekel erschauerte. »Ach du Scheiße, pfui!« Mühsam versuchte er, den Geschmack wieder von der Zunge zu bekommen. »Man sollte echt keine kalten Leute beißen … Sollte man echt net machen …«

Micha, der hinter Fritz stand, bemühte sich erneut um ein Kochbeispiel: »Jetzt stell dir vor, dir fällt der Essig in die Suppe.«

»Du bist widerlich!«, knurrte Fritz und sah beiseite.

Eric verschränkte die Arme vor der Brust und schaute finster. »Ich sehe, wir haben ein Muster.«

»Oberchecker«, sagte Micha unbeeindruckt. »Bisher waren alle Opfer voll mit Stresshormonen. Ich hoffe, ihr habt das Musikgerät irgendwie sichergestellt?«

»Wir haben beide«, antwortete Sugar Ray, um Frieden bemüht.

Buschfeldt machte eine gebieterische Geste. »Mitkommen.« Dann ging er voraus und verließ die gerichtsmedizinische Abteilung, sich einmal kurz per Schulterblick vergewissernd, dass alle ihm folgten.

Als sie wieder vor dem Klinikgebäude standen, fuhr der Direktor fort: »Einhorn, du nimmst Friedrich mit und zeigst ihm, wie man Hyperborea besorgt. Ich glaube, das stand bisher nicht auf dem Programm. Wir fahren inzwischen zum HQ und liefern die Geräte zum Untersuchen ab.«

»Von mir aus«, antwortete Micha und bedeutete Fritz mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. »Komm, wir gehen guten Wein holen.«
 

Fritz behielt es für sich, dass er keine große Lust hatte, sich mit Vampirnahrung zu befassen. Schon gar nicht wollte er, dass Micha ihn erneut dazu aufforderte, sie zu trinken. Schweigend ließ er den Sänger fahren – es war seltsam, im eigenen Auto nicht am Steuer zu sitzen –, und sah aus dem Fenster. Eigentlich gefiel Hamm ihm ganz gut.

»Du kriegst Hyperborea in jedem x-beliebigen Getränkeladen«, erklärte Micha schließlich. »Alle Verkäufer in Deutschland müssen das auf Lager haben. Die werden das auch gut los, weil auch Polizisten sich das holen, oder Leute vom Ordnungsamt, vom Zoll … eben so Typen bei Behörden. Also, falls du irgendwann mal das Zeug holen sollst, zeige ich dir jetzt, wie du da rankommst.«

Sie betraten einen dieser x-beliebigen Läden, der sich neben einem ALDI auftat, und Micha hielt schnurstracks auf die Kasse zu, hinter der eine etwas korpulente Frau mit roten Strähnchen saß.

»Hmmm?«, machte sie und sah ihn blinzelnd an.

»Einen wunderschönen guten Tag, ich möchte einen schönen, dunklen Rotwein«, sagte Micha in beiläufigem Ton.

Sofort schien im gelangweilten Ausdruck der Frau etwas umzuschalten, und sie wurde ganz aufmerksam. »Wie wär’s mit Spätburgunder?«, fragte sie in leichtem ripuarischen Dialekt.

»Ein griechischer wäre mir lieber.« Noch immer sprach Micha ganz unbefangen.

Die Frau reagierte. »Ich verstehe«, sagte sie bedeutungsvoll und stand auf, um watschelnd im Lager zu verschwinden. »Einen Moment.«

Verdutzt über die Einfachheit der Sache wandte Fritz sich an Micha: »Eine simple Parole. Klappt das immer so leicht?«

»Nee. Die Azubis laufen manchmal weg.«

»Also wissen die, was in den Flaschen ist.«

»Gehe ich mal von aus, ja.«

Ein paar Minuten später kehrte die speckige Frau zurück und überreichte Micha zwei Flaschen Hyperborea; eine war mit dem Jahrgang 2009 betitelt, die andere mit 2010. »Wir haben halbtrocken und lieblich«, flötete sie.

»Danke, wir mal nehmen beide mit«, antwortete Micha und drückte Fritz eine der Flaschen in die Hand. »Machen Sie’s gut, schönen Tag noch.«

Fritz entsann sich, dass Höflichkeit immer unverdächtig wirkte. Na prima, dachte er verdrießlich, als er nun die Falsche festhielt. Bestimmt werden sie mich jetzt als Laufburschen abstellen, um ständig dieses Zeug zu holen, da ich ja sonst zu nichts zu gebrauchen bin.
 

Nachdem die beiden Männer den Getränkemarkt verlassen hatten, lehnte sich die gut ausgebildete Verkäuferin wieder in ihrem Stuhl hinter der Kasse zurück. Sie beobachtete ein paar Kunden bei den Biersorten, die lautstark diskutierten, was sie für ihre Party einkaufen sollten, und summte leise vor sich hin.

Umso erschrockener war sie, als plötzlich ein Mann vor der Kasse stand, den sie gar nicht hatte kommen hören. Er war adrett gekleidet, hatte kurzes, braunes Haar und lächelte galant; seine Augen waren von einem intensiven, hellen Blau.

»Guten Tag«, sagte er mit weicher Stimme. »Ich hätte gern einmal denselben Wein wie die beiden Herren, die gerade gegangen sind.«

Innerlich zuckte die Frau zusammen. Dass jemand ohne Parole diesen ganz besonderen Wein verlangte, war ihr noch nicht untergekommen. Was hatte das zu bedeuten? »Oh«, begann sie nervös, sich darauf besinnend, dass sie den griechischen Roten ohne Geheimzeichen nicht herausgeben durfte. »Das … war leider unsere letzte Flasche.«

»Oh. Wie schade«, bemerkte der Fremde und fuhr sich mit einer blassen Zungenspitze über die Lippen. »Und wann bekommen Sie wieder eine Lieferung?«

»Nun ja … Vorerst nicht.« Sie schluckte; ihre Kehle war plötzlich ganz trocken.

»Schade«, wiederholte der Mann, und obwohl er ihr in keiner Weise drohte, bekam die Verkäuferin plötzlich ein klammes Gefühl in der Brust, als stünde sie einem knurrenden Hund gegenüber. »Haben Sie … denn etwas anderes Rotes? Etwas, das … nicht von roten Trauben stammt?« Wieder lächelte er sie einnehmend an.

»W-wir haben … roten Met«, antwortete sie ganz verwirrt. »W-Wikingerblut.«

»Ah! Wikingerblut … Das ist ein schöner Name für ein Getränk.« Der Fremde sah durch sie hindurch, als dächte er intensiv über etwas nach, und seine Finger mit den ordentlich gefeilten Nägeln trommelten leise auf dem Kassentisch; dann befeuchtete er sich nochmals die Lippen und wandte sich ab. »Tja, vielleicht komme ich darauf zurück. Haben Sie einen friedlichen Feierabend.«

Als er gegangen war, konnte die Verkäuferin nicht behaupten, ihn dabei gesehen zu haben. Er war einfach verschwunden.

Nicht verschwunden dagegen war das Zittern, das sie während der Unterredung befallen hatte, und es sollte auch noch eine ganze Weile bleiben.
 

Während der Abwesenheit des Suchtrupps, Tage zuvor, hatte Fritz Pfeiffers Laptop und den Internetanschluss dazu genutzt, den vier Kapellen, mit denen er zusammenarbeitete, nachzuforschen. Erstaunt hatte er festgestellt, dass er einige Lieder aus Kittys Sortiment wiedererkannte. Ihm fiel auf, dass die Bands nicht nur im Geheimen zusammenarbeiteten; auch musikalisch gab es Kooperationen zwischen ihnen. Fritz klickte sich durch Live-Auftritte, alberne Videos und Interview-Mitschnitte und entdeckte unter anderem, dass Saltatio Mortis gelegentlich zusammen mit Subway To Sally auftraten, Micha dafür mit Schandmaul gesungen hatte. Wer zu allen gute Beziehungen pflegte, war Asp: Seine gleichnamige Band ASP hatte ein Lied von Saltatio Mortis instrumentalisieren lassen, es hieß ›Besessen‹; außerdem sang er ein Duett mit Eric Fish, ›Zaubererbruder‹, und eins mit Micha namens ›Wer sonst‹. Fritz mochte die raue, düstere Musik nicht, aber er glaubte zu verstehen, warum andere sie mochten, etwa Kitty. Was er nicht fand, war eine Zusammenarbeit von In Extremo und Subway To Sally, doch damit hatte er irgendwie auch nicht gerechnet.

Als er nun wieder mit Micha im Auto saß und sie auf das Künstlerviertel zusteuerten, musste er eine Sache, die ihm bei seinen Nachforschungen aufgefallen war, unbedingt noch ansprechen, so banal sie auch sein mochte. »Micha, ich … hab mir eure Musik angehört.«

»Ach so?«, sagte Micha nur.

»Was um alles in der Welt hat es mit diesem komischen Musikvideo Vollmond auf sich?«

»Vollmond?«, wiederholte Micha. »Das ist doch hundert Jahre alt. Wo hast du das gefunden?«

»Ihr habt alle Videos auf euer Website.«

»Oh. Wusste ich gar nicht.«

»Wieso durftet ihr das machen?«, fuhr Fritz erregt fort. »Ich meine – das war ein Outing! Sozusagen!«

»So?« Wie schon so oft nahm Michas gleichgültige Miene ihm den Wind aus den Segeln. Er schaute gelassen auf die Straße.

»Muss ich das echt erklären? Du hast keine Tarnlinsen drin! Du hast die Zähne draußen! Hat Buschfeldt das erlaubt?«

»Och, wir hatten damals noch nicht Buschfeldt als Chef. Und Outing würde ich das nicht nennen. Denken doch alle, das war ’ne Verkleidung.«

»Aber …!« Fritz war ganz platt. »Ihr habt doch alles verraten, was die MIU macht! Armbrüste, Natron-Kanonen … Ihr habt eure ganze Arbeitsweise offengelegt!«

»Das interessiert doch keine Sau«, wehrte Micha ab, um Geduld bemüht. »Wir wollten ein Vampirvideo machen, also haben wir die Requisiten genommen, die wir hatten. Unsere Feinde kennen ja unsere Arbeitsweise sowieso. Keiner, der nicht eh bescheid weiß, denkt sich dabei irgendwas.« Schwungvoll drehte er das Lenkrad, um Fritz’ Auto um eine Biegung zu dirigieren. »Aber Buschfeldt hätte das nicht erlaubt, du hast du Recht, weil der nämlich ein Arschloch ist.«

»Dachte ich’s mir doch«, grummelte Fritz. »Diese ganzen Hinweise im Video. Das Getränk am Anfang, das wie Rotwein aussieht … Hyperborea?«

»Na klar.«

»Und der Hund?«

»Daisy, die hatten wir vor Amboss.«

»Und was willst du mit der Schlagader von dem armen gefesselten Kerl? Ich denke, Vampire trinken aus der Vene.«

»Ja, aber die Halsvene kannst du nicht tasten. Die läuft aber genau neben der Arterie, also sucht man einfach den Puls und geht von da dann zwei Fingerbreit nach vorne.« Micha fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und seine Mundwinkel zuckten kurz. »Der gefesselte Kerl ist übrigens unser Bassist.«

»Ernsthaft? Der sah nicht glücklich aus.«

»Doch. Total.« Er grinste.

Fritz war klar, dass er das Gespräch nicht auf pulsierende Adern oder gefesselte Bassisten hätte lenken sollen. Etwas jämmerlich bemerkte er: »Das mit dem Zapfhahn … fand ich echt … voll … eklig.«

Nun lachte Micha laut auf. »Nicht? Ich fand das hammer!« Er kicherte leise in sich hinein, bis sie den Stützpunkt erreichten.
 

»Wir haben was Neues vor«, begrüßte sie El Silbador. »Haben es gerade eben ausgearbeitet. So was haben wir vorher noch nie gemacht und es wird uns auf unglaubliche Weise voranbringen, wenn wir den Todesfällen nachspüren. Wir nennen es: Genervtes, anhaltspunktloses Durchkämmen der Stadt

»Ganz was Neues«, stimmte Micha ironisch zu.

»Wenn ich das richtig sehe, habt ihr ja bisher rein gar nichts über die verantwortlichen Vampire rausgefunden«, brachte Eric Fish, der mit vor der Brust gekreuzten Armen mitten im Flur stand, das Problem aufs Tapet. »Wird Zeit für ein paar Ergebnisse.«

»Dann bist du ja zur rechten Zeit gekommen, Hecht«, sagte Micha spöttisch. »Greif dir gleich Amboss und spür ihnen nach.«

Eric warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Ach ja, stimmt: Amboss hört ja nicht auf dich.«

»Ich brauche keinen Hund, um Vampire zu verfolgen.« Eric kehrte Micha den Rücken und schob sich an Fritz vorbei, der noch im Flur stand, um zur Treppe zu gehen.

Fritz wich automatisch beiseite und starrte dem Mann nach, von dem er bisher nicht wusste, was er von ihm halten sollte; dann stutzte er. Jetzt, da Eric Schal und Jacke nicht mehr trug, fiel an ihm etwas ins Auge, das zuvor verdeckt gewesen war: Etwa drei Finger breit rechts der Kehlgrube hatte Eric eine Vampirbisswunde am Hals. Sie sah relativ frisch aus; die beiden Einstichlöcher, wo die Fangzähne eingedrungen waren, schienen noch nicht verschorft zu sein. Hektisch fing Fritz Michas Blick auf, der Eric unfreundlich nachsah, doch sein Partner kommentierte die Wunde nicht, obwohl sie nicht zu übersehen war. Also schlich Fritz zu ihm hin und raunte, seine Irritation kund tuend: »Micha, hast du das gesehen? Eric wurde gebissen!«

Micha zuckte demonstrativ die Schultern. »Kommt manchmal vor.«

»Wie? Wann wurde er denn angegriffen?«

»Gar nicht, wette ich. Eric ist Profi im Abwehren von Vampiren.«

Fritz verstand nicht, was das bedeuten sollte.

Micha seufzte und fuhr leise fort: »Boris meinte, er hat dich darauf hingewiesen, dass es … in der MIU Bands gibt, bei denen … naja.« Bedeutungsvoll tippte er sich mit zwei Fingern gegen die Halsseite. »Du weißt schon.«

Fritz’ Mund klappte auf. Eigentlich hatte er diese Erkenntnis nicht in Worte kleiden wollen, allein schon deshalb, weil Micha es so penibel vermieden hatte, doch es brach sich von selbst Bahn: »Du meinst, er lässt sich beißen

»Pssst!« Micha hob beschwörend die Hand. »Tabu-Thema. MIU-Vampire dürfen keine menschlichen Kollegen beißen, aber wenn das innerhalb von Bands passiert, ist das Privatsache. Darüber redet man nicht. Verstehst du?«

»Aber …«, begann Fritz, »wieso sollte … warum muss denn – …«

Micha würgte ihn ab: »Das geht uns ’nen Scheiß an, und jetzt belass es bitte dabei.« Mit einem letzten gewichtigen Blick beendete er das Gespräch.
 

»Genervtes, anhaltspunktloses Durchkämmen der Stadt«, stöhnte Simon, als er und Fritz sich in ihrem gemeinsamen Zimmer schlafen legten. »Ich weiß genau, wie das laufen wird.«

»Aber dieser Eric scheint einen Plan zu haben.«

»Wahrscheinlich … Deshalb freut Buschfeldt sich ja ein Loch in den Bauch, dass er da ist. Aber ich freu mich auch drüber. Eric ist wirklich gut in seinem Job.«

»Nur Micha mag ihn nicht.«

»Naja … Micha ist ja so ein voll lockerer Typ, der alles weniger eng sieht, aber Eric arbeitet gerne schnell und effizient.« Der junge Mann reckte sich hoch und schaltete das Licht aus; Finsternis legte sich über den Schlafraum. »Micha wird dir bestimmt nicht sagen, wieso genau er ihn nicht mag … Er wird höchstens sagen, dass Eric ihm zu … ehrgeizig ist. Ja, ich glaube, so nennt er das.«

»Kapiere ich nicht«, murmelte Fritz. Allmählich wurde er müde.

»Ach, du wirst schon sehen, was zwischen den beiden läuft, wenn wir morgen genervt und anhaltspunktlos die Stadt durchkämmen.« Simon kuschelte sich raschelnd in seine Decke. »Naja, gute Nacht.«

»Hmmm.« Jetzt, da seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, fiel Fritz auf, dass auch die Zimmerdecke ein Kunstwerk war: Ein leuchtender Sternenhimmel spannte sich über ihre Köpfe. Manche Dinge muss man wohl im Dunkeln suchen, dachte er, weil sie bei Licht nicht zu sehen sind.

Fang mich doch

Früh am folgenden Morgen rüsteten sich die MIU-Agenten, um Hamm auf Vampirspuren zu untersuchen.

»Haben wir registrierte Vampire in der Stadt?«, fragte Buschfeldt beim Frühstück, als erst ein Teil des Teams zusammengekommen war.

Pfeiffer, dessen Laptop bereits lief, bejahte das. »Zwei, Boss. Einen Erschaffer mit Abkömmling. Wohnen im Stadtteil Uentrop. Sollen wir sie besuchen?«

»Ja. Du und El Silbador werdet das machen, dann kommt ihr wenigstens auch mal raus.« Buschfeldt streckte die Hand aus, bis ihm jemand die Butter reichte, und fuhr dann fort: »Die anderen Teams bleiben, wie sie sind. Falk und Lasterbalk …«

»… Lange und Flex …«, sagte Basti.

»… Ingo und Simon …«, ergänzte Simon.

»… Ich und niemand …«, kam es gespielt traurig von Dr. Saltz.

»Danke, ich sehe, ihr kennt eure Partner«, schnarrte Buschfeldt. »Wo bleiben die restlichen Vampire?«

Im selben Moment horchte Simon auf. »Pst, Alea kommt. Kein Wort mehr von Vampiren!«

Prompt schwiegen alle. Alea kam in die Küche spaziert, sich streckend wie ein kleiner Tiger, und sah dann verwundert in die Runde. »Ihr hört immer auf zu reden, wenn ich reinkomme«, bemerkte er.

»Ach, Blödsinn«, sagte Falk, der sich schnell eine Scheibe Brot zur Tarnung gegriffen hatte. »Sag mal, willst du mit auf die Stadtdurchsuchung, Alea?«

»Damit sich alle Vampire gleich verstecken?«, sagte Lasterbalk anklagend. »Unklug.«

»Ich würde aber gerne mitkommen.« Alea setzte sich neben ihn und nahm sich auch ein Stück Brot. »Könnte mich tarnen. Als Vampir vielleicht.«

»Du als Fakefang? Das ist, als würde man Mary Poppins als Darth Vader verkleiden.«

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen«, gab Alea grimmig zurück.

»Ach, na gut. Trag eine Kapuze und rasier dir den Bart ab, dann klappt es vielleicht.«

Falk schüttelte ungläubig den Kopf. »Als ob die Bestien ihn nicht zehn Kilometer gegen den Wind wittern könnten!«

Sie stritten noch ein wenig weiter, bis im Laufe des frühen Morgens alle Männer eingetroffen waren und gegessen hatten; dann orderte Buschfeldt Team für Team kategorisch aus dem Haus, ohne auf individuelle Wünsche einzugehen. Ungeduldig versuchte Alea, einer Gruppe zugeteilt zu werden, um nicht untätig zurückbleiben zu müssen (»Dafür bin ich nicht den ganzen Weg hierher gefahren!«), wurde jedoch außen vorgelassen.

»Komm mit mir und Fritz mit, wir gehen nach Rhynern«, bot Micha ihm schließlich an; sicher nicht, um freundlich zu sein, sondern vor allem, um Buschfeldt in den Rücken zu fallen.

»Mach ich«, sagte Alea sofort zu und ignorierte die schwachen Proteste seiner Bandmitglieder.

Eric und Sugar Ray, von dem Fritz mittlerweile wusste, dass er Silvio hieß, bekamen den Ortsteil Heessen zugeteilt – und außerdem Amboss, der sofort hellauf begeistert war, sobald man ihm sein Reflektor-Halsband anlegte.

»Muss das wirklich sein?«, murrte Eric, als der Hund wedelnd um ihn herum sprang.

Buschfeldt gab sich verständnisvoll: »Du solltest wirklich mehr Zeit mit ihm verbringen, damit er besser an dich gewöhnt ist, Eric.« Eigentlich, das war unübersehbar, interessierte es ihn nicht die Bohne.

Bereits im Flur ergriff der Bluthund seine Leine mit den Zähnen und ruckte sie dem Teamführer aus der Hand. Eric seufzte und versuchte dann halbherzig, sie ihm wieder wegzunehmen, was den Hund dazu animierte, ein Fangspiel mit ihm anzufangen.

Fritz, der das mit ansah, befürchtete, Micha könnte sich zu dummen Kommentaren hinreißen lassen, und natürlich passierte das auch.

»Du solltest mehr Sport machen, Hecht«, sagte er trocken, als dieser den Hund ein drittes Mal verfehlte.

»Fang ihn! Mehr Power!«, schloss sich zu allem Überfluss auch noch Van Lange an, der, genau wie Micha, nur unbeteiligt an der Wand lehnte und nicht daran dachte, behilflich zu sein.

Eric warf ihnen finstere Blicke zu.

»Versuch’s mit ’nem Hechtsprung!«

»Jaah, jenau

»Ihr habt nichts zu tun, ist das so?«, fauchte Eric, visierte Amboss an und bekam ihn endlich mit einem harten Griff am Halsband zu packen, was das Tier mit einem verblüfften Quieken quittierte. »So, du blöder Köter, hab ich dich!«

Micha nahm sogar die Hände aus den Taschen, um ein Minimum an Applaus zu spendieren. »Nicht schlecht, Herr Hecht. Dann können wir ja jetzt gehen.«
 

Es war nur wenig bewölkt und auch nicht besonders kalt, als Fritz, Micha und Alea ihren Weg durch Hamm-Rhynern begannen. Wie immer ging Micha, die Hände in den Taschen, voran, als hätte er einen genauen Plan, obwohl das wahrscheinlich nicht der Fall war. Alea folgte ihnen in einigen Schritten Abstand. Fritz fiel auf, dass der Schrecken aller Vampire sehr aufmerksam seine Umgebung studierte und jedes Detail beim Vorübergehen in Augenschein nahm. Zu ihren Gesprächen wollte er nichts beitragen, das machte seine Distanz deutlich; er und Micha schienen auch nicht die besten Freunde zu sein. Trotzdem hatte Fritz keine Ahnung, worüber er in Aleas Nähe mit Micha reden sollte, denn alle Themen, die ihm einfielen, handelten von Vampiren – somit hatte Alea, ohne es zu wissen, ihnen auferlegt zu schweigen, während sie durch Hamms Straßen wanderten.

Schließlich wurde das ziellose Umherirren der drei durch einen Zwischenfall beendet: Zwei Polizeiwagen jagten jaulend um die Ecke, die sie gerade passiert hatten, und bogen in eine Gasse ein, die von Caféterrassen und kleinen Schaufenstern gesäumt war. Fritz war, wie die anderen, stehen geblieben und schaute neugierig hinterher; dann hielt ein drittes Auto unmittelbar neben ihnen, und er erkannte am Steuer den Polizisten, mit dem sich Eric und Sugar Ray im Präsidium unterhalten hatten.

Gestikulierend wandte der bärtige Mann sich an Fritz: »He, Sie sind doch von der MIU, erinnere ich mich recht?«

»Diese beiden auch«, antwortete Fritz in einem instinktiven Versuch, hinter den Dienstälteren abzutauchen. »Was … was gibt es denn?«

»Etwas, das Sie sich ansehen sollten.« Der Polizist winkte ihn und seine Begleiter energisch heran. »Kommen Sie, ich nehme Sie mit zum Tatort.«

Oh-Oh, dachte Fritz, als er die Autotür öffnete.

Der Streifenwagen folgte den beiden ersten mit demselben ohrenbetäubenden Sirenengeheul.

»Komisch«, sagte Micha stirnrunzelnd. »Ein Vampirüberfall am helllichten Tag?«

Alea, der in ihrer Mitte saß und sich nicht anschnallen konnte, weil der Gurt eingeklemmt war, hielt geistesabwesend die Lehne des Beifahrersitzes umfasst, während er vorgebeugt auf die Frontscheibe starrte. »Hmm …«, murmelte er und klemmte dann wie in Zeitlupe seine Unterlippe zwischen die Zähne.

Bitte nicht, betete Fritz. Kein Blut. Bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte nicht.

Das Auto hielt dort, wo auch die anderen beiden mit Warnblinklichtern am Straßenrand parkten. Vor dem Reihenhaus tummelten sich Beamte in der Uniform der Schutzpolizei, aber auch Zivilträger und ein Tatortfotograf, dem eine Spiegelreflexkamera um den Hals hing.

Der Polizist, der sie gefahren hatte, führte Fritz, Micha und Alea direkt in das Haus, ohne sie den vielen Ermittlern vorzustellen. »Die Methoden der MIU sind uns bekannt«, sagte er bedeutsam. »Wir werden Sie gern in dem Raum allein lassen.«

Und dann sah Fritz das Zimmer. Und blieb im Türrahmen stehen. Er wäre dort noch wesentlich länger stehen geblieben, wenn Micha ihm nicht mit den Worten »Los, rein da« einen Stoß über die Schwelle versetzt hätte.

Es handelte sich um ein kleines Appartement ohne Flur. Küche und Wohnzimmer waren eins, nur eine Schlafnische und ein kleines Bad zweigten separat ab – eine Tatsache, für die Fritz absolut kein Auge hatte, denn Wände und Fußboden des Zimmers beanspruchten alle seine Sinne.

Der Raum war voller Blut. Es klebte großzügig an allen Flächen, rot und leimig und mit scharfem, metallischem Geruch. Dicke Tropfen waren von den Wänden auf den Teppich gerollt und hatten breite Schmierstreifen gezogen.

Alarmiert von Farbe und Geruch der Körperflüssigkeit sackte Fritz sofort zusammen. Micha, der noch immer hinter ihm stand, fing ihn unerwartet sanft auf und setzte sich wortlos mit ihm auf den Boden. Alea jedoch stieg über Fritz hinweg in das Zimmer. Aufgeregt zuckte der Blick seiner weit geöffneten Augen von einer Ecke zur anderen, und seine Lippen kräuselten sich.

»Pssst«, machte Micha dicht an Fritz’ Ohr. »Sonnenscheinchen spürt es. Die haben es wieder gemacht. Wollen Angst vor Vampiren verbreiten.« Obwohl er kaum hörbar sprach, verstand Fritz jedes Wort durch den schillernden Schleier drohender Ohnmacht. »Hör zu, du musst Alea hier rausschaffen. Kannst du das?«

Mühsam schüttelte Fritz den Kopf.

»Pass auf, ich geb dir Starthilfe. Mach einfach irgendwie, dass er nicht reinkommt, solange ich drin bin. Okay?« Dann erhob Micha die Stimme und wandte sich an Alea: »Hey, kannst du mal mit anfassen? Fritz hat ein kleines Problem mit Blut. Wir legen ihn am besten mal im Treppenhaus hin. Kannst aufpassen, bis er wieder munter ist.«

Alea wirkte nicht begeistert, doch natürlich konnte er sich nicht verweigern und half Micha, Fritz hochzuheben. Fritz, dem es langsam besser ging, staunte, wie viel Kraft in dem kurzen, drahtigen Mann steckte. Als er rücklings auf dem kalten Steinboden im Treppenhaus lag, wurde es wieder besser. Fritz schaute vorsichtig von einer Seite zur anderen – ohne unnötig einen seiner schlaffen Muskeln zu bemühen –, und lauschte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Alea hockte neben ihm, halb über ihn gebeugt, und sah unzufrieden beiseite.

»Ich kann da nicht mehr rein«, jammerte Fritz und gab sich Mühe, seine Stimme noch schwächer und kläglicher klingen zu lassen. »Bitte, lass uns hier auf Micha warten.«

Alea nickte widerwillig. »Ja, okay, kein Problem.«
 

Vorsichtig beugte Michael sich über die halbgetrocknete Blutlache auf dem Fußboden und roch daran. Er musste zugeben, der Duft war noch immer betörend; lange konnte das Massaker, das hier stattgefunden hatte, nicht zurückliegen. Über einen halb umgekippten Tisch stieg er zur linken Zimmerwand und betrachtete die zähen Tropfen, die dort langsam erstarrten. Eigentlich glaubte er nicht, dass auch hier Musik und Stress im Spiel gewesen waren, doch er hatte die Pflicht, das zu überprüfen. Mit einem argwöhnischen Blick in alle Richtungen vergewisserte er sich, dass kein Polizist in der Nähe war, dann beugte er sich vor und leckte verstohlen eine Zungenlänge Blut von der Tapete. Es schmeckte gesund. Micha kannte sämtliche Geschmacksrichtungen, die Blut bei abnormen Gesundheitszuständen annehmen konnte, und hier fand er nichts Ungewöhnliches: Angst, natürlich, aber nicht anomal viel, außerdem Zucker und einen leicht zu hohen Cholesteringehalt. Nichts Unnatürliches, gar nichts.

Nachdenklich trat er von der Wand zurück und wartete, bis dort, wo er das Blut aufgeleckt hatte, zäh neues nachgelaufen war und seine Spuren getilgt hatte. Er fragte sich, wie viel von der Leiche erhalten war. Sicherlich fehlte vor allem ihr Hals, sonst hätte die Polizei sich nicht so eifrig an Fritz gewandt. Jeder wusste schließlich, dass die KriPo sich nicht gern ins Handwerk pfuschen ließ.

Draußen im Treppenhaus kniete Alea gelangweilt neben Fritz, der seine Rolle als Todkranker entweder sehr überzeugend spielte oder tatsächlich noch immer ausgeschaltet war. Micha setzte sich einfach daneben, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und Alea nahm das zum Anlass, aufzustehen und leise zurück in das Appartement zu gehen.

Als er weg war, setzte Fritz sich auf. »Und?«, raunte er.

»Das Blut ist sauber. Kein Stress-Überschuss, keine Drogen, keine Krankheiten. Lecker.«

Er hatte erwartet, dass Fritz aufstöhnen und wieder zurückfallen wurde, und Fritz enttäuschte ihn nicht. »Wir – wir müssen uns da irgendwie einigen, wie wir das handhaben wollen, Micha … Ich komme einfach nicht damit zurecht, dir dauernd zuhören zu müssen, was B-Blut dir so alles mitteilt. Und du scheinst es irgendwie auch noch g-gut zu finden, diese ganze r-rrrote Soße.«

Immer dieses Gejammer. Dieses Unverständnis. Micha seufzte. »Fritz, tut mir Leid, aber ich bin ein Vampir«, sagte er, weil er das Gefühl hatte, dass Fritz das immer noch nicht kapiert hatte. »Ich mag Blut. Das ist meine Natur. Ich ekel mich nicht davor, im Gegenteil, ich finde, dass Blut schön aussieht und angenehm riecht und schmeckt. Das kann und will ich wegen deiner Phobie da nicht ändern. Ich sehe gerne Blut, ich fasse es gerne an und ich trinke es gerne. Zack, fertig, aus.« Fritz’ Blick wurde noch leidender, deshalb fügte er noch hinzu: »Ich fange bestimmt nicht an, mich dafür zu schämen. Dann werde ich ja wie Lex – so’n psychisches Wrack, das sich nicht traut, seine Zähne in irgendwas anderes zu stoßen als Vollkorntoast.«

Ja, Alexander Spreng war da ein furchtbar abschreckendes Beispiel. Er hatte jahrelang in Starre verbracht und sich danach wie ein Berserker gegen seine Vampirnatur aufgelehnt, als gäbe es da irgendetwas dran zu ändern. Mit dem Blutdurst zu ringen war etwas, das Michael lange als sinnlos aufgegeben hatte. Asp war, als die Begründer MIU auf ihn aufmerksam wurden, krank und fehlernährt gewesen; das war der Zeitpunkt der Gründung der MIU – 1940, ein Leben zuvor – und Micha erinnerte sich gut daran, wie sie Asp aufgepäppelt und ihm eingeredet hatten, Brot sei keine Lösung. Hyperborea war eine Lösung. Sogar im chemischen Sinne. Und Asp, der nicht vorgehabt hatte, sich je wieder in die Gesellschaft zu integrieren, fand plötzlich menschliche Freunde, mit denen er Träume teilen und seine Gefühle verarbeiten konnte.

Aleas Rückkehr riss Micha aus seinen Überlegungen.

»Ich bin sicher, dass es Vampire waren«, sagte er.

»Das ist doch Quatsch. Vampire trinken Blut, die schmieren nicht alles damit voll.« Jedenfalls würde ich das nicht machen, dachte Micha angewidert. Was für ’ne Verschwendung, tut einem ja in der Seele weh!

Alea zuckte die Schultern. »Denk, was du willst. Ich weiß, wie sich eine Vampir-Aura anfühlt.«

Von diesem Aura-Scheiß hielt Micha so gut wie nichts, doch er gab Aleas Beharrlichkeit nach, weil er keine Lust zum Diskutieren hatte. »Wie viele?«, fragte er.

»Fünf oder sechs.«

»Hmmm. Das passt sogar zu der leer getrunkenen Putze.«

»Putze?«, fragte Fritz und riss die Augen auf. »Leer getrunken? Ihr habt mir nicht erzählt, dass sie mehr als einen Biss hatte!«

Alea wandte den Blick ab. »Wir dachten, das beunruhigt dich nur. Du bist doch so ängstlich.«

»Uff!« Fritz rieb sich die Augen. »Jetzt bin ich also derjenige, dem nichts erzählt wird«, nuschelte er, und Micha warf ihm sofort einen warnenden Blick zu.

»Wir sind hier fertig«, sagte der Vampir, um ein entstehendes Gezanke schon im Keim zu ersticken. »Fritz, wenn du dich fit fühlst, gehen wir Bericht erstatten.« Er stand auf, reichte seinem Partner die Hand und zog ihn schwungvoll auf die Füße.

»Wir melden uns«, versprachen sie dem Polizeibeamten, der vor dem Haus stand und ein Funkgerät in der Hand hielt.

Fritz atmete auf, als sie an der frischen Luft waren; er war bestimmt aufs höchste erfreut, dem Geruch von Blut nicht länger ausgesetzt zu sein.

Was mache ich nur mit dem?, fragte Michael sich wieder einmal und schlug missmutig den Weg Richtung Künstlerviertel ein.
 

Yellow Pfeiffer und El Silbador saßen in der Küche einer kleinen Dreizimmerwohnung in Uentrop und tranken Weißen Tee aus geblümten Tassen. Ihre Gastgeberin, die offensichtlich nicht allzu oft Tee kochte und sich mit der notwendigen Menge an Blättern ein wenig verschätzt hatte, beobachtete sie schüchtern. Sie war alt, bestimmt fast siebzig, und wirkte müde. Wie jeder normale Vampir, der nicht notwendigerweise umerzogen worden war, hätte sie den Tag lieber bis zur Dämmerung verschlafen.

»Reicht es an Zucker?«, fragte sie ihre Gäste behutsam.

»Ja, danke«, antwortete Boris. Es war ihm ein wenig unangenehm, dass die Dame sich sofort Umstände machte, um sie zu empfangen. Sie hatte auch angeboten, ein Rosinenbrot aufzubacken, doch dieses hatten die Männer abgelehnt.

»Ich habe noch nie Probleme mit den Behörden gehabt«, sagte die Vampirin leise und nestelte an ihrem Spitzenkragen. »Ich dachte, mit der Registration wäre alles in Ordnung. Ich trinke nicht von Unfreiwilligen, wissen Sie, ich habe einen großen Kreis an Freunden, die es erlauben …«

»Dagegen ist nichts einzuwenden, wir sind gar nicht Ihretwegen hier, Frau Schenk«, beeilte sich Elsi richtig zu stellen. »Wir möchten ganz allgemein von Ihnen wissen, ob Sie jemals Kontakt mit Vampiren hatten, die … naja … sich anders verhalten.«

»Oh, ich habe keinen Kontakt zu einem Nest oder einer Gemeinschaft«, antwortete Martha Schenk sofort. »Wir scheinen die einzigen Vampire in Hamm zu sein. Ich habe nur Jürgen, und wir sind allein sehr glücklich.«

Jürgen war ihr Abkömmling, ein Mann vom selben Alter. Er saß schweigend in einer Ecke der Küche, eine breitkrempige Kappe über den Augen. Aufgrund eines Hirndefekts konnte er nicht sprechen, doch seine Frau deutete jede seiner Gesten mühelos.

»Gab es jemals Angriffe, Zwischenfälle, irgendetwas?«, fragte Boris hoffnungsvoll, ehe er noch einen Schluck des faden Tees nahm.

»Nein, Herr Pfeiffer, ich kann mich da an nichts erinnern. Allerdings …« Sie beugte sich verschwörerisch zu ihm vor. »… hat mir Jürgen, als er gestern von der Rückengymnastik nach Hause kam, berichtet, dass er in Rhynern zwei Männer gesehen hat, die, wie er, am Tage Sonnenbrillen aufhatten … und sie hätten sich auf einer ganz komischen Sprache unterhalten. Jürgen war Lehrer für Englisch und Französisch, bevor er diesen Unfall hatte, er kennt viele Sprachen … aber diese nicht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

Boris sah sich nach El Silbador um; der Jüngere erwiderte seinen Blick beunruhigt.

»Dieser letzte Hinweis hilft uns vielleicht weiter. Wir sind Ihnen beiden dankbar für die Information«, sagte Pfeiffer freundlich. »Oh, und für den Tee auch. Es tut uns Leid, dass wir Sie so früh am Tag gestört haben.«

»Oh, das macht doch nichts!«, versicherte Fr. Schenk eilig. »Ich hoffe, Sie lösen Ihren Fall. Kommen Sie gut heim!«

Als sie gegangen waren, sagte Elsi zögernd: »Wow, ich hab noch nie vorher mit kultivierten Vampiren geredet. Außer unseren.«

»Solche Leute haben sich unter Kontrolle und machen uns keine Probleme.« Pfeiffer ignorierte den schneidenden Wind auf seinem Gesicht. »Die Frage ist nur, wer’s stattdessen tut. Die Beobachtung des Mannes lässt doch sehr auf Eff Eff schließen.«

»Hmmm.« Elsi nickte unbehaglich.

Um einen Hinweis auf Fiacail Fhola reicher, traten sie den Rückweg zur Unterkunft an.
 

Zu Fuß war der Weg zum HQ doch ziemlich weit. Fritz erreichte schließlich, dass er und Alea sich unterwegs etwas zu essen holen durften, woran Micha offenbar keinen Gedanken verschwendet hatte. Den Vexecutor irritierte es zwar sichtlich, dass Micha behauptete, nicht hungrig zu sein, aber eine Erklärung über nervöse Magenbeschwerden speiste ihn ab.

Es war schon Nachmittag, als sie wieder auf dem Weg waren, und die Sonne hatte zu sinken begonnen. Gemächlich trotteten die Drei durch eine wenig belebte Wohngegend, als plötzlich ein Junge mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm an ihnen vorbeihastete und, sich hektisch über die Schulter umsehend, über einen nahen Gartenzaun sprang.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Micha die leere Luft und blieb stehen. Irgendetwas versetzte ihn in Spannung, und Fritz sah, dass auch Alea – den er als Vampirindikator zunehmend schätzen lernte – sich nicht rührte.

»Ist da was? Ich höre nichts.« Fritz hatte nicht die geringste Lust auf eine Szene wie jene mit dem Kleinkriminellen, den sie im Dunkeln aufgegriffen hatten, doch dann fiel ihm wieder ein, dass Micha vor Aleas Augen wohl kaum einen Gangster beißen würde, egal wie sehr der blutige Tatort seinen Appetit angeregt hatte.

Es war Alea, der sich zuerst in Bewegung setzte. »Haltet euch bereit, da sind Vampire in der Nähe!«

Erzähl mir was Neues, dachte Fritz und wunderte sich, wie Micha und die übrigen MIU-Vampire sich gegen Aleas Gespür wappneten. Vielleicht fühlte er nur die Anwesenheit von Bestien? Für Fritz ein Rätsel.

Als Alea, den beiden anderen voran, zuerst in eine Seitenstraße bog, sah Fritz nur noch, wie zwei Arme ihn ergriffen und beiseite zerrten. Alea gab ein überraschtes Keuchen von sich und fing an heftig zu zappeln, jedoch dauerte seine Unkoordiniertheit nur Sekunden an, dann fiel er in eine Art gut trainierten Kampfmodus. Sofort war Micha an Fritz vorbeigesprungen, um einzugreifen, doch es schien nicht mehr nötig zu sein. Fritz spurtete hinterher um die Ecke und sah, wie Alea sich ziemlich mühelos aus dem Griff eines bulligen Mannes befreite, der trotz des bewölkten Himmels eine Sonnenbrille und außerdem eine nietenbeschlagene Weste trug. Jedoch war der Mann nicht allein: Als Micha ihn angriff, sprangen zwei weitere scheinbar aus dem Nichts herbei, ebenfalls Sonnenbrillen tragend, und hielten ihn fest.

»Vampire!«, schrie Alea und bleckte die Zähne wie ein Raubtier. Blanker Hass spiegelte sich in seinen Augen. Er fixierte die Gegner und spannte seine Muskeln, doch der Massige, der ihn zuerst gepackt hatte, ließ ihm keine Zeit zur Konzentration, sondern griff sofort wieder an.

»Töte ihn!«, rief Micha und rang vergebens mit den beiden anderen Männern. »Na los!«

Der stämmige Angreifer stürzte wie ein Rammbock auf Alea zu, doch dieser schlug einen Haken und entwischte mit einem Satz, der den Vampir alt aussehen ließ. Noch einmal versuchte der Sänger, aus der Entfernung heraus seine tödliche Fähigkeit zum Einsatz zu bringen, doch da erschien hinter ihm lautlos ein vierter Mann, groß und dünn und völlig haarlos, und hob beide Arme in bedrohlicher Langsamkeit.

Ehe Fritz eine Warnung ausstoßen konnte, hatte der Dünne zugepackt. Ein Arm schloss sich um Aleas Brust und Schultern, die andere Hand presste er, zu Fritz’ Verwunderung, auf die Stirn des Vampirhenkers.

»Töte ihn!«, schrie Micha noch einmal.

Alea hatte jetzt die Angst gepackt; er konnte seine Arme nicht befreien und rollte wild mit den Augen wie ein in die Enge getriebenes Stück Beute. »Ich kann nicht!«, rief er schrill. »Er blockiert mein Qi!« Vergeblich versuchte er, durch ruckartige Kopfbewegungen seine Stirn zu befreien.

Der magere Mann hinter ihm lachte mit einer hellen, krepppapierdünnen Stimme. »Jetzt haben wir dich, a Lámh Dé. Du wirst büßen für das, was du unseren Brüdern und Schwestern angetan hast – jede Sekunde deines Lebens, die von jetzt an folgt!« Genüsslich ließ er die Fangzähne vorschnappen und biss Alea ins linke Ohr.

Alea stieß einen wütenden Schrei aus und kämpfte weiter, doch es half nichts, er kam nicht frei. Endlich jedoch gelang es Micha, seine beiden Kontrahenten niederzustrecken und sich nach Fritz umzudrehen. »Was stehst du so blöd in der Gegend rum, Mann?!«

Fritz zuckte zusammen. Bis eben war er ein unbeteiligter Zuschauer gewesen; erst jetzt fiel ihm ein, dass auch er einen Platz in dieser Szenerie einnahm. Seine schweißnasse Hand fischte die Natron-Kanone hervor, aber viel zu spät. Die vier Männer hatten sich um den festgesetzten Alea versammelt, nahmen ihn in ihre Mitte und traten den Rückzug an. Erst jetzt sah Fritz, dass sie allesamt barfuß waren. Gemeinsam trugen sie ihren Fang mit Leichtigkeit und so schnell, dass man ihnen mit dem Blick kaum folgen konnte, zur nächstbesten Hauswand und rannten dann einfach an ihr hinauf. Fritz spürte, wie bei diesem Anblick eine der Schrauben, die seine heile Welt zusammenhielten, aus ihrem Gewinde sprang.

Micha hatte keine Sekunde später seine Schuhe ausgezogen und folgte ihnen in langen Sätzen. Auch er konnte einfach an der Wand hochlaufen. Da er nichts zu tragen hatte, holte er die Flüchtenden schnell ein, doch ehe er sich den vordersten von ihnen greifen konnte, durchschnitt ein leises Geräusch wie von einem losgelassenen Schießgummi die gespannte Stille. Fritz sah ein paar Tropfen Blut aufspritzen und Micha stürzte vom Dach des Hauses auf die Rasenfläche direkt daneben.

Hol tief Luft, sagte Fritz zu sich. Gaaaaaanz ruhig. Er machte einen Schritt, dann noch einen. Als er bei Micha ankam, war der schon dabei, sich mühsam wieder aufzurappeln. Die Entführer waren längst geflohen; in der Ferne sah man sie mit dem sich windenden Alea von einem Häuserdach zum nächsten springen und schließlich über die Querstraße hasten.

Micha stieß einen rauen Zornesschrei aus und trat gegen den Gartenzaun in seiner unmittelbaren Nähe. Der Pfosten wackelte zwar, nahm aber keinen Schaden. Ein robuster Zaun.

Fritz wich zurück. »Micha, ich … Tut mir Leid …«

»Nein, es ist meine Schuld!«, schnaufte Micha. »Ich hab ihm gesagt, dass er mitkommen kann, und ich konnte nicht auf ihn aufpassen! Scheiße!«

»Und was … was machen wir jetzt?«

»Was schon? Zum Stützpunkt! Schnell! Wir müssen Alea zurückkriegen!«

Ironischerweise war das Künstlerviertel nicht mehr weit. Micha nahm zwei Stufen auf einmal, als sie im Treppenhaus ankamen, und polterte in das HQ wie ein Belagerer, der endlich das Tor zu einer Festung aufgesprengt hat.

»Scheiße, es ist was Beschissenes passiert!«, brüllte er, noch ehe er ganz drinnen war. »Fiacail Fhola haben Alea!«

Fritz hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Bis dato hätte er bestritten, dass Micha so etwas wie echte Angst kannte, doch jetzt war genau das in den Augen des Sängers zu sehen, als er das ganze Team zusammenschrie. Asp schaffte es, ihn zu beruhigen, indem er ihn mit beiden Händen an den Schultern packte und fest fixierte. Micha starrte zurück, während ihre Nasen sich beinahe berührten, und stellte endlich das Schreien ein, um stattdessen mit einem gepeinigten Stöhnen auf die Knie zu fallen.

»Du blutest«, sagte Asp ruhig und zeigte auf eine kleine Wunde an Michas Arm, die Fritz gar nicht bemerkt hatte. »Scheint aber nur ein Streifschuss zu sein.«

Bock, der durch den Aufruhr längst im Zimmer war, kniete sich zu Micha. »Ich kümmere mich darum. Ihr beratet euch, und zwar schnell. Der Chef wird ausrasten. Seht zu, dass er keine sperrigen Gegenstände in der Hand hat, wenn ihr es ihm sagt.«

Während all dessen wusste Fritz, dass Micha sämtliche Sanktionen abbekommen würde, konnte aber nichts dazu sagen. Mit hängendem Kopf stand er an der bunten Zimmerwand, völlig unbeachtet von allen anderen, und fühlte sich unendlich schuldig.

Keine Luft

Falk kniff die Augen zusammen. »Hört endlich auf damit!«, bat er. »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ihr alle panisch im Kreis rumrennt!«

Es war noch ganz früh am Morgen, die Sonne war kaum aufgegangen. Sie standen zusammengedrängt in Bocks Behandlungszimmer, und auf dem mit einem Laken bedeckten Tisch in dessen Mitte lag eines der wichtigsten Mitglieder des Teams: Amboss. Trübe ließ er Schwanz und Pfoten hängen, und seine Augen waren beinahe geschlossen.

»Warum hast’n den über Nacht ausgesperrt?«, wandte Micha sich vorwurfsvoll an Eric Fish. »Was hat der Hund dir eigentlich getan?«

Eric schaute beiseite und kreuzte die Arme vor der Brust, wie er es immer tat, um Abstand zu signalisieren. »Wenigstens«, fauchte er, »habe ich nicht unsere wertvollste Waffe dem Feind ausgeliefert!«

Diese Feststellung ließ den Sänger von In Extremo verstummen, und er presste verdrossen die Lippen aufeinander. Sogar Micha wusste, wann Zurückfeuern aussichtslos war.

»Hört auf damit, das bringt doch nichts!«, tadelte Dr. Saltz. Gerade entnahm er mit einer dünnen Kanüle eine Blutprobe aus einer Vene in der rechten Vorderpfote des Hundes. »Wer auch immer Amboss vergiftet hat, weiß, wo wir hocken. Uns angreifen werden sie wohl nicht, da wir zu wehrhaft sind, aber sie wollen auf jeden Fall vermeiden, dass wir sie aufspüren.«

Falk schaute immer noch abwesend beiseite, da er offenbar vergeblich versuchte, einen Rettungsplan zu entwerfen. »Mir fällt einfach nichts Klügeres ein, als einfach radikal zu versuchen, das Nest zu finden. In Wuppertal haben wir es immerhin geschafft.«

»Nur viel zu spät«, murmelte Pfeiffer. »Es könnte auch dieses Mal zu spät sein.«

Vorsichtig wandte Fritz sich an die anderen, in der Hoffnung, sie beruhigen zu können: »Ich glaube nicht, dass sie Alea töten werden. Das hätten sie viel einfacher machen können. Sie haben ihn absichtlich entführt.« Leider erzählte er damit niemandem etwas Neues.

»Ja, das ist sicher«, seufzte Falk und rieb sich kummervoll den Bart. »Töten werden sie ihn mit Sicherheit nicht. Viel schlimmer! Alea ist ein Vexecutor, was ganz Besonderes … Es gibt so viele Gerüchte und Legenden um ihn, dass man damit Bücher füllen könnte. Vampire glauben, dass sein Blut süß wie Honig ist und immun macht gegen Sonnenlicht, gegen Natron, gegen Verbrennen, gegen Pfählen – ach, einfach gegen alles! Verstehst du, Fritz, sie werden ihn bis auf den letzten Tropfen aussaugen … Aber erst, wenn sie alles über ihn wissen, das man experimentell rausfinden kann!«

Lasterbalk stöhnte frustriert auf. »Ich hasse den Gedanken, dass sie sein Blut trinken werden!«

»Und ich versteh gar nicht, wie die sich den so einfach greifen konnten«, knurrte Micha in ohnmächtigem Zorn. »Bei diesem Kung-Fu-Scheiß, den er macht, sind die Techniken doch drauf ausgelegt, den Gegner zu töten, oder nicht? Er hasst doch Vampire! Wieso hat er denen nicht einfach mal richtig aufs Maul gegeben? Und diesen Energie-Rotz kann man sich wohl auch sparen, den haben sie ihm einfach abgedrückt, und das war’s mit Vexekutieren!«

Klaus Buschfeldt, der nur mit allerfinsterster, unbewegter Miene ganz hinten in dem engen Raum gestanden hatte, wandte sich zum Gehen. »Dann wisst ihr ja, was ihr zu tun habt. Bemüht eure eigenen Nasen, um das Nest zu finden und auszuräuchern. Und zwar schnell
 

Also brachen kurz danach sämtliche MIU-Mitarbeiter auf und verteilten sich in der Stadt.

Fritz und Micha, die Rhynern schon am Vortag nahezu vollständig durchkämmt hatten, intensivierten ihre Bemühungen. Das Wetter war unverändert gut; aus dem Polizeipräsidium waren keine neuen Meldungen eingetroffen.

Da es keine anderen Anhaltspunkte gab, kehrten sie auf direktem Wege in die ruhige Wohngegend zurück, wo die Sonnenbrillenträger Alea aufgegriffen und verschleppt hatten. Sie fanden das Haus wieder und sogar noch die trockenen Blutstropfen im Gras, die Micha verloren hatte, als der schallgedämpfte Schuss ihn vom Dach gefegt hatte.

»Schwarz«, stellte Fritz überrascht fest. »Dein Blut ist wirklich schwarz. Ich dachte, das wäre nur eine Metapher.«

»Vampirblut ist eigentlich genauso rot, wird aber schwarz, wenn Sonnenlicht drauf fällt«, erklärte Micha, während er an der Hauswand emporblickte. »Bock kann dir erklären, wieso das so ist … Ist mir zu kompliziert.« Er ließ seine Hand über den kalten, weißen Putz gleiten. »Erinnerst du dich noch, welchen Weg die genommen haben?«

Fritz, der die Flucht der vier Vampire noch genau vor Augen hatte, zeigte ihm die Querstraße. »Es war irgendwo hier …«

»Hmmm, unser Bereich ist hier zu Ende. Ab da hinten ist Lex zuständig. Lass uns mal gucken, was der so macht. Ist ja alleine unterwegs, wie immer.«

Während sie der Straße folgten, glitt die Sonne hinter den Wolken hervor. Micha blinzelte und wandte sich ein wenig vom Licht ab, doch dank der Tarnlinsen vergingen die Probleme schon nach Sekunden. Prüfend nahm er eine Hand aus der Tasche und streckte sie aus, um zu sehen, ob etwas passierte.

»Kein Azathioprin genommen?«, fragte Fritz.

»Doch … Aber ich muss mich manchmal überzeugen. Ist wie so ’ne Paranoia, wenn man es gewohnt ist, von Sonnenlicht hammer gefickt zu werden.« Er steckte die Hand wieder ein.

Fritz fuhr fort: »Manche Vorurteile über Vampire stimmen, andere überhaupt nicht. Woher kommt das?«

»Naja, Vampire verstecken sich ja vor Menschen, schon immer. Die Leute haben Ideen. Irgendwann kann man denen, die anders sind, alles andichten.«

»Schlaft ihr normalerweise wirklich in Särgen?«

»Boah, nee. Aber das fragen echt alle. Weißt du, Menschen sehen wie tot aus, wenn sie zu Vampiren transformiert werden. Viele sind dann eben fertig verwandelt in Särgen aufgewacht … und haben sich zum Schlafen wieder reingelegt, weil sie nichts anderes mehr hatten. Aber freiwillig macht das bestimmt keiner. Glaub ich nicht. Ich meine, ich kann überall pennen, aber in einem Sarg … da wird’s doch bestimmt irgendwann stickig drin, und unbequem ist es auch. Oder?«

»Woher soll ich das wissen?«, gab Fritz zurück. »Ich weiß gar nichts über Vampire. Was ist mit Silber? Schadet das?«

»Nee. Guck mal.« Micha nahm einen seiner Ohrringe zwischen zwei Finger. »Die sind aus Silber, und meine Ohren sind noch dran. Silber ist okay.«

»Und Weihwasser?«

»Ist auch okay. Und bevor du weiterfragst: Kirchen sind auch okay. Schöne Fenster und so, schöne Akustik. Lex tritt gerne in Kirchen auf, Subway auch. Kreuze sind auch kein Ding, findet man ja überall. Und Knoblauch …«

Fritz schluckte hart. »Das weiß ich schon. Ihr esst ihn sogar.«

»Oh ja.« Trotz allem rang Micha sich ein schwaches Lächeln ab. »Aber Lex’ Vorliebe für Knoblauch ist fast schon ein bisschen pervers.«

Sie erreichten einen Feldrand und gingen daran entlang. Hier im Süden war die Stadt sehr ausgedehnt, die Häuser nur noch vereinzelt. In der Sonne war es inzwischen so warm, dass Fritz seine Jacke öffnete und den Schal ein wenig lockerte.

Micha hob die Nase und schnupperte. »Hmm … Hier stimmt aber was nicht.«

»Was ist?«, wollte Fritz alarmiert wissen. »Vampire?«

»Weiß ich nicht …« Sich unaufhörlich umsehend verließ Micha den Pfad und ging auf die Wiese, auf ein kleines Waldstück zuhaltend, hinter dem sich wieder Häuser befanden.

Fritz merkte, dass er gar nicht wusste, was sie tun würden, wenn sie das Vampirversteck tatsächlich fanden. Natürlich konnten sie mit dem Handy den anderen bescheid geben, doch bis die eingetroffen waren … würden sie was tun? Warten? Beobachten? Sich in der Nähe verstecken?

Am nächsten Baum blieb Micha stehen und beroch ihn auf Armhöhe von allen Seiten.

Fritz fand dieses Verhalten sehr befremdlich. »Was machst du da?«

»Marker lesen.«

»Was sind Marker?« Fritz dachte an dicke Filzstifte in leuchtenden Farben.

»Wenn einer von uns alleine unterwegs ist«, erklärte Micha, »muss er eine Spur legen. Die Vampire können dann dem Weg folgen. Das macht man so.« Er hob die Hand und strich wie beiläufig mit der Innenseite des Gelenks über die Baumrinde. »Hält bis zu drei Stunden, bei gutem Wetter. Körperteile mit mehr Schweißdrüsen, also Lende oder Achselhöhlen, geben bessere Marker, aber so unter Leuten ist das ’n bisschen zu auffällig. Heute waren wir ja nur auf Spurensuche, das ist fast Routine, deshalb sind die Marker auch weit auseinander.«

Fritz entschied sich, besser nichts dazu zu sagen. Dass Vampire sich zuweilen an Gerüchen orientierten wie Hunde, war ihm irgendwie unangenehm.

Micha ging indes weiter in das Wäldchen hinein, und nur wenige hundert Meter später begann er zu rennen. Laub flog auf, als er unter den Ästen hindurch in die dichtere Baumgruppe abtauchte. Rot und gelb spiegelte sich das Sonnenlicht auf den wenigen Blättern, die sich noch an den saftlosen Zweigen der Espen und Eichen festklammerten.

»Warte!«, rief Fritz und folgte ihm stolpernd. Er sah, dass der andere stehen geblieben war und einen dicken Baum hinaufstarrte. Fritz folgte seinem Blick – und erschrak bis auf die Knochen.

Sie hatten Asp gefunden. Man hatte ihn an einem der höheren Pappelzweige aufgehängt wie an einem Galgen, und sein Schal dienste als Strick. Er hing still; seinen starren Körper konnte der mäßige Wind kaum bewegen, nur sein Mantel flatterte sanft.

»Oh Gott!«, schrie Fritz auf und brach schlotternd zusammen. Seine Knie sanken in weiche Erde. Nicht schon wieder, dachte er voller Entsetzen, jetzt ist es einer von uns, wir hätten uns nicht trennen dürfen, jetzt wird es gefährlich, jetzt zeigen sie uns, dass sie den Kampf nicht scheuen, jetzt – …!

»Hmmm«, machte Micha in besorgtem Ton. »Das ist nicht gut. Aber auch eigenartig..«

»Eigenartig?«, echote Fritz fassungslos. »Nicht gut? Wie kannst du so ruhig bleiben? Die haben einen von uns umgebracht

Micha drehte sich zu ihm um und zog die Brauen hoch. »Du weißt gar nicht, was da los ist, oder?« Er deutete vage den Stamm hinauf. »Du denkst jetzt, er ist tot. Keine Angst, der lebt noch, alles nicht so schlimm.«

Fritz hatte keinen Grund, etwas anderes zu erwarten, als dass Asp tot war, und wartete mit entgleister Miene auf eine Erklärung, die Micha ihm zum Glück auch postwendend lieferte.

»Ich erklär’s dir. Die haben ihm einfach die Luft abgedrückt und ihn hier rumhängen lassen. Zur Abschreckung. Ein Vampir, der nicht atmen kann, stirbt nicht, sondern fällt in eine … so ’ne Totenstarre, sag ich mal. Bock nennt das Thanatose. Wir nennen das … Freeze.« Mit einem freudlosen Lächeln nahm Micha die Hände aus den Taschen und kletterte ohne Mühe den Baum hinauf, wobei er, je höher er kam, sichtlich vorsichtiger wurde, da die Äste unter seinem Gewicht unheilvoll knarrten. Als er den schwarzen Schal, mit dem man Asp stranguliert hatte, endlich zu fassen bekam, zog er ihn mit einiger Mühe ob des Gewichts zu sich heran und warf die Fangzähne aus, um den provisorischen Galgenstrick mit einem einzigen, sauberen Biss zu kappen.

Asp fiel auf den laubbedeckten Waldboden wie ein schwerer Stein. Ein Stoß bunter Blätter wurde aufgewirbelt und tanzte über ihm in der Luft.

»Na los«, forderte Micha Fritz auf, ehe er dazu ansetzte, vom Baum zu springen. »Kneif ihn, am besten vorne an der Brust, da laufen viele Nerven zusammen. Dann wacht er wieder auf.«

Fritz kniete sich zu Asp, dessen Augen einen kleinen Spalt weit geöffnet waren und nur den weißen Glaskörper erkennen ließen. Mit zitternden Fingern beeilte er sich, den Schal vom Hals des Sängers zu lösen. Der Stoff hatte sich so festgezogen, dass die Haut darunter wund und aufgerieben war und das Blut sich bläulich gestaut hatte – typische Würgemale, wie Fritz sie im Laufe seiner Karriere schon an einigen Leichen gesehen hatte, sehr zu seinem Leidwesen. Vorsichtig drehte er Asp auf den Rücken – was nicht ganz leicht war – und schob die Hand unter sein Shirt. Sobald er Daumen- und Zeigefingernagel fest um eine Hautfalte geschlossen hatte, ging ein Ruck durch den Körper des Vampirs. Er schlug die Augen auf und begann zu husten, wobei er hektisch aufsprang und wieder umfiel, einmal und noch mal, bis er, röchelnd und um Atem ringend, auf die Hände gestützt hocken blieb. Völlig erschöpft fing er Fritz’ Blick auf erklärte krächzend: »Das ist ein echtes Scheißgefühl … wenn die Lungen sich wieder entfalten …« Er hustete noch ein wenig mehr und spuckte zähen, blutigen Schleim auf den Waldboden.

Inzwischen war Micha zu ihnen getreten, kniete sich hin und rieb Asp den Rücken. »Na, geht’s wieder?«

»Hmmm … Muss wohl.« Asp fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Einige schwarze Haare hatten sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst, aber abgesehen davon sah er jetzt wieder ganz gesund aus, hatte Farbe im Gesicht und einen wachen Blick. »Ach, verdammt, Micha. Ich hatte fast keine Chance gegen die. Ich bin so alt, und das waren nur vier, aber ich konnte trotzdem nicht viel machen.«

Micha nickte nur. »Warum haben die dich nur gefreezt und nicht gekillt?«, wollte er wissen.

Asp wandte den Blick ab und rappelte sich mühsam hoch. »Ich weiß nicht«, murmelte er und begann, das Laub von seinem Mantel zu wischen.

»Doch, das weißt du, das seh ich«, insistierte Micha. »Vergiss nicht, ich kenn dich, seit wir bei diesem Drecksladen gelandet sind, der sich MIU nennt.«

»Micha … Bitte lass es gut sein.« Asp sah ihn beinahe flehentlich an. »Ich rede mit dir darüber, ein anderes Mal. Aber nicht jetzt. Bitte.«

Fritz glaubte, dass es an seiner Anwesenheit lag. Diese beiden Männer kannten einander schon lange, und er, Fritz, gehörte nicht in diesen Kreis.

Micha beließ es mit einem resignierten »Na gut« dabei und fragte stattdessen, ob Asp Hinweise auf das Versteck gefunden hätte. Asp verneinte das; er sei der Gruppe, die aus vier Vampiren bestand, zufällig begegnet und habe sie fast eine Dreiviertelstunde lang unbemerkt verfolgt, bis sie zuletzt doch auf ihn aufmerksam geworden waren.

»Das war ein kurzer Kampf«, erklärte er niedergeschlagen.

»Scheinen dieselben vier gewesen zu sein, die uns Alea weggeschnappt haben«, sagte Micha nachdenklich. »Aber das waren keine Babys, Lex, die konnten schon an Wänden hochlaufen wie Spider-Man.«

»Ich kann mich auch geirrt haben. Jedenfalls haben sie Irisch gesprochen, da bin ich sicher, und das tun nun mal nur irische Vampire. Auf dem europäischen Festland«, fügte Asp an Fritz gewandt hinzu, »sprechen Vampire untereinander meist Latein.« Er zuckte die Schultern. »Ich verstehe kein Gälisch, aber seit unserem Krieg gegen Fiacail Fhola hab ich diesen komischen Klang unauslöschbar im Ohr.«

Fritz überdachte das und schaute Micha an. »Du kannst Irisch, oder?«

»Ach, nicht gut«, wehrte Micha ab. »Ich hab es von Fírinne gelernt, über Rea Garvey. Kennst du den? Singt bei der Band Reamonn. Ist auch ein Vampir. Jedenfalls sagen die mir immer wieder, dass mein Gälisch für’n Arsch ist … vor allem die Aussprache. Aber, Mann, dafür kann ich nichts.« Düster fügte er hinzu: »Rate mal, wer von uns allen am besten Gälisch kann.«

Fritz brauchte nicht lange nachzudenken. »Eric, sonst würdest du nicht so gucken.«

»Ja, hast Recht.«

Zu dritt erreichten sie schließlich wieder die dichter besiedelte Wohngegend.

»Mein Viertel ist jedenfalls sauber«, sagte Asp. »Kein Hinweis auf das Versteck. Ich hoffe, die anderen hatten mehr Glück. Zu dumm, dass Amboss Rattengift gefressen hat. Wenn Bock ihn bloß wieder hinkriegt …«

»Bock kann das«, sagte Micha zuversichtlich.

»Wieso nennt ihr ihn eigentlich Bock?«, fragt Fritz, dem auffiel, dass er das gar nicht wusste. »Weil er schwul ist?«

»Ist Bock schwul?«, sagte Asp geheimnisvoll.

»Natürlich, er macht ja kein Geheimnis draus!«

»Na, dann nennen wir ihn wohl so, weil er ein geiler Bock ist.«

Micha lächelte dünn. »Wir nennen ihn so, weil er uns genau das gleiche gefragt hat … Er hat nämlich immer ›Bock‹ verstanden, wenn wir ›Doc‹ gesagt haben. So entstehen blöde Spitznamen.«

»Er ist, wie du schon gemerkt hast, nicht nur Allgemeinarzt, sondern auch Experte für Vampire. Er hält sich ein bisschen für einen zweiten Dr. Van Helsing. Mit dem Unterschied, dass er Vampire gut leiden kann und ihre Bedürfnisse kennt und versteht. Für die MIU ist es wichtig, jemanden wie den im Boot zu haben.«

»Stimmt. Und Bock denkt, dass Vampirbisse irgendwie gut für die Gesundheit sind. Will seit Jahren eine Studie darüber anstellen, aber es wird nichts.«

»Warum nicht?«, hakte Fritz nach, der nicht glaubte, dass jemand eine solche Studie bewilligen würde.

»Weil er keine Freiwilligen dafür findet.«

»Na so was! Versteh ich gar nicht!«

Jetzt grinste Micha. »Hey, du kannst ja richtig sarkastisch sein. Gefällt mir.«

Eine Weile lang gingen sie schweigend. Sie passierten eine Gruppe Jugendlicher, die ihnen neugierig nachsahen, und ertrugen unbehelligt die missbilligenden Blicke von Müttern mit Kindern, die aus dem Supermarkt oder vom Spielplatz kamen.

»Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie Fiacail Fhola Alea kidnappen konnten«, sagte Asp schließlich. »Sie wussten, dass sie es können würden, denn sie haben ja, so wie ihr es geschildert habt, keinerlei Angst gezeigt.«

»Nein, die waren rotzfrech«, murrte Micha. »Haben einfach sein … Stirn-Chakra oder so was zugehalten … Ich glaube, ich werfe da gerade alles durcheinander, hab keine Ahnung. Ich weiß noch, dass Alea früher mal gesagt hat, er würde seine Fähigkeit über so ’ne Art drittes Auge steuern. Als könnte er so ’nen unsichtbaren Arm nach dem Herzen von ’nem Vampir ausstrecken. Also den … Energiefluss in seinem Körper aus sich raus lenken, oder so.«

»Und eben das wird es sein. Es hat auch in der Vergangenheit schon Vexecutors gegeben. Fiacail Fhola haben sich anscheinend irgendwo gründlich kundig gemacht und wissen jetzt, wie sie ihn daran hindern, ihre Herzen anzuhalten. Sie unterbrechen einfach diesen energetischen Fluss durch ein Hindernis.«

Micha stimmte Asp durch mattes Nicken zu.

»Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das können, was Alea kann, richtig?«, fragte Fritz.

»Es gibt vielleicht nicht mal mehrere gleichzeitig«, antwortete Micha sinnierend. »Die Fähigkeit ist fast gar nicht erforscht. Bei Alea hat sich das durch dieses Tai-Chi-Zeug rausgebildet, muss aber veranlagt gewesen sein. Normalerweise kann nur einer einen Vampir so leicht kaltmachen, nämlich sein Erschaffer. Denn er kennt den Wahrnamen.«

»Den was?«

»Den Wahrnamen. Jeder Erschaffer gibt seinem Abkömmling einen Namen, der mit dem menschlichen nichts zu tun hat. Keiner außer dem Vampir selber und seinem Erschaffer kennt den.«

»Ooh.« Fritz begriff die Bedeutung dieses Umstands. »Und jeder hat einen Wahrnamen? Ihr auch?«

»Jeder von uns«, nickte Asp.

»Aber ihr kennt nur eure eigenen.«

»Wenn wir Abkömmlinge hätten, würden wir deren Wahrnamen auch kennen, aber wir haben ja keine.«

»Wozu ist der Wahrname gut?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Micha. »Ich glaube, das hat was mit Macht über die Person zu tun. Der Erschaffer hat durch den Namen Einfluss auf seinen Abkömmling, denn, ich hab ja schon gesagt, der kann ihn problemlos töten. Einfach sein Leben beenden.« Demonstrativ schnippte er mit den Fingern. »So, zack … tot.«

Über Fritz’ Arme huschte eine Gänsehaut. »Einfach so? Das ist ja schrecklich!«

»Kein Erschaffer wird das machen«, versicherte Asp. »Ein Abkömmling ist wie ein Kind.«

»Genau, Fritz. Nur echt kranke Typen würden ihre Babys töten.«

»Verstehe«, murmelte Fritz. Während er darüber nachdachte, hielten sie schon wieder auf die Stadtmitte zu.

Micha wandte sich an Asp: »Wenn dein Viertel sauber ist und unsers auch … Wen gehen wir dann als nächstes besuchen?«

Die sind echt auf Ärger aus, dachte Fritz düster. Ist es etwa so reizvoll, von einer Überzahl skrupelloser Vampire niedergemacht und aufgehängt zu werden? Er wusste, dass er darauf keine Lust hatte – zumal der Zustand, in den er durch Erhängen verfallen würde, nicht durch ein simples Kneifen reversibel wäre.

Asp schien seine Meinung zu teilen. »Vielleicht sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass unsere Feinde sich außerhalb der Stadt verstecken«, sagte er bedeutsam.
 

Im Stadtteil Heessen nördlich des Zentrums standen Eric Fish und Sugar Ray im Schatten eines Wartehäuschens der Bushaltestelle Schafbusch. Finsteren Blickes examinierte Eric den Stadtplan, den die MIU im Stützpunkt hinterlegt hatte und auf dem schon eifrig herumgekrakelt worden war, teilweise mit ganzen Schriftzügen wie ›Und hier gibt es das beste Schnitzel der Stadt!‹ oder ›Meiden, das Bier schmeckt scheiße!!‹, welche wichtige Informationen wie etwa Straßennamen verdeckten.

»Idioten«, knurrte er. »Warum zum Teufel bin ich eigentlich der Einzige, der seine Arbeit ordentlich macht?«

Silvio Runge ignorierte sein leises Geschimpfe und starrte unverwandt einen Baum hinauf; dort sang ein Vogel, den er beim besten Willen nicht erspähen konnte, obwohl das Gezwitscher aus unmittelbarer Nähe kam.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Eric.

»Doch, schon.« Der Vogel blieb hartnäckig unsichtbar.

Missmutig begann Eric, die Karte unverrichteter Dinge wieder zusammenzulegen. Stadtpläne richtig zu falten war nur eins der vielen Talente, die ihm das Leben vielfach erleichterten. »Wenn wir mit der Linie R37 weiter bis nach Beckum fahren, haben wir den ganzen Norden des Viertels systematisch abgegrast. Es wäre sinnlos für Vampire, sich weiter außerhalb der Stadt anzusiedeln, wenn sich im Zentrum am unauffälligsten Beute schlagen lässt.«

»Gebe dir Recht«, nickte Sugar Ray, wortkarg wie immer.

Als der Bus kam, stiegen sie ein und nahmen etwa in der Mitte des halbleeren Fahrzeugs Platz. Die Leute, junge wie alte, starrten dumpf vor sich hin und redeten nicht. Eric ignorierte die neugierigen, jedoch völlig unspezifischen Blicke, die ihm und seinem Begleiter zugeworfen wurden; Subway To Sally mochten eine der bekanntesten Bands Deutschlands sein, doch hier am Rande Hamms erkannte sie keine Sau.

Die Haltestelle Westhusener Weg sah unauffällig aus. Kein Mensch wartete dort und nur ein kleines Mädchen mit Schulranzen stieg aus. Es folgte Schloss Oberwerries, wo die wenigen Leute, die noch mitfuhren, den Bus verließen. Die beiden Musiker stiegen ebenfalls aus. Ganz in der Nähe war die Schlossanlage zu sehen.

»Könnten uns das Schloss ansehen«, schlug Silvio vor. »Sieht zwar nicht so außergewöhnlich aus, aber wird nur noch repräsentativ genutzt, glaube ich.«

»Also nicht dauerhaft bewohnt«, schlussfolgerte Eric. »Gut, riskieren wir einen Blick.«

Sie folgten dem Wehrgang zur Backsteinmauer. Das Gebäude war zweiflüglig mit einem Hof im Inneren, der verlassen war. Während das Tor- und das Herrenhaus unzugänglich waren, stand eine Tür zum Marstall einfach offen.

Sugar Ray schnupperte. »Hm, keiner da. Oder?« Witternd drehte er sich auf der Stelle, um alle Windrichtungen auszukosten.

Eric wartete seinen Befund ab. »Und? Nicht mal Touristen? Nicht mal ein … Aufpasser?« Ihre Stimmen wurden von den roten Wänden, die den Hof begrenzten, zurückgeworfen, doch akustische Phänomene waren beiden Männern gut vertraut.

»Hmmm«, machte Sugar Ray. »Mit Amboss wären wir besser dran.«

»Wir sollten auch ohne einen Hubertushund unseren Job machen können«, erwiderte Eric verdrießlich.

»Hmmm …« Der Schwarzhaarige schaute sich erneut ratlos um. »Können mal reingehen. Tür steht ja offen.«

Drinnen war es dunkler als erwartet.

»Auch das noch. Siehst du was?«

»Kann die Linsen jetzt nicht rausnehmen.«

»Pff. Schon gut.«

Silvio schnupperte. »Glaube, das hier war ein Stall für Hunde. Riecht nach Stroh …«

»Stroh gehört hier nicht hin«, belehrte ihn der Sänger. »Das könnte ein Hinweis auf ein Vampirlager sein. Weiß der Teufel, warum Bestien Stroh so mögen.«

»Liegt sich eben gut auf Stroh«, bemerkte Silvio, wie um sich zu rechtfertigen, und witterte wieder. »Hm, alte Spuren. Wochenalt …«

Eric horchte auf die konzentrierte Stimme seines Vampirs, erpicht darauf, Hinweise zu bekommen, als jäh ein heller, gellender Schrei die beiden zusammenfahren ließ.

»Keiner hier, ach ja?«, schnaubte Eric, die Hand schon an seiner Natron-Kanone. Anders als die üblichen Waffen hatte sein eigener Colt ein vergoldetes Griffstück, was ihn unverkennbar machte. Vampire, die ihn kannten, mieden ihn.

Sugar Ray fasste ihn am Arm und führte ihn wieder nach draußen. »Entweder wurde diese Frau gerade gepfählt, oder ihr ist ein Nagel abgebrochen«, murmelte er, was überraschend viele Worte für eine Äußerung waren.

Sie eilten quer über den Hof; Silvio hatte die Quelle des Schreies geortet, und in Kürze folgten ein zweiter und ein dritter, jeder von ihnen lauter und spitzer als der vorausgehende.

Kurz vor dem Herrenhaus lief ihnen der Verursacher des Lärms entgegen: Eine junge Frau mit wild zerzaustem, blondem Haar hielt auf sie zu und warf panisch die Arme hoch. »Sie stirbt!«, kreischte sie und musste sich wiederholen, ehe die Männer sie überhaupt verstehen konnten. »Sie stiiiiiiiiiiiiirbt, stirbtstirbtstirbt!!«

»Nun mal ganz ruhig«, sagte Eric souverän.

Die Frau achtete nicht auf seine Beschwichtigung, sondern machte kehrt und rannte los, wohl in der Hoffnung, dass die beiden einzigen Personen weit und breit ihr folgen würden.

Am anderen Ende des Haupthauses lag eine weitere Frau am Boden in einer Lache von Blut und versuchte zitternd, sich aufzurichten. Ihr beigefarbener Mantel war voller tiefroter Flecken und bot einen scharfen Kontrast zu ihrer kreideblassen Haut.

Automatisch streckte Eric den Arm aus, um Sugar Ray im Lauf abzufangen, der, konfrontiert mit dieser Szenerie, scharf Atem holte. Die letzten Schritte gingen sie langsam, auch wenn die kreischende Blonde weiterhin versuchte, sie zur Eile anzutreiben.

Betont ruhig kniete sich Eric zu der dunkelhaarigen Frau, die merklich mit der Ohnmacht kämpfte, und streckte die Finger nach ihrem Handgelenk aus, das sie hektisch wegzog. Das Blut rann in dicken Strömen aus einer klaffenden Wunde an ihrem Hals. »Heilige Mutter Gottes«, zischte Eric, der nicht religiös war. Seine eigene verheilende Bisswunde war unter einem Schal verborgen; er kannte Vampirbisse, und dies hier war keiner. Es sollte nur wie einer aussehen. »Silvio«, befahl er, »beiß sie.«

»Aber –«, protestierte Sugar Ray schwach.

»Das wird sie ruhigstellen und den Kreislauf stabilisieren.« Die Blonde hinter ihnen setzte zu einem noch lauteren, geradezu überirdischen Gebrüll an. Trocken fügte Eric hinzu: »Beiß die andere auch, damit sie mir nicht den letzten Nerv raubt.« Immer Ärger mit diesem Job, dachte er.

Silvio machte seine Arbeit und tat, wozu er angehalten war. Vampire konnten Menschenleben retten, ohne sich anzustrengen: Ihr Gift und ihr Speichel konnten Schmerzen betäuben, Panik beenden, Herzversagen abwenden und schlimmste Blutungen stillen – wenn man es zuließ. Wer mit Vampiren arbeitete, wusste diese beiden Säfte zu schätzen.

»Gut«, sagte Eric, als Sugar Ray fertig war. Inzwischen hatte er den Puls der verletzten Frau gefunden, und trotz des hohen Blutverlustes war er jetzt einigermaßen stabil.

»Wenn wir einen Arzt rufen, müssen wir das erklären«, murmelte Silvio und meinte damit die Tatsache, dass zwei Frauen reglos inmitten eines völlig menschenleeren Schlosshofes lagen – menschenleer bis auf sie beide.

Eric dachte angestrengt nach. »Müssen wir das? Die Polizei weiß, dass wir hier sind. Warum wir hier sind, weiß sie hoffentlich auch.«

»Die werden meine Spucke finden«, beharrte Sugar Ray, dem die Situation merklich unangenehm wurde, erkennbar daran, dass er plötzlich viel mehr redete, »weil gar kein anderer Vampir dran war. Ich bin registriert. Du weißt, was das heißt.«

Damit hatte er Recht. Bei der Registrierung wurde ein Schleimhautabstrich gemacht und die genetischen Daten gespeichert; es würde sich höchst seltsam anhören, dass Silvio der Verletzten mit dem Biss das Leben gerettet haben wollte. Leise seufzend beugte Eric sich diesem Umstand. »Gut«, sagte er wieder, »dann lösen wir das Problem erst mal auf unsere Art. Das hat einen Vorteil … Wir können die Damen sofort befragen, wenn sich die Gelegenheit bietet.«

Damit war Sugar Ray sicherlich auch nicht zufrieden, aber eine bessere Option war es allemal, und so widersprach er nicht länger, als Eric ihm mit einer Geste bedeutete, die blutüberströmte Frau vom Boden aufzuheben.

Ghost Train

»Ihr habt ja wohl nicht mehr alle Frösche im Teich!«, schimpfte Dr. Saltz, als man ihm die schwer verwundete Frau auf den behelfsmäßigen Behandlungstisch legte. »Warum habt ihr keinen Krankenwagen geholt?«

»Weil ich Silvio mit der Erstversorgung betraut habe«, antwortete Eric, machte einen Schritt rückwärts und kreuzte, wie immer, die Arme vor der Brust, seine typische Verteidigungsposition, in der er unangreifbar war. »Wir haben uns entschieden, keine Ärzte und Polizisten zu alarmieren. Hätten wir das vorgehabt, hätten wir keine erste Hilfe leisten können.«

»Na, da bin ich anderer Meinung«, knurrte Bock und strich das Haar der Bewusstlosen vom Hals zurück, um das ganze Ausmaß der Zerstörung in Augenschein zu nehmen. »Zumindest die BfV-Leute wissen doch, wie wir arbeiten. Jetzt können sie uns erst recht drankriegen – vor allem dann, wenn ich diese hässliche Wunde nicht fachgerecht versorgen kann!«

»Ich bin überzeugt, dass du das kannst«, erwiderte Eric ungerührt.

Hinter ihnen trug gerade Lasterbalk die tränenüberströmte, wimmernde Freundin des Opfers in den Flur, die ihn umklammerte wie ein Koala und ihr Gesicht an seine Schulter presste. »Hätte Silvio hier net auch mal reinbeißen können?«

»Habe ich gemacht«, versicherte Sugar Ray kühl.

»Ach, raus mit euch, raus mit euch allen!«, befahl Bock verdrossen, als er beide Patientinnen auf den Tischen hatte. »So viel Beruhigungsmittel, wie hier nötig wäre, haben ja nicht alle unsere Vampire zusammen! Jesus Christus, Mann!« Mit einer übertriebenen Geste scheuchte er alle Männer aus dem Raum und schloss die Tür mit einem Fußtritt. Man hörte ihn weiterhin leise schimpfen, während er mit der Behandlung der beiden Frauen begann.
 

Buschfeldt, der an einem schwarzen Tee nippte und an einem Bericht der bisherigen Ergebnisse schrieb, war alles andere als erfreut über die Meldung.

»Ich muss mich doch sehr wundern«, sagte er zu Eric, »dass ausgerechnet du eine derart unangebrachte Maßnahme ergreifst. Enttäuscht mich ein wenig.«

»Tut mir Leid, Boss, es ging nicht anders.« Eric blieb unbeeindruckt.

Lasterbalk setzte sich mit an den Tisch und rieb sich die Stirn. »Es ist ja alles gut gegangen. Wir waren mit dem Dark Knight sofort da und haben die beiden Damen ganz schonend transportiert. Beide waren ruhiggestellt und es gab keine Zwischenfälle. Nach der Befragung können wir die zwei schon erstversorgt weiterreichen.«

Buschfeldt warf ihm einen herablassenden Blick zu. Dass er auf die Meinung von Vampiren wenig Wert legte, war bekannt. »Welche Teams sind jetzt noch in der Stadt unterwegs?«, fragte er mit mäßigem Interesse.

»Ähm …« Lasterbalk legte die Stirn in Falten. »Ingo und Simon … Lange und Flex … Fritz und Einhorn … und Asp.«

»Ich hoffe, dass zumindest einer von denen mit Ergebnissen zurückkommt.«

Eric sagte: »Schloss Oberwerries scheint ein altes Vampirversteck zu sein. Das heißt, schon bevor Fiacial Fhola ihren Unterschlupf in Wuppertal aufgegeben haben, sind einige da gewesen.«

»Das ist net so verwunderlich«, meinte Lasterbalk. »Wir haben in Wuppertal Vampire erledigt, die von den ersten dieser … Pseudo-Bissopfer angelockt worden sind. Das waren Bestien, aber für diese Show mit den aufgerissenen Hälsen konnten die nix. Das waren einfach nur … Mitläufer. Und wir müssen damit rechnen, dass es noch viel mehr von der Sorte gibt.«

Buschfeldt stellte die Tasse hin. »Na schön. Ich werde Yellow Pfeiffer und El Silbador bitten, das Vampirregister durchzusehen. Die beiden hängen mir sowieso zu viel nutzlos rum. Die Polizei in Wuppertal ist der Meinung, dass von den vier Vampiren, die ihr an diesem einen Abend exekutiert habt, keiner irgendwo registriert war.«

»Welche Bestie lässt sich schon registrieren?«, murmelte Lasterbalk.

»Ich will, dass wir das in Zukunft besser überschauen«, fuhr Buschfeldt scharf fort. »Wenn ein Vampir über die Bildfläche tanzt, will ich wissen, wer das ist. Erst recht dann, wenn ihr das Vieh kalt machen müsst. Ist das klar?«

»Ja, Boss«, sagte Eric gleichmütig, während Lasterbalk nur die Schultern hob.
 

Eine knappe Stunde später hatte sich die unverletzte der beiden Frauen so weit erholt, dass sie bereit war auszusagen. Scheu setzte sie sich an den Tisch, noch immer mit ganz zerwühlter Frisur und roten, verheulten Augen, und machte sich möglichst klein angesichts der vielen neugierigen Blicke. Falk, der zwischen Lasterbalk und Elsi saß, fragte sich, was Bock der Frau gegeben hatte, damit sie jetzt so ruhig war. Offensichtlich etwas, das länger vorhielt als Vampirgift.

Pfeiffer hielt schon alle fünf Finger über die Tastatur, bereit, jedes Wort mitzutippen. Der gemütliche Schievenhöfel stellte dem Gast ein Glas Wasser hin und großzügigerweise sogar die kläglichen Überreste der Nussplätzchen, die seine Frau gebacken hatte.

Die junge Frau kümmerte sich weder um das Getränk noch um die Naschereien, sondern begann stattdessen mit immer noch brüchiger Stimme zu berichten: »Also, da … da waren diese Typen … Mona und ich sind gerade aus dem Kaufhaus gekommen, Sie wissen schon, das türkische beim Bahnhof. Und die waren unheimlich charmant … Wollten wissen, ob wir von hier wären, ob wir das Schloss kennen würden. Ich sagte, nein, wir sind aus Unna … Und dann fragten sie, ob wir das Schloss nicht mit angucken wollen … Wir haben es dann auf dem Busplan gefunden, die Station heißt ja direkt so …«

Noch hatte Pfeiffer die Finger nicht bewegt. Er sah immer noch die Frau an, die nun zögerte.

»Ja?«, sagte Eric betont deutlich. »Bitte weiter.« Er nickte ihr aufmunternd zu, doch sein Blick blieb kühl und berechnend.

Der hätte echt Cop werden sollen, dachte Lasterbalk.

»Naja, wir sind hingefahren … Und da war niemand, alle Türen waren zu. Wir haben uns also alles nur von außen angeguckt. Bis der eine Typ plötzlich meinte, er hätte ’nen Schlüssel für den Stall.«

Pfeiffer begann zu tippen.

»Und wir sind reingegangen … Und drinnen …« Jäh von der Erinnerung überwältigt, presste die Blonde eine Hand auf den Mund. Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen, doch sie fuhr tapfer fort: »… haben uns vier Kerle gepackt … und gesagt ›Die sind gut‹ …« Sie schniefte. »Wir haben um uns getreten. Bis wir aus dem Stall raus kamen … Aber einer ist uns hinterher. Und hat Mona ein Messer in den Hals gestochen … so eins mit S-S-Sägezähnen.« Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Bock, der neben ihr saß, nahm ihre Hand und massierte gewissenhaft die kalten Finger.

»Holy Shit«, sagte Elsi laut.

»Muss passiert sein, kurz bevor Eric und ich angekommen sind.« Sugar Ray sah alles andere als glücklich aus. »Sind vielleicht unseretwegen aus dem Versteck geflohen.«

»Du hast gesagt, die Spur war alt«, erinnerte ihn Eric und hob eine Augenbraue.

»Vielleicht war vorher lange keiner da. Bin doch kein Spürhund.«

Die junge Frau fuhr sich mit dem Ärmel der freien Hand quer über das Gesicht und wimmerte: »Sie haben uns dann da gelassen und sind abgehauen … Die vier Kerle, und die beiden Typen auch. Sie wollten, dass Mona einfach verblutet.«

Einen kurzen Moment lang schwiegen alle Anwesenden. Dann sagte Lasterbalk leise: »Das ergibt keinen Sinn.« Falk fand, dass er durchaus Recht hatte. »Ich meine … Wenn jemand will, dass Vampire doof dastehen … Das mit dem abgelegenen Ort kann ja Absicht sein, na gut … Aber warum dann nur einen Menschen so übel zurichten und den anderen am Leben lassen, damit der später bezeugen kann, dass es keine Vampire waren?«

Bei dem Wort Vampir zuckte der Blick des Mädchens hoch und heftete sich ehrfürchtig an Sugar Ray, der bemüht emotionslos zurückschaute. Er hatte nur seinen Job gemacht.

»Die wollten mit mir das gleiche machen«, sagte sie schließlich, »da bin ich ganz sicher. Ihr …« Sie zeigte vage auf Eric und Silvio. »… Ihr habt sie gestört. Glaube ich.«

Pfeiffer drückte besonders fest auf die Enter-Taste. »Gut, ich will Beschreibungen. Von allen.«

Die blonde Frau gab sie ihm. Bei der Erwähnung von Sonnenbrillen horchten alle auf. Falk knirschte leise mit den Zähnen; es waren Vampire, die diese grausamen Dinge taten, und zwar ohne auch nur einen Tropfen Blut zu trinken. Das machte sie zu Schlimmerem als Bestien. Aber mit welchem Motiv? Weshalb versuchten sie, ihre eigene Art zu diskreditieren, indem sie Leichen mit zerfetzten Hälsen hinterließen?

»Danke«, sagte Boris schließlich. »Dann haben wir wohl alles.«

Schwankend erhob sich die Frau von ihrem Stuhl. Sie schien es eilig zu haben, von ihren Rettern wegzukommen. »Sie sagten, sie wollen streuen«, fügte sie mit gesenktem Blick an. »Ich weiß nicht, was das heißen soll.«

»Auf jeden Fall verlassen sie die Stadt«, folgerte Eric, »und diesmal müssen wir ihnen zuvorkommen.«
 

Buschfeldt selbst alarmierte die Polizei, nachdem sie die Befragung beendet hatten. Kurz darauf erschien diese mit einem Streifenwagen und einem Krankentransporter. Valerie Fink und Mona Hieper, wie die beiden unfreiwilligen Besucherinnen hießen, wurden mit zum Abschnitt respektive in die Klinik genommen. Über das eigenmächtige Aufgreifen der beiden durch die MIU wurde keine Kritik geäußert; gern nahmen die Beamten die bereits gemachten Aussagen entgegen, und über die tiefe Wunde äußerte der weiterbehandelnde Arzt, dass sie exzellent versorgt worden sei. Bock verkniff es sich mühsam, ihn darauf hinzuweisen, dass dies auf die hoch gerinnungsfördernde Wirkung von Vampirspeichel zurückzuführen war.
 

Keine fünf Minuten nach der Abfahrt der beiden Autos kehrten Fritz, Micha und Asp gemeinsam zum HQ zurück. Sie hatten die Stadtgrenze observiert und nichts gefunden, hörten sich aber staunend an, was dem Rest des Teams widerfahren war.

»Da hatte ich ja Glück«, war Fritz’ Kommentar, »dass wir nicht am Schloss waren.«

Kurz darauf erschienen auch Sebastian und Marco wieder auf der Bildfläche, und fast zeitgleich Simon und Ingo. Falk erzählte die Geschichte ein drittes Mal; Eric und Sugar Ray hatten dazu schon längst keine Lust mehr.

»Da wir jetzt alle wieder hier sind«, wandte sich Buschfeldt später an die Versammelten, »schlage ich vor, dass wir weitere Schritte planen. Ich bin strikt dagegen, dass die Bande uns noch mal entwischt.«

»Wir wissen jetzt, dass Fiacail Fhola für so ziemlich alles, was hier so passiert, verantwortlich sein müssen«, erinnerte Lasterbalk. »Die haben in Wuppertal rumgebissen, was das Zeug hält, und sie sind es auch, die diese … diese Gräuel begehen. Nur unsere Musikleichen passen da noch net rein, aber die kriegen wir auch noch unter.«

»Vergiss nicht Alea«, knurrte Falk. »Wenn die jetzt mit ihm das Weite suchen, und wir wissen nicht, wohin … dann gute Nacht!«

»Ihr wisst, was wir machen können«, sagte Eric schneidend. »Was wir machen sollten. Sie hat uns schon so oft das rettende Ass zugespielt.« Eindringlich sah er vom einen zum anderen.

»Wer?«, kam es prompt von Fritz.

»Er spricht von Frau Schmitt«, erklärte Falk, »Silke Volland. Sie ist unsere erste Wahl, wenn es um V-Jobs geht.«

»Was … Eine Frau

»Ja, eine Frau!«, sagte Eric, vermutlich schärfer als beabsichtigt. »Sie ist so taff wie zehn von deiner Sorte, davon bin ich überzeugt!«

»Auf Frau Schmitt lassen wir nix kommen«, schloss sich auch Lasterbalk an. »Das Weib hat schon an die hundert Mal bis zum Hals in Gefahr gesteckt und uns trotzdem unbeirrbar mit Informationen versorgt, bis wir die Schurken drangekriegt haben.«

»Du weißt, was ein V-Job bedeutet, Fritz, oder nicht?«, fragte ihn Boris.

Fritz tat gekränkt: »Natürlich weiß ich das, ich war auch mal V-Mann! Allerdings … nur einmal.«

Falk scheiterte daran, sich Fritz als Spion in einer feindlichen Gruppierung vorzustellen. Konnte das wirklich gut gehen? Er glaubte es nicht. Da war Frau Schmitt ohne Zweifel eine verlässlichere Wahl.

Leise sagte Sugar Ray: »Das wird mit Abstand das Gefährlichste, was sie je gemacht hat.«

»Das weiß sie«, versicherte Eric sofort, »und trotzdem: Wenn wir sie bitten, Fiacail Fhola zu infiltrieren, dann wird sie es machen.«

Die Entscheidung hing wie ein bleiernes Tuch über dem Raum. Es war praktisch egal, was jetzt noch jemand einwenden würde.

»Dazu müssen wir Eff Eff aber erst mal lokalisieren«, stellte Falk fest. »Und das schleunigst.«

Zu aller Überraschung meldete sich nun Pfeiffer mit unerwarteter Euphorie zu Wort: »Lasst mich das machen, Leute, ich hab ’ne Idee. Ja, ich denke, damit erwischen wir sie, wenn sie türmen wollen. Wenn. Vorher nicht. Ach, lasst mich einfach machen.« Ohne auf Einwände zu horchen, fing er eilig an zu tippen, und den anderen blieb kaum etwas anderes übrig, als staunend die Gewandtheit seiner Finger zu bewundern.
 

Klaus-Peter Schievenhöfel übernahm den eher unbeliebten Küchenjob und kochte eine Gemüsesuppe. Fritz war nach dem langen Aufenthalt in herbstlicher Frische mehr als dankbar dafür. Diese Mahlzeit wurde wieder von allen gemeinsam eingenommen; da Alea nicht mehr da war, war es für die Vampire nicht nötig zu essen, aber sie taten es dennoch, wenn auch sehr wenig. Fritz sah ein, dass auch sie etwas Warmes in den Bauch bekommen wollten, und es war ja genug da.

Eine halbe Stunde später wurde Fritz genötigt, erneut das Pfählen zu üben. Er fand, dass er seit der letzten Übungsstunde Fortschritte gemacht hatte. Wieder durfte er sich an Micha versuchen, danach auch an Falk, der ihm vor allem durch körperliche Kraft Paroli bot, und zuletzt sogar an Sugar Ray – den Fritz im Übrigen noch viel unheimlicher fand als Asp –, der ihm ohne große Mühe mit geschmeidigen Bewegungen auswich und somit Fritz’ gezielte Attacken einfach ins Leere laufen ließ.

»Naja, naja«, räumte Ingo schließlich ein. »Wenn man bedenkt, dass unsere Vampire lange Erfahrung darin haben, sich nicht töten zu lassen, bist du gar nicht so schlecht.« Er gestattete Fritz, die Übung zu beenden. »Aber«, fügte er hinzu, »wenn du noch lernen willst, wie man am besten mit der Natron-Kanone zielt, dann geh zu Eric, solange wir noch Zeit dafür haben. Der zeigt dir, wie du ’ne Bestie auf fünfhundert Meter Entfernung blind schießt. Sein Eisen heißt nicht umsonst Sonnenauge.« Er lachte dröhnend.

Fritz hatte längst mitbekommen, dass jeder der nicht-vampirischen MIU-Agenten eine besondere Qualität mitbrachte. Genauso wusste er, dass er selbst keine besondere Qualität hatte – jedenfalls bisher. Vielleicht war Schießen gar nicht so schlecht. In der Grundausbildung hatte er dabei wirklich gut abgeschnitten. Allerdings war das Jahre her, und hinzu kam, dass Fritz sich von Erics selbstbewusstem Auftreten eingeschüchtert fühlte. Er wusste, dass er den Mann mit den ständig gekreuzten Armen, dem stechenden Blick und der kühlen Stimme nie mögen würde – ganz egal wie kompetent und erfolgreich er war. Da hielt er sich doch lieber an Micha, doch der konnte ihm außer Sprücheklopfen nicht viel beibringen.
 

Währenddessen saß Yellow Pfeiffer bis in die späten Stunden hochkonzentriert an seinem Rechner und holte sich über das BfV-Netz die Zugriffserlaubnis für sämtliche Verkehrsnetze. Als es dunkel wurde, war er noch immer mit Tippen beschäftigt, betriebsam und unermüdlich. Wie sich herausstellte, war er mittlerweile nicht mehr empfänglich für äußere Reize: Als Micha sich neben ihn setzte und versuchsweise ein wenig plauderte, bekam er nur gemurmelte Antworten mit unerhört wenig Vokalen. Daraufhin war Micha still und holte seinem Bandkollegen stattdessen eine Tasse Kaffee. Boris nahm das zur Kenntnis, beachtete das Heißgetränk aber nicht. Schließlich holte Micha die Keksdose. Er nahm eines der Nussplätzchen heraus und hielt es provokant zwischen Pfeiffer und den Bildschirm. Als noch immer nichts passierte, beugte er sich an Boris’ Ohr und sagte laut: »Keks!«

»Mann, Micha«, murmelte Pfeiffer endlich, tippte aber unbeirrt weiter. »Ich kann so nicht arbeiten.«

»Doch, kannst du, du machst es ja gerade«, gab Micha vorwurfsvoll zurück und bewegte den Keks auf und ab.

»Wenn du darauf bestehst, dass ich dieses blöde Plätzchen esse, dann krümel es in den Kaffee und lass mir den intravenös geben. Ich hab zu tun.«

Micha ächzte ein leises »Ich fass es nicht« und ließ den Keks wieder in die Dose fallen.

Als Fritz dazu kam, war der Sänger allerdings dabei, das Plätzchen selbst zu essen.

»Warum machst du das?«, fragte Fritz erwartungsgemäß in tadelndem Ton. »Wieso isst du Kekse?«

»Nur aus einem Grund, Fritz: Weil ich’s kann.« Unbeeindruckt warf Micha den letzten Krümel des Plätzchens hoch und fing ihn mit den Zähnen.

»Ha!«, schrie Boris plötzlich, und beide Männer fuhren herum. »Ich hab sie! Ha, die moderne Technik können sie einfach nicht austricksen, diese Steinzeitler!«

Neugierig beugten sich Fritz und Micha über den Monitor. »Was ist denn passiert?«

»Na jaaah, ich dachte, ich kriege sie über das Verkehrsnetz. Ich hab die Polizei gebeten, auf dem Weg zu den Autobahnauffahrten Kontrollen durchzuziehen, und die Überwachungsvideos aus den Bussen durch den Filter gejagt, den das Vampir-Registrationsbüro bereitgestellt hat. Bisher nichts gefunden. Aaaaaaber jetzt habe ich mich gerade in das Bahnnetz reingehackt. Und siehe da: ein außerplanmäßiger Zug. Ein DB-Intercity-Express, der keine Nummer hat und im offiziellen Fahrplan nicht erscheint.«

»Wow«, staunte Fritz.

Micha blieb skeptisch. »Das könnte was-weiß-ich für Gründe haben.«

»Denke ich nicht, Micha. Guck mal.« Boris deutete auf eine Kette aus Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen, die für Fritz keinen Sinn ergaben. »Der Zug ist quasi dazu angemeldet, den Bahnsteig zu befahren, aber diese Anmeldung, wenn man’s so nennen will, wurde ohne den zugehörigen Sicherheitscode eingeschleust. Also nicht von den Leuten, die das normalerweise autorisieren müssten.«

»Du meinst …«

»Ja, das Bahnhofspersonal wird den Zug erkennen und durchfahren lassen, weil er auf der Tafel steht, aber offiziell gibt es ihn gar nicht. Das wird aber erst auffallen, wenn er längst über alle Berge ist. Ideal, um schnell und unauffällig aus der Stadt zu verschwinden!« Triumphierend sah Pfeiffer in die Runde.

Micha murrte unwillig. »Oh, Scheiße. Wie hält man denn einen Zug auf? Wenn man sich nicht gerade davor schmeißen will.«

»Tja, darüber sollten wir uns noch Gedanken machen, bevor …« Boris klickte erneut irgendwo herum. »… oh, Mist, der Zug fährt in einer knappen halben Stunde! Hätte mir gleich einfallen müssen, dass nachts die beste Zeit ist! Micha, Fritz, schnell, krallt euch die anderen und macht eine Karre mobil! Ihr müsst sofort zum Bahnhof!«
 

»Ein gecharterter Zug?«, wiederholte Ingo Hampf ganz verdattert. »Na, die sind ja geil!«

»Beeilen wir uns«, zischte Eric. »Wer kommt alles mit?«

Die Wahl fiel auf Falk, Lasterbalk, Fritz, Micha und Flex. Sie nahmen den Dark Knight und Fritz’ eigenes Auto. Inzwischen war es kurz vor zwei, die Straßen waren kaum noch befahren.

Der Bahnhof war viel größer, als Fritz erwartet hatte; die Eingangshalle wölbte sich wunderschön und geradezu gigantisch über ihre Köpfe und war kein Vergleich zum Bahnhof in Wuppertal.

»Beeilt euch!«, knurrte Micha, als sie durch das leere Gebäude zu den Gleisen sprinteten. »Es ist gleich zwei! Ich glaube, der Zug hat keine Verspätung!«

Als die sieben – wieder einmal waren sie sieben, dachte Fritz verblüfft – den Bahnsteig 12/13 erreichten, fuhr der Zug gerade aus der Dunkelheit ein. Auf den Tafeln leuchtete die Ansage ICE XXX von XXX nach XXX. Bitte nicht einsteigen.

Ein Geisterzug, dachte Fritz beklommen, als das dreiäugige Ungetüm zischend zum Halten kam.

Keine Menschenseele war zu sehen. Der ICE stand nun stumm am Gleis. Es war ganz still.

Unschlüssig blieben die Männer stehen; Fritz sah, wie alle ihre Waffen zückten und dann begannen, sich in verschiedene Richtungen wieder zurückzuziehen.

Micha packte Fritz an der Schulter und zog ihn mit. »Schnell, die sind noch nicht da! Wir lauern ihnen auf!«

Sich auf einem verlassenen, schlecht beleuchteten Bahnsteig zu verstecken war nicht allzu schwierig. Menschen und Vampire verteilten sich über die Haltebereiche A bis F, jeweils in der Nähe der Treppenaufgänge und Aufzüge.

»Ich will endlich Alea wiederhaben!«, hörte Fritz Lasterbalk wispern.

»Pscht!«, machte Eric aus einer anderen Richtung. Fritz sah dort, wo er stand, die Lichtreflexion auf seiner Natron-Kanone. Eric hielt die Waffe so ruhig wie die Freiheitsstatue ihre Fackel.

Minutenlang passierte nichts. Der Zug stand nach wie vor unbeweglich da; weder hatte es ein Signal gegeben, noch hatte sich eine Tür geöffnet.

Micha stand dicht hinter Fritz, und unerwartet sagte er leise und beunruhigt: »Die werden uns riechen … Die wissen ganz genau, dass wir hier sind … Das wussten sie damals auch …«

Dann hörten sie ein Rumoren.

Es kam aus dem Untergrund, war erst leise und schwoll dann an wie eine herannahende Welle. Die Treppen begannen unter unzähligen Schritten zu hallen …

… Und plötzlich stürzte das wimmelnde Leben nur so herein über Gleis 12 und 13. Scharenweise Leute stürzten auf den Bahnsteig, aus allen Zugängen gleichzeitig, und ein Chor aus wilden Rufen flutete die kalte Abendluft. Instinktiv versuchte Fritz, vor den vielen Rennenden zurückzuweichen, doch schon war er mittendrin in ihrem Getümmel, und alle gleichzeitig stürzten sie sich auf die stummen Beobachter, die mit der gewaltigen Anzahl völlig überfordert waren.

»Menschen!«, rief Micha dicht an Fritz’ Ohr, laut genug, dass alle ihn Umzingelnden es hören konnten. »Los, Fritz, Abendbrot!«

Fritz verstand erst gar nicht. Dann schaltete er. Menschen!

Als die Menge an lärmenden Frauen und Männern, die scheinbar zusammenhanglose Rufe ausstießen, sich um sie schließen wollte, setzten Fritz und Micha beinahe zeitgleich zum Sprung an, um sich mitten zwischen sie zu werfen. Mit aller Macht versuchte Fritz, das anzuwenden, was er gelernt hatte, packte den Erstbesten in seiner Nähe – einen jungen Mann Mitte zwanzig – mit dem so gründlich einstudierten Bissgriff und warf ihn schwungvoll auf den glänzenden Steinboden. Sobald er den Mann in der Position hatte, um ihn zu beißen, wichen die anderen Leute, die zuerst um ihn herum gewesen waren, aufschreiend zurück. Fritz hatte sie überzeugt. Um diesen Anschein noch zu unterstreichen, warf er den Kopf zurück und fauchte die Leute an – das hatte er zwar bei noch keinem Vampir gesehen, aber in Filmen taten sie das immer, und auch jetzt machte es Eindruck. Micha, das sah Fritz jetzt aus dem Augenwinkel, hatte tatsächlich zugebissen; Blut lief ihm aus den Mundwinkeln. Dies täuschte über die Tatsache hinweg, dass Fritz keine eigenen Fangzähne besaß. Wer welche besaß und wer nur so tat, war der manipulierten Menschenmenge herzlich egal; sie hatten nicht mit feindlichen Vampiren gerechnet und rangen nun darum, von Fritz und Micha schleunigst wegzukommen. Kreischend drängten sie nach rückwärts, doch es waren so viele, dass kein Platz zum Ausweichen da war.

Micha ließ ihnen keine Chance. Mit gebleckten Hauern und hochgezogenen Lippen biss er sich durch die Mauer aus Körpern einfach hindurch. Wie ein Kampfhund warf er einen nach dem anderen nieder, und Massen kleiner Blutstropfen beschrieben hohe Bögen, ehe sie sich überall verteilten. Fritz musste sich zwanghaft einreden, dass er ihnen nichts Schlimmes antat, dass er all diesen Menschen zwar eine Wunde beibrachte, die aber gut heilen würde, und ansonsten nur einschläferndes Gift in ihre Körper injizierte, damit sie nicht im Weg waren. Schließlich teilte sich die Menge vor ihm und gab wieder den Blick auf den Zug frei.

»Da!«, schrie Micha. »Vampire!« Eine klebrige Mischung aus Blut und Geifer troff von seinem Kinn, während er die verbliebenen Menschen einfach beiseite stieß, um auf die anderen Personen zuzuhalten, die sich gerade in übermenschlichem Tempo an der Seite des Zuges entlang bewegten, um in einer der nun geöffneten Türen zu verschwinden.

Fritz war warm gelaufen. Blitzschnell hatte er seine UV-Lampe in der Hand und fuchtelte damit herum. Von den Vampiren, die Micha zu erwischen versuchte, war er zu weit entfernt, doch als ein weiterer an ihm vorbeihuschte, traf ihn der schwarze Schein mitten ins Gesicht, und der Mann heulte laut auf, ziellos taumelnd, geblendet. Fritz wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, und sprang den Vampir mit voller Kraft an. Da dieser ihn nicht mehr sehen konnte, hatte Fritz ihn rasch am Boden, riss den Pflock aus seinem Gürtel und hob ihn gerade über den Kopf, als der gepeinigte Vampir ihm jäh mit beiden Händen einen heftigen Stoß in den Unterbauch versetzte – offensichtlich ein zufälliger Treffer, doch Fritz blieb die Luft weg, und der Pflock kullerte aus seiner Hand.

Ein leises Sirren durchschnitt die Luft, dann bäumte sich der Körper des Vampirs noch einmal heiser brüllend auf, um danach zuckend liegen zu bleiben. Fritz wusste auch ohne hinzusehen, dass er Flex und dessen Armbrust wohl sein Leben verdankte, und beeilte sich, auf die Füße zu kommen. Immer noch tat ihm alles weh.

Das Gedränge war von ihm abgerückt; die Kämpfenden waren reduziert auf seine Kollegen, die nahe der Zugtüren um die Oberhand rangen, und eine Überzahl an vampirischen Gegnern. Fritz konnte Lasterbalk sehen, anhand seiner Größe unverkennbar, der eine magere Vampirin mit beiden Händen packte und ihr dann, die Fangzähne in ihre Kehle schlagend, einfach die Gurgel herausriss. Der Geruch von Blut war nun so übermächtig, dass auch Fritz’ Kampfinstinkt nicht mehr dagegen ankam. Ihm wurde schwindelig. Schon sackte er auf die Knie wie zehn Kilo Kartoffeln.

Wieder durchschnitten Geräusche die Luft, die denen der Armbrüste nicht unähnlich waren, die aber eher wie losgelassene Schießgummis klangen und von denen Fritz nun wusste, dass es schallgedämpfte Schüsse waren. Er konnte nichts mehr unternehmen, um sich nach ihnen umzusehen, und hoffte, das Gerangel möge schnell vorbei sein.

Das war es jedoch nicht. Sekunden später konnte er wieder den Kopf heben und sah den Zug neben sich; im erleuchteten Fenster erkannte er Gestalten, Vampire und Menschen, die es geschafft hatten, den Zug trotz des Angriffs zu besteigen, geschützt durch die aufgebrachte Menschenmenge. Fritz sah auch Alea. Der auffällige Mann lag reglos quer über zwei Sitzen. Erst einen Moment später verarbeitete Fritz diese Wahrnehmung.

Alea?, dachte er verwirrt. Aber wir haben ihn nicht gesehen! Die anderen hätten um jeden Preis verhindert, dass er in diesen Zug gezerrt wird! Wie haben sie – ?

Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Nur einen Sekundenbruchteil später traf seine Schulter ein so stechender Schmerz, dass ihm schwarz vor Augen wurde.

(Schon) Wieder unterwegs

Auf dem kalten Bahnsteig liegend, kam Fritz fröstelnd wieder zu sich. Seine Schulter war verletzt und sein Hemd unter der Jacke voller Blut, das warm und klebrig aus dem Ärmel über seine Finger lief.

Oh Gott, dachte er, am ganzen Leibe bebend, bitte nicht! Krampfhaft schaute er woanders hin.

Jemand kniete sich neben ihn; es war Falk, zum Glück, nicht irgendein Feind. »Fritz? Redest du mit mir, oder bist du weit weg?«

»Falk!«, krächzte Fritz.

»Ah, gut. Nicht bewegen, du wurdest angeschossen. Da bist du aber nicht der Einzige.« Der langmähnige Mann rümpfte die Nase; Fritz konnte sehen, dass seine blutigen Fangzähne immer noch ausgefahren waren. »Die Eff-Eff-Vampire haben Spiegelreflektoren an den Unterarmen angebracht und sie einfach hochgerissen, wenn wir sie blenden wollten. Mist, dass die sich immer was Neues einfallen lassen. Wieso machen wir das nicht mal?«

In Fritz’ Schulter begann der Schmerz Gestalt anzunehmen. Die Wunde war sicher nicht tief, aber sie tat betäubend weh. Mühsam reckte Fritz das Kinn hoch, um sich auf dem nun wieder fast leeren Bahnsteig umzusehen. Der Zug war weg.

»Wir … haben ihn nicht gekriegt, oder?«

Falk wusste, was er meinte. »Nein.«

»Alea war in dem Zug … Ich hab’s gesehen.«

»Ja, wir auch. Wir haben nicht bedacht, dass es noch mehr Bahnhöfe hier in Hamm gibt. Sie müssen schon in einem anderen eingestiegen sein … und wollten hier nur noch die letzten Helfer einsammeln.«

Dies war eine niederschmetternde Feststellung.

Langsam näherten sich die Schritte der anderen. Mit hängenden Köpfen kamen sie dorthin getrottet, wo Falk neben Fritz kniete. Fritz sah, dass außer Falk noch Flex, Eric und Lasterbalk offensichtlich unverletzt waren. Ingo blutete aus einer Wunde in der Schläfe, kümmerte sich aber nicht darum, sondern starrte grimmig das Gleis hinunter. Bei Micha war schwer zu sagen, wie viel Blut, das an seiner Kleidung klebte, sein eigenes war, doch da er sich die besonders blutige rechte Bauchseite hielt, hatte er sicherlich einen der Schüsse abbekommen. Insgesamt sah die ganze Gruppe ziemlich mitgenommen aus.

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schlecht vorbereitet sein würden«, fasste Eric das allgemeine Unbehagen in Worte. »Wir sind die Sache schon wieder völlig falsch angegangen.«

Fritz versuchte sich aufzusetzen; es beschämte ihn, dass alle anderen, auch die Verwundeten, nicht auf dem Boden herumlagen. Nun allerdings überschaute er den Bahnsteig und sah die vielen Körper inmitten von Blutlachen. Viele davon waren Menschen, die einfach nur ihren Giftrausch ausschliefen, andere waren gepfählte oder per Armbrust niedergestreckte Vampire.

Lasterbalk nickte Ingo zu. »Los, verbrennen wir die Bastarde. Damit die auch ja net wieder aufstehen.« Die beiden gingen zu den Leichen hinüber.

Fritz zwang sich in eine sitzende Position und kämpfte gegen den schwummrigen Nebel hinter seiner Stirn. »Ooooh, Gott … Warum mussten die mich anschießen? Ich war der mit Abstand Harmloseste von uns!« Zitternd tastete er nach der Wunde und zuckte zurück, als der Schmerz in ihm aufschrie. »Mist, verflucht … Ich will gar nicht wissen, wie verseucht mit Bakterien und Krankheiten hier alles ist!«

»Soll ich die Wunde ablecken?«, bot Falk an. »Dann ist sie keimfrei.«

Fritz starrte ihn an wie vom Donner gerührt; dann erkannte er, dass das Angebot ernst gemeint war. »Nnnnnnein … danke …«

Eric verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Wenn ich du wäre, Friedrich, würde ich ihn das machen lassen. Ein besseres Desinfektionsmittel als Vampirspeichel gibt es nicht.«

»Nein!«, schnappte Fritz. »Ich will, dass Bock da was draufmacht. Ich will zurück zum Stützpunkt …« Jetzt merkte er, dass er klang wie ein jammerndes Kleinkind.

Niemanden schien das zu überraschen.

»Gut, dann gehen wir jetzt«, ordnete Eric an. »Die Sache hier ist gelaufen. Wir müssen rausfinden, wohin der Zug fährt.«

Erstmals versuchte Micha nicht, Erics natürliche Autorität ins Lächerliche zu ziehen; bleich und müde hielt er sich die verwundete Seite und vermied es, irgendjemandes Blick zu begegnen.

»Sei tapfer, Fritz«, verlangte Falk und griff unter Fritz’ Nacken und Kniekehlen, um ihn vom Bahnsteig aufzuheben.

Fritz ignorierte den scharfen Schmerz, presste die Lippen zusammen und war einigermaßen stolz auf sich.
 

Am anderen Ende des Bahnhofsgebäudes befand sich das Polizeirevier. Eric stattete den Beamten im Bereitschaftsdienst einen Besuch ab und meldete die Notwendigkeit einer Tatortreinigung. Den noch herumliegenden Leuten, versicherte er, ginge es gut und sie würden in Bälde wieder ihrer Wege gehen können.

Der Weg zurück zum Stützpunkt kam Fritz unglaublich lang vor. Während Falk seinen Ford Fiesta fuhr, saß er auf der Rückbank, wie auch Micha, der immer noch eine Hand auf seine Wunde presste und keinen Ton sagte. Offensichtlich war es für ihn nichts Ungewohntes, verletzt zu sein. Er ging souverän damit um und beklagte sich nicht.

Den Weg vom Parkplatz zu dem grauen alten Haus und die Treppen hinauf wurde Fritz wieder von Falk getragen und erst im Bockshof auf einem frischen Laken abgelegt. Etwas Kaltes berührte seine herabhängende Hand; er zuckte zusammen, doch es war nur Amboss, der wedelnd vor dem Tisch stand. Es schien ganz so, als habe der Hund sich von seiner Vergiftung weitgehend erholt. Immerhin, das war ein gutes Zeichen.

»Komm, Fritz«, sagte Dr. Saltz munter, »wir ziehen dich mal aus, damit ich die Wunde behandeln kann.« Schon zogen die Finger mit den schwarzlackierten Nägeln vorsichtig den Ärmel von seiner verletzten Schulter. »Sooo … Ist ja alles halb so schlimm, Schätzchen.«

Während Fritz die Behandlung über sich ergehen ließ und es vermied, seine eigene Wunde in Augenschein zu nehmen, avancierte das kleine Lazarett zur Begegnungsstätte. Falk stand dort einfach nur schweigend herum, während Eric, als würde er das berufsmäßig machen, mit einem Tupfer die kleine Wunde an Ingo Hampfs Schläfe säuberte. Micha saß auf einem der Stühle und starrte noch immer wortlos vor sich hin.

Minuten später kam Yellow Pfeiffer herein. »Dresden«, sagte er ohne jede Einleitung.

Micha sah zu ihm auf und nickte schwach. »Oh je. Dräschdn.« Er versuchte zu grinsen.

»Du hast ja noch gut lachen«, kommentierte Bock mit hochgezogenen Brauen. »Aber gleich nicht mehr. Du bist der nächste auf meinem Tisch, Freundchen.«

Fritz floh aus dem Bockshof, sobald er versorgt war. Das viele Blut gab ihm den Rest. Er musste schlafen. Schlafen …

»Friedrich. Warte.« Ohne stehen zu bleiben, drehte Fritz sich um und war erstaunt, Eric hinter sich zu sehen. »Du hast ganz gut angewandt, was dir beigebracht wurde«, sagte der weißblonde Sänger seltsam emotionslos.

»Oh … danke.«

»Aber das muss noch besser werden.«

»Äh …« Fritz schluckte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.

»Ich weiß, du hast schon mehr Lehrer als Finger an der Hand, aber würdest du mich dir auch noch was beibringen lassen? Ich glaube, da ist noch eine Menge zu tun.«

»Oh … okay«, stammelte Fritz.

»Gut.« Eric ließ die Arme fallen. »Dann erhol dich jetzt. Gute Nacht.« Fritz’ Unbehaglichkeit völlig ignorierend, drehte er sich um und ging.

Fritz sah ihm nach und fuhr zusammen, als ihm jemand eine Hand auf die gesunde Schulter legte. Er drehte sich um und sah Asp. Als hätte er Fritz’ Gedanken gelesen, sagte der dunkel gekleidete Mann: »Eric ist nicht arrogant, er hat es wirklich drauf.«

Fritz sagte nichts. Asp tätschelte ihm die Schulter, wie schon öfters, und ging dann ebenfalls.
 

Am Vormittag, als Fritz erwachte, schien so wunderschön die Sonne durch die Vorhänge, dass das grässliche Szenario der vergangenen Nacht seltsam unwirklich erschien. Nur Fritz’ schmerzende Schulter erinnerte ihn daran, dass all das nicht nur ein böser Traum gewesen war.

In dem zweiten Bett an der anderen Zimmerseite lag Simon Schmitt mit einem Arm über den Augen immer noch in tiefem Schlummer. Fritz beschloss, ihn nicht zu wecken, und zog sich leise an. Den Gedanken, eine Dusche zu nehmen, verwarf er; dafür würde er sich erst von Bock ein spezielles Pflaster holen müssen, da kein Wasser an seine Wunde gelangen durfte.

Über die knarrenden Dielen schlich er in das Küchen-Wohnzimmer, wo er Klaus-Peter Schievenhöfel und Buschfeldt vorfand. Der Direktor starrte vor sich hin, sein Gesicht ein Bild des Ingrimms, während sein Assistent leise summend Azathioprin-Tabletten für die Vampire abzählte.

»Guten Morgen, Fritz!«

»Ja, guten Morgen, Wunderbaum.« Buschfeldt sah nicht auf.

Schüchtern trat Fritz näher und ließ sich auf dem zweiten durchgesessenen Sofa nieder. »Morgen … ähm … Wegen gestern. Wir konnten wirklich nicht ahnen, dass –«

»Schon gut, Friedrich«, wehrte Buschfeldt ab, ohne richtig die Zähne auseinander zu bekommen. »Ihnen mache ich keinen Vorwurf.«

Fritz senkte den Blick. »Chef … Wenn Sie die Frage erlauben … Wurden Sie je von einem Vampir gebissen?« Er wusste nicht genau, warum er das fragte; wahrscheinlich wollte er einfach nur das übliche peinliche Schweigen vermeiden.

»Natürlich nicht.« Buschfeldt musterte ihn abschätzig. »Sehe ich aus, als hätte ich es nötig, mich an solch dreckigen Kämpfen zu beteiligen?«

»Vielleicht meinte Fritz unsere Vampire«, sagte Schievenhöfel versöhnlich.

»Unsere Vampire?«, echote der Direktor ungläubig. »Das wäre ja noch schöner! Ich lasse mich doch von meinen eigenen Leuten nicht beißen! Die wissen genau, wer hier der Chef ist. Wenn das je einer versucht, ist Schluss mit lustig!« Er schnaubte voller Verachtung.

Fritz duckte sich, doch der dicke KP blieb unbeeindruckt, wenn auch vollendet liebenswürdig. »Dr. Saltz sagt, für Vampire wäre Beißen was Feines … Dabei werden Endorphine ausgeschüttet.«

»Interessiert mich das?«, knurrte Buschfeldt und drehte den Kopf zur Küchenzeile. »Hey, Lange, wo bleibt der Kaffee?«

»Für jemanden, der hier rumschreit, jibt et nüscht!«, ließ sich Sebastian, den Fritz gar nicht bemerkt hatte, giftig vernehmen. Wie auch die anderen von In Extremo ließ er sich höchst ungern herumkommandieren. Als er aus der Küche kam und Fritz sah, hellte sich seine Miene ein wenig auf. »Naa, Fritz? Biste wieder fit?«

»Geht so«, antwortete Fritz leise. »Was ist mit Micha?« Ihm tat ein wenig Leid, dass er am Vorabend zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um sich nach seinem Partner zu erkundigen.

Basti wischte sein schlechtes Gewissen mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite. »Och, dem jeht et bestimmt jut … Hatte ja –« Er sah auf seine Uhr. »– fast zwölf Stunden Zeit zum Heilen. Dürfte nur noch ’nen Kratzer haben. Den krichste nich’ so schnell kaputt, glaub mir.«

Irgendwie fühlte Fritz sich trotzdem nicht besser. »Wenn das mal auch auf Alea zutrifft …«

Es war dumm gewesen, diesen Namen zu erwähnen. Sofort verfinsterte sich Buschfeldts Miene noch mehr, und sogar Schievenhöfel sah scheu beiseite.

Van Lange hatte es eilig, dieser schlechten Stimmung zu entfliehen, und griff nach seiner Jacke, die über einem Stuhl hing. »Na jut, ick jeh dann mal … Schrippen holen.« Flink war er zur Tür hinaus.

»Wunderbaum, wecken Sie die anderen«, befahl Buschfeldt. »Wir sollten uns langsam auf den Weg ins schöne Sachsen machen.« Keine einzige Gesichtsregung begleitete diese Äußerung.
 

Erst gegen Mittag waren die vier Autos, nun mit frisch gefüllten Tanks, auf dem Weg nach Dresden. Die Autobahn war stark befahren, und zwischen Dreieck Drammetal und Autobahndreieck Parthenaue standen sie auf der A38 Richtung Nordhausen über eine Stunde lang im Stau.

Als zwischen den Insassen des Ford Fiesta minutenlang Schweigen geherrscht hatte, sagte Fritz unvermittelt: »Eric hat gesagt, er will mir irgendwas beibringen. Ich hab Angst.«

»Och«, sagte Micha unbeteiligt. Außer ihnen saßen noch Pfeiffer und Marco mit im Wagen. »Mehr als böse gucken kann der auch nicht.«

»Was macht der eigentlich bei Subway To Sally?«

»Singen … Sack spielen … flöten … das Übliche. Er hat aber auch ein eigenes Musikprojekt laufen.«

»Wieso?«

»Was weiß ich … Weil er so ein toller Hecht ist.«

Gelangweilt trommelte Fritz mit den Fingern auf das Lenkrad. Der polnische LKW vor ihm bewegte sich um wenige Millimeter vorwärts; dafür lohnte sich das Anfahren nicht. »Weißt du, Micha«, begann Fritz grübelnd, »was ich mir überlegt habe: Es ist totaler Mist, dass Vampire jeden Tag Blut trinken.« Im Rückspiegel sah er Flex und Pfeiffer einen müden, gleichgültigen Blick tauschen.

»Ach ja?«, erwiderte Micha lahm, sein geringes Interesse an dem Thema bekundend.

»Ja. Weil die Menschen dann gar nicht reichen würden. Schließlich muss jeder Mensch das Blut, das ihr von ihm trinkt, erst wieder nachbilden. Das geht nicht so schnell.«

»Und du denkst, das hätte vor dir keiner durchgerechnet, du Klugscheißer? Jetzt pass mal auf.« Micha machte es sich ein bisschen bequemer und kreuzte die Arme im Nacken. »Es gibt viel, viiiel mehr Menschen als Vampire auf der Welt. Und der Blutverlust ist nicht groß. Du brauchst, um einen halben Liter Blut zu produzieren, allerschlimmstens sechs Wochen. Sechs Wochen – das sind zweiundvierzig Tage, ja? Also muss jeder Vampir zweiundvierzig verschiedene Menschen beißen, dann kann er mit denselben wieder von vorne anfangen. Das ist ganz schön wenig, weil guck mal, auf jeden Vampir kommen ja Tausende von Menschen.«

Von dieser Rechnung war Fritz zugegebenermaßen etwas erschlagen. »Oh, sieh an … Du hast da auch schon drüber nachgedacht.«

»Du meinst, als Vampir interessiert mich das alles nicht.«

»Doch, aber …« Fritz legte die Stirn in Falten. Vor seinem Auto bewegte sich immer noch nichts. »Könnten Vampire nicht theoretisch auch andere Vampire beißen?«

»Nee«, antwortete Micha und korrigierte sich sofort: »Ich meine, ja. Klar, aber das ist ja Quatsch. Da ist ja nix drin. Zu wenig Nährstoffe … und schmeckt fast nach nix. Wie wenn du ’nen halber Liter Bier mit ’nem Liter Wasser verdünnst. Außerdem haben Vampire chronischen Eisenmangel, weil sie Eisen in den Zähnen einlagern, oder so. Damit die hart sind. Wir haben zwar Eisen im Blut, sonst wär’s ja nicht rot, aber das können wir nicht speichern. Viel Eisen ist also noch ein Grund dafür, dass Menschenblut die perfekte Nahrung ist.«

»Na gut«, sagte Fritz einsichtig. »Aber was ist mit Tieren?«

»Nee, nee, nee. Geht gar nicht. Da hat man einfach zu viele Fusseln im Mund. Außerdem sind Tiere anders, ich meine, im Körperbau zu anders. Man verletzt sie beim Biss zu doll, oder der Blutverlust ist zu hoch, oder die vertragen das Gift nicht, oder oder oder. Gib’s auf, Vampire sind an Menschen als Beute angepasst. Da gibt’s nichts dran zu drehen.«

Fritz erkannte, dass er das einsehen musste. Die Argumente waren vernünftig und ließen darauf schließen, dass sich auch Vampire selbst schon mit den Alternativen befasst hatten. »Ich seh’s ein … Aber ich verstehe nicht, wieso Menschen, wenn sie Blut im Magen haben, erbrechen, und Vampiren das nichts ausmacht.«

»Das liegt am Eisen, sagt Bock. Das, wovon euch Menschen schlecht wird, ist das, was wir Vampire unbedingt brauchen. Ach, wir haben dir das doch lang und breit erklärt: In Blut ist einfach alles drin. Es ist ’n isotonisches Getränk.«

»Igitt.«

»Ach komm. Halt die Fresse.« Doch Micha schmunzelte, als er das sagte.

Fritz zögerte. Jetzt wollte er noch auf etwas anderes hinaus. Behutsam versuchte er, ein verwandtes Thema anzuschneiden, das ihm keine Ruhe ließ, seit er zuletzt an Kitty gedacht hatte. Es war kein angenehmes Thema, und es war auch ein bisschen intim, aber er musste das einfach ansprechen. Seine Frau hatte so oft davon geredet, dass er endlich wissen wollte, wie viel Wahrheit in dem Zeug steckte, das sie da Abend für Abend herzitierte. »Meine Frau«, begann er vorsichtig, »behauptet, ein Vampirbiss sei … erotisch.« Im Rückspiegel tauschten Flex und Pfeiffer erneut einen Blick; diesmal grinsten sie breit.

»Sex mit Essen?«, sagte Micha ungerührt und zuckte die Schultern. »Wieso nicht … Muss jeder selber wissen. Ich finde, der Mensch hat nicht viel davon, weil ihm durch das Schlummifix im Blut dann ja alles egal ist. Und mal ehrlich, die meisten Leute, die man im Leben so beißen muss, um satt zu werden, sind eher abtörnend.« Er überlegte kurz und fügte hinzu: »Aber Beißen gibt einen gewissen Kick, das ist schon so … Man fühlt sich besser danach. Glückshormone.«

»Kit– … ich meine, Christine behauptet, dass Vampire vor allem dann beißen, wenn sie Sex haben«, fuhr Fritz ungeschickt fort.

»Das denken viele.« Micha sah aus, als versuchte er, sich diese Vorstellung schmackhaft zu machen. »Aber … kann ich nicht unterstreichen. Ich hab noch nie eine Frau beim Sex gebissen. Mal ehrlich, Fritz, wenn du mit deiner Frau schläfst, fängst du doch auch nicht mittendrin an, dir ein Butterbrot zu schmieren.« Mit einem solchen Vergleich hatte Fritz nicht gerechnet, obwohl ihm inzwischen hätte klar sein müssen, dass Micha ständig solche Vergleiche heranzog, um vampirisches und menschliches Handeln gegenüber zu stellen – auf seine ureigene, etwas unbeholfene, aber irgendwie possierliche Art. »Viele Leute denken auch, wenn Vampire geil sind, kommen die Fangzähne raus. Totaler Quatsch. Die Zähne sind zum Essen da. Zu nix weiter. Na gut, zum Verteidigen vielleicht auch. Aber sicher nicht zum Vögeln. Man nimmt ja auch nicht Messer und Gabel mit ins Bett.«

»So habe ich das noch nicht betrachtet«, gab Fritz zu. »Meine Frau hält Blut allgemein für was sehr Erotisches. Zu meinem Leidwesen.«

»Ich halte Blut für was Normales. Was Leckeres, ja, auch was Schönes, aber nichts Antörnendes.« Micha dachte darüber nach. »Das einzige Erotische daran könnte sein, dass man in den Hals beißen muss. Aber … nee. Wenn man eine Frau beißt, egal wie ihr Hals aussieht, dann denkt man an Essen, nicht an Sex. Verstehst du? Wenn man mit einer Frau schläft, denkt man an Sex, wenn man sie beißt, denkt man an Essen. Nicht an beides gleichzeitig. Das sind zwei ganz verschiedene Bedürfnisse.«

»Also kann ich meine Frau jetzt nach der Einholung einer Expertenmeinung davon überzeugen, dass Blut nicht erotisch ist.«

»Du musst dich einfach fragen: Finde ich einen Teller Suppe erotisch?«

Jetzt musste Fritz lachen. Michas Bemühung um Vergleiche zweier kontrastierender Denkweisen war etwas, an das er sich noch gewöhnen musste. »Es ist so, weißt du«, fuhr er ruhiger fort, »meine Frau wünscht sich von mir, dass wir beide das Blut des jeweils anderen immer mit uns rumtragen … in einem gläsernen Kettenanhänger.«

Hinter ihnen ließ Flex einen hellen Pfiff vernehmen. »Das ist bizarr«, bekundete er.

»Klingt komisch«, pflichtete ihm Micha bei. »Aber wenn sie das gut findet … Mach es doch.«

»Aber ich hasse Blut«, half Fritz seinem Gedächtnis auf die Sprünge.

»Wieso eigentlich?« Micha sah ihn fragend an. »Was an Blut macht dir Angst? Du hast es überall im Körper, es fließt durch dich durch und hält dich am Leben.«

»Ich weiß. Ich verstehe es auch nicht. Wenn ich Blut sehe, falle ich einfach um oder mir wird schlecht. Es hilft nicht, mir zu sagen, dass Blut was ganz Normales ist.«

Micha seufzte sein altbekanntes Seufzen. »Herrje, was mache ich nur mit dir, du Pfeife. Muss ich jetzt auch noch deine Ehe retten, indem ich deine Hämo…phyllo…«

Hämo…phyllo…«

»Hämatophobie«, half Fritz.

»… indem ich das therapiere?«

»Ja?«

»Hmmm, dafür bräuchte ich aber ’ne ganz andere Ausbildung. Geh lieber zu Lasterbalk … Der hat Psychologie studiert.«

»Ach ja?« Fritz legte die Stirn in Falten angesichts dieser merkwürdigen Vorstellung. Vor ihm begann der LKW endlich zu rollen, und er gab Gas.

»Jetzt ist es noch weniger als eine Stunde«, merkte Yellow Pfeiffer erleichtert an. »Ich kann’s nicht erwarten, dass wir uns endlich wieder bewegen dürfen. Allerdings …« Er schnitt eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob ihr’s heute Morgen mitgekriegt habt, aber … unsere Basis in Dresden ist gerade nicht zu gebrauchen. Das letzte BfV-Team hat da irgendwie einen Brandschaden verursacht, der noch nicht behoben ist. Also können wir da nicht rein.«

»Und wo bleiben wir sonst?« Die Nachricht gefiel Fritz überhaupt nicht. Jetzt, da er endlich keine Angst mehr vor seinen Kollegen hatte, war es ein beunruhigender Gedanke, in der Nähe feindlicher Vampire von ihnen getrennt zu sein.

»Ich glaube, Fr. Dr. Kircher hat das organisiert … Die wollen uns in den Keller der Uniklinik stecken, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Die Uniklinik!«, wiederholte Marco begeistert. »Das ist toll! Bock wird sich ein Loch in den Hintern freuen, wenn er eine so tolle Ausstattung nutzen kann.«

»Hoffen wir, dass er’s nicht muss«, äußerte Micha sich stirnrunzelnd. »Wer weiß, was Eff Eff uns in Dresden für Steine in den Weg legen. Wir müssen Sonnenscheinchen retten, sonst sind wir am Arsch. Wenn dem was passiert, und wir verhindern es nicht, dann werden wir unseres Lebens nicht mehr froh … Dafür wird Buschfeldt sorgen.«

»Und der Rest von Saltatio Mortis.« Boris nickte gewichtig.

»Lassen wir’s nicht drauf ankommen.«
 

Endlich ging die Fahrt ruhig weiter. Die vier Autos erreichten Dresden am frühen Nachmittag. Noch immer war das Wetter schön, und im herbstlichen Flair entfaltete die Altstadt, als sie sie durchfuhren, vor ihnen ihren ureigenen Charme.

Nicht so schön dagegen war die Ankunft im Dresdener Universitätsklinikum.

Und auch nicht das, was danach kam.

Falsche Freunde Reloaded

Das Carl-Gustav-Carus-Universitätsklinikum befand sich – so die Information, die dem BfV vorlag – in der Fetscherstraße 74. Die Haupteinfahrt jedoch war nur von der Fiedlerstraße aus zu erreichen, was bereits das erste Problem aufwarf. Als nächstes fing Buschfeldt, sobald er endlich das so genannte ›Service-, Ideen- und Beschwerdemanagement‹ gefunden hatte, mit der übermüdeten Angestellten hinter dem Pult einen Streit darüber an, ob das Parken (für Langzeitparker kam nur das Parkhaus in Frage) für Geheimdienstmitarbeiter genauso kostenpflichtig sein sollte wie für alle anderen.

»Natürlich!«, war die entrüstete Antwort. »Und jetzt erzählen Sie mir nicht, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz sich das nicht leisten kann!«

Fritz sah das eigentlich genauso. Das BfV konnte sich auf Staatskosten so ziemlich alles leisten, und es war ja nicht so, als ob Buschfeldt den Betrag aus eigener Tasche hätte vorstrecken müssen.

Durch die rege Betriebsamkeit eines großen Krankenhauses mit vielen verschiedenen Instituten und interdisziplinären Zentren führte ein Brille tragender Nachtwächter die siebzehn Männer zu einem unzugänglich abgetrennten und mit Planen verhängten Bereich.

»Hier entsteht demnächst das Diagnostisch-Internistisch-Neurologische Zentrum, kurz DINZ«, erklärte er. »Der Teil des Kellers, der sich darunter befindet, ist gerade nicht in Verwendung. Es ist nicht unbedingt komfortabel dort, aber Sie können es nutzen. Wir werden alles zur Verfügung stellen, was Sie brauchen, das ist mit Ihrer Chefin abgesprochen. Manchmal kann es etwas laut werden … wegen der Bauarbeiten, Sie verstehen. Deswegen wird dieser Bereich auch gerade nicht genutzt. Es ist weder für Personal noch für Patienten zumutbar.« Begreifend, was er gerade gesagt hatte, räusperte sich der junge Mann hastig und ergänzte: »Ansonsten genießen Sie denselben Komfort wie die Angehörigen unserer Patienten. Sie können auch die Patientenküche nutzen. Es fehlt an nichts, wirklich nicht.«

»Danke«, sagte Buschfeldt. Es war zu hören, wie viel Überwindung ihm dieses Wörtchen abverlangte.

Der Keller glich mehr einem grauen Schacht; es gab eine Reihe getrennter Räume, aber sowohl Wände als auch Böden bestanden schlicht aus rohem Beton. Es war mehr oder weniger liebevoll dafür gesorgt worden, es für die unerwarteten Gäste ein wenig gemütlich zu machen. Leider wurde das Krankenhauspersonal ansonsten von ganz anderen Aufgaben in Anspruch genommen, die nicht viel Zeit für solche Sondereinsätze übrig ließen.

Glücklich war demnach niemand. Nur Bock freute sich ungemein – wie erwartet. »Ich habe alles, was ich will!«, frohlockte er und hopste sogar auf der Stelle. »Guckt mal, hier ist ein Brutschrank! Phantastisch! Damit kann ich Infusionen und Blutkonserven auf Körpertemperatur halten!«

Die anderen sahen sich nur müde um.

»Mann, lasst uns bloß hier abhauen«, murrte Boris. »Bei der Tristesse in diesem Loch wird man ja depressiv.«

»Für diesen Fall gibt es eine Psychiatrie und ein ökumenisches Seelsorgezentrum«, stellte Falk fest, der den bunt gedruckten Lageplan der Klinik in der Hand hielt und aufmerksam studierte. »Das werden wir wohl spätestens dann nutzen, wenn wir Alea nicht im Vollbesitz seines Blutes zurückkriegen.«

Dieses Stichwort veranlasste alle zu einem beinahe fluchtartigen Aufbruch.

Amboss, der – nun wieder gesundet – bereits bei der Ankunft eine Diskussion mit dem Hausmeister losgetreten hatte, die Schievenhöfel jedoch diplomatisch zu schlichten vermocht hatte, konnte es nicht abwarten, den lichtlosen Katakomben zu entfliehen. Stürmisch riss er, wie schon so oft, Eric die Leine aus der Hand und preschte kläffend voraus.

»Hechte ihm nach«, schlug Micha vor.

Eric biss die Zähne zusammen. »Ich hätte Lust, ein paar blöde Witze über deinen Namen zu reißen!« Irgendetwas, das war nicht zu übersehen, setzte ihm merklich zu; seine berechnende Einstellung wich mühsam unterdrücktem Unmut, das musste auch Micha aufgefallen sein. Fritz fragte sich, ob das mit Aleas Entführung zusammenhing.

Vor dem Erreichen des Aufnahmebereiches fing Falk den Hund wieder ein, und Eric weigerte sich, ihn noch einmal zu übernehmen. Verdrossen machten die Agenten im Zufahrtsbereich Halt, um die Aufgabenverteilung durchzusprechen.

»Wie immer in einer neuen Stadt«, knurrte Buschfeldt, »fangen wir wieder ganz von vorne an. Pfeiffer, Silbador: Ich will, dass ihr das Verkehrsnetz überwacht. Sobald auch nur eine Straßenbahn zu spät kommt, will ich das wissen.« Er wandte sich an Fritz: »Wunderbaum, Sie gehen mit Einhorn in die Südvorstadt. Das ist im Wesentlichen der Universitätscampus. In Wuppertal hatten wir das ja auch, dass sich die Blutsauger auf Studentenpartys gut bedient haben.«

»A propos Blut«, wandte Micha behutsam ein. »Wir haben kein Hyperborea mehr.«

Buschfeldt sah ihn entgeistert an. »Ist das etwa mein Problem? Holt euch doch welches! Das gilt für euch alle, ihr könnt euch ruhig selbst darum kümmern, dass ihr bei Kräften bleibt. Wenn ihr jetzt getrennt seid, holt sich eben jeder selbst sein … sein Mittagessen, oder wie man das nennen soll. Ich bin es sowieso leid, dafür Sorge zu tragen. Wenn ihr normale Leute wärt, hätten wir das Problem nicht.« Mit diesen Worten fuhr er fort, den Übrigen ihre Bezirke zuzuweisen.

Fritz entging nicht die Bitterkeit in den Zügen der Vampire, die einmal mehr aufgrund dessen, was sie waren, diskriminiert wurden. Dennoch leistete niemand Widerworte, und die Gruppe löste sich auf.
 

Micha überflog beim Gehen einen groben Plan des Universitätscampus’, der alle bedeutenden Straßen des Südviertels enthielt. Sein beharrliches Schweigen deutete Fritz als Missstimmung.

»Wieso nennt er dich bloß immer Einhorn?«, fragte er und trat damit einen ungünstig liegenden Stein los, wie ihm gleich darauf klar wurde.

»Das sind Scheiß-Codes!«, fauchte Micha ihn an. »Hast du das noch nicht gerafft?« Dann nahm er sich zurück, als ihm offenbar klar wurde, dass er den Falschen beharkte. »Er benutzt unsere Künstlernamen«, erklärte er seufzend. »Das macht er bei uns allen, wahrscheinlich deshalb, weil es herablassend, unhöflich und bevormundend klingt.«

»Oh …«

»Für ihn sind wir nur eine Horde kindischer Idioten, die man mit irgendwas beschäftigen muss. Vor allem wir Vampire! Wir sind zufällig nützlich, aber eigentlich sind wir eher so was wie … Wirtschaftsschädlinge. Die MIU hat wegen uns keinen guten Ruf beim Rest vom BfV. Eine Behandlung mit Respekt verdienen wir also nicht. Besser, man hält uns komplett geheim und macht für uns Hyperborea, damit wir brav unsere Natur unterdrücken, unsere Arbeit tun und ja keinen Ärger machen.« Erstmals hörte Fritz die ganze Frustration heraus, mit der Micha permanent zu kämpfen schien. »Dein Chef hat dich bestimmt Herr Wunderbaum genannt, wie sich das gehört, und nicht Sachen gesagt wie ›Einhorn, Finger aus der Keksdose!‹ oder ›Einhorn, geh weg da!‹ oder ›Ihr Fangzähne habt mehr Gift im Schädel als Hirnmasse!‹ … So was dürfen sich nur Vampire anhören!«

»Micha …« Fritz schürzte die Lippen, ganz kleinlaut angesichts so viel blanken Zorns. »Wenn Buschfeldt dich so hasst, wieso … beschäftigt er dich dann überhaupt?«

Der Sänger lächelte dünn. »Weil er mich braucht. Ich bin der älteste Vampir der MIU.«

»Aber du könntest doch von alleine gehen.«

»Nee, könnte ich nicht. Weil …« Ein Grollen kam tief aus Michas Kehle. »… weil In Extremo als Musikprojekt nicht unabhängig von der MIU funktioniert.«

Fritz sah ihn verwundert an. »Aber hast du nicht genau das immer behauptet?«

»Weil ich es mir gerne so einbilde! Fakt ist, unser Erfolg als Künstlergruppe ist zwar nicht direkt von unserer Arbeit bei der MIU abhängig … Aber Buschfeldt ist extrem nachtragend, der kann dafür sorgen, dass wir im Musikbusiness allen Halt verlieren und nie wieder Fuß fassen. Wär leicht für ihn.«

»Ist das schon mal passiert?«

»Hört man so«, murmelte Micha.

»Ist das der Grund …« Fritz wusste nicht, ob er das wirklich ansprechen sollte, entschied sich dann aber dafür. »… der Grund, warum du auch Eric nicht magst? Hat er was damit zu tun?«

»Eric? Neeee«, wehrte Micha sofort ab. »Nee, Fritz, das muss man Eric schon lassen: Er ist Buschfeldts Liebling, aber Vampire zu diskriminieren, das würde dem im Traum nicht einfallen. Der gute Hecht mag Vampire … mehr, als mir lieb ist sogar.«

Fritz ahnte, dass Micha damit auf Erics Neigung anspielte, Vampire aus sich trinken zu lassen; doch dies war ein verbotenes Thema, also hielt er den Mund.

Irgendwann hatten sie den Hauptcampus erreicht. Das Hörsaalzentrum am Fritz-Foerster-Platz, durch eine über das Straßenkreuz verlaufende Brücke mit dem Mensagebäude verbunden, zog unweigerlich die Aufmerksamkeit jedes zufälligen Passanten auf sich.

»Es ist eigentlich sackblöd, im Herbst am Tage ein Vampirversteck zu suchen«, beschwerte sich Micha wieder einmal. »Der einzige Hinweis sind Bisswunden, aber die Leute haben alle Schals um wegen der Scheiß-Kälte!«

»Dann müssen wir in ein Gebäude rein. Wollen wir einen Blick in die Mensa werfen? Speiseräume sind in der Regel gut überschaubar«, schlug Fritz vor.

»Ja, können wir machen.«

Sie gingen über die Fußgängerbrücke.

»Wissen wir überhaupt, ob es in Dresden registrierte Vampire gibt?«

Micha nickte. »Ja, gibt sogar ziemlich viele. Aber registrierte Vampire, weißt du … die vergreifen sich nicht an Studenten, die zu tief ins Glas gucken, sondern … haben Vertrauenspersonen, aus denen sie trinken, Freunde oder Verwandte, oder sie machen es wie die MIU und kriegen aussortiertes Blut aus Blutbanken, gegen Bezahlung. Diese Mensa da –« Er deutete auf das fensterreiche Gebäude, auf das sie zuhielten. »– veranstaltet fast jede Woche Blutspendeaktionen, bei denen alle Spender umsonst was zu essen kriegen.«

Fritz staunte. »Sieh an, du kennst dich aus in Dresden.«

»War hier schon ein paar mal, nicht nur für Auftritte.«

Die Türen zur ›Neuen Mensa‹, wie sie von den Studenten genannt wurde, standen offen, jedoch war das innen eher schummrige Gebäude fast leer; die Essensausgabe endete um halb drei und war damit schon über eine Stunde vorbei. Die Computerbildschirme, die neben den verschiedenen Aufgängen angebracht waren und normalerweise die Anstehenden über das Speisenangebot informierten, waren schwarz. An der Seite, die der Straße zugewandt war, befanden sich eine Garderobe und Reihen von Tischen, auf denen bunte Flyer lagen, welche Studentenpartys und andere Events ankündigten. Auf den Stühlen saßen wenige Studenten und arbeiteten an Hausaufgaben oder Karteikarten. Fritz und Micha spazierten einmal durch die ganze Länge des Foyers, an den Aufgängen vorbei bis zu den Toiletten, und kehrten dann um.

»Riecht nicht nach Vampiren«, sagte Micha leise. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Eff Eff wahrscheinlich auch erst heute angekommen sind. Wir müssen wohl warten, bis sie sich bemerkbar machen … wie immer. Mann, ich hasse Warten.«

Wieder draußen, folgten sie einer kurvigen Straße, die von Straßenbahngleisen flankiert wurde und schließlich an Reihengebäuden vorbeiführte, die hinter parkähnlichen Rasenflächen aufragten.

Studentenwohnheime, dachte Fritz. Eindeutig. Er las den Straßennamen: Fritz-Löffler-Straße. Wieso heißen hier alle Fritz?

»Da hinten ist ein Getränkeladen«, machte Micha ihn aufmerksam. »Ich hole mir Hyperborea, wenn du nichts dagegen hast.«

»Du weißt, ich fühle mich wohler, wenn du satt bist«, erwiderte Fritz gönnerhaft. Micha grinste ihn an, und Fritz grinste zurück. Ihn beruhigte es, dass sie sich im Moment so gut verstanden.
 

Hyperborea zu holen war für Fritz nichts mehr Neues, also wartete er bei den Spirituosen, bis Micha mit seinem ›griechischen Rotwein‹ zurückkehren würde. Allerdings fiel ihm schnell auf, dass das viel zu lange dauerte, und er ging neugierig zur Kasse, wo Micha im Dialog mit dem jungen schnurrbärtigen Verkäufer schon sämtliche Tarnung aufgegeben hatte.

»Hyperborea!«, raunte er, obwohl sonst niemand im Laden war. »Das ist ein Code!«

»Ich weiß!«, versicherte der Angestellte. »Ich gebe seit schon fast einem Jahr Hyperborea gegen Parole raus! Aber es gibt wirklich keins, glauben Sie mir das doch bitte! Uns wurde vom Hersteller mitgeteilt, dass wir jetzt ein anderes Vampirgetränk rausgeben sollen, weil das alte nicht mehr produziert wird. Und das ist nun mal das hier.« Er schob die Flasche, die unauffällig auf dem Kassentisch stand, ein wenig näher zu Micha hin. Ihr Inhalt war ebenfalls dunkelrot, aber sie trug ein goldenes Etikett mit dem Aufdruck Wikingerblut.

»Aber das ist roter Met!«, beharrte Micha ungeduldig. »Ich kenne das Zeug! Da ist kein Blut drin, das heißt nur so.«

»Ich weeeeiß«, stöhnte der junge Mann. »Das hier ist nicht das Wikingerblut, verstehen Sie? Wikingerblut ist keine geschützte Marke, jeder Hersteller kann seinen Kirschsaft-Met so nennen. Und dieser hier enthält mindestens achtzig Prozent Blut und ist der Nachfolger von Hyperborea. Sehen Sie? Hier ist ein Erkennungszeichen drauf, damit wir es nicht mit einem richtigen Met verwechseln.« Sein dünner Finger zeigte auf ein kleines schwarzes Symbol in der oberen linken Ecke des Etiketts; es war ein stilisiertes Paar Fangzähne, leicht zu übersehen.

Micha betrachtete die Flasche skeptisch. »Das hätte uns als Hauptabnehmer eigentlich jemand sagen müssen«, machte er seiner Verwunderung Luft. »Ich werde da mal Rücksprache halten.«

Achselzuckend entgegnete der Verkäufer: »Ich kann leider nur meine Arbeit tun und das rausgeben, was wir auf Lager haben. Tut mir Leid.«

»Jaja, ich hab’s verstanden.« Mit dem Getränk in der Hand entfernte sich Micha ein Stück weit von der Kasse und entkorkte dann die Flasche, um an ihr zu schnuppern.

Fritz betrachtete ihn neugierig. »Und?«

»Hm, riecht schon lecker. Ein bisschen anders, aber lecker. Auf jeden Fall ist wirklich Blut drin.« Micha inhalierte den Duft noch einmal und lächelte kopfschüttelnd. »Wikingerblut … Doof.« Dann jedoch zwängte er, soweit möglich, den Korken wieder zurück in die Flaschenöffnung. »Nee, nee. Da bin ich zu misstrauisch. Wir müssten informiert worden sein. Ich will das nicht trinken, bevor es nicht von oben abgesegnet ist.«

»Du hast doch sonst kein Problem damit, Getränke zu konsumieren, die Vampiren nicht gut tun«, neckte ihn Fritz.

»Da weiß ich aber, was es ist. Das hier soll Met mit Kirschsaft sein, ist es aber nicht, und bevor ich nicht genau weiß, was es ist, trinke ich davon keinen Tropfen. Aber die Idee mit dem schädlichen Getränk war gut, ich gehe mir ein Bier holen. Das unterdrückt den Hunger auf Blut, weißt du. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich dauernd an Blut denken muss.«

Dagegen konnte Fritz nichts einwenden. Sich geschlagen gebend dachte er an das, was Buschfeldt ihm gesagt hatte: dass Bier für Vampire nicht gut war. Vermutlich, weil es den Blutdurst dämpfte. Aber gut, wenn Micha das neue Getränk nur prüfen lassen wollte, war dagegen sicher nichts einzuwenden.
 

Schließlich brach die Dämmerung an.

»Endlich … Blutsaugerzeit«, wisperte Micha. »Hast du alles dabei?«

Fritz nickte und vergewisserte sich erst dann, dass das auch wirklich stimmte. Ja, alles war an seinem Platz: UV-Lampe, Pflock, Hammer und Natron-Kanone. Alles steckte in Schlaufen seines Gürtels, gut unter der langen Jacke verborgen.

Sie folgten der Straße, am Hauptbahnhof vorbei, und bogen nach links in eine großflächige Fußgängerzone ein, die auch zu später Stunde noch recht belebt war. Läden, Kaufhäuser und andere Gebäude, etwa das Ibis-Hotel, drängten sich zu beiden Seiten aneinander, während in der Mitte der Straße Bäume, Bänke, Denkmäler und Wasserspiele – die nun nicht in Betrieb waren – zum Verweilen einluden.

»Die Prager Straße«, erklärte Micha. »Wenn man immer weiter runter läuft und an der Altmarkt-Galerie abbiegt, kommt man zur Elbe. Da sind verschiedene Brücken …« Er schmunzelte. »… was auch gut ist, denn Vampire können nicht durch fließende Gewässer durch. Weder schwimmen noch durchwaten. Die müssen die Brücken nehmen. Und da können wir sie erwischen!«

»Du und erwischen?«, sagte eine gelangweilte Stimme, dessen Besitzer unbemerkt hinter sie getreten war.

Fritz kannte den leicht herablassenden Ton inzwischen und war nicht verwundert, Eric Fish zu sehen, der ein schwarzes Stirnband trug und, genau wie Micha, die Hände in die Taschen seiner Jacke geschoben hatte.

»Hallo!«, begrüßte Fritz ihn freundlich.

»Was willst du?«, knurrte Micha.

»Das wollte ich euch auch gerade fragen«, gab Eric unbeeindruckt zurück.

»Wir haben die Südvorstadt, du Checker.«

»Ihr seid aber nicht mehr in der Südvorstadt, sondern in der Seevorstadt, und die hab ich!«, belehrte ihn Eric. »Also? Silvio hat zwei Vampire an der Loschwitzer Brücke geschnappt, wo sie auf einen Elbdampfer aufspringen wollten. Es waren aber nur zwei von diesen elenden Mitläufern.«

»Wie schön, dass du uns das erzählst. Fritz und ich wollten gerade selber nachgucken. Unser Viertel ist sauber. Könntest du dich jetzt wieder verziehen? Danke auch.«

»Wenn ihr in meinem Revier wildern wollt, komme ich mit«, sagte Eric glatt und schickte sich an, ihnen zu folgen.

Micha rollte die Augen und versuchte zähneknirschend, die Präsenz des anderen Sängers zu ignorieren. Fritz gefiel die elektrische Spannung nicht, die zwischen den beiden knisterte. Beinahe wollte er laut fragen: Wieso kämpft ihr nicht einfach? Fechtet das aus wie zwei Männer! Kitty hätte so was in der Art gerufen …
 

Bereits an der nächsten Brücke, der Augustusbrücke, sahen sie am schlammigen Ufer der Elbe dunkle Gestalten in den Schatten hocken. Über ihren Köpfen waren sehr rasch die letzten Sonnenstrahlen dem kalten Licht eines fast vollen Mondes gewichen. Sobald sie die Brücke beinahe überquert hatten, übernahm Eric die Führung. Sein Haar leuchtete auffällig im Nachteinbruch.

»Michael, was riechst du?«, zischte er.

»Da ist Blut im Wasser.«

»Gut. Versuch, die Passanten abzulenken.«

»Hey! Ich denk ja nicht dran, ich bin nicht weniger Vampirjäger als du! Wenn du jetzt denkst, du wärst besser als ich –«

Eric drehte sich schwungvoll zu Micha um und ging drohend zwei Schritte auf ihn zu. Er war kleiner als Micha, aber kräftiger. Der Vampir indes nahm auch jetzt nicht die Hände aus den Taschen, sondern behielt gleichmütig seine Position bei.

»Was ist los, Hecht? Jaah, ich weiß, du bist angepisst wegen Alea, weil du so was wie seine Mutti bist. Aber lass das nicht an mir aus, klar?«

»Das hat überhaupt nichts damit zu tun!«

Perplex schaute Fritz vom einen zum anderen. Dort unten waren Vampire, dachte er fieberhaft, und diese beiden Männer hatten nichts Besseres zu tun, als sich anzukläffen wie zwei Hunde an einem trennenden Gartenzaun!

»Heilt denn deine Wunde gut?«, erkundigte Micha sich gespielt fürsorglich. »Man soll ja nicht zu oft Blut spenden, weißt du, ist nicht gesund. Wer war das überhaupt? Sugar Ray?«

Eric hatte sich zu gut unter Kontrolle, um auf diesen Tabubruch etwas Hitziges zu erwidern. »Du«, sagte er stattdessen kalt und leise, »kannst doch nicht mal einen Stein geradeaus werfen, Michael Rhein. Du bist doch nur wegen deiner vampirischen Fähigkeiten bei der MIU – im Dunkeln sehen, Wände hoch laufen und so ein Mist! Abgesehen davon kannst du doch nichts

»Sie hauen ab!«, schrie Fritz. »Da!« Mit dem Finger wies er auf die drei Schatten, die sich von den Brückenpfeilern über den feuchten Rasen entfernten, schneller, als Menschen es können sollten.

Micha und Eric setzten sich gleichzeitig in Bewegung, ließen sich jedoch von ihrem Gezänk nicht abbringen.

»Ich frag mich, wieso du immer da bist, wo die Vampire sind, Hecht! Kann es sein, dass du ein Spion bist? Haben Fiacail Fhola dich adoptiert, weil dein Gälisch so toll ist?«

»Ich ein Spion?«, schnappte Eric, merklich aus der Fassung gebracht. »Hast du sie eigentlich noch alle?!«

Inzwischen hatten die drei Vampire bemerkt, dass man ihnen folgte, und schlugen einen anderen Weg ein, der sie wieder unter Menschen führte. Hier war es schwierig, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich tauchten sie ab – weg von der beleuchteten Straße, hindurch zwischen zwei Häuserbuchten. Ihre Jäger folgten dichtauf.

Und rannten in einen Hinterhalt.

Plötzlich sprangen noch mehr Gestalten aus den Büschen hervor, und Fritz hörte das vielfache Klicken von Fangzähnen, das ihn augenblicklich mit lähmendem Grauen erfüllte. Sofort zog er die UV-Lampe, erwischte den Schalter – und das Licht fiel auf reflektierende Flächen an den Unterarmen der Vampire, die sie sich, seine Bewegung richtig deutend, vor das Gesicht gerissen hatten. Als sie Fritz anspringen wollten, feuerte Eric seine Natron-Kanone ab. Einmal, zweimal und noch einmal durchpflügte das Geräusch, das ein bisschen wie ein elektrischer Locher klang, die wimmelnden Stimmen, und aufkreischend griffen sich die drei Getroffenen in die Augen, die vom Natriumhydrogencarbonat blitzschnell verätzt wurden.

»Hau ab, Fritz!«, rief Micha mit rauer Stimme und schaffte es, den Nahkampf, in den er verwickelt war, für sich zu entscheiden. Im Pfählen war er nicht so überirdisch schnell wie Ingo Hampf, doch der Pflock traf sein Ziel, und die erste Bestie starb. »Hast du nicht gehört? Ich werde nicht auch noch dich diesen Wichsern überlassen!«

Fritz dachte nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen; er stand weit genug weg, um den Kampf zu überschauen, und auch Eric hatte sich, Sonnenauge in der Hand, Raum zum Angreifen geschaffen. Als sich zwei Vampire gleichzeitig auf Micha stürzten und ihn unter sich begruben, sprang Fritz vor, den Pflock in der Hand. Eric versuchte dazwischen zu gehen, als hielte selbst er diesen Vorstoß für unüberlegt, doch auch er hatte postwendend zwei neue Gegner vor dem Lauf, die geduckt auf eine Lücke in seiner Abwehr lauerten, um ihn zu beißen.

Eine Vampirin mit feuerrotem Haar packte Fritz an beiden Schläfen und versuchte, seinen Kopf herum zu drehen, als wollte sie ihm das Genick brechen. Gerade noch rechtzeitig spannte er sämtliche Muskeln dagegen und hieb mit dem Pflock um sich. Sie lachte laut.

»Ist das alles, mein Hübscher? Dein Blut wird heiß wie Lava sein, wenn ich mit dir fertig bin, a ghrá mo chroí

Kurz nachdem sie kichernd diesen Satz geäußert hatte, rammte Micha ihr von hinten seinen Pflock zwischen die Schulterblätter, sodass Fritz die Spitze in Höhe ihrer linken Brustwarze wieder heraustreten sah. Eine Blume aus Blut wuchs auf ihrem gelben Kleid, und sie sackte zusammen.

»Hab ich dir was gesagt oder nicht?!«, schrie Micha ihn an.

Fritz taumelte zurück. Wieder packte ihn ein Vampir, aber inzwischen hatte sich Eric freigekämpft und gab einen präzisen Schuss ab, der auch diesen Angreifer mitten in die Augen traf. Endlich sah Fritz ein, dass er den Rückzug antreten musste. Jedoch kam er nicht dazu, da überall dort, wohin er auszuweichen versuchte, jemand Kicherndes und Fangzähniges zu lauern schien. Eine schiere Ewigkeit waren Micha und Eric damit beschäftigt, die zischenden Vampire von sich und Fritz fernzuhalten, sodass sie kaum dazu kamen, sie auch noch zur Strecke zu bringen. Der Plan war gewesen, einen von ihnen zu fangen und zum Reden zu bewegen – etwa darüber, wo das Versteck war und was man mit Alea vorhatte –, doch es war unmöglich, dieser Überzahl von ihnen beizukommen.

Erst als die Vampire merkten, dass diese potenziellen Blutspender zu wehrhaft waren, um problemlos angezapft zu werden, ergriffen sie endlich die Flucht, sich nicht um diejenigen kümmernd, die gepfählt am Boden lagen.

»Wir müssen ihnen nach!«, schrie Eric. »Vielleicht rennen sie in ihr Nest, die Feiglinge!«

»Schwimm schon vor, ich hol dich ein, Fisch!«, entgegnete Micha spöttisch. »Aber erst mal –« Seine Stimme wurde schlagartig ernst. »– hab ich hier noch was zu tun.«

Eric warf ihm einen angewiderten Blick zu und rannte dann los, den Vampiren hinterher. Er würde sie nicht einholen; das würde nur Micha können. Micha jedoch stand Fritz gegenüber, allein im Dunkeln, stemmte die Arme in die Seite und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Das war ja wohl nichts, Fritz.«

»Es tut mir Leid!«, beeilte sich Fritz. Er hatte nicht vergessen, dass Micha nur Bier und kein Blut im Magen hatte.

»Ja, ja, das kann ich mir denken, du Idiot. Pass auf: Du machst jetzt, was ich dir sage, ohne zu widersprechen, kapiert? Nur dieses eine Mal!«

Fritz sah ihn ängstlich an und nickte dann hastig.

Micha hob eine Hand an den Mund, ließ die Fangzähne vorschnappen und zog den rechten von ihnen über seinen Handballen. Eine dunkle Linie trat im schwachen Schein des Mondes hervor und verbreiterte sich rasch.

»Hier«, sagte Micha und streckte die verletzte Hand nach Fritz aus. »Du wirst mein Blut trinken. Jetzt sofort!«

Schlagen und Treffen

»A-Aber … Moment mal –«

»Hör auf zu diskutieren!«, schnappte Micha.

»Aber werde ich dann nicht auch ein Vampir?!« In Fritz’ Kopf putschte eine Herrscherin namens Panik den alten Regenten Vernunft von seinem Thron. Er wandte den Blick ab, um Michas Blut nicht sehen zu müssen.

»Nein, wirst du nicht«, grollte Micha, der jetzt merklich um Beherrschung kämpfte. »Also halt die Klappe und trink! Du wirst schon sehen, was dann passiert!«

Als Fritz immer noch keine Anstalten machte, seine Anweisung zu befolgen, trat Micha vor und packte ihn grob mit etwas, das Fritz zuerst für den Bissgriff hielt. In seiner Angst stieß er einen spitzen Schrei aus – es klang, als trete man ein Huhn in den Hintern – und setzte instinktiv zur Gegenwehr an. Doch Micha war endlos viel stärker. Fritz hatte nicht den Hauch einer Chance freizukommen und gab es auch sofort auf, als er merkte, dass Micha ihn nicht beißen wollte, sondern lediglich versuchte, den Blutstropfen, der über seine Hand rollte, an Fritz’ Lippen abzustreichen.

»Jetzt leck es schon auf!«, knurrte er.

»Aber ichgggggggggg –« Es war ein Fehler gewesen, den Mund zum Protestieren aufzumachen. Sofort hatte Fritz das Vampirblut auf der Zunge. Er begann erneut zu kämpfen, und Micha ließ ihn los.

»Fritz, du wirst nicht kotzen«, sagte Micha betont, als ließe sich das einfach anordnen.

Fritz krümmte sich auf dem Boden zusammen – und stutzte. Es ließ sich anordnen. Wie auf Kommando verschwand der Brechreiz. Fritz schmatzte ein bisschen; es war kein angenehmer Geschmack, aber auch nicht so abstoßend wie befürchtet.

»Und jetzt«, fuhr Micha fort, »wirst du hier stehen bleiben und auf mich warten. Du wirst nichts tun, bis ich wiederkomme.« Damit drehte er sich um und ging.

Was zum Teufel?!, dachte Fritz panisch und wollte ihm folgen – und konnte nicht. Er versuchte es noch einmal. Es ging nicht. Es war, als würde sein Wille dazu, loszugehen, in dem Moment, als das Kommando seine Muskeln erreichen sollte, gebrochen wie eine Welle an einer Klippe. Er wollte gehen, aber sobald er seinem Körper den Befehl dazu gab, wurde dieser Wille so schwach, dass er sich nicht bewegen konnte.

»Micha!«, schrie er seinem Partner hilflos nach. »Alle haben gesagt, ich kann dir vertrauen!!« Nein, korrigierte er sich, strenggenommen hatte das nur Asp gesagt. Ingo hingegen hatte ihn gewarnt. Er hat mich gewarnt!

Micha, schon ein paar Meter weiter, drehte sich ein letztes Mal um. Er nahm Fritz in Augenschein, wie er so angewurzelt dastand, und wandte sich dann wieder ab. »Viva La Vida«, sagte er und tauchte in die Nacht.

Ein letztes Mal nahm Fritz den Kampf auf gegen die unsichtbare Macht, die ihn am Boden festhielt. Wieder brach sein Wille.

Es war aussichtslos.

Ich muss gehorchen, dachte er, und wieder brach eine schweißnasse Angst über ihn herein. Ich hab sein Blut geschluckt … Ich muss alles tun, was er sagt! Ihm wurde schlagartig schlecht – allerdings nicht schlecht genug, um Michas ersten Befehl zu übergehen und das Blut wieder loszuwerden. Was mache ich nur? Ich kann mich nicht bewegen, bis er wiederkommt … Oh Gottogott, was mache ich nur??

»Sieh an, sieh an«, schnurrte eine Frauenstimme ganz in seiner Nähe. »Da steht ein Menschlein … inmitten von Vampirleichen.«

Fritz spürte ein Prickeln im Nacken. Er wusste sofort, dass sie ihn meinte. Sie schlich um ihn herum, ganz leise, und schnupperte von allen Seiten an ihm. Eine Vampirin!

»Wie schrecklich, wie schrecklich … Er hat meine Schwester getötet.« Ihre Trauer klang nicht besonders echt, und das irritierte Fritz, vertrieb aber keinesfalls seine Furcht.

»W-wer hat – ?«

»Dein Besitzer«, antwortete sie ihm. »Wie kann ein Vampir nur seinesgleichen töten? Das ist entsetzlich … Das ist uafásach

»Er – er ist nicht mein Besitzer!«, protestierte Fritz schwach.

»Ach? Aber du bist unter seiner Blutfessel, oder nicht?« Endlich trat die Vampirin mit langsamen, graziösen Bewegungen in sein Sichtfeld. Sie glich der Rothaarigen, die Micha gepfählt hatte, bis aufs Letzte; ihr gegen die Kälte dick gepolstertes Kleid war hellblau und mit Borten geschmückt. Aus leuchtend weißen Augen sah sie Fritz an, und er glaubte zuerst, Mitleid in ihnen zu erkennen; doch diese Augen wirkten irgendwie hohl, sie veränderten sich mit jeder Bewegung. Als die Frau dicht bei ihm war, leuchteten sie grau und hart wie Granit. Fritz sah sein eigenes Spiegelbild darin auf dem Kopf stehen. »Vampire, die sich Menschen unterwerfen oder mit ihnen um Harmonie ringen, benutzen niemals die Blutfessel … Das tun nur die, die sich Menschen zu Untertanen machen.« Sie lächelte süß. »Wie fühlt es sich an, keinen eigenen Willen mehr zu haben? Nur das tun zu können, wozu dein Besitzer dich auffordert?« Ihre Hand – warm und duftend – umfasste Fritz’ Kinn. »Aus dieser Art von Abhängigkeit gibt es kein Entkommen. Bevor dein Körper das Blut ganz verdaut hat, wird er dir befehlen, noch mehr zu trinken. Es ist ganz einfach … und es wird niemals aufhören, wenn er es nicht will.«

Fritz begann am ganzen Körper zu zittern. Er fror an der kalten Luft, doch es waren auch ihre Worte, die ihn so mit Grauen erfüllten, dass er schlotterte wie ein Kind, das man aus einem Eisloch gezogen hatte. Im Grunde glaubte er nicht daran, dass Micha vorhatte, ihn ewig in diesem Zustand zu belassen; nein, er wollte Fritz einfach nur nicht länger im Weg haben. Es war genau das, was Ingo Hampf gesagt hatte: Wenn er es leid ist, auf dich aufzupassen, wird er dich im Stich lassen. Und Asp hatte widersprochen: Unsinn, so was macht er nicht. Sollte Ingo, der Micha nicht leiden konnte, ihn etwa besser kennen als Asp, der sein Freund war? Mit dem er sich ein Bierversteck teilte? Flensburger unter Buschfeldts Nase?

»Warum hat er dich nicht gebissen?«, wunderte sich die rothaarige Vampirin, die noch immer um Fritz herum strich. »Er roch hungrig. Sehr sogar. Ich wollte ihn bitten, mit mir zu teilen.«

Ja, klar, dachte Fritz trotz seiner extremen Verunsicherung. Micha pfählt deine Schwester – und mit dir teilt er dann mich, den er dadurch beschützt hat. Vampirlogik! Es musste an der Blutfessel liegen. Offenbar war die Vampirin überzeugt, dass das, was Micha mit Fritz gemacht hatte, nur jemand tat, der Anspruch erhob. Fritz zu beschützen hätte demnach lediglich bedeutet, Futterneider von einem Stück Beute zu verscheuchen. Genau, das dachte sie!

»Diese Vampire, die ihresgleichen töten, sind eine Schande«, sagte die Rothaarige kummervoll. »Ich werde dich mitnehmen, mein Lieber. Paul wird sich freuen. Vielleicht bist du ja eine weitere Schwachstelle dieser Vampirpeiniger. Oder … vielleicht kannst du uns auch helfen, die Schwachstellen unseres eigenen Plans zu beheben.« Breit lächelnd trat sie an ihn heran und umfasste seine Hüfte.

»Das denkst du!«, fauchte Fritz und wollte hektisch nach dem Pflock greifen – und konnte nicht. Sein Arm unternehme keine einzige Bewegung. Scheiße! Michas Anweisung war gewesen, nichts zu tun, bis er wiederkam. Nichts!

Hilflos musste er ertragen, dass die Vampirin ihn vom Boden hochhob wie eine Schaufensterpuppe. Er konnte sich nicht wehren, nicht rühren, und so schwappte das Verderben über ihn, so unausweichlich, dass ihm vor Herzrasen beinahe schwarz vor Augen wurde.

»Wie heißt du?«, fragte sie glockenhell.

»F-Fritz«, brachte er bibbernd hervor.

»Das ist kein schöner Name, Fritz. Ich werde dich Fial nennen.«

»Oh … Okay … Und wie … wie heißt du …?«

»Ich heiße Ríona. Ríona Rua

Kichernd rannte sie mit ihm los, schnell wie der Wind, immer die Straße hinunter, und schon nach wenigen Biegungen hatte Fritz jegliches Gefühl dafür verloren, wo er war und was überhaupt mit ihm passierte.
 

Michael brauchte nicht lange, um Eric einzuholen. Jetzt, da er Fritz – wie er fand – vorübergehend angemessen entsorgt hatte, konnte er sich endlich frei bewegen, ohne ständig Rücksicht nehmen zu müssen. Natürlich würde es Ärger mit dem BfV geben, denn, das ließ sich nicht leugnen, das Benutzen der Blutfessel war innerhalb der MIU so ziemlich das schwerste Vergehen und kam damit noch vor dem Beißen eines unfreiwilligen Kollegen. Und Fritz würde petzen, so viel stand fest. Micha konnte ihm das nicht übel nehmen. Unter dem Einfluss eines fremden Willens zu stehen war mit Sicherheit eine echt beschissene Sache. Aber es hatte keine andere Möglichkeit gegeben! Fritz hatte nur Schwierigkeiten angezogen, keine Anweisungen befolgt, sich in Gefahr gebracht. Er war viel sicherer, wenn er einfach nur dort an der Straße stand und wartete. Sobald Micha Eric eingeholt hatte, würde er ihn um sein Handy bitten und irgendjemanden – Boris oder so – beauftragen, Fritz einzusammeln. Buschfeldt würde dann zwar sofort sehen, was passiert war … doch was sollte der machen?

Ich bin sein ältester Vampir, dachte Micha finster. Ich kann alles, was die Bösen können. Manchmal sogar noch mehr. Ohne mich ist die MIU am Arsch.

Er fand Eric an einem der zahlreichen Verkehrsknotenpunkte in der Stadtmitte, am Albertplatz. Straßenahnlinien liefen hier zusammen, und zwei gewaltige, stumme Springbrunnen standen sich gegenüber, wo der hellhaarige Mann sich im Schatten hielt und leise über die angrenzende Wiese schlich. Ja, der gute Herr Hecht machte seine Arbeit immer sehr gewissenhaft.

»Buh!«, sagte Micha und trat hinter ihn.

Leider erschreckte Eric sich nicht. »Wo ist Friedrich?«, erkundigte er sich halbherzig, während er die mehrspurige, beleuchtete Straße im Auge behielt.

»Noch hinten. Der hat uns ja nicht viel geholfen. Keine Sorge, ich hab ihn nur kurz geparkt.«

»Du hast was?«, fragte Eric mit hochgezogenen Brauen und drehte sich endlich um. »Das heißt ja wohl nicht …!«

Scheiße, dachte Micha, der nicht gedacht hätte, dass der Sänger von Subway To Sally so schnell eins und eins zusammenzählen würde.

Eric schien seine Gedanken zu erraten. »Du hast ihn unter Blutfessel gesetzt!«, sagte er entgeistert. »Sag mal, bist du völlig übergeschnappt, Michael? Wenn Buschfeldt das erfährt, wird er dich höchstpersönlich pfählen!« Für gewöhnlich war es immer ganz lustig zu beobachten, wie Eric sich über irgendwas aufregte; nun jedoch betraf es Micha selbst, und das war weniger komisch. »Bring das bloß in Ordnung!«, fuhr Eric eindringlich fort. »Hol ihn zurück und erklär ihm das! Du weißt, was sonst passiert! Wenn du erst mal draußen bist, ist es mit In Extremo auch vorbei!«

»Buschfeldt kann nicht meine Band kaputt machen«, gab Micha betont ruhig zurück.

»Oh doch, Michael. Deine Band gehört der MIU. Buschfeldt kann und wird

Micha hasste diesen überheblichen Ton. »Mit dir würde er das nie machen.«

»Nein, weil ich nicht dauernd widerspreche und meine Fangzähne in Tabus schlage!«

»Der Punkt ist, Hecht, du hast keine Fangzähne! Deshalb bist du Buschfeldts Liebling, wegen nichts anderem! Buschfeldt ist ein scheiß Vampirhasser!«

»Das weiß ich!«, keifte Eric zurück. »Aber wenn du zur Abwechslung mal tun würdest, was man dir sagt –«

»Ääh – ihr Herren, störe ich euch?«, fragte jemand hinter ihnen vorsichtig. Die beiden Männer fuhren herum. Im Lichtkegel der Straßenlaterne stand ein junger Mann, glattrasiert und mit sehr kurzen, graublonden Haaren, in einer zu langen Jacke steckend, und lächelte schüchtern. »Ihr seid von der Musikindustrieüberwachung, richtig?«

Alarmiert zog Micha eine Nase voll Luft ein. Und fand nichts darin, das ihn beunruhigte. »Du bist kein Vampir.«

»Nein, stimmt, ich bin ein Mensch. Niklas Löhse der Name. Ich hab im fünften Semester meines Wirtschaftsstudiums ein Auslandsjahr in Irland gemacht … und wurde direkt von Fírinne engagiert.«

»Fírinne!«, sagte Eric schneidend. »Dann ist Irland endlich selber an dem Fall dran? Wir haben es mit Fiacail Fhola zu tun, richtig?«

»Zweimal ja«, nickte Herr Löhse. »Wollt ihr mitkommen? Die Präsidentin ist auch hier. Wir tauschen gerne mit euch Informationen aus. Ich glaube, angesichts der etwas unkontrollierbaren Situation wäre es auch ganz schön blöd von uns, wenn wir nicht alle zusammenarbeiten würden.«

Micha wusste nicht genau, was er davon halten sollte, aber er konnte an diesem Jungspund nichts Verdächtiges feststellen. Fragend sah er zu Eric, der naturgemäß noch eine Spur misstrauischer war als er, doch auch der andere Sänger wirkte zufrieden.

»Gut, gehen wir«, erteilte Eric seine Zustimmung.

»Na dann!« Niklas Löhse nickte mit einem Lächeln und winkte ihnen, ihm zu folgen.
 

Ríona schleppte Fritz wie einen Sack mit gestohlenem Schmuck in Windeseile quer durch die Stadt. Fritz hatte keine Ahnung, wo sie gerade waren; er sah leere Bus- und Straßenbahnhaltestellen, wenig befahrene Straßen, Reihenhäuser, Kaufhäuser … Immerhin glaubte er zu wissen, dass sie weder die Elbe überquert noch die Altstadt durchrannt hatten. Als die Bebauung abnahm, wurde ihm klar, dass sie ihn an den Stadtrand getragen hatte. Diese Feststellung half ihm nicht viel.

In langsamerem Schritt, Fritz mühelos hochhaltend, hielt Ríona nun auf eine großflächige Baustelle am Rand der Straße zu. Leitkegel und blinkende Lampen reihten sich um eine Baugrube von der Größe eines Kinderzimmers; entsprechende Schilder gemahnten zur Vorsicht und zur Einhaltung einer Höchstgeschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde. Sicherungsposten oder gar Arbeiter waren jedoch nicht in Sicht, obwohl es noch nicht allzu spät am Abend war.

Zu Fritz’ Verblüffung schlenderte seine Trägerin mit ihrer Fracht direkt auf diese abgeschirmte Baugrube zu, schwang sich über die Umzäunung – was Fritz’ Magen einen Satz machen ließ – und sprang dann hinab in die erdschwarze Dunkelheit. Dieser Fall dauerte länger, als Fritz erwartet hatte, doch schließlich landete die Vampirin federnd auf den Füßen und marschierte erneut los. Fritz staunte: Die Baugrube führte seitlich in einen rohen Tunnel. Diesem folgte Ríona, die im Dunkeln sehen konnte, leise summend. Nach geschätzten fünfhundert Metern gabelte sich erstmals der Gang, und eine kleine, auf den Erdboden gestellte Grubenlaterne machte dies auch für Nachtblinde kenntlich.

Hier kommen auch Menschen lang!, dachte Fritz und versuchte, sich seine Erregung ob dieser Erkenntnis nicht anmerken zu lassen.

Ríona fing nun, da sie sich außerhalb überirdischer Hörweite befanden, lauter zu singen an, in einer Sprache, die Fritz für Gälisch hielt. Sie klang mal hübsch, mal kehlig mit ihren fließenden Vokalen und rauen rrr- und chhh-Lauten. Minuten später ging der unbefestigte Tunnel mit seinen erdigen Wänden nahtlos in einen sauber gekachelten Flur über. Leuchtstoffröhren spendeten flackernd ein kaltes, nicht allzu helles Licht. Fritz schnüffelte: Es roch nach Stroh – wie in einer Scheune.

»A chairde!«, rief Ríona laut aus. »Ich habe jemanden mitgebracht!«

Ein dünner Halbstarker mit schwarzer Mütze kam ihnen entgegen. Seine Nase war rot und gereizt, als hätte er allzu oft Kokain genommen. Müde sagte er: »Ey, du weißt, dass du keine Beute hier reinholen darfst. Paul sagt, du wärst wie ’ne Katze, die immer lebende Mäuse mit nach Hause bringt und dann im Wohnzimmer freilässt, um damit zu spielen.« Er schniefte.

Fritz hatte den Kerl als Dresdener erkannt, da er hörbar sächselte. Ein Mensch?

»Das ist nicht irgendeine Beute!«, verteidigte Ríona ihr Mitbringsel. »Das ist Fial! Er gehört einem MIU-Vampir!«

»Tue ich nicht«, grummelte Fritz. Er wusste auch nicht warum, doch nach all der Angst schien sein erhöhter Adrenalinspiegel sich als Normalwert eingependelt zu haben und verursachte keine lähmende Panik mehr. Eigentlich seltsam, da er mitten unter Vampiren war.

»Achso, na gut«, lenkte Koksnase ein, »dann steck ihn zu dem anderen. Paul wird ihn befragen und Tests mit ihm machen. Also nicht reinbeißen.«

»Ich weiß, ich weiß! Er ist noch heil!« Mit einem Schnauben ging Ríona großspurig an dem jungen Mann vorbei in einen angrenzenden Raum, der – wie Fritz erkannte – voller einzelner Zellen war, ähnlich einem Gefängnistrakt. Die kleinen, durch massive Gitter abgetrennten Einzelräume waren mit haufenweise Stroh ausgelegt.

Wie ein Viehstall, dachte Fritz konsterniert.

Ríona ließ ihn in der erstbesten Zelle in einen Berg der gelben Halme fallen, kehrte ihm dann den Rücken und zog die Zellentür hinter sich zu, wobei sie den Schlüssel nach mehrfacher Umdrehung abzog und einsteckte. »Bis bald, a stóir«, sagte sie zuckersüß und lächelte Fritz breit an, ehe sie mit wehender roter Mähne und weichen Bewegungen aus dem Raum verschwand. Hinter ihr fiel die marode Tür ins Schloss.

Fritz wagte es, aufzuatmen und sich in der Zelle umzusehen. Offenkundig entsprach sie wirklich einem spartanischen Gefängnisstandard, wenn man einmal von der Bodenpolsterung absah.

»Scheiße«, murmelte Fritz. »So viel Stroh …«

»Ja, es ist wie auf dem MPS«, kam es aus der Zelle neben ihm.

Fritz drehte sich um. »Alea!«

»Und, wie haben sie dich geschnappt?« Der Mann mit dem auffälligen roten Bart trat an die Gitter, um die Hand durchzustrecken. Fritz nahm sie; es tat irgendwie gut, an diesem Angst erregenden Ort jemanden zu berühren, den man kannte.

»Oh, das ist Michas Schuld. Er hat mich …« Gerade noch rechtzeitig unterbrach sich Fritz, ehe ihm die Wahrheit herausrutschen konnte. Du redest mit Alea, du Idiot! »… an einer ungünstigen Stelle warten lassen.«

Alea schnitt eine Grimasse. »Schöner Mist, was?«

Puh, dachte Fritz und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Dann musterte er sein Gegenüber: Alea sah gesund und lebhaft und auch sauber aus – wenn man von ein paar Strohhalmen absah, die am Stoff seines schwarzen Sweatshirts hafteten –, und er schien auch nicht verletzt zu sein. An seinem Hals waren keine Bisswunden zu sehen. »Haben sie dir noch gar kein Blut abgezapft?« Fritz staunte, dass er das Wort Blut ganz ohne Stottern ausgesprochen hatte.

»Nur ’ne Probe«, antwortete Alea. »Das hat Frais persönlich gemacht, weil er befürchtet hat, jemand würde sie austrinken.« Geistesabwesend kratzte er sich den Bart. »Ich weiß nicht, die halten mich irgendwie … für ’nen Zauberer oder so was.«

»Ich fürchte, mich werden die nicht so sanft anfassen.« Aleas Gegenwart war zwar beruhigend, aber Fritz fühlte sich dennoch reichlich ausgeliefert. »Was haben die bisher mit dir gemacht?«

»Oh.« Aleas Miene verdüsterte sich. »Gut, dass du mich daran erinnerst … Ich bin fast sicher, dass sie das auch mit dir machen werden. Warte …« Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose und fischte etwas heraus. »… Hier. Ich hab zwar nicht mehr viel, aber ich geb dir gerne was ab.« Damit hielt er Fritz ein Kaugummi der Marke Wrigley’s Spearmint hin.

Fritz schaute ihn verständnislos an. »Ääh … nein, danke.«

»Nimm schon und kau es!«, forderte Alea ihn auf und kam noch näher ans Gitter, weil aus dem Nebenraum Geräusche ertönten. Im Flüsterton fügte er hinzu: »Oder willst du dir Kaugummi in die Ohren stopfen, das ich durchgekaut habe?«

Jetzt verstand Fritz, dass es um etwas anderes ging. Er nahm das Kaugummi, steckte es in den Mund und begann darauf zu kauen; dann raunte er leise: »Wann muss ich es mir denn in die Ohren stecken?«

»Wenn sie dir sagen, dass sie dich gleich für einen Test holen«, zischte Alea zurück. »Das ist das Gute daran, sie kündigen dir immer vorher an, was sie machen werden. Während sie alles vorbereiten, teilst du das Kaugummi schnell in zwei Teile und steckst es dir in die Ohren.«

»Und das hilft wirklich?«

»Ja. Könnte der Grund sein, wieso ich noch lebe. Unsere Musikleichen, Fritz … Das waren auch Fiacail Fhola. Alle Todesfälle, die wir in letzter Zeit untersuchen, gehen auf ihr Konto!«

Ach du Scheiße. Fritz stellte vor Entsetzen das Kauen ein. Die wollen mich in einem Test mit tödlicher Musik beschallen?!

»Es sieht so aus«, fuhr Alea leise fort, »als wäre der große Plan noch nicht ganz ausgereift. Jeder, der die Musik hört, sollte sterben, aber es stirbt irgendwie nur … jeder Dritte, oder so. Sie brauchen Testobjekte, um rauszufinden, was sie ändern müssen, damit die Wirkung nicht mehr so selektiv ist. Bisher hab ich sie verarscht, und sie beißen sich an mir die Zähne aus. Buchstäblich, hahaha! Das schieben sie aber auf die Tatsache, dass ich ein Vexecutor bin.« Ein Lächeln, das diese Bezeichnung nicht verdiente, begleitete diese Feststellung.

»Lámh Dé«, sagte Fritz.

»Ja. So nennen sie mich.«

»Und sie wollen dein Blut trinken?«

»Oh ja, alle. Die denken, dass dann sonst was passiert. Es ist wie … Also, manche Naturvölker trinken das Blut ihrer natürlichen Feinde, zum Beispiel von wilden Tieren … weil sie glauben, dass deren Stärke dann auf sie übergeht. Wenn man etwas fürchtet, kann man es sich quasi einverleiben, es sich unterwerfen, selbst einen Teil davon beanspruchen … Dann muss man es nicht mehr so sehr fürchten. Ich denke, es gibt viele Gründe, warum alle Vampire von mir trinken wollen. Die wenigsten glauben wirklich, dass sie davon unsterblich werden. Es geht eher um … Macht. Um Überlegenheit. Um den Triumph über was Feindliches, vor dem man Angst hat.« Stimme war noch leiser geworden; jetzt fuhr er sich nervös mit der Zunge über die blassen Lippen, ehe er eindringlich fortfuhr: »Paul Frais … Er hat gesagt, dass er mich persönlich behalten will, für immer … sodass er ständig mein Blut trinken kann, ohne dass es mir schadet … und er wird mich niemals freiwillig gehen lassen.«

Fritz, der diese letzten Worte kaum verstanden hatte, blickte schaudernd zu Boden.

Abrupt trat Alea von den Gittern zurück, was zeigte, dass der geheime Part vorbei war. »Ansonsten wird dir hier niemand was tun. Keiner darf dich beißen, ohne dass Frais es erlaubt – und das wird er nicht, bevor die Tests abgeschlossen sind. Das Stroh ist warm, es ist … fast komfortabel.«

Dieses Tarnungsgespräch hielt Fritz für überflüssig. Die Vampire wussten doch sowieso, worüber er und der Sänger wirklich sprechen würden. Rundheraus sagte er: »Alea, warum tötest du sie nicht einfach alle?«

Etwas bestürzt drehte Alea sich wieder nach ihm um; dann seufzte er »Ach, Fritz« und warf ihm einen gequälten Blick zu. »Die lassen mich nur von Menschen handhaben. Leute, die wohl gar nicht wissen, was sie machen. Und wenn doch mal ein Vampir hier reinkommt, dann bemerke ich es nicht mal … weil hier überall so viele von denen in der Nähe sind, dass mein innerer Sensor völlig verrückt spielt. Wie ein Kompass, dessen Nadel sich ständig im Kreis dreht.« Mit einem weiteren tiefen Seufzen trottete er zurück zu dem Lager, das er sich aus Stroh aufgehäuft hatte, und ließ sich resigniert darauf fallen.

Fritz sah ihm ratlos zu, doch es war klar, dass das Gespräch von Aleas Seite beendet war.
 

»Ich hoffe, du hast Friedrich an einem sicheren Ort verwahrt«, sagte Eric spitz, als er und Micha vor der belgischen Botschaft – eine irische gab es in Dresden leider nicht – auf die Rückkehr des deutschen Fírinne-Mitglieds Löhse warteten.

»Ja«, behauptete Micha. »Oh, aber wo du’s sagst … Leihst du mir dein Handy? Dann kann ihn jemand holen.«

»Hast du ihn etwa festgesetzt? So von wegen: Rühr dich nicht von der Stelle?« Eric wirkte belustigt. »Das wäre ja typisch.«

Allmählich war Micha das sinnlose Streiten doch etwas leid. In versöhnlicherem Ton sagte er: »Lass die Wichserei, Eric, das bringt uns doch nichts.«

»Ich bin nicht derjenige, der hier rumwichst, Michael.«

»Gib mir dein Handy. Bitte

»Ich hab keins dabei. Silvio hat eins, und da wir zuletzt immer zusammen unterwegs waren, hat das ausgereicht.«

»Oh Mann«, stöhnte Micha. »Póg mo tháin, du Amadán

»Das heißt thóin

»Du hast es aber verstanden.«

Eric lachte freudlos. »Jaja, die dreißig Fehler in Liam sind wohl nur Tarnung.«

»Wenn Reas Mutter die Fehler nicht findet, kann ich nichts dafür. Wenigstens habe ich überhaupt ein Lied auf Gälisch.«

»Wenn ich ein Lied auf Gälisch hätte, würde es nicht zu fünfzig Prozent aus Wörtern bestehen, die es gar nicht gibt.«

Wieder schwiegen sie frustriert. Über ihren Köpfen setzte ein Nieselregen ein; das vorspringende Dach des Säuleneingangs schützte sie gerade noch davor.

Nach einer Weile sagte Eric: »Wir haben unser erstes Date.«

»Wer? Du und ich?«

»Nein. Wir und sie

»Oh, Mary McAleese.« Micha war froh, sich an den Namen der amtierenden Präsidentin Irlands noch erinnern zu können. »Ich hoffe, die versteht mich.« Unsicher fügte er an: »Was heißt noch mal … ›Ich freue mich, Sie zu treffen‹? Tá áthas orm …«

»Tá áthas orm bualadh leat«, antwortete Eric. »Denk an die richtige Konstruktion mit le, sonst sagst du nämlich was völlig anderes.«

Micha nahm sich vor, daran zu denken.

Wieder passierte eine ganze Weile lang nichts – außer dass der Regen etwas zunahm. Die Straße sah aus wie ein zäher, schwarzer Fluss, auf dem hin und wieder ein Auto vorüber schwamm.

Dann kehrte endlich Niklas Löhse aus dem Konsulat zurück. Er lächelte breit. »Die Wiedersehensparty kann losgehen! Auf eine erneute, erfolgreiche Zusammenarbeit!« Mit einer übertriebenen Geste trat er beiseite und gab den Blick frei auf eine gut gekleidete, ältere Frau mit rotblondem Haar. Auch sie lächelte, und Micha und Eric konnten nicht anders, als die Geste zu erwidern. Wie in ihrer Heimat hatte McAleese keine Bodyguards bei sich; sie galt als sehr volksnah und setzte sich selbst im Theater mitten unter das gewöhnliche Publikum.

Micha hatte sie schon beim ersten Kampf gegen Fiacail Fhola sehr bewundert und wollte sie jetzt unbedingt in ihrer eigenen Sprache begrüßen. Sich auf die richtige Aussprache konzentrierend, setzte er eifrig an: »Tá áthas orm …« Wie ging das noch mal weiter? Dich? Du? »… tú … a bhualadh

Die Präsidentin lachte und gab ein paar liebenswürdige Worte zurück, die er nicht verstand. Unauffällig raunte ihm Eric ins Ohr: »Du hast gerade gesagt: ›Ich freue mich, Sie zu schlagen.‹ Gute Arbeit, du Idiot.« Dann ließ er sich seinerseits von McAleese begrüßen.

Oh, dachte Micha und überging seinen Fauxpas tapfer. Wenn er Situationen meistern konnte, dann solche. Mit Gälisch fiel er nicht zum ersten Mal auf die Fresse.

»Ich schlage vor«, begann Löhse, als der Austausch von Höflichkeiten beendet war, »dass wir uns jetzt mit unseren Vampirjägern treffen und die Lage besprechen. Hat die MIU noch ihre Basis in Mockritz? Dann können wir mit zu euch kommen.«

»Nein, leider nicht«, gab Eric sofort zu. »Wir sind jetzt stationiert im Universitätsklinikum.«

»Oh, na so was. Das ist kein geeigneter Ort für geheime Konferenzen, fürchte ich. In dem Fall würde ich euch bitten, mit uns nach Coschütz zu fahren. Da haben wir ein kleines Meeting-Center.«

Micha sah Eric an. »Sollten wir Buschfeldt melden, was wir machen?«

»Das könnt ihr von da aus tun«, bot Löhse an. »Den guten Herrn Buschfeldt würde Frau McAleese auch gerne wieder einmal sehen.«

»Jaah, ganz bestimmt, das will jeder.«

»Komm, Michael«, sagte Eric müde, »wir gehen mit und hören uns das an.«

Sodann brachen sie zu viert mit dem Wagen der Präsidentin auf.

Wahrheitsfinder

El Silbador hob gelangweilt sein Mobiltelefon ans Ohr. Eigentlich wurde es genutzt wie ein Funkgerät; das BfV hatte ein eigenes Netz, genau wie die Gewerkschaft der Polizei, über welches Gespräche nichts kosteten. »Elsi hier.«

»Ich bin’s«, sagte Sugar Ray, im Grunde unnötig, da er von allen noch nicht wieder eingetroffenen Teams der Einzige mit einer Kommunikationsmöglichkeit war. »Gib mir mal Bock. Bitte.«

»Du willst ernsthaft lieber mit Bock reden statt mit mir? Na, wie du willst.« Elsi stand gehorsam auf und begab sich durch den trostlosen Kellergang zum kleinen Behandlungszimmer des Arztes, der sich dort immerzu mit irgendetwas beschäftigte. Im Moment war er dabei, den schwarzen Nagellack auf seinen Fingernägeln zu erneuern. Er ging dabei mit einer Akribie davor, um die ihn so manche Frau beneidet hätte – aber Bock arbeitete nun mal viel mit seinen Fingern. Wie viel, das wollte Elsi manchmal gar nicht wissen.

Er händigte dem Arzt das Handy aus und wartete geduldig darauf, es zurückzubekommen.

»Oh, hallo, mein Lieber!«, sagte Dr. Saltz in das Telefon, während er mit der freien Hand vergeblich versuchte, das Nagellackfläschchen wieder zuzuschrauben. »Was gibt’s?« Er gab auf, schob das Fläschchen beiseite und lauschte stattdessen interessiert. El Silbador sah, wie sich sein unbeschwerter Ausdruck jäh wandelte. »Verdammt, dann hol doch einen Arzt! … Wie? … Oh. Verstehe. Armer Kerl. … Ja, ich seh mir das an. Halt die Stellung.« Bock beendete die Verbindung und reichte Elsi das Handy zurück. »Hat er’s dir erzählt? Er hat einen sterbenden Drogenjunkie gefunden … goldener Schuss, nimmt er an … mit einer ganz frischen Bisswunde am Hals.«

»Welcher Vampir ist denn so dämlich?«, schnaubte Elsi, der wusste, was das bedeutete.

»Das will ich auch gerne wissen. Ich fahre hin. Sollten sich in der Zwischenzeit irgendwelche medizinischen Notfälle ereignen: Du hast ja eine Ersthelferausbildung.«

»Ich? Hallo? Wir sind in einem Krankenhaus

»Ah. stimmt. Das vergesse ich hier unten immer.« Bock packte seine kleine Tasche mit allem, was er für brauchbar hielt, meldete sich bei Buschfeldt ab und verließ die Klinik.

Elsi kehrte kopfschüttelnd auf seinen Posten zurück.
 

»Bock, wo jehst’n hin?«, fragte Van Lange verwundert, der dem Arzt zusammen mit Flex im Eingangsbereich der nunmehr unbelebten Klinik entgegen kam.

»Außeneinsatz. Wollt ihr mich eskortieren?« Bock klimperte mit den Wimpern, was unfassbar dumm aussah.

Basti und Marco tauschten einen zögernden Blick. »Wir kommen zwar gerade von draußen … aber gefunden haben wir nichts, also …«

»Joa, ick denke, wir machen dit ma, wa?«

Gesagt, getan.

Zu dritt fuhren sie mit dem Dark Knight zur Carolabrücke, einer der vielen Elbbrücken, wo am matschigen Ufer des Flusses Sugar Ray im Gras kniete, nur schwach beschienen und kaum auszumachen. Zu seinen Füßen lag ein regloser Körper in abgetragener Kleidung, fahl und mit weit geöffneten, starren Augen. Sofort kniete Bock sich zu dem jungen Mann und prüfte ihn auf Lebenszeichen.

»Der ist sauber tot«, stellte er fest.

»Dachte, der hätte noch gezuckt«, sagte Silvio mit regloser Miene.

»Das kann sein, aber das passiert, wenn das Hirn abstirbt und die letzten elektrischen Impulse der Nerven sich entladen.« Vorsichtig löste der Arzt den festgezogenen Gürtel vom linken Oberarm des Toten. »Ich nehme mal an, die Überdosis war Absicht. Wer sonst würde sich hier draußen einen Schuss setzen?«

»Ein einsamer Tod mit Blick auf das Elbufer?«, spekulierte Marco, doch in seiner Stimme klang ein Frösteln mit. Von dieser Seite des Flusses aus bot die bunt erleuchtete Seevorstadt jenseits des schimmernden Wassers tatsächlich einen einnehmenden Anblick.

»Bringt et wat, wenn wir die Vampirspucke vom Register checken lassen?«, fragte Basti und deutete auf die frischen, jetzt bläulich verfärbten Einstichstellen.

»Absolut nicht«, antwortete Bock, »denn wer hier gespeist hat, ist tot.«

»’nen Fixer zu beißen, überlebt man nicht«, fügte Sugar Ray bedeutsam hinzu.

Bock nickte. »Ich hab das selbst mal gesehen, vor fast zwei Jahren. Der Vampir, den wir suchten, hatte einen Heroinabhängigen gebissen. Nur zehn Minuten nach dem Saugen starb er, kotzend und krampfend. Kein schöner Tod.«

Flex ließ seinen Blick das Elbufer hinunter schweifen. Es war zu dunkel, als dass er etwas Auffälliges hätte erkennen können. »Muss ein Baby gewesen sein«, sinnierte er. »Sollen wir suchen?«

»Ja, macht das, er kann nicht weit gekommen sein.« Bock ergriff die weißen Hände der Leiche und zog sie ein Stück weit vom Wasser weg.
 

Schon drei Minuten später hatte Sebastian den Vampir gefunden; er lag einige Meter flussabwärts halb im Wasser. Einer äußeren Einschätzung nach war er mindestens siebzig Jahre alt, sein verbliebenes Haar stand ihm in einem wirren, grauen Kranz um den runzligen Kopf.

Sugar Ray sagte unerwartet mitleidig: »Wenn man so alt noch verwandelt wird, ist es sicher schwierig. Also, sich noch an so ein anderes Leben zu gewöhnen.«

»Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass man in dem Alter eine Transformation überhaupt überlebt«, gab Bock zu. »Schließlich muss der Körper enorme Belastungen aushalten.« Er bückte sich nach dem vermeintlichen Leichnam und zog ihn an der Schulter aus der Elbe.

Jäh ging ein Ruck durch den Mann, seine Arme pflügten durch die Luft, sodass Bock beiseite springen musste, und ein Schwall schwarz verfärbten Blutes brach aus ihm hervor. Hustend und zuckend lag er da, offenbar noch nicht bereit zu sterben, und schwarzer Schaum sammelte sich auf seinen Lippen und rann über sein Kinn.

»Oh Gott«, ließ sich leise Flex vernehmen.

»Schnell! Meine Tasche!« Der Arzt streckte fordernd die Hand aus, und Basti beeilte sich, ihm das Begehrte zu reichen.

Bock fand eine Spritze, entpackte sie und zog sie mit einer gelblichen Flüssigkeit auf, die er dem Vampir nicht gerade behutsam in die Gesäßbacke injizierte. Das Husten wurde lauter und abgehackter, und der Alte bäumte sich auf und spuckte noch mehr halbverdautes Blut aus; dann beruhigte er sich endlich und starrte mit dämmrigem Blick zu seinen Findern auf.

»Jesus Christus«, krächzte er, »diese Schmerzen …«

»Von Menschen mit Heroin im Blut sollte man die Finger lassen«, warnte ihn Sugar Ray.

»Ick gloobe, die Lektion bringt dem nüscht mehr.«

»Da hat Basti Recht«, murmelte Bock. »Wir können das Unvermeidliche nur rauszögern.«

Keuchend stemmte der Alte den Oberkörper hoch. »Ich wollte nicht … Ich wollte doch nie … Ich dachte, es wäre ein Schlaganfall gewesen … Erklären Sie mir das, Doktor! Ich hab wochenlang in der Uniklinik gelegen … Meiner Frau haben sie schon gesagt, ich würde es nicht überleben …«

Marco begriff und sagte leise zu den anderen: »Sie haben die Transformation nicht erkannt und als Krankheit in der Klinik überwacht, deshalb lebt er noch … Aber wer hat das mit ihm gemacht? Und wozu?«

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, ächzte der alte Mann, und seine Augen schienen sich in verschiedene Richtungen bewegen zu wollen. »Ich war aus der Klinik raus … aber es ging mir immer schlechter, Doktor, alles hat verrückt gespielt, meine Haut, meine Augen, ich konnte nichts mehr essen … Was ist es wirklich? AIDS? Blutkrebs? Ich … ich weiß nicht, wieso ich …« Sein wässriger Blick wanderte zu der dunklen Pfütze in direkter Nähe.

Basti beugte sich so nahe zu dem Mann, wie er es sich zumuten wollte, und befragte ihn eindringlich: »Wer hatse denn zu dem jemacht, watse jetzt sind? Könnse dit sagen?«

Sugar Ray rollte die Augen; wie sollte man auf so eine Frage antworten, wenn man nicht einmal begriff, wie einem geschah? »Sie müssen uns sagen«, begann er seinerseits behutsamer, »mit wem Sie Kontakt hatten, bevor das alles passiert ist. ’s muss ’nen Vorfall gegeben haben …«

»Richtig, diese Art von Krankheit kommt nicht aus dem Nichts«, bekräftigte Bock, den Faden dankbar aufnehmend. »Sie müssen mindestens etwas getrunken haben, das Ihnen nicht bekommen ist …«

Der Graue sah ihn traurig an. Schon wurde er wieder schwächer, seine Augen trübe, und elendig röchelnd antwortete er: »Ich war bei diesen Leuten … Ich hab eine Enkelin, und ich weiß nicht, was mit dem Kind los ist … Sie sagte, diese Leute …«

»Wo?«, drängte Lange.

»In der Albertstadt … bei der Offiziersschule … in der Marienallee … Eine – eine Baugrube, mitten auf der Straße … Seit Wochen wird da kein Handschlag gemacht …« Wieder brach der bemitleidenswerte Sterbende in gequältes Husten aus.

Bock streichelte ihm die Schulter. »Wir werden rausfinden, wie das alles passiert ist.«

Als er die Hand wieder wegziehen wollte, umklammerte der Alte sie mit der ganzen brachialen Kraft eines Todgeweihten. »Doktor … Helfen Sie mir!« Er röchelte noch heftiger, seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen – dann, ganz plötzlich, erschlaffte der Körper und fiel leblos ins nasse Gras zurück.

Die vier MIU-Leute starrten sekundenlang betroffen auf den Leichnam. Dann streckte Bock die Hand aus und schloss dem Mann die starren Augen.

»Hm«, sagte Silvio so teilnahmsvoll wie möglich. »Polizei?«
 

Es war schon spät, als Eric und Micha in der Nähe des Coschützer Rathauses auf den kleinen Rest von Fírinne trafen. Offensichtlich hatte das irische Pendant der MIU nur ausgewählte Leute mit nach Deutschland gebracht: Um den Tisch herum saßen außer den vier Ankömmlingen nur zehn weitere Männer und Frauen. Micha konnte nicht jeden von ihnen klar einer der Kategorien ›Mensch‹ und ›Vampir‹ zuteilen; nicht nur, dass auch Fírinne Tarnvorrichtungen wie etwa gefärbte Linsen gebrauchten, nein, sie schienen auch noch eine Art Parfümierung entwickelt zu haben, die den Eigengeruch des Individuums verwischte. Auf diese Weise waren Vampire auch für andere Vampire schwer von Menschen zu unterscheiden.

Allerdings war Micha ganz froh, wenigstens ein von damals bekanntes Gesicht zu entdecken: Raymond ›Rea‹ Garvey, den Sänger von Reamonn, mit dem er sich bei der ersten Zusammenarbeit von MIU und Fírinne im Januar 2005 gut verstanden hatte. So gut sogar, dass Garvey bei einer musikalischen Produktion In Extremos mitgewirkt hatte, und zwar bei dem Stück Liam; er hatte es nicht nur von seiner Mutter in – halbgares, wie Micha viel später erfahren hatte – Gälisch übersetzen lassen, sondern sich auch gesanglich beteiligt und im Nachhinein zusammen mit Micha ein wenig Unterricht genommen in dieser schwierigen Sprache, in der sich sowohl Fírinne als auch Fiacail Fhola bevorzugt verständigten. Das war unproblematisch gewesen, da Garvey zu diesem Zeitpunkt in Berlin gewohnt hatte. Nun wohnte er woanders, Micha hatte vergessen, wo, aber immer noch in Deutschland, und als eine Art Außenstelle von Fírinne musste er bei einem Einsatz wie diesem natürlich seinen Teil beitragen.

Sie begrüßten sich warm; fairerweise stellte Micha auch Eric und Rea einander vor, die sich damals nicht begegnet waren, weil sie getrennte Einsätze betreut hatten. »Er sagt«, raunte Micha Garvey ins Ohr, sobald Eric sich zu jemand anderem umgewandt hatte, »dass in Liam dreißig Fehler sind!«

Der Ire hob etwas verlegen die Achseln und antwortete in seinem noch nicht ganz fehlerfreien Deutsch: »Sorry, a Mhícheáil, aber die Sprachlernsystem in Irland ist furchtbar. Meine Mutter wurde noch von diese Christliche Brüder unterrichtet, die die Kinder mit die Gälischbücher misshandelt haben, kannst du sagen … Und außerdem, s und f klingen durch die Telefon total gleich …«

Als Mary McAleese freundlich um Ruhe bat, wurde ihr sofort alle Aufmerksamkeit zuteil. Die amtierende Präsidentin Irlands erklärte den Anwesenden kurz, was das Anliegen von Fírinne und der MIU war, und verwies auf den erfolgreichen Schlag gegen die Vampirterroristen vor mehr als einem halben Jahrzehnt. Sofort im Anschluss fragte sie Eric nach Lámh Dé, und dieser musste einräumen, dass Paul Frais – falls er es denn war, der auch diesmal die Fäden zog – einen Weg gefunden hatte, sich dem Einfluss des Vexecutors zu erwehren und ihn gefangen zu nehmen. Daraufhin machten die Fírinne-Leute lange Gesichter.

Micha, der während Erics Ausführungen auf die schneeweiße Tischfläche gestarrt hatte, fühlte jäh einen scharfen Schmerz durch seinen Bauch zucken. Begleitet wurde dieser von einem höchst unangenehmen, ziehenden Gefühl, das sich rasch in den letzten Winkel seines Körpers ausbreitete. Scheiße, dachte er und versuchte, sich ein wenig bequemer hinzusetzen, um seinen im Blutdurst rebellierenden Magen zu entlasten. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Mary McAleese zählte auf, was sie bereits über Fiacail Fhola wussten, und Eric steuerte die Erkenntnisse der MIU bei. Keiner der beiden Kooperationspartner wurde dadurch viel schlauer, doch immerhin kristallisierte sich heraus, dass Fiacail Fhola diesmal einen offenbar weit größeren Plan verfolgten als zuletzt: Sie ließen verstümmelte Menschenleichen mit grässlichen Fleischwunden am Hals herumliegen, als wollten sie die Öffentlichkeit vor Vampiren das Fürchten lehren; auch schienen sie mit den vielen Toten, die scheinbar ohne Ursache beim Musikhören starben, etwas zu tun zu haben. Kurz kam die Diskussion auf, was mit solchen Taten bezweckt werden sollte, aber es war schnell klar, dass die Antwort mit so wenigen Hinweisen nicht gefunden werden konnte.

Die ganze Zeit über versuchte Micha, sich gerade zu halten und nicht ganz so schlecht auszusehen, wie er sich fühlte. Glücklicherweise achtete niemand auf ihn. Als die Präsidentin nach einer knappen Stunde der Besprechung eine Pause ankündigte und darum bat, Kaffee und Tee aufzusetzen, wandte Micha sich verstohlen an Rea Garvey.

»Eigentlich würde ich nie danach fragen, weil ich viel zu stolz bin«, sagte er und war froh, dass der Ire ihm aufmerksam zuhörte, »aber ich muss es jetzt leider doch machen. Habt ihr Blut?«

»Oh.« Rea sah ihn mitleidig an. »No, a Mhícheáil, wir haben unsere Vorräte in die belgische Botschaft versteckt. Warum hast du nichts gesagt, als wir losgegangen sind? Tut mir Leid, ehrlich.« Er klopfte Micha auf die Schulter. »Wir werden jetzt bald zu eine Schluss kommen. Hältst du noch ein bisschen durch, mein Freund?«

»Ja, na klar«, gab Micha zurück und tat so, als wäre es nicht so wild. »Aber es hätte ja sein können.«

»Ich hab gedacht, du hättest welches dabei. Sieht jedenfalls so aus«, sagte Garvey und zeigte auf Michas Jackentasche, aus welcher der Hals der Metflasche ragte.

Micha hatte das Gewicht an seiner Seite zuletzt völlig ignoriert. Erst jetzt bemerkte er, dass er mit dem Getränk wahrscheinlich wie ein Alkoholiker aussah. Vielleicht hatte deswegen keiner mit ihm geredet. Er zog das Wikingerblut hervor und sagte: »Das ist nicht das Zeug, das wir sonst trinken. Ich trau dem nicht.«

»Darf ich mal ansehen?«, fragte Rea und nahm auf Michas Schulterzucken hin die Flasche in die Hand, um den leidig wieder hinein gepfropften Korken zu ziehen und den Inhalt zu beschnuppern. »Das riecht aber lecker. Viel besser als die, was wir aus Irland mitgebracht haben. Du willst das nicht trinken? Sure? Ich koste auch gerne für dich.« Er grinste ihn an.

Micha lächelte schwach zurück. »Weißt du was, du kannst es haben. Ich hol mir … was anderes.«

»Ist im Moment nicht clever, auf offene Straße jemanden zu beißen, meine ich. Nicht nach diese offene Hetzkampagne gegen uns Vampire, die Fío angezettelt haben.« Fío war die Abkürzung, die Fírinne für Fiacail Fhola gebrauchten.

»Ich werd aufpassen«, versprach Micha und schluckte den Hungerschmerz tapfer hinunter. »Aber mal was anderes: Kann ich meinen Chef anrufen?«

»Oh, ja, sure«, antwortete Garvey, der noch immer ganz verzückt an dem Wikingerblut roch. »Komm mit ins Büro.«
 

Klaus Buschfeldt bebte vor Zorn.

»Was fällt denen eigentlich ein?«, donnerte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Der furchtbar nervige Signalton hatte schon den ersten Schritt gemacht, um ihn in Rage zu versetzen, und dann auch noch so eine Nachricht: Fírinne hatten sich in die Sache eingemischt und sich nicht einmal mit dem BfV, der innerhalb der Bundesrepublik Deutschland klar zuständig war, in Verbindung gesetzt. Drei seiner Agenten aufzulesen entsprach nicht Buschfeldts Vorstellungen von Kooperation, sondern fast schon Heimlichtuerei. Sicher würde auch Fr. Dr. Kircher sich nicht freuen, wenn er ihr das meldete.

Immerhin, dachte er, war Eric dabei; der würde schon dafür sorgen, dass Fírinne der MIU nicht die Zügel aus der Hand rissen. Allerdings wäre es ihm bedeutend lieber gewesen, die irische Präsidentin und ihr Gefolge aus zahmen Vampiren hätten ihn, Buschfeldt, zuerst einmal angerufen und anschließend zur Besprechung aufgesucht. Die wollten doch etwas, verdammt!

Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch dieser Berliner mit dem primitiven Dialekt herein. »Boss? Wir haben rausjefunden, wo dit Versteck ist. Werden uns dit jetzt vornehmen.«

Das klang wie eine Anordnung, und da Buschfeldt diese nicht abgesegnet hatte, war es eine Frechheit. »Vergiss es, Lange! Wo wart ihr überhaupt den ganzen Tag? Es ist schon mitten in der Nacht! Die Vampire werden aktiv sein! Und überhaupt, verdammt, Fírinne sind in der Stadt und ich brauche meine Vampirjäger einsatzbereit. Heißt im Klartext: Du gehst nirgendwohin, und Flex schon mal gar nicht!« Sebastian sah ganz gekränkt aus, als hätte er nicht erwartet, so zurechtgewiesen zu werden, deshalb fügte der Direktor noch hinzu: »Ich hab euch viel zu lange viel zu viel durchgehen lassen. Damit ist jetzt Schluss!«

»Kann et sein, datse da gerade wat an mir auslassen, wofür ick nüscht kann?«, entgegnete Lange beleidigt.

»Selbst wenn es so wäre, dann wär es nicht dein Bier. Und jetzt hau ab.« Dieses ekelhafte Grau der Wände und das gänzliche Fehlen von Tageslicht machten Buschfeldt schon die ganzen letzten Tage missgestimmt. Außerdem war es Zeit, ins Bett zu gehen.

Van Lange warf seinem Vorgesetzten einen mehr als übellaunigen Blick zu, bevor er wortlos ging und die Tür deutlich zu laut hinter sich zumachte.

»Kommt endlich damit klar, dass ihr mit mir nicht machen könnt, was ihr wollt«, knurrte Buschfeldt ihm hinterher.
 

»Also lässt Chefchen uns nicht gehen«, fasste Falk die Ergebnisse des Gesprächs zusammen, das ihm und den anderen soeben geschildert worden war.

»Streng jenommen stimmt dit nicht«, relativierte Basti sofort. »Er hat jesagt, ›Du jehst nirgendwohin, und Flex schon mal jar nicht‹ … Dit bedeutet in meiner Auffassung, dass die anderen jehen können.«

»Er wird uns nur einen Strick daraus drehen, wenn wir es so auslegen.« Lasterbalk rieb sich müde die Stirn. Auf einen Konflikt mit dem Chef hatte er keine Lust; im Moment gab es genug andere Probleme.

»Aber er hat es tatsächlich nicht explizit verboten«, wandte Asp spitzfindig ein. »Er kann sich also nicht darauf berufen, egal wie er argumentiert.«

»Ich bin dafür, dass wir einfach abhauen, und zwar jetzt gleich«, grollte Ingo Hampf. »Ich hab gute Lust, so viele von diesen Kackbratzen zu pfählen wie möglich!«

»Na fein.« Falk sah in die Runde. »Ich bin dabei. Wer noch?«

»Also schön, ich bin dabei, wenn wir uns unterwegs was zu essen holen«, sagte Lasterbalk einsichtig und fügte hinzu: »Ich weiß ja net, wie’s euch geht, aber mir setzen anderthalb Tage ohne Hyperborea schon irgendwie zu.«

»Da bin ich voll und ganz deiner Meinung«, nickte Falk. »Noch wer?«

»Ich komm mit«, erklärte Asp.

»Und ick muss wohl hier bleiben«, seufzte Sebastian und fügte sich in sein Schicksal.
 

Da Buschfeldt sich brütend in sein Reich zurückgezogen hatte, war es nicht schwierig, ohne sein Wissen die Basis zu verlassen. Amboss brauchten sie nicht, da sie den Weg kannten, und die Anwesenheit des Hundes würde den Direktor erst sehr spät darauf schließen lassen, dass sich jemand auf einem unautorisierten Einsatz befand. Alle Übrigen würden Unwissenheit heucheln; gegen die Obrigkeit hielt man immer zusammen.

Leise durchquerten Falk, Lasterbalk, Asp und Ingo die Klinik, wobei ihre Schritte in der fast geräuschfreien Atmosphäre aus desinfizierter Luft und leisem Maschinensummen hohl widerhallten. Das Nachtschichtpersonal erkannte sie und ließ sie anstandslos passieren. Offensichtlich wusste über die geheimdienstlichen Untermieter jeder bescheid.

Mit dem Dark Knight verließen sie das Parkhaus und schließlich das Klinikgelände. Allzu weit würde der Weg nicht sein.

Falk, der den Astra fuhr, war nervös und musste seine feuchten Hände mehrfach an der Hose abwischen, um das Lenkrad richtig festhalten zu können. Er hatte Angst zu erfahren, was Fiacail Fhola mit Alea gemacht hatten. Die zweite große Frage, die sie alle beschäftigt hatte – nämlich die nach dem Verbleib von Eric, Micha und Fritz – hatte sich nach Michas Anruf ja geklärt; somit blieb Alea als einziges großes Fragezeichen auf dem Papier, das Problem schlechthin, denn ohne ihn und seine Begabung war einer so gewieften und gut strukturierten Übermacht wie Eff Eff im Traum nicht beizukommen.

Lasterbalk, der neben Falk saß, hoffte ebenfalls inständig, dass Alea noch unversehrt war. Die Aussicht darauf war allerdings gering. Je früher wir uns die Deppen krallen, desto besser.

Unterwegs versuchten sie, an einem Spätverkauf an Hyperborea heranzukommen. Falk stieg mit den Worten »Eine Flasche wird ja erst mal reichen« allein aus, während die anderen im Auto warteten. Als er zurückkam, waren die anderen nicht weniger verwundert als er.

»Was is’n das bitte?«, fragte Ingo. »Sollt ihr statt Blut jetzt Met saufen?«

»Wikingerblut kann ich auf dem MPS jedes Wochenende in der Drachenschenke haben«, beschwerte sich Lasterbalk. »Wussten die etwa net, was du von ihnen willst?«

»Doch, doch.« Falk betrachtete die Flasche ratlos. »Die haben gesagt, das wäre der Nachfolger von Hyperborea. Also, sie haben es ganz ausdrücklich so gesagt, es ersetzt wohl Hyperborea, ernsthaft. Wieso, das wussten sie auch nicht. Keine Ahnung, was ich davon halten soll.«

Sie untersuchten den Inhalt der Flasche und befanden, dass er ihrer gewohnten Fertignahrung nicht nur ähnlich sah, sondern darüber hinaus einen ziemlich appetitlichen Eindruck machte.

»Nun habt euch doch nicht so und trinkt das Zeug, damit wir weiter können«, forderte Ingo die Vampire ungeduldig auf. »Zum Rummäkeln ist jetzt keine Zeit, Mann.«

»Du hast Recht«, lenkte Falk ein, entkorkte die Flasche mit den Zähnen und nahm einen tiefen Zug.

Ermutigt folgten die anderen beiden seinem Beispiel. Ein Viertelliter verdünnten Blutes machte zwar keinen von ihnen satt, gab aber erst mal wieder Kraft zum Denken und Arbeiten.

»Los, gib Stoff!«, rief Lasterbalk in Falks Ohr, während er die leere Flasche über die Schulter hinter sich warf, wo Asp sie auffing und zwischen sich und Ingo legte.

»Bin schon dabei.«

Mit quietschenden Reifen setzte sich der Dark Knight wieder in Bewegung, geradewegs Richtung Albertstadt.

Ruhig Blut

Die Baugrube war schnell gefunden. Sie war so auffällig als solche gekennzeichnet, dass es richtig übertrieben wirkte.

»Die wollen wohl um jeden Preis verhindern, dass da jemand reinfällt«, bemerkte Falk, als er sich über den wild blinkenden Schutzzaun beugte. »Allerdings sehe ich da unten nur Finsternis. Sogar ohne Linsen.«

»Werter Herr von Hasenmümmelstein, manchmal sehen die Dinge von innen völlig anders aus als von außen, das solltet Ihr doch wissen«, neckte ihn Lasterbalk und schwang sich einfach über die Absperrung, um direkt vor dem Grubenrand stehen zu bleiben.

Falk war gerade ganz und gar nicht nach Witzen. Mit trockener Kehle folgte er seinem hünenhaften Kollegen, und auch Asp und Ingo traten neben sie.

»Auf in die Schlacht«, knurrte Ingo und sprang mutig voran.

Der Fall dauerte länger als erwartet, und unten kamen sie stolpernd auf der Erde auf und fanden sich in völliger Finsternis wider. Es dauerte einen Moment, bis die Vampire ihre glimmenden Augen an die neuen Lichtverhältnisse angepasst hatten. Dann streckte Falk, ganz selbstverständlich, die Finger aus, fand Ingos Hand und führte ihn.

»Ob es schlau ist, da einfach reinzumarschieren?«, sagte Asp zweifelnd.

»Fällt dir was Besseres ein, Alex? Mir nicht.«

Schweigend gingen sie weiter den erdigen unterirdischen Weg entlang, bestimmt einen halben Kilometer weit; dann war in der Ferne ein flackerndes gelbes Licht zu sehen.

»Eine Grubenlampe«, stellte Lasterbalk fest, »und … oh, verflixt. Ein Scheideweg.« Ratlos blieben sie vor der Verzweigung stehen. »Sollen wir uns aufteilen?«

»Miese Idee. Geht in Horrorfilmen immer schief.«

»Der linke Weg sieht benutzter aus.« Falk kostete die Luft; sie war so kalt, dass sie ihn in die Nase stach. »Und riecht benutzter.«

Mangels besseren Rates wandten sich die Vier nach links. Allmählich schien es wärmer zu werden, und der Geruch nach Menschen, Vampiren und Stroh nahm zu.

»Wir sind richtig«, wisperte Falk. »Ich sag’s euch.«

Und schließlich wurde aus dem Erdtunnel ein Korridor. An den Decken waren Lampen angebracht, doch sie brannten nicht. Kein Laut war zu hören. Die Luft war schwer von Staub. Lasterbalk blieb stehen.

»Wachposten«, zischte er. »Da, geradezu.«

»Meiner«, grollte Falk. Mit diesen Worten sprang er vor.

Die ahnungslose Frau stand inmitten einsamer Dunkelheit vor einer Holztür, die schief und rostig in den Angeln hing. Auf ihr war ein gelbes Warnschild angebracht: Brandschutztür. Falk machte keinen Kompromiss. Ohne jeden Skrupel warf er sein ganzes Gewicht in den Frontalangriff, packte die kreischende Blonde und schlug seine Fangzähne in ihren Hals. Er schmeckte fades Vampirblut, spuckte aus und griff nach dem Kopf der Frau. Einen kräftigen Ruck später erstarb ihr Geschrei in einem Röcheln, und sie erschlaffte mit gebrochenem Genick.

»Das war zu laut!«, zischte Lasterbalk. »Die hat fast ’ne halbe Minute gebrüllt!«

»Das waren nicht mal zehn Sekunden, du Lügner!« Falk ließ die Leiche fallen.

Asp und Ingo hatten sich gar nicht gerührt.

»Falk, ich hab dich noch nie so was eklig Brutales machen sehen, weißt du das?«, murmelte Hampf.

»Die verdienen es net besser«, verteidigte Lasterbalk seinen Bandkollegen sofort. »Ich werde das mit jedem Einzelnen hier machen, der sich an Alea vergriffen hat!«

Die beiden langmähnigen Vampire preschten heftig atmend voran, und es blieb an Asp, Hampf an der Hand zu halten. »Mischen wir uns nicht ein, Ingo. Für die beiden ist es so was wie ein persönlicher Angriff, wenn jemand Aleas Blut trinkt. Das ist so, das … kann man nicht anders erklären. Er gehört ihnen, auch wenn er es nicht weiß. Und Vampire hassen es, ihre Menschen mit Fremden zu teilen.«

»Aber die zwei haben Alea noch nie gebissen!«, wandte Ingo schwach ein. Dieser animalische Wesenszug, der jetzt bei den Saltatio-Mortis-Vampiren zutage trat, schien ihn zu beunruhigen.

»Aber sie würden es gern«, sagte Asp bedeutsam. »Das ist ihre Natur, Ingo. Sie sind seine Freunde, und sie erheben Anspruch auf ihn.« Damit hatte er genau das ausgesprochen, was Ingo gerade ebenfalls durch den Kopf geschossen war.

»Scheiße«, knurrte der blonde Mann.

Falk versetzte der rostigen Tür einen derben Tritt, und sie schwang mit einem Quietschen auf, das wie ein hoher Schrei klang. Licht flutete aus der Öffnung heraus. Aus dem Inneren des Raumes, in dem die beiden vordersten Musiker nun mit großen Schritten verschwanden, drangen sofort aufgeregte Stimmen. Auch Asp und Ingo begannen zu rennen.

Jenseits der Tür hatten Falk und Lasterbalk zügig damit begonnen, die Insassen in Stücke zu reißen. Über den weißgefliesten Boden schwappte Blut wie eine rote Flutwelle. In Panik sprangen zwei Personen beiseite – offensichtlich Menschen – und stürzten auf die nächstbeste Tür zu. Anstatt sie laufen zu lassen, sprang Falk ihnen nach und schlachtete sie mit einem Biss dahin wie ein Jagdhund die fliehende Beute. Blut lief über sein Kinn und verklebte seinen Bart; es störte ihn gar nicht. Mit wildem Blick und gebleckten Zähnen sah er sich nach einem weiteren Opfer um.

Asp packte Ingo an der Schulter. »Etwas stimmt nicht«, sagte er in einem Ton, der den Menschen erschauern ließ. Lauter sprach Asp die beiden Amokläufer an: »Falk, Lasterbalk, hört auf damit!«

»Ich kann nicht!«, stöhnte Lasterbalk und presste sich die Fäuste an die Stirn. »Mein Blut kocht!«

Ingo ergriff die Initiative. »Ihr zwei, kommt wieder runter, oder ich pfähle euch!«, kläffte er. »Ich mein’s ernst!« Drohend umfasste er seinen Pflock.

Falk blickte ihn ganz überrascht an; dann, als er den Ernst in Hampfs Miene erkannte, entspannte er sich ein wenig. »Oh, ja … Ingo, der Pfähler.« Plötzlich sah er furchtbar erschöpft aus und musste tief durchatmen.

Kurzzeitig senkte sich betroffene Stille über den Raum. Kein Gegner war mehr zugegen; nur Leichen lagen auf dem Boden, zwei von ihnen zuckten noch.

»Ich weiß net genau, was das war«, sagte Lasterbalk leise. »Ich war noch nie vorher in so einem … Blutrausch.«

Ingo schluckte und schob den Pflock wieder in die Schlaufe seines Gürtels. »Wie auch immer«, lenkte er vorsichtig ein, »es scheint euch … unbesiegbar zu machen.«

»Tja.« Tief durchatmend wandte Falk sich der rechten von zwei Türen zu, die aus dem weißen Raum abzweigten. Er legte seine Hand auf die Klinke, zögerte jedoch, bevor er sie hinunterdrückte. »Ich glaube«, flüsterte er, »wir haben die Quest abgeschlossen.« Es war beinahe zu hören, wie sich sein und Lasterbalks Herzschlag wieder beschleunigte.

»Nichts da!«, sagte Ingo heiser. »Ich gehe vor. Alea kriegt ’nen Herzkasper, wenn er euch so sieht. Zieht endlich die verfluchten Zähne ein!«

Beide Vampire wirkten bestürzt darüber, diesen Umstand vernachlässigt zu haben, und ließen hastig ihre Fangzähne verschwinden.
 

Fritz mühte sich vergebens, die trockenen Kaugummireste aus seinem Gehörgang zu kratzen. Das war eine beknackte Idee gewesen. Ob Alea immer so beknackte Ideen hatte? Kaugummi in den Ohren war eine Zumutung! Das Zeug klebte wie Fensterkitt!

Als hätte Alea seine Gedanken gelesen, behauptete er: »Ohne das Kaugummi wärst du jetzt tot, glaub mir.«

Fritz gab etwas Unverständliches zurück. Klebrige Fäden hafteten an seinen Fingern, sodass er nichts mehr anfassen konnte, ohne daran hängen zu bleiben. Wenigstens, das musste er zugeben, hatte das eklige Zeug seinen Zweck erfüllt: Von der Musik im Labor der Vampirgang hatte er kaum etwas gehört. Das Stampfen eines Beats, ja, aber keine Melodie; vielleicht die Ahnung eines verzerrten Gesangs. Passiert war gar nichts. Grollend hatten die beiden menschlichen Männer, die ihn aus der Zelle geholt hatten, ihn unverrichteter Dinge wieder dorthin zurückgebracht.

Als Fritz gerade die Idee kam, mit einem der härteren Strohhalme in seinem Ohr herumzustochern, ließ ein dumpfer Lärm im Nebenraum die beiden erstarren. Etwas fiel um, etwas polterte. Schreie ertönten, Schreie, die rasch und abrupt verstummten. Jemand rannte.

Was ist da los?, dachte Fritz voller Angst. Was geht da schief? Kommt uns jemand retten – oder müssen wir jetzt sterben? Ist ein Vampir außer Kontrolle? Seine Nackenhaare stellten sich auf.

Fünf klamme, ungewisse Minuten später wurde die Klinke unerwartet sanft hinuntergedrückt. Dann streckte Ingo Hampf den Kopf herein.

Fritz und Alea seufzten gleichzeitig tief auf. »Ingo!«

Misstrauisch sah der grimmige Mann sich im Gefängnisraum um. »Wo sind die Bestien?«

»Die meisten sind nachts in der Stadt unterwegs«, beeilte Alea sich zu erklären. »Richten wahrscheinlich neue Massaker an. Kommt schnell, ich spüre gerade keinen Vampir in der Nähe!«

Als er das hörte, kam Ingo sofort herein. Er war voll bewaffnet, wie Fritz sah. Ihm folgten Falk, Lasterbalk und dann Asp. Sie alle sahen aus, als wäre ihnen ein Gespenst begegnet.

Fritz zuckte innerlich zusammen, als er sah, dass Falk und Lasterbalk voller Blut waren – und er wusste sofort, dass es nicht ihr eigenes war. Alea sah es auch. Sein muskulöser Körper war starr wie eine Salzsäule.

»Wie kriegen wir die Zellentüren auf?«, knurrte Ingo, die prekäre Situation nicht beachtend. Schon ging er mit großen Schritten an den Gittern entlang und suchte fieberhaft nach einem Werkzeug.

Asp wandte sich gewohnt kontrolliert an Fritz. »Was machst du hier? Wir dachten, du wärst bei Fírinne

»Bei wem?«, fragte Fritz verwirrt, bis ihm wieder einfiel, dass das die irische Gruppierung war, die mit der MIU damals Paul Frais verjagt hatte. »Achso, die … Sind die etwa auch hier?«

Asp musterte ihn prüfend, als versuchte er, sich auf die Geschichte irgendeinen Reim zu machen. »Seltsam«, sagte er schließlich. »Micha hat Buschfeldt mitgeteilt, dass ihr mit Fírinne auf einer Besprechung seid.«

»Micha!«, fuhr Fritz in jähem Zorn auf. »Micha hat mich – !« Erschrocken bremste er sich. Alea, der in der Zelle nebenan stand, starrte noch immer mit weit offenen Augen geradeaus.

»Scheiße!«, schrie Ingo auf. »Hier ist nichts zum Aufmachen, verdammter Mist!« Voller Wut schlug er gegen die Gitterstäbe und schüttelte sofort danach seine Hand.

Endlich brach Lasterbalk den Bann zwischen sich, Falk und Alea und trat an die Gitter, um dort ein wenig in die Hocke zu gehen und seine Hände durchzustrecken. »Hier, hüpf drauf. Wenn ich mich richtig anstrenge, glaube ich, kann ich dich so hoch heben, dass du oben drüber klettern kannst.« Aufmunternd nickte er dem Sänger zu.

Alea setzte sich zögernd in Bewegung. »Wurdest du gebissen?«, fragte er ganz beklommen.

»Ich werd’s überleben«, antwortete der große Mann und rang sich ein Lächeln ab. »Jetzt komm, es ist bestimmt schon Verstärkung im Anmarsch.«

Der Plan ging auf; Lasterbalk war groß genug, Alea über das Gitter zu helfen. Als es daran ging, den Sänger am ausgestreckten Arm oben zu halten, simulierte er ein wenig, wie Fritz sah, und heuchelte Anstrengung, obwohl er nicht einmal schwitzte – jedenfalls nicht deshalb. Ingo und Falk stützten seine Schultern, um ihn zu entlasten.

»Gut!«, stieß er hervor, als er Alea loslassen konnte. »Fritz, jetzt du!«

Das ließ Fritz sich nicht zweimal sagen. Während er sich abmühte, ein Bein nach dem anderen über die wackelnde Oberstrebe zu bringen, begannen die anderen wieder nervöse Blicke zu tauschen. Niemand kam Alea zuvor, der kurz darauf feststellte: »Vampire kommen. Ich, ich kann sie nicht alle auf einmal …«

Schon flog die Tür auf. Mit gebleckten Zähnen stürzten vier Männer herein; es waren dieselben, die Alea entführt hatten. Als sie Alea mitten im Raum stehen sahen, fielen sie ihn sofort an wie eine Schar Heuschrecken.

Falk war schneller. Er umfasste Alea und warf ihn unter sich zu Boden, wobei er sich noch im Fallen so auf den Rücken rollte, dass Alea auf ihm zu liegen kam. Nur Sekundenbruchteile später war Ingo Hampf mit dem Pflock zur Stelle und begann seine Arbeit. Lasterbalk half Fritz auf den Boden und schubste ihn aus der Schusslinie, um sich an dem Kampf zu beteiligen. Sie mussten jetzt kämpfen wie Menschen, und das war ihnen sichtlich ungewohnt, doch ihre Waffen entschieden die Schlacht schnell für sie. Noch ehe alle vier Gegner gefallen waren, brachen drei weitere Vampire durch die gegenüber liegende Tür herein und griffen von rückwärts an. Falk sprang ihnen entgegen, während Ingo einen Angreifer nach dem anderen pfählte, als würde er nie etwas anderes tun, mit dem konzentrierten, jedoch leidenschaftlichen Gesichtsausdruck eines Musikers, der passioniert ein tödliches Instrument spielt.

Alea hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und stand, den Rücken an die kalten Gitter gepresst, in angespannter Abwehrhaltung. Fritz sah, wie er langsam die eine Hand zur Faust ballte und sie auf Kinnhöhe hob, während er die andere mit gespreizten Fingern nach vorne ausstreckte; dann schloss er die Augen und nahm einen tiefen, lautlosen Atemzug. Im selben Moment brach eine Vampirin, die versucht hatte, sich hinter dem Tumult vorbei auf ihn zuzuschleichen, röchelnd auf die Knie und griff sich an die Brust. Ihr Mund öffnete sich zu einem ungehörten Schrei, und spasmisch zuckend kippte sie endlich vornüber, um tot auf dem Bauch liegen zu bleiben. Fritz fühlte Grauen in seine Eingeweide hinauf kriechen. Erstmals war er Zeuge von Aleas unsichtbarer, tödlicher Macht geworden. Es war so schnell gegangen! So einfach! Alea öffnete die Augen, schluckte und wandte sich schaudernd ab von dem, was er getan hatte.

»Jetzt!«, schrie Falk. »Nichts wie raus hier!«

Fritz erkannte die Chance: Gerade war der Strom an neuen Angreifern abgeebbt, alle waren tot. Augenblicklich setzten die MIU-Leute sich in Bewegung. Nur Alea blieb wie angewurzelt stehen. Lasterbalk packte ihn und klemmte ihn sich unter den Arm wie eine Bierzeltbank.

Geduckt stürzten sie zurück in den Gang, der jetzt nicht mehr dunkel, sondern hell erleuchtet war. Fritz konnte kaum folgen, also ergriff Falk ihn am Arm und riss ihn mit sich wie der Haken einer ausgeworfenen Angel. »Nicht trödeln, Fritz!«, drängte er.

Kurz vor Ende des Ganges wurden sie erneut aufgehalten. Fünf Vampire versperrten ihnen den Weg in die Baugrube.

»Hier ist Endstation, MIU-Scheißer!«, bellte ein muskelbepackter Koloss mit Vollbart. »Kommt erst mal an Conall Cernach vorbei!« Mit diesen Worten stieß er einen rauen Schrei aus, dass der Boden erzitterte, und schlug sich mit der Faust auf die breite Brust wie ein Gorilla.

Falk, Lasterbalk und Asp drängten ihre menschlichen Begleiter wie automatisch hinter sich und nahmen eine Art Formation ein, um von jeder Seite vorstoßen zu können. Fritz hatte jetzt richtig Angst, und er spürte, dass es weder Ingo noch Alea anders ging. Alea allerdings riss sich zusammen und begann schon damit, den Türsteher-Vampir für eine tödliche Attacke anzuvisieren.

»A Lámh Dé, ich sehe doch, dass du dir vor Angst in die Hosen pinkelst!«, dröhnte Conall Cernach, als er Alea die Faust ballen sah. »Kannst du dich nicht konzentrieren? Na?« Er scharrte mit dem Fuß im Dreck und setzte zum Sprung an wie ein gewaltiger Tiger. »Haaar

Sofort, als er lossprang, stürzten sich Falk und Lasterbalk synchron auf ihn. Sie schienen nicht anders zu können; voller Ingrimm warfen sie die Zähne aus und rammten sie in die Schultern des mächtigen Mannes.

Fritz sah, wie Alea neben ihm ein fassungsloses Keuchen ausstieß. Dann war Ingo Hampf hinter ihm. »Tut mir Leid, Kleiner!«, schnarrte der blonde Pfähler, ehe er weit mit der Faust ausholte und Alea einen gezielten Schlag auf den Kopf versetzte. Der Sänger sackte zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man losgelassen hatte. Ingo fing ihn auf und zog ihn mit verkniffener Miene weg vom Kampfgeschehen.

Inzwischen hatten Falk und Lasterbalk den Angriff des bulligen Vampirs erfolgreich abgewehrt, doch der Hieb des Feindes hatte Falk eine heftig blutende Wunde an der Stirn beigebracht. Etwas benommen rollte er sich beiseite, während Lasterbalk erneut angriff und Asp vollauf damit beschäftigt war, die anderen vier Gegner mit der Natron-Kanone auf Distanz zu halten. Fritz bereute, dass er keine Waffen bei sich trug; natürlich waren sie ihm im Zuge seiner Gefangenschaft abgenommen worden, nachdem Michas Blutfessel sich gelöst und ihn aus der Verdammnis zur Untätigkeit entlassen hatte.

Conall Cernachs enorme Körpermasse machte ihn unvergleichlich stark, aber auch langsam, und Lasterbalk, groß und schlank, wich jedem seiner Schläge um Haaresbreite aus. Endlich wagte Ingo Hampf es, vorzuspringen und sein Glück mit dem Pfahl zu versuchen. Er trieb das Holzstück mit aller Macht in die eisenharte Brust des Gegners, erreichte aber nur ein Vordringen um wenige Zentimeter. Der Vampir brüllte auf, und sein Prankenhieb schleuderte Hampf einfach beiseite wie ein lästiges Insekt. Aus der Wunde über seinem Herzen begann Blut zu sprudeln.

Jemand packte Fritz; es war Falk, und er hatte es eilig. »Los!«, schrie er und stieß die letzten drei schwächeren Vampire, die ihn halbherzig aufzuhalten versuchten, grob beiseite. Lasterbalk warf sich Alea über die Schulter und Asp stützte Ingo, der ein wenig taumelte, aber stehen konnte. Als sie es bis zum hohen Rand der Baugrube geschafft hatten, verloren die Vampire keine Zeit; da sie die Distanz nicht springend überwinden konnten, zogen sie sich blitzschnell ihre Schuhe aus, nahmen sie in die Hand und begannen, die Erdwand barfuß im rechten Winkel zu erklimmen. Fritz wurde ganz schwindelig, als er so verkehrt in der Luft hing.

Oben angekommen, konnte Falk nicht widerstehen, sich noch einmal über den Zaun zu beugen und aus voller Kehle in die Grube zu brüllen: »Merkt euch das, ihr Hundesauger! Das ist unser Sänger, also wenn den einer austrinkt, dann wir, kapiert?!« Dann kehrte er dem Erdloch grollend den Rücken.
 

Fritz wusste, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Schnurstracks hielten die Vampire auf einen öffentlichen Parkplatz zu. Gott sei Dank, sie waren mit dem Auto da. Zwar waren sie zu sechst, doch Alea würde man bequem quer über die Rückbank legen können.

Schon nach wenigen Schritten fing Lasterbalk, der das Schlusslicht bildete, an zu rennen. »Sie folgen uns! Schneller

In grimmiger Schadenfreude knurrte Falk: »Das werden sie ihrem Chef Frais erst mal erklären müssen. Er wird sie alle aushungern, diese Versager.«

Leider stellte sich schon nach kurzer Zeit heraus, dass Rennen nicht genug war. Schon drang das Geschrei der Verfolger, die nicht auf Menschen Rücksicht nehmen mussten, an ihre Ohren.

»Der Dark Knight steht ganz am Ende des Parkplatzes, links in der Ecke!«, rief Falk. »Wir teilen uns auf und treffen uns gleich da! Jetzt

Und dann rannte plötzlich jeder in eine andere Richtung. Fritz wusste nicht wohin. Es war ein eingespieltes Manöver, das sie alle kannten – außer ihm. Hilflos lief er irgendeinem ungenauen Ziel entgegen, einfach geradeaus, wo im Dunkeln ein weißes P auf blauem Grund zu erahnen war.
 

Falk zog noch im Laufen den Autoschlüssel aus der Tasche und drückte den Schalter. Die Lichter des Opels blinkten auf. Aus vier verschiedenen Richtungen kamen die anderen gelaufen, und jeder riss gleichzeitig eine der Autotüren auf.

»Scheiße!«, stieß Ingo Hampf hervor, als er sah, dass jemand fehlte. »Wo zur verfickten Hölle ist Fritz?«

»Ich hole ihn«, erklärte Asp ruhig. »Fahrt los, wir treffen uns am Tor der Offiziersschule.«

Stöhnend rammte Falk den Zündschlüssel ins Schloss. »Ich glaube, heute ist echt nicht mein Tag.«
 

Stolpernd erreichte Fritz das Ende des Parkplatzes. Wohlgemerkt, es war eines der Enden – und offenbar das falsche. Panisch sah er sich um, als er rennende Schritte in seine Richtung kommen hörte, die von einem hellen Kichern begleitet wurden. Noch ehe er wieder losstürmen konnte, hatte Ríona Rua ihn gepackt und warf sich um seinen Hals wie eine Würgeschlange.

»Fial, Puls meines Lebens, willst du etwa schon gehen?«, säuselte sie, und er hörte das scharfe Klicken ihrer Zähne.

Ein Biss kam allerdings nicht. Unmittelbar auf das Klicken folgte ein Laut der Überraschung, und die Vampirin ließ ihn los. »Wer bist du?!«, fauchte sie jemanden an, der lautlos hinzugetreten war, und machte einen Buckel wie eine rote Katze. »Das ist mein Abendbrot, nur meins, meins, meins

»Eigentlich nicht«, antwortete Asp, der vor ihr stand, als nähme er ihre drohende Haltung nicht zur Kenntnis. »Ich nehme ihn mit, wenn du nichts dagegen hast.«

Ríona hatte allerdings etwas dagegen. Sie plusterte sich auf wie ein Fregattvogel und griff an. Sie hatte den ganzen Zorn einer hungrigen, wütenden Frau auf ihrer Seite, aber Asp war ein stattlicher Mann mit etwa doppelt so viel Körpersubstanz; er ließ sie einfach gegen sich laufen, wo sie so erfolgreich kämpfte wie eine Welle mit einem Felsen. Dann packte er sie am Kragen und hielt sie eine Armlänge weit von sich, sodass sie fauchend in der Luft zappelte.

»Hm«, sagte er nachdenklich. »Was mache ich jetzt mit dir?«

Ríona überschüttete ihn mit einem Schwall gälischer Flüche, der kein Ende finden wollte. Als sie auch nach Minuten noch furios um sich trat, sagte Fritz leise: »Alex, lass sie gehen. Sie hat mir nichts getan.«

»Noch nicht«, antwortete Asp und zögerte. Dann jedoch entschied er sich, die Vampirin auf den Boden zu setzen. »Deine Entscheidung, Fritz.« Er ließ sie los.

Zischend nahm Ríona die Beine in die Hand und schoss davon wie ein roter Blitz. Fritz hatte das ungute Gefühl, dass er sie nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
 

Die Gefahr war gebannt; die Verfolger hatten endlich aufgegeben. Nur noch Dunkelheit umfing die beiden Männer auf dem Parkplatz.

»Wir treffen die anderen an der Albertstadt-Kaserne«, erklärte Asp. »Komm jetzt mit und lauf schön ruhig. Wir wollen niemandes Aufmerksamkeit erregen, hm?«

Fritz bemühte sich, die Anweisung zu befolgen. Er schob die Hände in die Taschen und versuchte trotz seines jagenden Pulses, so entspannt zu gehen wie Micha immer; dann fiel ihm wieder ein, was Micha ihm angetan hatte, und er sagte unbehaglich: »Alex … Ich-ich stand unter Blutfessel. Das war … schrecklich.«

Asp musste nicht nachfragen, um zu wissen, dass Fritz nicht von einem Fiacail-Fhola-Vampir sprach. »Micha«, seufzte er. »Hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»Ich … ich war ja auch selber Schuld daran«, sagte Fritz kleinlaut. »Ich bin ihm nur im Weg gewesen …«

»Es ist trotzdem nicht zu entschuldigen. Erstens bist du noch neu und zweitens sein Teampartner. Er kann dich nicht irgendwo stehen lassen wie ein Auto, das er gerade nicht braucht.«

Fritz schluckte. »Woher weißt du, dass es so war?«

»Ach … Ich hab das Talent, mir gewisse Dinge zusammen zu reimen«, erklärte der schwarz gekleidete Mann mit einem überlegenen Lächeln.

»Alex …«, begann Fritz leise. »… Ich will nicht mehr mit Micha arbeiten. Ich kann ihm sowieso nichts recht machen. Kann ich wechseln?«

Asp schien überrascht über die Frage. Er schürzte die Lippen und sagte umständlich: »Rein theoretisch ja … aber praktisch wird Micha dich nicht gehen lassen.«

»Was soll das bedeuten? Will er – will er mich etwa wirklich weiter beherrschen? Mit Blut?« Fritz konnte es nicht fassen.

»Nein, nein, missversteh mich nicht«, korrigierte Asp ihn sofort. »Vampire denken ein bisschen anders. Wenn sie einen Menschen kennen, beanspruchen sie ihn. Das ist ganz normal und in der Regel fällt das nicht mal auf. Ich kenne Micha, deshalb kann ich mich Leuten, die sozusagen ihm gehören, problemlos nähern. Wenn ich aber einem Mitglied von In Extremo absichtlich was tun würde, es beißen oder Ähnliches, dann würde er mich … töten. Wahrscheinlich. Dafür ist keine Freundschaft tief genug. Menschen teilt man nicht, das kann man nicht, wenn man ein Vampir ist.«

»Oh, mein Gott.«

»Bei den anderen ist es dasselbe. Ich habe heute gesehen, wie Falk und Lasterbalk ein Dutzend Vampire hingeschlachtet haben, um zu Alea zu gelangen. Genauso werden Silvio und Simon ständig über Eric und Ingo wachen. Menschliche Bandmitglieder werden gemeinsam beschützt. Genau wie Freunde und Familie.«

Fritz glaubte, die Hintergründe langsam zu verstehen. »Wenn also jemand deine Band angreift …«

»Ich kann nur jedem davon abraten«, sagte Asp direkt.

»Ich verstehe. Ich muss … also bei Micha bleiben, weil er mich … behalten will.« Der Gedanke war mehr als unangenehm. Und ein noch unangenehmerer folgte. Fritz riss die Augen auf. »Oh Gott, Alex, wird Micha meiner Frau was tun?!«

»Was? Nein! Natürlich nicht! Deine Frau ist was völlig anderes! Und außerdem ist sie kein Vampir. Versteh doch, Micha wird nicht bewusst handeln. Es wird ihn nur … verstimmen, wenn du jetzt jemand anderem zugeteilt wirst, und er würde gegen denjenigen vielleicht aggressiv werden, ohne zu wissen warum.«

Fritz schnaubte. »Das ist doch alles Mist!«, rief er verärgert und trat nach einem Stein am Straßenrand. »Ich hasse Vampire!« Dann fügte er leiser hinzu: »’Tschuldigung.« In der Ferne wurden Verkehrsgeräusche lauter.

»Ich hasse Vampire auch«, erwiderte Asp unbekümmert. »Komm, lassen wir die anderen nicht ewig warten.«

Fremde Sphären

Als die fünf Männer die Universitätsklinik betraten, war die Frühschicht schon am Werken. Das Krankenhaus nahm seinen täglichen Betrieb auf, obwohl es draußen noch ganz dunkel war. Fritz vermutete, dass auch die Tatsache, dass es Sonntag war, keinen Einfluss darauf hatte.

Zwei Schwestern in weißen Kitteln kamen mit besorgten Mienen herbeigeeilt, als sie auf das viele Blut und vor allem auf Alea aufmerksam geworden waren, den Falk und Lasterbalk nun gemeinsam trugen, damit es nicht allzu seltsam aussah.

»Schon gut, wir haben alles im Griff«, wehrte Falk die unerwünschte Hilfe ab. »Er ist nicht verletzt, er hat nur … äh …« Er schien zu überlegen, ob er die Wahrheit sagen sollte; gleich darauf tat er es: »… was auf den Kopf bekommen.«

»Dann hat er ein Schädel-Hirn-Trauma!«, sagte die ältere der beiden Frauen streng und zeigte auf eine fahrbare Liege an der Wand. »Legen Sie ihn drauf. Und Sie setzen sich bitte hin.« Damit drehte sie sich burschikos um, und die andere Schwester folgte ihr unschlüssig.

Falk wirkte irritiert; er schien seine Kopfplatzwunde ganz vergessen zu haben.

»Mach, was sie sagt, Falk«, drängte Ingo. »Ich gehe Bock holen, bevor irgendein anderer Arzt ankommt.«

Also rollten sie die Liege zu den Warteplätzen der Notaufnahme heran und legten Alea rücklings darauf. Lasterbalk beugte sich über ihn und tätschelte sacht seine Wange. »Hallo, Rest der Welt an Alea! Willst du net mal wieder mit uns reden?« Auch ein etwas energischeres Tätscheln, das Ohrfeigen nicht unähnlich war, fruchtete nicht.

Kurz darauf kam aus der einen Richtung die jüngere der beiden Schwestern, aus der anderen Bock. Er nickte der Schwester freundlich zu; sie machte eine vage Geste zu Falk, der gehorsam auf einem der Stühle saß, und sah den Arzt fragend an, als wartete sie auf sein Einverständnis.

»Machen Sie nur, Schwester«, gestattete Bock ihr großzügig. »Ich bin sicher, es ist nur ein Kratzer.«

Während die Schwester mit ein paar kleinen Hilfsmitteln und Reinigungslösung Falks Wunde behandelte, beugte Bock sich über Alea. »Eieiei«, sagte er. »Ich sehe, angezapft wurde er nicht. Aber was ist passiert?«

»Ingo hat ihn umgeknüppelt«, erklärte Lasterbalk.

Die Schwester sah bei dieser Bemerkung von ihrer Arbeit auf, doch als niemand ihren fragenden Blick beachtete, fuhr sie schweigend fort.

Mit den Fingerspitzen betastete Bock Aleas Schläfen und Hinterkopf und suchte mit größter Vorsicht nach Frakturen; dann schaltete er ein kleines Lämpchen ein, zog mit dem Daumen Aleas linkes und dann sein rechtes Augenlid hoch und leuchtete jeweils in die Pupille. »Hm, der Lichtreflex ist jedenfalls normal.« Er fuhr fort, auch andere Reflexe zu prüfen, und diesen Tests folgte noch eine kleinere, allgemeinere Untersuchung. »Ich kann wirklich nichts finden«, schloss der Arzt, als er fertig war. »Alle Reflexe da, Puls gut, Blutdruck und Atmung normal, keine erkennbaren Verletzungen. Unserem Prinzesschen geht es prima. Eigentlich sollte er in höchstens einer Stunde wieder zu sich kommen. Kann sein, dass er dann Kopfschmerzen hat.«

»Wie sieht’s mit ’nem Filmriss aus?«, fragte Falk hoffnungsvoll. »Er hat, wie soll ich sagen, was gesehen, das er nicht hätte sehen sollen.«

Bock überlegte. »Dass sein Gedächtnis kurzzeitig aussetzt, ist recht wahrscheinlich«, sagte er dann, »aber eine rückwärts wirkende Amnesie sollte uns Sorgen machen. Warten wir’s mal ab.«

Inzwischen hatte die Schwester ihre Arbeit an Falk beendet und bat ihn im Flüsterton, am Abend des Folgetages die Wunde noch einmal vorzuzeigen. Falk versprach das, obwohl vermutlich schon im Laufe des Vormittags von der Verletzung kaum noch etwas sichtbar sein würde.

Als die Schwester gegangen war, murmelte Ingo: »Ich gebe zu, ich habe ihn fest geschlagen. Aber nicht zu fest.«

»Das wissen wir, wir können uns gerade noch zurückhalten, dich zu fressen«, scherzte Lasterbalk. Fritz schloss daraus, dass das Gemeinschaftsgefühl zwischen den Dreien sehr stark sein musste, denn sicherlich hätte nicht jeder Alea einfach so vor den Augen seiner Bandvampire niederschlagen dürfen, wenn man Asps Ausführungen glauben konnte.

Wenig später kehrte die andere Schwester zurück – Fritz fiel auf, dass sie stark nach einem blumigen Parfum roch – und brachte einen Arzt mit. Bock nutzte die Gelegenheit und bat darum, bei Alea ein EEG machen zu dürfen. Der Arzt erlaubte es ihm.

»Ihr geht schon mal runter und legt euch aufs Ohr«, wies Bock die anderen an, »denn ihr werdet morgen stark sein müssen. Buschfeldt hat sehr schlechte Laune. Vielleicht bessert sie sich, wenn er hört, dass wir Alea wiederhaben … aber in dem Zustand … Vielleicht auch nicht.«
 

Im Kellerloch unter der DINZ-Baustelle schliefen fast alle MIU-Mitarbeiter. Nur Simon Schmitt war wach und hieß die Zurückgekehrten aufgeregt willkommen. »Die anderen haben mir gesagt, dass ihr einfach abgehauen seid! Buschfeldt hat das nicht mal mitgekriegt! Habt ihr Alea?«

»Jap, Schmittchen, die Mission war erfolgreich.«

»Puh. Dann kann ich ja jetzt pennen gehen. Ich wusste, ich kann nicht schlafen, solange ihr weg seid.«

Statt wie Simon gleich ins Bett zu gehen, zog es das Rettungsteam vor, zuerst noch eine Dusche zu nehmen. Während Fritz darauf wartete, dass er an der Reihe war, kam Bock wieder in den Keller.

»Aleas EEG ist unauffällig«, sagte er. »Die Bewusstlosigkeit ist nicht tief. Trotzdem haben sie darauf bestanden, ihn einzuquartieren. Wahrscheinlich begafft ihn gerade eine Schar kichernder Schwestern, aber das kann ich nicht ändern. Morgen früh wird er wieder munter rumhopsen, da bin ich sicher.«

Als Fritz vom Duschen zurückkam – das ohne Übertreibung mehr als ein Segen gewesen war, denn das heiße Wasser schien alle schlimmen Erinnerungen der vergangenen Nacht abgewaschen zu haben –, war nur Asp noch auf. Er saß allein im Halbdunkel an dem wackeligen Tisch, den man der MIU überlassen hatte.

»Fritz, ich würde dir gern was zeigen«, sagte er leise, um niemanden zu wecken. »Also, wenn du mich lässt.«

Fritz rieb sich müde die Schläfen. Eigentlich hatte er an diesem Morgen nicht mehr viel vor. »Von mir aus«, murmelte er, »wenn es nicht ewig dauert. Muss ich dafür irgendwas machen?«

Asp sah ihn ganz offen an. »Ja, und es wird dir nicht gefallen. Du musst mein Blut trinken.«

Schlagartig wurde Fritz wach, und es war, als hätte die Dusche rein gar nichts bewirkt. Vor Angst begann sein Herz sofort wieder hektisch zu pochen. »Spinnst du? Willst du mich jetzt auch unter Blutfessel setzen? Vergiss es! Das hatte ich schon!« Kaum zu fassen, dass ausgerechnet Asp ihm das vorschlug, wo er doch gedacht hatte, der würde ihn verstehen!

»Was Micha gemacht hat, war hinterfotzig«, sagte Asp unerwartet direkt. »Aber mit Vampirblut kann man viel mehr machen, als nur einem Menschen den Willen aufzwingen. Micha hat es vermieden, dich anzufassen, richtig? Das hat einen Grund.« Noch immer sah er Fritz unverwandt an. »Ich werde dich bestimmt nicht drängen, dich darauf einzulassen. Ich biete es dir nur an.«

»Und wer garantiert mir, dass du mich nicht auch für irgendwelche Zwecke fernsteuern willst?«, grummelte Fritz. Ihm gefiel die Sache nicht.

»Tja, niemand. Ich kann dir nur mein Wort geben. Du müsstest mir einfach vertrauen.«

Diese Antwort war nicht, was Fritz hatte hören wollen. »Und wenn ich das nicht will?«

»Dann lassen wir’s und gehen ins Bett.« Asp hob die Schultern.

Fritz haderte mit sich. Ein Teil von ihm wollte Alexander Spreng nur zu gerne vertrauen, aber andererseits hatte er auch Micha vertraut und war schwer enttäuscht worden. Eine Weile lang kaute er unschlüssig auf seiner Unterlippe; dann schließlich rang er sich zu einer Entscheidung durch. »Gut«, sagte er widerwillig, »ich mache es. Aber wenn du irgendwas mit mir machst, dann vertraue ich nie wieder einem von euch Bluttrinkern!«

Asp lächelte breit. »Das ist dein gutes Recht.«

»Aber das mit dem Befehle Geben …«

»Ich werde dir nichts befehlen«, versprach Asp.

»Du musst mir befehlen, mich nicht zu übergeben. Ich hasse Blut … du weißt schon.«

»Sieh an! Ich staune, wie mutig du bist. Keine Angst, du wirst etwas sehen, das nur ganz wenige sehen.«

»Dafür sollte es sich lohnen, dir zu vertrauen.«

»Ich muss vor allem dir vertrauen, Fritz, und gleich weißt du auch, warum.« Asp zückte ein kleines spitzes Messer. Fritz fiel auf, dass er noch nie bei ihm gesehen hatte, wie er die Zähne auswarf. Tat er das überhaupt jemals? Jetzt jedenfalls bemühte er das Messer, um sich die äußere Handkante leicht zu ritzen. Fritz überwand sich dazu, den Blutstropfen mit dem Finger aufzunehmen und seinen Lippen zu nähern. Eigentlich sträubte sich alles in ihm dagegen, je wieder Vampirblut aufzulecken. Doch nach kurzem Zögern tat er es mit aller Überwindung.

»Übergib dich nicht«, sagte Asp, als Fritz sich mit einem Würgen auf die Tischplatte sinken ließ. Der Brechreiz verschwand, doch das widerliche Gefühl der Willenlosigkeit war das gleiche wie beim ersten Mal.

Asp stand auf, ging zum Lichtschalter und löschte das schummrige Licht im Raum, sodass seine Silhouette nur noch aus dem Nebenzimmer beschienen wurde. Dann hielt er Fritz die Hand hin. Ohne einen Befehl zu geben. Fritz griff zu.

Und erschrak, als jäh alles in Licht aufging.

Sobald sie sich berührten, zuckte ein grünes Gleißen durch Fritz’ Blickfeld, und sofort ließ er die Hand des Vampirs wieder los. »Wa-was war das?«

»Nachtsichtigkeit«, erklärte Asp und hielt ihm wiederum die Hand hin.

Fritz packte erneut zu. Sofort tauchte die Welt wieder in Farbe ab. Alles stellte sich in einem seltsamen Grünton dar, doch er konnte jede Kontur erkennen. Es war wie der Blick durch ein Nachtsichtgerät. Indes er diese Sinneswahrnehmung noch staunend bewunderte, spürte er zunehmend etwas anderes, das seinen Geist zu infiltrieren schien, wenn auch nicht gewaltsam; es waren Gedanken, die nicht ihm gehörten, fremde Gedanken, und sie machten ihm ein wenig Angst.

Asp entging das nicht. »Wir nennen es Teilen«, erklärte er. »Du kannst meine Empfindungen wahrnehmen, solange du mein Blut im Körper hast. Allerdings nur, wenn wir uns berühren. Micha wird das ganz bewusst verhindert haben.«

Er hatte Recht; Micha hatte sich, sobald er Fritz sein Blut aufgezwungen hatte, sofort von ihm losgemacht. »Oh, ja … Aber d-… das ist ganz schön unheimlich.«

»Du solltest vermeiden, dass unsere Gedanken sich zu sehr vermischen. Ich denke, du bist mental stark genug, um zwischen deinen und meinen zu unterscheiden.«

Fritz fühlte sich durchaus in der Lage dazu; er fühlte sich nicht bedrängt von der Präsenz des anderen, auch wenn es sich zugegebenermaßen ein kleines Bisschen zu intim für ihre doch eher kurze Bekannftschaft anfühlte. Er verdrängte diesen leichten Anflug von Scham und versuchte nicht, sich zu verstecken. Sie waren in diesem Moment beide dem anderen exponiert, und sicher waren ihre basalen Empfindungen einander gar nicht so unähnlich. Nach kurzer Zeit erwachte Fritz’ Neugier erneut, und diesmal gab sie ihm einen seltsamen Impuls.

»Lass noch nicht los. Ich will was ausprobieren.«

»Mach nur. Wir haben Zeit.«

Okay, tun wir’s. Zaghaft lenkte Fritz seine Gedanken in eine Richtung, die ihm für gewöhnlich gar nicht gefiel: Er dachte an Blut.

Kurz spürte er Asps Geist erschauern – nicht jedoch seinen eigenen, und das bestätigte seine Vermutung. Asp pflegte Abstinenz von purem Blut, aber dennoch begehrte er es, und Fritz verspürte augenblicklich nur ein dumpfes Echo jenes alles verschlingenden Gemisches aus Angst und Ekel, das Blut normalerweise in ihm auslöste. Innerhalb von Sekunden fanden ihre Gedanken wieder zueinander und einigten sich überraschend schnell darauf, dass Blut … angenehm war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Teils überrascht, teils fasziniert setzte Fritz seine Theorie einem weiteren Test aus, indem er Asps Hand losließ.

Blut ist widerlich!, dachte er sofort, heftig schaudernd, dieses klebrige rote Zeug, das … Dann griff er wieder nach den Fingern des Vampirs. … so voller Leben und Energie ist und … Er ließ los. … das grässliche Flecken macht und aus lauter schleimigen Zellen besteht und … Er fasste wieder zu. … das beim Trinken von innen wärmt und so gut nach Butter und sauberem Metall schmeckt …

Fritz spürte ein Kribbeln in den Wangen und merkte, wie sein Mund wässrig wurde. Er wusste jetzt nicht mehr, ob er selbst derjenige war, der das verursachte, oder Asp.

»Das ist verstörend, oder?«, fragte der Vampir ihn ohne Umschweife.

»Etwas«, gab Fritz zu.

»Jetzt kannst du dir vorstellen, wie es in uns aussieht.«

»Ich denke schon.« Fritz zögerte. »Würde ich denn Blut jetzt auch … vertragen?« Es erstaunte ihn immer noch, dass dieser Gedanke ihn nicht zum Würgen brachte, sondern seinen Speichelfluss nur noch verstärkte.

Es war Asp, der hörbar schluckte. »Also … Es lassen sich leider keine anderen Fähigkeiten durch Teilen übertragen. Du kannst durch meine Augen sehen und auf meine Sinne zugreifen, was ein Vorteil ist … aber du kannst keine Wände hochlaufen oder Ähnliches. Und nein, du kannst kein Blut trinken …«

»Verstehe.« Die enge Verwobenheit ihrer Empfindungen wurde Fritz unangenehm, daher ließ er Asp los und rückte von ihm ab. »Okay, das … war sehr interessant. Und lehrreich.«

Asp war unverändert entspannt; der Vorgang schien ihn kaum zu beeindrucken. »Ich hoffe, das hat dir ein wenig die Angst genommen. Teilen kann nützlich sein, aber man sollte sich nie darauf einlassen, wenn man dem anderen nicht hundertprozentig vertraut. Das gilt für beide Beteiligten.«

»Das kann ich hundertprozentig nachvollziehen.« Fritz gähnte verhalten. Nach diesem mehr als merkwürdigen Erlebnis war er unsäglich müde. »Gute Nacht.«

»Bis morgen.«

Sie bogen in verschiedene Richtungen ab.

Auf dem Weg in sein Zimmer wäre Fritz beinahe Amboss, der zusammengerollt auf einer Decke im Flur lag, auf den Schwanz getreten. Insgeheim hoffte er, dass Micha und Eric noch möglichst lange bei den irischen Vampirjägern bleiben würden. Er wusste absolut nicht, was er machen sollte, wenn er Micha wieder begegnete.
 

Michael hatte nicht nur schrecklichen Hunger, er war auch völlig übermüdet. Rauchen half gegen beides nicht, und er warf die Kippe ärgerlich weg, während sie durch den Regen eilten. Fast die ganze Nacht lang hatten diese irischen Amateure betend und händeringend daran gesessen, eine Erklärung für Fiacail Fholas Aktionen zu finden. Eric hatte sich zunächst lebhaft beteiligt, doch Micha hatte bemerkt, wie auch der andere Sänger zunehmend des Diskutierens müde wurde; daran konnte der viele schwarze Tee auch nichts ändern.

Jetzt befanden sie sich auf dem Weg zum Universitätsklinikum, nachdem man sie an der Albertbrücke südlich der Elbe wieder abgesetzt hatte, und hielten, lethargisch einen Schritt nach dem anderen machend, auf die nördliche Johannstadt zu. Sie hatten keine Lust zu streiten, und erstmals gab es auch keinen Anlass dazu.

Micha hoffte, dass sie im HQ etwas anderes zu trinken hatten als dieses suspekte Wikingerblut. Er war noch nie zuvor so hungrig gewesen, aber er war viel zu stolz, Eric das mitzuteilen. Letzterer hatte immerhin aus den Keksen, die Niklas Löhse am Tisch herumgereicht hatte, genug Energie gewinnen können, um diese qualvolle Besprechung zu überstehen. Manchmal war es wirklich gemein, ein Vampir zu sein.

Außerdem, und das ließ sich nicht beiseite schieben, machte Micha sich große Sorgen um Fritz. Er hatte verdammt noch mal verpeilt, jemanden damit zu beauftragen, diesen Anfänger aufzulesen. Allerdings – damit beruhigte Micha sein schlechtes Gewissen – hatte Fritz nur einen kleinen Tropfen Blut geschluckt, und die Wirkung konnte nicht länger als eine halbe Stunde angehalten haben. Wahrscheinlich war er einfach, sobald die Blutfessel abgefallen war, mit der nächsten Straßenbahn zurückgefahren. Fritz war ein Idiot, aber nicht weltfremd. Er konnte sich in einer fremden Stadt orientieren. Ganz bestimmt. Buschfeldt würde kotzen, aber das war Micha egal; Hauptsache, Fritz war unversehrt bei den anderen, wenn sie gleich in der Klinik ankamen.

Erst viel später wusste er, dass sie gar nicht dort ankommen würden.

Michas Sinne waren so eingetrübt, dass er die Attacke nicht kommen sah; eben noch wanderten sie in der Stille am Käthe-Kollwitz-Ufer entlang, da fiel wie aus dem Nichts ein junger Mann sie an. Das heißt, er fiel zuerst Eric an, und zwar so überraschend, dass diesem keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Völlig perplex sah Micha seinen Kollegen bewusstlos umfallen, obwohl der Fremde ihn nur kurz gepackt, aber nicht einmal geschlagen hatte.

»Jetzt bist du dran!«, verkündete der Angreifer, wobei seine Stimme näselnd klang, als wäre er stark verschnupft. Micha sah jetzt, dass er ein Taschentuch umklammert hielt.

Was zur Hölle? Und woher wussten Eff Eff, dass wir hier sind?

Micha konnte sich von so einem Clown nicht niederstrecken lassen, also zwang er seinen protestierenden Körper in Abwehrposition. Sobald der Fremde auf ihn zusprang, verpasste Micha ihm einen Hieb gegen die Schläfe, und der Mann fiel lang ins Gras. Dort blieb er liegen.

»Schöne Scheiße«, knurrte Micha und trat zu Eric. Dieser sah nicht aus, als würde er in naher Zukunft wieder erwachen. Umständlich schob Micha seine Arme unter Erics Schultern und versuchte, ihn hochzuziehen. »Verdammt, Hecht!«, presste er hervor. »Warum musstest du dir so viel Winterspeck anfuttern!« Es würde ewig dauern, Eric zum HQ zu schleifen, aber er hatte keine Wahl. Wenn er den anderen hier liegen ließ, würde man ihn garantiert einen Kopf kürzer machen. Falls ihn dieser Sugar Ray nicht vorher in Stücke riss. Oder Ingo Hampf ihn pfählte.

Als Micha seine Bemühungen fortsetzte, sah er aus den Augenwinkeln, wie der scheinbar außer Gefecht gesetzte Fremde die Augen aufschlug und dann mit einer fließenden Bewegung auf die Füße sprang.

Vampir!, dachte Micha alarmiert. Ich bin schon so am Arsch, dass ich nichts mehr raffe!

Er ließ Eric fallen und ging zum Gegenangriff über. Hämisch grinsend schwang sein Gegner das Taschentuch, und an dem süßlichen Geruch, der die Luft erfüllte, erkannte Micha, dass es sich bei der Flüssigkeit, mit der es benetzt war, nicht um Vampirrotz handelte.

»Riech mal, Menschlein, riecht das nicht wie Chloroform?«, lachte der Spacken und sprang schon wieder mit vorgestrecktem Taschentuch auf Micha los.

Menschlein, ja?, dachte Micha und wusste plötzlich, was los war: Dieser Vampir erkannte ihn nicht als Artgenossen, weil er ihn durch den Schnupfen nicht wittern konnte. Jetzt pass mal auf, du Fotzenlecker, und ich zeig dir, wer hier ein Mensch ist! Sein Gegenangriff lief jedoch ins Leere. Micha bemerkte entsetzt, wie benommen er bereits war. Der Schurke nutzte jede Möglichkeit, ihm mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumzuwedeln. Allmählich lief es darauf hinaus, dass Micha vollauf beschäftigt war, sich der Wirkung des Chloroforms zu entziehen. Seine Bewegungen wurden zusehends langsamer, während er immer wieder versuchte, sich von dem Übelkeit erregenden Geruch abzuwenden.

In der Ferne waren jetzt Schritte zu hören. Jemand rief: »Warum dauert das so lange, Ned? Du sollst die beiden nur ausschalten, nicht sezieren! Jetzt mach endlich, wir wollen los!«

Scheiße, da waren mehrere! Micha spürte eine kurze, aber starke Welle von Verzweiflung durch seine Mitte fluten. Plötzlich hatte er nur noch vor, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Als er schon wieder mit dem Taschentuch traktiert wurde, hielt ihn nur eine spontane Eingebung davon ab, die Zähne auszuwerfen. Sie wissen nicht, dass ich ein Vampir bin. Sollte er sie auf diesen Irrtum hinweisen? Er konnte nicht entkommen. Nicht jetzt. Vielleicht war es wirklich schlauer, eine Gelegenheit abzuwarten, wenn sie ihre scheinbar harmlosen Gefangenen unbewacht ließen. Falls sie das vorhatten. Falls sie sie nicht sofort beide töteten. Chloroform war nicht nur narkotisierend, sondern auch giftig.

Die Entscheidung wurde Micha mehr oder weniger abgenommen, als jäh sein Richtungssinn sich verabschiedete und er vornüber auf die Knie sackte. Schon war der Angreifer wieder bei ihm, packte ihn am Kopf und drückte ihm das Taschentuch fest auf Mund und Nase. »Jetzt fall endlich um, du alter Köter!«, keifte er. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

Micha nahm alle Kraft zusammen und unterdrückte den Impuls, ein letztes Mal gegen den Zwang aufzubegehren. Es war unglaublich schwer. Alles in ihm schrie dagegen an, sich einfach betäuben zu lassen. Aber er durfte nicht länger die Luft anhalten. Wenn er das tat, würde er in Freeze fallen und sich verraten – und außerdem erst durch einen starken Reiz überhaupt wieder erwachen. Es gab einfach keine Argumente gegen die Kapitulation, so vehement sein Geist auch danach suchte, er musste aufgeben, die Waffen strecken, um später mit etwas Glück wieder die Oberhand zu gewinnen.

Erst ewig später, so kam es Micha vor, schaffte er es, seinen rasenden Widerstand unter Kontrolle zu bringen. Alles oder nichts. Es gab keinen anderen Weg. Zitternd inhalierte er die benebelnden Dämpfe.

»Na endlich, Mann«, hörte er den verschnupften Vampir murren, als seine Muskeln erschlafften und die nächtliche Dunkelheit endlich von einer weit größeren Finsternis aufgesaugt wurde.
 

Ein strahlender Morgen brach über Dresden an.

Im Krankenhauskeller, den kein Sonnenstrahl erreichte, verschliefen die MIU-Vampire den Vormittag, während Klaus-Peter Schievenhöfel früh aufstand und Amboss seinen morgendlichen Spaziergang verschaffte. Er dachte auch daran, für seinen Vorgesetzten, der niemals länger als bis acht Uhr schlief, Kaffee aufzusetzen, bevor er ging. Wenn der gemütliche dicke Mann bei der MIU etwas gelernt hatte, dann, wie man Buschfeldt zufrieden stellte.

Der nächste, der aufstand, war Dr. Saltz, vor allem deshalb, weil er sich von Aleas erwartetem Erwachen überzeugen wollte. Seine Beunruhigung war groß, als er den Sänger von Saltatio Mortis unverändert ohne Besinnung in seinem Bett auf der Station vorfand. Verständnislos ließ Bock sich die Erlaubnis für ein Langzeit-EEG erteilen – seine Autorität als Geheimdienstler wurde auch diesmal nicht hinterfragt – und begann immer noch kopfschüttelnd und grübelnd damit, Aleas Stirn und Schläfen mit Messelektroden zu bekleben.

Als er von dort zurückkehrte, saßen Yellow Pfeiffer, Sugar Ray, Simon und Fritz bereits in dem, was man nicht als Aufenthaltsraum bezeichnen konnte, und tranken Kaffee. Fritz erzählte gerade, welcher Art von Tests er und Alea im Versteck von Fiacail Fhola unterzogen worden waren, und Bock setzte sich interessiert dazu.

»Wir hatten Kaugummi in den Ohren«, murmelte Fritz und errötete, als wäre ihm das peinlich. »Aber so konnten wir die Musik nicht hören.«

»Interessant«, kommentierte Pfeiffer. »Hast du gar nichts gehört, oder weißt du ungefähr, was für Musik das war?«

Fritz schüttelte den Kopf. Er sah noch immer ganz schön platt aus, fand der Arzt. »Ich kenne mich mit dieser Art von Musik nicht genug aus. Ich höre zu Hause nur Klassik und Jazz.« Um ihn herum wurden vielsagende Blicke getauscht.

»Tja, die einzige Musik, die Elsi und ich auf wirklich allen Datenträgern gefunden haben, ist das Debütalbum dieser Wuppertaler Studentenband – Snowine. Das Album heißt The Sable Dream. Wir haben es ein paar Mal durchgehört. Es ist qualitativ wirklich schlecht, aber nicht so unterirdisch, dass wir daran gestorben wären.« Boris zuckte die Schultern und nippte an seiner Tasse. »Alles sehr merkwürdig.«

»Genauso merkwürdig ist«, warf Bock ein, »dass Alea immer noch schläft.«

Alle sahen betroffen auf.

»So’n Mist«, bekundete Simon.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dem Chef das erklären soll. Wo ist der überhaupt?«

»Läuft auf dem Gelände rum. Meinte, er müsste mal raus.«

Eigentlich gar kein so schlechter Gedanke, fand Bock. Aber es gab Wichtigeres zu tun.
 

Gegen Mittag, als auch alle Nachteulen ausreichend Schlaf nachgeholt hatten, fand ein allgemeiner Informationsaustausch statt. Wie erwartet reagierte Buschfeldt höchst ungehalten, als die frohe Botschaft, dass seine Geheimwaffe wieder im Hause war, durch die Nachricht ihres Defekts zunichte gemacht wurde. »Was soll ich mit einem schlafenden Vampirhenker?«, grollte er. Noch zorniger allerdings machte ihn die Tatsache, dass eine weitere Meldung von Eric, Michael und Fírinne lange überfällig war. »Auf diese Iren kann man sich nicht verlassen! Die machen einfach, was ihnen passt! Ich hasse dieses Volk!« Weitere allgemeine Schimpftiraden wurden von den Mitarbeitern geflissentlich ignoriert. Wenn Buschfeldt sauer war, dann war er eben sauer.

»Ich stelle fest«, sagte Lasterbalk leise, als alle außerhalb von Buschfeldts Hörweite versammelt waren, »dass wir nix anderes machen können, als zu warten. Ja, liebe Leute. Warten. Wir kennen das Versteck, aber wir können es net platt machen. Wir wissen net, wie groß es ist. Wir haben Eff Eff völlig unterschätzt. Die haben anscheinend mehr Leute als wir Live-Auftritte. Vampire und Menschen aus jeder verdammten Ecke. Scheint eine Massenbewegung zu sein. Eine Bewegung, deren Ziel wir net kennen. Darüber hinaus haben wir nix anderes zu trinken als das hier.« Er stellte eine Flasche Wikingerblut auf den Tisch; sie trug auf dem Etikett das kleine Fangzahn-Symbol. »Ich hab überall nach was anderem gesucht, aber es gibt wirklich kein Hyperborea mehr. Vielleicht sollten wir rausfinden, was das zu bedeuten hat. Von Chefchen können wir keine Unterstützung erwarten, das ist wohl klar. Also, wenn ihr nix dagegen habt, mache ich jetzt ein paar Vorschläge zur Aufgabenverteilung.«

Alle sahen ihn erwartungsvoll an.

Lasterbalk befeuchtete sich die Lippen und traf Anordnungen: »Elsi, Boris, ihr versucht, irgendwelche Anhaltspunkte über das Versteck rauszufinden. Eff Eff müssen irgendwie kommunizieren, und wir müssen wissen wie. Bock, bastel weiter an Alea rum. Fritz, Alex … Ihr seid die Einzigen, außer Micha und Eric, die sich das Album von Snowine noch net angehört haben. Wenn Bock gerade Zeit hat, euch im Auge zu behalten, holt das nach. Ähm – Falk und ich werden mal forschen, was in der Weinkelterei unseres Vertrauens so los ist, dass die uns kein Hyperborea mehr mixen. Und der Rest … ich sage mal, wenn ihr net sinnlos rumsitzen wollt, dann versucht, was über diese Wuppertaler rauszukriegen. Snowine, meine ich. Irgendwas muss ja über die bekannt sein. Okay, das ist alles.«

»Das ist aber ein lahmer Schlachtplan, Wertester, da hätte ich mehr erwartet«, kritisierte Falk.

»Sag mal, hast net zugehört? Wir können net rausgehen, solange die uns einfach ummähen würden! Nach der Aktion gestern werden die so was von auf der Hut sein! Wir können nur hoffen, dass die net wissen, wo wir uns verstecken!«

»Ich mag meine Aufgabe, und ich fange jetzt an«, sagte Pfeiffer entschlossen. »Wenn uns was garantiert nicht voranbringt, dann Gezanke. Ein provisorischer Plan ist besser als gar keiner. Ich werd’ das Versteck von Eff Eff schon knacken, und dann können wir mit der harten Keule kommen. Vorher nicht.«

Damit war alles gesagt, und auch die Übrigen wandten sich schließlich mehr oder weniger hoffnungsvoll ihrer Arbeit zu.

Wein aus Schnee ist auch falscher Wein

Der jüngst angebrochene Tag versprach, ein Tag der Untätigkeit, Ergebnislosigkeit und quälender Unwissenheit zu werden. Die MIU-Leute gaben sich nicht der Illusion hin, dass von der Dresdener Polizei oder den sächsischen Verfassungsschutz-Kollegen viel Hilfe kommen würde. Ein jeder hielt die Finger still, wenn die MIU am Zug war. Niemand wollte in eine ›X-Akte des BfV‹ mehr als nötig involviert sein.

Fritz übte mit Flex und Lange ein wenig Vampirverhalten, bis Bock an Alea sämtliche Weckmaßnahmen erfolglos durchprobiert hatte.

»Also, Bock hat ein Auge auf euch, dann spiele ich euch jetzt das Snowine-Album ab«, kündigte Yellow Pfeiffer an und koppelte einen der beschlagnahmten MP3-Player mit seinem Laptop.

»Ich hoffe mal, dass du kein Kaugummi mehr in den Ohren hast«, sagte Asp zu Fritz.

»Kaugummi … Moment mal! Bock?«

Der Arzt, der grübelnd vor sich hinstarrte, sah auf. »Hmmm?«

»Könnte es sein, dass Alea nicht aufwacht, weil …« Fritz senkte die Stimme. »… Kaugummi in sein Gehirn eingedrungen ist?«

Bock warf ihm einen halb-enttäuschten, halb-verblüfften Blick zu. »So eine dumme Frage kannst auch nur du stellen, Schätzchen.«

Kurz darauf setzte das musikalische Inferno ein, das Snowine ihr Debüt nannten. Aus dem Rest des grauen Flurs drangen angewiderte Geräusche, und jemand rief: »Macht den Scheiß gefälligst leiser!«

Pfeiffer korrigierte die Lautstärke nur minimal. »Bei allen Geräten war die Musik ziemlich laut eingestellt. Wir müssen die Bedingungen also bestmöglich imitieren.« Er wirkte gelangweilt.

Während Bock sich die Ohren zuhielt, schien Asp der brachialen Musik aufmerksam zuzuhören. »Ungewöhnlich ist jedenfalls nichts daran. Fritz, kommt dir irgendwas davon bekannt vor?«

Das musste Fritz verneinen. »Ich kann mich nur an den Rhythmus erinnern, und der war anders. Jesus und Maria, müssen wir uns das ganze Album von vorne bis hinten anhören?«

»Ich fürchte ja.«

»Naja, ich lass euch mal euren Spaß mit Snowine haben«, sagte Boris und stand auf. »Muss mir das nicht noch mal antun, einmal reicht.« Damit verließ er den kleinen unterirdischen Raum und schloss, vermutlich zur Erleichterung der anderen jenseits des Flurs, die Tür hinter sich.
 

Als Lasterbalk endlich die Leiterin der Weinkelterei in Landau erreichte, war sein Geduldsfaden bereits arg überspannt. In diesem Laden schien gerade so einiges schief zu laufen. Offensichtlich wusste dort keiner, was der andere tat. Bis die Chefin das Gespräch entgegen nehmen konnte, war fast eine Dreiviertelstunde vergangen.

Lasterbalk verlor daher keine Zeit und erklärte ihr sachlich, was er eigentlich wollte. Über das Projekt Hyperborea wusste in dem Unternehmen längst nicht jeder bescheid. Zum Glück gab die gute Frau sich demütig, weil sie ihn so lange hatte warten lassen, und beantwortete dann prompt seine Frage, warum angeblich kein Hyperborea mehr hergestellt wurde.

»Selbstredend wird es hergestellt!«, belehrte sie ihn entrüstet. »Wir haben keine anderen Anweisungen erhalten, also produzieren wir wie gewohnt. Das Vinzentius-Krankenhaus schickt uns das aufbereitete Blut, und wir mischen es mit unserem Qualitätswein und erlesenen Zutaten – wie schon seit Jahrzehnten.«

Diese Antwort verwirrte Lasterbalk, stand sie doch im kompletten Gegensatz zu der Erklärung, die ihm in absolut allen besuchten Getränkeläden aufgetischt worden war. »Und Sie liefern es auch aus?«, hakte er nach.

»Ja, natürlich!« Dann machte die Frau eine kurze Pause. »Allerdings haben wir auch ein paar Selbstabholer, und die … naja, die haben ihre Bestellung jetzt seit ein paar Wochen nicht abgeholt. Deshalb geht hier alles drunter und drüber, wissen Sie. Wegen des Überschusses müssen wir andere Produkte umlagern. Leider erreichen wir diese Händler nicht, sehr ärgerlich. Solche Kommunikationsfehler stören den ganzen Betrieb.«

»Hm … Merkwürdig.« Lasterbalk fing an, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln – mal langsam, mal schnell. Der Wein wurde also ausgeliefert und die Annahme bestätigt, doch die Selbstabholer ließen ihn links liegen … »Erreichen Sie gar keinen von den Selbstabholern?«

»Nein, keinen«, gab die Dame zögerlich zu. »Es ist … schon etwas seltsam.«

»Wären Sie bereit, der MIU die Kontaktdaten zu übermitteln?«

»Oh, das dürfen wir nicht … aus Datenschutzgründen unserer Kunden …«

»Dann geben Sie mir so viele allgemeine Informationen wie möglich, ohne gegen die Vertragsbedingungen zu verstoßen. Das BfV kann den Rest auch selber rausfinden.« Eine Diskussion mit der Tante würde nur Zeit kosten. Besser, sie kooperierte fügsam und durfte ihr reines Gewissen behalten.

»In Ordnung, das kann ich machen«, willigte sie ein. »Und es wäre mir lieb, wenn Sie mich informieren würden, sollten Sie die Sache aufklären.«

»Ja, natürlich.« Lasterbalk beendete das Gespräch, legte das Handy hin und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. »Oh, was für ein blöder Mist.«

Falk musterte ihn dumpf. »Lass mich raten: Mysteriöse Umstände.«

»Jap … Scheint, als hätte jemand von außerhalb das mit dem Wikingerblut im Griff. Unser Zeug geht zwar raus, wird aber wahrscheinlich abgefangen. Ach, Scheiße.« Er rieb sich die Schläfen. Der Tag fing nicht gerade positiv an.

»Und was soll sie uns jetzt schicken?«

»Hoffentlich vage Hinweise auf die Abnehmer, die ihre Bestellungen normalerweise selber abholen und es jetzt net machen. Nur bei denen können wir ansetzen, denn denen muss irgendwie in den Kopf gesetzt worden sein, dass sie kein Hyperborea mehr einkaufen sollen.«

Falk wirkte nur mäßig begeistert über diesen Erfolg. »Das zu verfolgen wird uns viel Zeit kosten. Und uns von Fiacail Fhola ablenken.«

»Ja.« Lasterbalk sah zur Tür. »Bin ich eigentlich der Einzige, der da einen Zusammenhang vermutet?«

»Nein … Aber ich hoffe für uns alle, dass wir uns täuschen.«
 

Fritz war es mehr als zuwider, Snowines Musik zuzuhören. Er konnte verstehen, dass außer ihm, Asp und Bock alle das Weite gesucht hatten. Alle paar Minuten erkundigte der Arzt sich pflichtbewusst, ob es den beiden noch gut ging, und nahm sogar, um die Antwort zu hören, kurzzeitig die Hände von den Ohren.

Ich kann verstehen, dass an der Musik Leute sterben, dachte Fritz voller Abscheu. Sie fühlte sich an, als würden einem der Gehörgänge mit einer Laubsäge in feine Scheibchen geschnitten.

Als endlich nach dreiundvierzig Minuten und sechzehn Sekunden – Fritz’ Empfinden nach war es ein halber Tag gewesen – das letzte Lied verklungen war und kein weiteres einsetzte, atmeten alle erleichtert auf.

»Argnz«, grunzte Bock, der Schweißflecken unter den Achseln hatte, nahm seine verkrampften Hände vom Kopf und schüttelte sie. »Was lange währt, wird endlich gut. Wieder ist keiner gestorben. Wir müssen wohl einsehen, dass diese Wuppertaler Studenten nicht die Übeltäter sind.« In hohen Tönen seufzend verließ er den Raum, vermutlich nur, um sich einen Tee zu holen.

»Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen«, gestand Asp. »Warum wollen Fiacail Fhola tödliche Musik entwickeln? Soll das eine Waffe sein? Gegen wen? Uns? Alea? Jemand ganz anderen?« Ratlos schüttelte er den Kopf und rieb sich die Finger.

Fritz hatte es lange aufgegeben, darüber nachzudenken. »Ich stelle mir im Moment noch ein halbes Dutzend anderer Fragen, ehrlich gesagt. Außerdem, wieso helfen uns diese Leute von Fírinne nicht? Eric und Micha haben sich gar nicht mehr gemeldet.« In leisem Trotz fügte er hinzu: »Micha scheint völlig egal zu sein, was mit mir passiert. Von wegen, es wäre seine Natur, mich zu verteidigen.«

Asp sah zu ihm herüber und erwiderte seinen Blick, sagte jedoch nichts dazu. Vermutlich wusste er auf diese Frage ebenfalls keine Antwort.

»Alex«, begann Fritz, als ihm ein Gedanke kam. »Wenn du nie jemanden beißt … bedeutet das, dass du den Beißzwang unterdrücken kannst? Kann man das als Vampir, wenn man sich genug Mühe gibt?«

»Hm.« Asp sah beiseite. »Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Theoretisch nein. Niemand kann das. Wenn man dazu aufgefordert wird, muss man beißen. Und immer, wenn ich unter Menschen bin, hoffe ich, dass das nicht passiert.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich glaube aber … oder sagen wir, ich bin eigentlich sicher, dass es sich mit dem Beißzwang so ähnlich verhält wie mit den Lockstücken. Dass es einen gewissen … Abnutzungseffekt gibt. Wenn einen immer wieder dieselbe Person zum Biss einlädt, dann kann man, denke ich, irgendwann dem Impuls widerstehen. Früher oder später … je nachdem, wie stark und alt man ist. Tja, aber so ist das Leben nun mal nicht: Es sind immer andere Leute, die einen Biss wollen.« Er zuckte die Schultern.

Fritz wollte gerade über diese Antwort nachdenken, als unerwartet wieder Musik aus den Lautsprechern des Laptops drang. Bedrohlich anschwellend kroch ein von Geigenklängen untermaltes Intro in Fritz’ Ohr, und er wurde vor Schreck ganz starr.

»Ein Hidden Track«, kommentierte Asp und wirkte überrascht. »Das ist interessant.«

Fritz fand das alles andere als interessant, mehr noch, er fand es geradezu erschreckend, denn der Rhythmus war ihm vertraut, hatte er doch selbst eine klebrige Schicht durchgekauten Kaugummis durchdrungen. »Lex, ich glaube –«, begann er zögernd, da bemerkte er schon die erste Wirkung: Sein Puls beschleunigte sich, und er hatte das Gefühl, dass sein Blut anfing zu kochen. Angst stieg wie aus dem Nichts in ihm auf, eine unvergleichliche Panik, die seinen ganzen Körper in so heftiges Schlottern versetzte, dass er vom Stuhl rutschte wie ein Epileptiker.

Asp reagierte äußerst schnell und überlegt. Er ging geradewegs zum Laptop und beendete die Wiedergabe, ehe er sich zu Fritz bückte und ihn aufhob.

Hinter Fritz’ Stirn explodierten immer noch Feuerwerke. Sein Puls raste, und er hatte keine Ahnung, wo er war oder was überhaupt passierte. Es fühlte sich an, als hätte jemand saures Brausepulver in sein Blut geschüttet.

Asp trug ihn direkt zum Bockshof, legte ihn auf den Tisch und rief energisch nach dem Arzt, der auch sofort angelaufen kam und glücklicherweise sofort erfasste, was los war.

»Da haben wir also die Wirkung, die wir sehen wollten! Schnell, beiß ihn!«

Asp wich zurück. »Bitte? Du weißt genau, dass ich das nicht machen werde.«

»Nicht mal zu medizinischen Zwecken?« Bock fühlte Fritz den Puls und legte die Stirn in Falten.

»Nein. Ich habe meine Prinzipien. Gib ihm einfach eine Beruhigungsspritze.«

»Neineinein, es geht doch gar nicht um die Sedierung – du sollst sein Blut kosten, bevor die verräterischen kleinen Stresshormone alle wieder abgebaut sind!«

»Achso, sag das doch gleich.« Wieder zückte Asp sein kleines Messer und ritzte Fritz’ Daumenkuppe, um einen Tropfen Blut herauszudrücken und sich diesen von der Fingerspitze zu lecken. »Ah ja … Allerdings ungenießbar.«

»Danke, mein Lieber. Mission accomplished

Fritz sah nur noch durch einen roten, pulsierenden Schleier, wie der Arzt eine Spritze aufzog und sie ihm zwischen Schulter und Nacken verabreichte. Eigentlich hatte Fritz große Angst vor Nadeln, doch jetzt war er unendlich dankbar, als nur Sekunden später eine himmlische Ruhe über ihn hereinschwappte. Er seufzte tief und entspannte sich. »Aaahh … danke …«

»Dank dem Entdecker des Valiums.« Bock zerlegte die Spritze und entsorgte sie. »So, ihr habt das böse Lied also gefunden?«

»Es ist ein Ghost Track, der nach einer langen Pause einsetzt«, bestätigte Asp. »Ich werde ihn mir mal genauer anhören. Mir geht’s gut, also wirkt er vielleicht nur bei Menschen. Kommt am besten nicht rein, ohne anzuklopfen.«
 

Eric Fish hob mühsam ein Augenlid, danach das andere. Nur langsam nahm seine Umgebung schemenhaft Gestalt an. Es war ein fensterloser, weiß gekachelter Raum, und er sah zwei Tische voller ihm unbekannter Apparaturen; kurz danach setzten auch seine übrigen Sinne wieder ein, und er merkte, dass er auf einer Holzpalette saß, vermutlich als Schutz gegen die Bodenkälte, den Rücken an der Wand. Die Haltung war unbequem und schmerzte ihm in den Gliedern, doch als er versuchte, durch vorsichtiges Bewegen wieder Leben in seine Arme und Beine zu bringen, stellte er fest, dass er sich nicht großartig rühren konnte.

Natürlich nicht. Er war gefesselt. Und zwar Seite an Seite mit Michael Rhein, der zerzaust und mit hängendem Kopf neben ihm saß und offenbar weit langsamer zu Bewusstsein kam. Sie waren mit kratzenden, starren Hanfstricken aneinander gebunden, sowohl an Handgelenken als auch Füßen. Da die Faser so unflexibel war, ließ sich das Seil um keinen Millimeter lösen. Wer es angelegt hatte, verstand sein Handwerk: Eric ertastete den professionellen Fesselknoten mit zwei leeren Schlingen und einem Überhandknoten, sorgfältig platziert, sodass er keine Blutgefäße abdrückte.

Eric versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Er und Michael hatten Fírinne nach Coschütz begleitet. Aber die hatten sie doch nicht gefesselt, oder? War danach nicht noch etwas anderes passiert? Ja, sie waren auf dem Rückweg gewesen … und plötzlich … Nein, hier endete seine Erinnerung.

Mit leisem Quietschen öffnete sich die Tür an der rechten Wand, und Eric hob alarmiert den Kopf. Eine aufgeschwemmte Frau mit weißer, poriger Haut und kleiner runder Nase kam herein. »Na endlich«, kommentierte sie mit unerwartet hoher Stimme, die ein bisschen an eine Cartoon-Ente erinnerte. »Wir haben schon gedacht, die Dosis wäre zu hoch gewesen.«

Chloroform, dachte Eric, und ganz kurz durchlief ihn ein Schaudern. Schlagartig erinnerte er sich an den süßlichen Geruch. Das erklärte, warum ihm noch immer schwindelig war und sein Herzschlag in seinen Ohren dröhnte. »Was wollt ihr?«, fragte er schwach.

»Das weißt du genau, Herzchen«, grinste die Pummelige. Vom linken der Tische hob sie etwas auf und wedelte damit; es war Sonnenauge, unverkennbar an dem goldenen Griff. »Vor ’ner Weile sind vier von euch hier eingebrochen und haben unsere Gefangenen mal eben mitgenommen«, keckerte die Frau. »Das wird nicht noch mal passieren. Wir wissen, wo ihr euch versteckt, und eure Freunde sitzen jetzt schön auf dem Präsentierteller!«

Eric bemühte sein Hirn und setzte angestrengt die hingeworfenen Teile des Puzzles zusammen. Also waren seine Kollegen in das Versteck vorgedrungen – aus irgendeinem Grund hatten sie erfahren, wo es sich befand –, und Alea befreit. Das zumindest war gut. Dass die Frau gerade von Gefangenen in der Mehrzahl gesprochen hatte, ergab erst mal keinen Sinn, würde aber jetzt ohnehin nicht zu klären sein. Wichtiger war jetzt, dass sie wieder ging und ihn mit Michael allein ließ. Denn dann

»Bei deinem Freund haben wir das hier gefunden«, fuhr die Dicke fort und hielt einen Gegenstand hoch, den Eric erst gar nicht erkennen konnte; dann jedoch glaubte er, einen kleinen Schlüssel zu sehen. »Wir werden schon noch rausfinden, was man damit aufschließt! Willst du es mir nicht lieber gleich sagen? Ist es der Hauptschlüssel für das Krankenhaus, in dem ihr hockt?« Sie winkte mit dem kleinen Gegenstand.

»Ich weiß es nicht«, gab Eric verdrossen zurück. »Mich interessiert nicht, was dieser Mann mit seinen Schlüsseln macht.« Er nickte zu Michael. »Vielleicht passt der Schlüssel zu einer Schublade, in die er Sachen einschließt, die seine Frau nicht sehen soll – was weiß ich?«

Die Dicke lachte. »Ich glaube, wir werden deinen Freund einfach selber danach fragen. Es ist ja nicht so, als hätten wir es eilig.« Kichernd legte sie die Sachen, die den beiden Gefangenen abgenommen worden waren, wieder ordentlich auf den Tisch. »So, dann werde ich mal den Chef benachrichtigen, damit er, sobald er Zeit hat, einen Blick auf euch werfen kann. Er wird sich freuen, dich wiederzusehen. Hat nicht vergessen, dass du ihn damals blind geschossen hast. Die ganze Woche, bis er wieder sehen konnte, hat er dich andauernd verflucht, ihihi. Bis bald.«

Eric sah ihr nach, wie sie zur Tür watschelte und erhobenen Hauptes hinausging. Jetzt fühlte er sich erst recht erschöpft. Der Gedanke, ein Gefangener von Fiacail Fhola zu sein, gefiel ihm überhaupt nicht – doch noch gab es Hoffnung.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wandte Eric sich an Michael und stieß ihn energisch mit der Schulter an. »Hey! Rhein! Wach auf, los!«, zischte er ihm ins Ohr.

Michael öffnete träge die Augen. Er sah furchtbar aus, viel furchtbarer als Eric sich fühlte. »Mmmmm … Scheiße, wir sind bei Eff Eff …«

»Gut erkannt. Aber sie wissen noch nicht, dass du ein Vampir bist. Mich haben sie erkannt, an meiner Waffe … aber du hattest nur einen Schlüssel bei dir, und die Tussi und ihre Leute sind dir wohl damals nicht begegnet oder erinnern sich nicht an dich. Du musst uns hier rausholen!«

Michael stöhnte leise. »Ja, ich hab’s extra drauf angelegt, dass die mich nicht als Vampir erkennen … Haben uns wohl einem Team aus Menschen überlassen …«

»Hol uns hier raus!«, wiederholte Eric in scharfem Ton. »Los, reiß die Fesseln durch!«

»Ich kann nicht«, murmelte Michael. »Ich hab keine Kraft. Sorry.«

Eric biss wütend die Zähne zusammen. »Sorry? Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Mit stechendem Blick über die Schulter fixierte er seinen Kollegen, nur um festzustellen, dass dieser wirklich – bei genauerem Hinsehen – furchtbar kraftlos wirkte. Und der Ton, mit dem er sich soeben freiwillig entschuldigt hatte, passte auch nicht; Michael war gewöhnlich viel zu stolz, um sich Eric gegenüber schwach zu zeigen, doch jetzt tat er genau das. Er klang jämmerlich. Und Eric dachte: Jammerphase. Dies war die einzige denkbare Situation, in der jeder Vampir schlagartig allen Stolz verlor. Außerdem, und das fiel dem blondierten Sänger jetzt ebenfalls auf, ging von dem Körper neben ihm erschreckend wenig Wärme aus. »Michael!«, sagte er alarmiert, als er begriff, was das alles bedeutete. »Verdammter Dreck, kann es sein, dass du kalt wirst? Du – du bist doch erst einen Tag ohne Blut, oder …?«

»Nee«, gab Micha die Antwort, von der Eric gehofft hatte, sie würde ausbleiben. »Fast drei … Hyperborea ist alle, und es gibt kein neues …« Er fing an zu zittern und zu schlucken. »Es tut beschissen weh«, sagte er unglücklich.

Für Eric bestand nun kein Zweifel mehr: Ja, Michael jammerte. Und wenn noch ein Beweis dafür nötig gewesen war, dass es ihm so richtig schlecht ging, dann lag er jetzt vor. Sie steckten tief im Dreck.

Eric knirschte mit den Zähnen. Auch wenn er zornig war, hatte er jetzt vor allem Mitleid. Er hatte bereits Vampire aushungern sehen und konnte sich farbenfroh ausmalen, wie schlimm der Blutdurst sich anfühlten musste.

Allerdings fiel ihm die Lösung des Problems nur eine Sekunde später ein. Sie war völlig offensichtlich und so naheliegend, dass nur sein benebeltes Hirn daran Schuld sein konnte, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Er und der Vampir waren zwar im Sitzen gefesselt, aber dafür unmittelbar nebeneinander, und Micha würde sich immerhin nicht großartig verrenken müssen. »Also gut«, zischte er in das mit Silber behängte Ohr, »wir wissen wohl beide, was das bedeutet. Verlieren wir keine Zeit. Du darfst mich beißen.«

Er hatte erwartet, dass Michael dieses Angebot sofort annehmen würde, hungrig wie er war. Umso verblüffter war er, als der Vampir nur ein gequältes Stöhnen ausstieß. »Ja, das hättest du wohl gern … du Gift-Junkie.«

Eric sah ihn verständnislos an. »Michael, was soll das? Ich will uns befreien und du fängst an mit solcher Kinderkacke? Hat der Blutdurst dir schon das Hirn vernebelt?«

»Als ob ich dich nicht jederzeit beißen könnte, Hecht … Ich hab doch für dich keine Beißhemmung …«

Unglaublich, dass Micha jetzt für so etwas Zeit hatte. Eric fühlte langsam Panik in sich aufsteigen. »Du bist ein selten dämlicher Spacken, weißt du das?«, schnappte er. »Na schön, wenn’s nicht anders geht: Michael Robert Rhein, ich bitte dich hiermit, mich zu beißen und mein Blut zu trinken!« Ordentlicher konnte man es nicht formulieren. Jetzt musste dieser Blödmann tun, was nötig war!

Doch wieder kam es anders. Mit heiserem Aufstöhnen wandte Micha sich ab und schlug stattdessen die hervorschnappenden Fangzähne in seine eigene rechte Schulter. Dort ließ er sie mit dumpfem Murren, heftig atmend und bebend, aber so beherrscht wie nur irgendwie möglich. »Neing!«, presste er hervor. »Neing, vergisch esch, Fisch!«

Eric verstand die Welt nicht mehr. »Warum zum Teufel kannst du eine Einladung zum Beißen ablehnen?«, fragte er ungläubig. Dieses neue Phänomen verwirrte ihn vollends.

Mit immenser Beherrschung löste Micha die Zähne aus seinem Fleisch und ignorierte, dass die Wunde blutete. »Abneigung«, erklärte er keuchend. »Abneigung gegen dich, seit damals. Du kannst mich nicht mehr zwingen, dich zu beißen, Fisch. Nie wieder

»Was? Das kann nicht dein Ernst sein!« Eric fühlte seine Pulsfrequenz weiter steigen. »Michael, deine Halsstarrigkeit wird uns das Leben kosten!«

»Das kann ich nich’ ändern … Abneigung ist Abneigung …«

»Wir werden sterben, du elender Bastard!«, schrie Eric ihm ins Ohr.

Micha presste nur die Kiefer zusammen.

»Na schön!« Eric war noch nie in seinem Leben so wütend und verzweifelt zugleich gewesen. »Wie du willst! Hoffentlich bleiben wir noch so lange zusammengebunden, bis du in die Phase kommst, in der du vor Hunger wahnsinnig wirst und solche Schmerzen hast, dass du sogar deine Mutter beißen würdest! Vielleicht holst du uns dann hier raus!« Schon während er das sagte, wusste er, dass es dazu nicht kommen würde. Dieses Spiel hier war gespielt, und sie hatten verloren. Weil Micha die Regeln brach. Wieder einmal.

Nur wenige Minuten nach der lautstarken Auseinandersetzung kam die wabbelige Frau wieder herein, und sie hatte einen muskelbepackten, vollbärtigen Mann im Schlepptau. »Guck dir das an, Conall. Deine Leute haben einen Vampir an einen Menschen gefesselt! Ist dir klar, was hätte passieren können? Die können längst über alle Berge sein!«

»Meine Leute werden ihre Strafe kriegen«, knurrte der Koloss. »Ich werde die beiden sofort trennen.« Als er näher kam und sah, dass Micha sich selbst in die Schulter gebissen hatte, grinste er höhnisch. »Na, wollte dein Mensch dich nicht ranlassen? Ist schon scheiße, wenn Fresspakete so aufmüpfig sind, was?« Mit brüllendem Lachen zerriss er mühelos die Stricke, die Michael an Eric knüpften, und hob den Vampir vom Boden auf, der nach all der Anstrengung erst recht keine Gegenwehr mehr leisten konnte.

»Du hast uns zum Tode verurteilt«, zischte Eric und wusste, dass Micha ihn sehr wohl hören konnte. »Ich hoffe, das ist dir klar. Denk daran, wenn es unerträglich wird!«

Laut lachend verließ der Vampir namens Conall den Raum, und die schlaffe Frau folgte ihm mit süffisantem Grinsen. »Mit dir, Blender, befassen wir uns später«, säuselte sie an Eric gewandt und riss die Tür hinter sich zu.
 

»Also«, erklärte Asp den anderen, als der Nachmittag anbrach. »Das Lied, mit dem Snowine – beziehungsweise Fiacail Fhola – töten können, ist ein relatives einfaches Stück im Vier- und Sechsviertel-Takt, dem die Bluestonleiter zugrunde liegt. Ich weiß nicht, was daran tödlich ist, aber ich hab gesehen, wie es bei Fritz gewirkt hat.«

Fritz duckte sich ein wenig.

»Der Text«, fuhr Asp fort, »ist schwer zu verstehen, weil der Gesang verzerrt ist, was wir ja aus dem Genre nicht anders erwarten. Ich denke, ich hab ihn entschlüsselt. Das Lied handelt von Vampiren, die das Blut von Wikingern trinken wollen, genau genommen von Berserkern – das sollen Menschen sein, die sich beim Kampf in eine Art Blutrausch versetzen und es problemlos mit Vampiren aufnehmen. Da diese Berserker im Liedtext als hervorragende Vampirtöter dargestellt werden, haben wir hier wieder mal ein Motiv, das wir kennen: Man will sich das, was man fürchtet, einverleiben und es somit entschärfen, vielleicht sogar für sich selbst nutzen. Die Vampire wollen das Blut dieser Wikingerkrieger trinken und schaffen es auch, sodass sie in der letzten Strophe, genau wie die Berserker vorher, in einen rücksichtslosen Blutrausch fallen. Sie schlachten blind drauf los … und töten sich gegenseitig, bis keiner übrig ist.«

Alle Umsitzenden starrten ihn an.

»Oh, nein«, sagte Falk, und dann noch einmal lauter: »Oh, nein! Das Wikingerblut!«

»Ja«, nickte Ingo Hampf düster, »genau das habe ich gerade auch gedacht. Als wir im Versteck von Eff Eff waren, und ihr hattet kurz vorher dieses Zeug getrunken … da seid ihr abgegangen wie die Bestien.«

Lasterbalk stöhnte auf und warf den Kopf in den Nacken. »Heilige Scheiße! Alles hängt zusammen! Dieses falsche Wikingerblut soll uns in Monster verwandeln! Die wollen, dass wir uns alle gegenseitig umbringen … und dass wir das grausame Bild, das sie durch ihre Leichenfledderei verbreitet haben, vor aller Augen bestätigen! Die wollen, dass man uns aus dem Verkehr zieht!«

»Falls wir es nicht vorher selber tun«, ergänzte Asp, »indem wir zum Beispiel unsere menschlichen Kollegen oder andere Verbündete auf unappetitliche Weise in Stücke reißen.«

Falk wandte sich an Dr. Saltz. »Du musst das Zeug untersuchen, Bock, und rauskriegen, was da drin ist. Es gibt bestimmt ein Labor hier in der Klinik.«

»Mache ich«, nickte der Arzt.

»Und wie, bitte schön, wollt ihr satt werden, wenn ihr das Getränk verschmäht?«, fragte Buschfeldt drohend.

Die Vampire erwiderten seinen Blick schuldbewusst. »Boss«, sagte Simon zaghaft, »du darfst uns nicht zwingen, das zu trinken.«

»Davon war nie die Rede. Ich bin lediglich der Auffassung, dass ihr euch ein wenig in Enthaltsamkeit üben solltet, bis die Krise überstanden ist. Da mir die körperliche Gesundheit meiner Mitarbeiter am Herzen liegt«, verkündete der Direktor, und sein eisiger Blick strafte das Gesagte Lügen, »werde ich wohl erreichen können, dass die Klinik uns Blutkonserven überlässt … was sie nicht gerne tun wird. Unser eigener Vorrat ist beschränkt, nehme ich an.«

»Arg beschränkt«, nickte Bock. »Aber ich glaube nicht, dass die Klinik Vollblut lagert. Das wäre unzweckmäßig, weil es nicht lange haltbar ist. Falls man uns Erythrozyten-Konzentrate zur Verfügung stellt, müssen wir sie mit Nährstofflösung mischen, sonst werden die Vampire nicht richtig satt.«

Buschfeldts Miene wurde noch finsterer. »Ist das teuer?«, brummte er.

»Ähm … ja.«

»Dann halten wir unsere Blutsauger besser kurz.«

Wieder senkten alle Vampire gleichzeitig den Blick, als würde ein dunkler Vorhang fallen. Fritz sah, wie unglücklich sie darüber waren, dass ihre Ernährung Probleme bereitete. Allerdings verstand er nicht, weshalb Buschfeldt jede Gelegenheit nutzte, seinen Daumen in die Wunde zu drücken. Hatte er denn noch nicht begriffen, dass Fiacail Fhola genau das wollten – die MIU entzweien?

»Gut, gehen wir uns kümmern«, sagte Bock, stand auf und entfloh damit als Erster der bedrückenden Atmosphäre.

Könnte kalt werden

Innerhalb der zweiten Hälfte des Tages brachte Dr. Saltz es fertig, einen Schlachtplan gegen den Nahrungsengpass der Vampire zu entwickeln. Sobald Buschfeldt durch wiederholtes Druckausüben auf die Klinikverwaltung die Erlaubnis erhalten hatte, Blutprodukte zu beanspruchen, machte der Mediziner sich an die Arbeit. Als Universitätsklinikum unterhielt das Carl-Gustav-Carus-Krankenhaus eine umfangreichere Blutbank als andere Krankenhäuser, und man teilte der MIU einige Konserven mit Erythrozyten-Konzentrat und sogar eine kleine Menge wertvolles, tiefgefrorenes Blutplasma zu. Bocks eigener Vorrat an aufbereitetem Vollblut war aufgrund der geringen Haltbarkeit verbraucht, und daher war er dankbar für das Plasma, das als Nährlösung der Blutzellen und Transportmedium des menschlichen Körpers natürlich auch alle Nährstoffe enthielt, die im Erythrozyten-Konzentrat fehlten. Da jedoch weit weniger Plasma als Erythrozyten-Konzentrat zur Verfügung stand und zudem proteinreiche Thrombozyten fehlten, musste die Mischung kalorisch aufgewertet werden. Hierfür bekam der Arzt CDD überlassen, industriell gefertigte Flüssignahrung, die normalerweise über eine Magensonde jenen Patienten verabreicht wurde, deren Verdauungsorgane sich möglichst wenig bemühen sollten; aus diesem Grund war die Nahrung niedermolekular und vom Magen-Darm-Trakt direkt ohne vorherige enzymatische Aufspaltung resorbierbar. Für den wenig leistungsfähigen Verdauungsapparat eines Vampirs eine gute Alternative, wenn man den Mangel an Eisen unbeachtet ließ, den jedoch die Erythrozyten decken würden. Zuletzt musste das entstandene Gemisch mit etwas Wasser verdünnt werden. Alles in allem stellten diese sämtlich nur suboptimalen Möglichkeiten Bock vor die Herausforderung, akribisch genau zu berechnen, zu welchen Teilen er diese vier Zutaten mischen musste, um eine für die vampirische Ernährung optimale Zusammensetzung zu erreichen. Das Ergebnis seiner Experimente nannte er Buck-Up. Am späten Abend hatte er vier Liter davon angerührt.

»Damit«, sagte er müde, aber enthusiastisch, »reihe ich mich in die kurze Liste der Hersteller vollwertiger Vampirnahrung ein, die kein Vollblut, sondern nur Teile davon enthält. Wobei, ich dürfte der Einzige auf der Liste sein …«

Die Vampire beäugten neugierig, was er zusammengemischt hatte, aber ihre Begeisterung hielt sich verständlicherweise in Grenzen.

»Sieht ein bisschen aus wie … Bio-Erdbeer-Milchshake«, sagte Lasterbalk und griff damit eindeutig auf einen Euphemismus zurück. »Ich meine, wieso isses net rot?«

»Guck dir die Zutaten an«, verwies Bock und zeigte auf das kleine Sideboard, an dem er gewerkelt hatte. In einer Glasschüssel lag auf Eiswürfeln ein angebrochener Beutel mit rotem, zähem Saft – Erythrozyten-Konzentrat –, daneben ein kleiner Messkolben mit klarer, orangegelber Flüssigkeit – aufgetautes Plasma –, daneben eine Flasche mit milchig-bräunlichem Inhalt – Sondennahrung – und fast auf der Kante ein gewöhnlicher Messbecher mit Wasser. »Liegt auf der Hand, dass es nicht rot ist, oder?«

»Sieht komisch aus«, sagte Falk vorsichtig.

Simon beugte sich über die Schüssel mit der Mischung und stellte weit weniger beschönigend fest: »Riecht wie Kotze.«

»Hmm. An der Stabilisatorlösung kann’s eigentlich nicht liegen«, grübelte Bock. »Die ist in Vollblut-Konserven ja auch drin. Ich vermute, dass es die Sondennahrung ist, die den Geschmack verfälscht. Die ist ja auch nicht für den Mund gedacht.« Er kratzte sich am Kopf. »Tja, Geschmack … Also, rein physiologisch sind alle Ansprüche erfüllt, aber … ich hab nicht daran gedacht, dass die Akzeptanz vielleicht dabei zu kurz kommt.«

Die fünf Vampire sahen einander an. Dann entschied Falk: »Wir probieren es. Alles ist besser als Blutdurst, und du hast dir so viel Mühe gegeben.«

»Das hab ich allerdings«, nickte Bock, auch wenn er etwas enttäuscht wirkte, und griff nach einer Schöpfkelle. »Sollte euch wirklich schlecht werden … unter dem Tisch ist ein Eimer.«

Das kurze Gelächter lockerte die unangenehme Situation etwas auf.

»Stellen wir uns einfach vor, es wäre Diät«, sagte Falk.

»Das ist es auch«, belehrte ihn Lasterbalk.

»Na gut, dann sagen wir, es ist ein Energy-Drink. Oder Sportlernahrung. Genau, so ein Protein-Shake für die Muskeln, wie Alea manchmal trinkt.«

»Macht’s nicht appetitlicher«, meinte Sugar Ray und blickte stirnrunzelnd in seinen Becher.

»Ach, seid doch nicht alle so verwöhnt! Harte Zeiten verlangen harte Maßnahmen. Und nur die Harten kommen in den Garten, und so. Augen zu und durch!«

Während Bock mit gekreuzten Armen abwartend an der Wand lehnte, stießen die Fünf an und tranken tapfer. Es war allerdings abzusehen, dass sie dabei nicht weit kamen. Schon nach dem ersten Schluck setzten alle den Becher wieder ab und senkten den Blick. Eine Zeitlang schien keiner von ihnen die rechten Worte zu finden. Dann sagte Falk leise: »Nee.«

»Ich hab’s befürchtet«, seufzte Bock.

»Entschuldige, aber das geht einfach nicht. Das schmeckt, als hätte da jemand reingeww– … ihr wisst schon.«

Simon nickte. »Stimmt leider.«

Sugar Ray und Lasterbalk bekundeten nur nickend ihre Zustimmung, und Asp enthielt sich eines Kommentars, sah aber auch nicht glücklich aus.

»Also, Bock«, lenkte Falk kurz darauf ein, »das, was du angerührt hast, das trinken wir schon. Spätestens mit Krämpfen wird uns das egal sein. Aber längerfristig … ich glaube, ich müsste mich anstrengen, das Zeug unten zu behalten.«

Der Arzt zuckte die Schultern. »Naja, es war einen Versuch wert.«

Fast noch unangenehmer als die Kostprobe war die unvermeidliche Überlegung, wie dem Versorgungsengpass denn nun tatsächlich begegnet werden sollte.
 

Nicht nur in Dresden stellte man sich diese Frage, wie kurz danach herauskam. Noch spät am Tag erhielt El Silbador, an Pfeiffers Laptop sitzend, einen Anruf aus München, den er mit dem Headset entgegen nahm.

»Oh, guten Abend!«, grüßte er und lächelte charmant, als könnte sein Gesprächspartner ihn sehen.

Yellow Pfeiffer, der sich gerade auf einem Block ein paar Notizen zu seinen Nachforschungsergebnissen gemacht hatte, blickte auf. »Elsi, wer ist es?«

»Anna und Birgit«, antwortete der Junge. »Sie fragen sich, ob das Wikingerblut trinkbar ist, und wollten unsere Meinung dazu einholen.« Er konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. »Nein, Anna, lasst die Finger davon. Das Zeug ist gefährlich und Fiacail Fhola stecken dahinter. Holt euch was anderes. Ja. Gibt es denn bei euch irgendwas Neues? Nein? … Das Übliche? Ach, ich wünschte echt, ich könnte das gleiche sagen …«

Boris beugte sich wieder über seinen Notizblock. Natürlich, dieses falsche Wikingerblut würde jetzt bundesweit an alle Geheimdienst-Vampire ausgegeben werden. Wieso, fragte Pfeiffer sich mit jäher Gänsehaut, wussten die beiden Schandmaul-Vampirinnen eigentlich nichts davon? Es wäre Buschfeldts Aufgabe gewesen, die Gefahr sofort zu melden. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn die vielen anderen Vampire, die beim BfV oder anderen Diensten tätig waren, zu Amokläufern mutierten! Was war denn bloß mit dem Chef los? Konnte der denn gar nichts mehr außer maulen? Pfeiffer beschloss, als letzte Tat des Tages den Präsidenten des BfV persönlich zu informieren.

Auf seinem Notizblock unterdessen waren bisher nur wenige Stichpunkte zu lesen. Er hatte skizziert, wo in Dresden die MIU bisher Fiacail Fhola begegnet war. Offensichtlich waren die Menschen und Vampire dieser Organisationen sehr mobil – und konnten sowohl aus dem Nichts auftauchen als auch im Nichts verschwinden. Pfeiffer hatte die unangenehme Ahnung, dass ihr Versteck, das sich unter der Erde befand, mehrere Eingänge hatte und ausgedehnter war als bisher angenommen.
 

»Ihr wisst, was ihr jetzt machen müsst«, sagte Bock, als er vom Duschen zurückkam, zu den Vampiren, die noch immer versammelt waren und offensichtlich nicht vorhatten, ins Bett zu gehen.

»Was meinst du?«, fragte Falk dumpf, obwohl er das wahrscheinlich genau wusste.

»Was wohl. Ihr müsst die Nacht nutzen und euch außerhalb versorgen.«

»Sprich es doch aus: Wildern. Das ist Mist, und du weißt es.«

»Ihr habt keine Wahl. Seht es nicht so dramatisch. Wenn ihr auf Tour im Ausland seid, müsst ihr es doch auch manchmal tun.«

»Das ist was anderes. Hier in der Stadt sind im Moment echte Mörder unterwegs, und alle haben Angst vor Vampiren. Wir werden überall Panik verursachen, auch wenn unsere Bisse nicht wirklich schaden. Es zählt immer noch als …« Er lächelte schief. »… Körperverletzung.«

Die Übrigen gaben Falk durch missmutiges Nicken Recht.

Bock versprach: »Ich werde zusehen, dass mir was Besseres einfällt. Wenn es zum Beispiel eine Blutspendeaktion in der Mensa gibt, können wir versuchen, wenigstens das Blut zu kriegen, das durch den anonymen Selbstausschluss nicht verwendet werden kann. Ich erkundige mich morgen danach.« Sich zum Gehen wendend, tätschelte er einem nach dem anderen noch einmal die Schulter. »Und jetzt macht, dass ihr wegkommt. Ihr wart jetzt schon so lange nicht richtig satt, ihr seht allmählich richtig untot aus. Gute Nacht, meine Schätzchen.«

»Gute Nacht, Bock«, murmelten sie beinahe gleichzeitig und machten sich auf den Weg zum Ausgang.

Jedenfalls taten das vier von ihnen.

Bock merkte, dass ihm jemand folgte, und drehte sich um. »Ich weiß, Alex, für dich ist das keine Alternative.«

»Ich möchte dich um was bitten«, sagte Asp, »auch wenn du schon viel für uns getan hast. Könntest du … mich im Auge behalten?«

Der Arzt verstand. »Du willst das Wikingerblut trinken.«

»So wenig wie möglich, aber mir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich biete dir an, die Wirkung an mir zu dokumentieren.«

»Das könnte in der Tat wichtig für uns sein«, willigte Bock vorsichtig ein. »Nach allem, was ich gehörte habe, bist du bei der Befreiungsaktion nicht blutrünstig geworden.«

Asp sah unwillig beiseite. »Bei mir wird es anders wirken. Und diese Aussicht beunruhigt mich.«

»Verständlich. Keine Sorge, ich werde das genau überwachen. Eine Probe von dem Gesöff wird gerade im Labor chemisch analysiert, wir haben morgen die Ergebnisse.«

Daraufhin sah Asp immerhin erleichtert aus. »Gut. Dann geh schlafen, Bock. Bis morgen.«

»Hmmm.« Insgeheim hatte der Arzt schon ein wenig Angst vor dem, was er im Wikingerblut finden würde.
 

Kälte ist etwas Schreckliches.

Man sagt, körperliche und seelische Kälte seien sich sehr ähnlich: Ab einem bestimmten Tiefpunkt sei einfach kein Leben mehr möglich. Hitze von annähernd hundert Grad Celsius werde dagegen von einigen Lebewesen gut toleriert.

Die Kälte in diesem Raum unter der Erde ging aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Paul Frais aus, auch wenn es angesichts seiner leblosen, eisblauen Augen den Anschein hatte. Sogar sein Atem schien kalt zu sein, obwohl er zweifellos gesättigt war, als er sich über Micha beugte und fast zärtlich sagte: »Na, alter Freund, wollen wir uns ein bisschen unterhalten?«

»Fick dich«, sagte Micha. Er hatte einen sauren Geschmack auf der Zunge. Es war so anstrengend zu sprechen; zu anstrengend, um dabei cool und lässig zu wirken.

Frais wandte sich von ihm ab und schlenderte, sein Amüsement nicht verbergend, durch den reizentleerten Raum. Vergnügtes Kichern begleitete seine langen Schritte. Ganz sicher war er satt. Ja, dieser uralte Vampir in dem langen teuren Hirschledermantel und den hohen Stiefeln war sicherlich niemals hungrig: Er musste nur mit den Fingern schnippen, und einer seiner menschlichen Anhänger würde ihn an sich nuckeln lassen. Er musste sicher nie konserviertes Blut trinken. Seine Safttütchen waren ja für ihn da. Giftgeile Schlampen. Versager ohne eigenes Leben, denen nur noch ein Vampirbiss einen echten Kick geben konnte und ihnen bewusst machte, dass sie lebendig waren. Andere – nicht wenige – standen wahrscheinlich unter Blutfessel. Diese Art von Zwang aufrecht zu erhalten war nicht schwierig, wenn man dafür sorgte, dass der Betroffene rund um die Uhr ein wenig Vampirblut im Körper hatte. Man konnte ihm einfach befehlen, weiteres zu trinken … Michael hatte beim ersten Kampf gegen Fiacail Fhola keinen Gedanken daran verschwendet, wie viele der Menschen, die sie getötet hatten, wohl gegen ihren eigenen Willen die grausamen Taten begangen hatten, für die man sie verurteilt hatte. Auch jetzt war es wieder so: Die Schurken würden die Guten zwingen, massenhaft Unschuldige ins Grab zu befördern. Wenn sie schon abtreten mussten, dann nicht allein. So waren Schurken nun mal. Genau das machte Schurken aus.

Frais drehte sich wieder zu Micha um. Damals hatte er lange Haare und einen Oberlippenbart gehabt, nun war er glatt rasiert und sein Haar modisch kurz. Unter dem hellbraunen Mantel trug er ein lavendelblaues Hemd. »Du lieferst mir eine gute Vorlage«, sagte er lächelnd, »besser als in meinen schönsten Träumen, die ich von diesem Tag gehabt habe. Ich kann den Blutdurst an dir riechen, und das versetzt mich in Entzücken, kann ich dir sagen. Honigsüß in meiner Nase. Es ist traumhaft, dich so völlig am Ende zu sehen.«

»Ich bin noch nicht am Ende, du Hurensohn.« Micha versuchte, sich auch gefesselt aufrecht zu halten, obwohl die Schwäche es sehr schwer machte.

Frais musterte ihn skeptisch. »Bist du sicher? Du möchtest also nicht mit mir darüber reden, wie viel ihr wisst und was ihr vorhabt?«

»Nein, du Arsch. Kein verficktes Wort.«

»Weißt du, Michael, ich bin wirklich sauer, dass ihr Lámh Dé aus meinem Labor entwendet habt. Ihr hattet ihn schließlich lange genug, um seine Gabe zu erforschen, oder? Jetzt bin ich an der Reihe. Was kann ich dafür, dass ihr die Zeit nicht genutzt habt, um zu tun, was erforderlich ist? Ich war nicht so pingelig wie du und deine zahnlosen Kollegen. Ich habe sein Blut getrunken.«

Michael sagte nichts dazu. Es könnte ein Bluff sein. Seine Auffassungsgabe war stark beeinträchtigt. Es war nicht sinnvoll, irgendwas zu riskieren.

»Erst mal«, fuhr Frais fort, da er sichtlich die Geduld verlor, »stelle ich fest, dass dir unsere Unterhaltung nicht zusagt. Aber das macht überhaupt nichts. Der Zufall hat es perfekt eingerichtet: Ich kann dich zu Tode foltern, ohne dafür auch nur einen Finger krumm machen zu müssen. Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis du das verstehst.« Sich seelenruhig die Finger knetend, schritt er ausgreifend zur Tür. Frais konnte lautlos gehen, wenn er wollte, wie Lex. Manche Vampire setzten gern auf den einschüchternden Effekt. »Erst mal lassen wir dich einen weiteren Tag ohne Blut. Ich bin gespannt, wie gesprächig du dann bist.«

In Michas Hirn begann sich allmählich alles zu drehen. Er musste den Kopf schief halten, um nicht umzufallen. Er stand kurz vor der Wahnphase, das wusste er, jener Phase der Aushungerung, die gemeinhin als die Hölle auf Erden galt und von der sich viele, die sie erlebt hatten, nie mehr ricthtig erholten. Seine Schonzeit lief ab. »Fick dich, du Hurensohn«, nuschelte er.

»Jaja, das hast du ja schon gesagt. Ich sehe, dein Vokabular ist erschöpft und du solltest dich ausruhen. Wir sehen uns morgen.«

Als zum wiederholten Male die Tür ins Schloss fiel und Micha ganz allein in dem völlig leeren, quadratischen Zimmer zurückblieb, wusste er, dass es eine harte Nacht werden würde, eine Nacht, die nahezu alles, was er bisher erlebt hatte, in den Schatten stellte.

Er irrte sich nicht.
 

Am nächsten Tag ging es den MIU-Vampiren wesentlich besser. Sie hatten ihren erhöhten Energiebedarf gedeckt und beteuerten den Menschen – allen außer Buschfeldt –, dass sie ganz vorsichtig gewesen wären.

»Wir haben nichts anderes erwartet«, sagte Schievenhöfel gelassen. »Ihr wisst ja, wie ihr es anzustellen habt.«

Yellow Pfeiffer erklärte, dass er über Snowine nichts herausgefunden hatte. »Die haben keine Homepage und auch sonst nichts, nur den kleinen Eintrag auf der Fachschaftsseite der Uni Wuppertal, den wir schon gesichtet haben. Ich weiß nicht, auf welche Art die ihr Album vertreiben.«

»Du meinst, wie Eff Eff es vertreiben«, merkte Flex an.

»Das ist eben die Frage. Die Todesfälle wandern mit Fiacail Fhola von Stadt zu Stadt, waren von Anfang an nicht auf Wuppertal beschränkt. Man muss es irgendwie direkt von ihnen beziehen können. Aber wie? Und wer bekommt es?«

»Wie viele Snowine-Leichen haben wir denn inzwischen?«, fragte Simon.

»Über zwanzig«, beantwortete Elsi die Frage.

Alle zogen scharf die Luft ein. Mangels Kontakt mit der Polizei hatten sie die steigende Anzahl der Todesfälle völlig aus den Augen verloren.

»Dit ist heftig«, murmelte Basti. »Allet junge Leute?«

»Ja. Hier natürlich vorwiegend Studenten. Aber die Universitäten haben wir uns ja alle vorgenommen … Bis auf die Tatsache, dass Eff Eff sich auf deren Partys satt trinken, haben wir ja nichts Auffälliges festgestellt.«

»Apropos nichts Auffälliges«, meldete sich Bock zu Wort. »Ich hatte ja an Alea ein Langzeit-EEG vorgenommen. Das Ergebnis ist auch hier: nichts Auffälliges. Warum er nicht aufwacht, ist mir ein Rätsel.« Er rieb sich das Kinn und ergänzte zögernd: »Allerdings – aber das ist allenfalls minimal auffällig – gibt es sehr regelmäßig leichte Veränderungen in den Hirnstromkurven, die sich nach kurzer Zeit wieder glätten. Was ich auch nicht verstehe, ist Aleas ungewöhnlich starke Kreislaufaktivität mit erhöhtem Blutdruck und beschleunigtem Puls. Das ist eigentlich typisch für die Wirkung von Vampirgift.«

Sobald er dieses Wort ausgesprochen hatte, zuckten alle Blicke alarmiert zu ihm.

»Du willst doch net sagen, dass ihn jemand beißt!«, quietschte Lasterbalk entsetzt.

»Nein, ich glaube –«

»Hast du geguckt, ob er Löcher hat? Ja? Ja

»Ich hab keine gesehen! Beruhigt euch. Es wäre auch eigentlich seltsam, denn nicht mal die höchste Dosis Vampirgift würde eine so hartnäckige Bewusstlosigkeit erklären. Es sediert zwar stark, narkotisiert aber nicht dauerhaft.«

Zumindest Falk beruhigte das nicht. »Vielleicht haben ihn viele gebissen! So wie die Putzfrau in Hamm, wisst ihr noch? Bock, in den Hals müssten sie ihn nur zum Trinken beißen, aber um Gift reinzudrücken, langt auch jede andere Körperstelle! Vielleicht haben sie ihn da gebissen, wo man es nicht gleich sieht!«

»Richtig.« Der Arzt sah ihn beeindruckt an. »Interessanter Gedanke. Wäre eine Untersuchung wert. Ich werde mal jeden Teil seines Körpers genau unter die Lupe nehmen. Zugegeben, das wollte ich schon immer mal machen …«

»Bock, wer betreut Alea denn auf der Station? Weißt du das?«

»Ja, es ist diese vorwitzige, rigorose Schwester mit dem schlechten Parfumgeschmack, die euch empfangen hat, als ihr ihn zurückgebracht habt. Ich hab mit ihr zusammen das EEG gemacht. Sie ist immer nachts für ihn zuständig, macht ihn sauber, deckt ihn um und all das.«

»Dann sag ihr, sie darf ihn nicht aus den Augen lassen.« Falk fixierte Bock mit zusammengekniffenen Augen. »Ich weiß, es klingt nach Overkill, aber wir müssen in Betracht ziehen, dass vielleicht jemand … nachts hier reinkommt.«

»Das ist bei dem vielen Nachtpersonal recht unwahrscheinlich, Falk.«

»Trotzdem.«

Bock nickte. »Ist gut, ich kümmere mich drum. Erst mal gehe ich ihn mir jetzt ansehen.«
 

Bock fand Alea unverändert in traumlosem Schlaf vor. Die zwölf Eingangskanäle der Elektroden malten überwiegend langsame Wellen auf den Elektroencephalographie-Monitor, sämtlich Delta-Wellen mit einer Frequenz zwischen 0,5 und 3,2 Hertz. Bock schloss die Tür, damit keine Schwester ihn stören konnte, und untersuchte Alea vom Scheitel bis zur Zehenspitze. Er fand nichts. Keinen einzigen Biss, ganz zu schweigen von mehreren. Auch sonst keine Verletzung. Nichts.

»Ist doch nicht zu fassen«, murmelte der Arzt. »Ich glaube, langsam werden wir alle paranoid.« Kopfschüttelnd überließ er den komatösen Sänger wieder sich selbst.
 

Fritz war nicht entgangen, dass das unheimliche Wikingerblut nicht aus dem HQ verschwunden war. »Wieso behalten wir das böse Zeug?«, fragte er El Silbador, der gerade Laptop-Dienst hatte und dabei war, Falk Adressen von Weinhändlern zu diktieren, die ihr Hyperborea in Landau nicht abgeholt hatten.

»Weil Alex das trinken muss«, antwortete Elsi. »Weißt du das nicht? Er beißt nicht.«

»Oh, doch, ich weiß … Aber ist das nicht verdammt gefährlich?«

»Nein«, sagte Falk, ohne aufzusehen. »Alex tut nichts. Der würde sich die Hauer ziehen lassen, wenn die Mistdinger nicht nachwachsen würden.« Er wandte sich wieder an Elsi. »Wie war die Postleitzahl noch mal …?«

El Silbador wiederholte sie und fügte hinzu: »Wen sollen wir überhaupt dahinschicken? Wer wird das für uns machen?«

»Schandmaul?«, sagte Falk versuchsweise. »Das sind doch unsere Detektive. Nicht gerade toll im Vampire Töten, aber Rumschnüffeln können die richtig gut.«

»Meine Frau mag die Band«, sagte Fritz. »Sind denn alle Kapellen aus dem Genre bei der MIU?«

»Nein. Manche arbeiten uns auch einfach nur zu, wenn es sich ergibt, Letzte Instanz zum Beispiel. Es gibt viel mehr Eingeweihte als Mitarbeiter, aber du wirst bestimmt nie alle kennen lernen.«

»Haben die auch alle so …« Fritz senkte die Stimme, weil er nicht wusste, ob er den beiden Musikern damit zu nahe trat. »… dumme Namen wie ihr?«

»Dumme Namen?«, fragte Elsi verständnislos lächelnd. »Wieso dumm?«

»Naja, ihr seid die Einzigen, die immer die Codes benutzen. Ich meine, Falk, wie heißt du richtig

»Die Vollversion Falk Irmenfried von Hasenmümmelstein«, gab Falk augenzwinkernd zurück.

»Haa haa«, erwiderte Fritz gekränkt.

»Falk war wirklich ein Aristokrat, bevor er zum Vampir wurde!«, erklärte El Silbador stolz, als wäre das sein persönlicher Verdienst.

Falk nickte gewichtig. »Lieber ein schöner, langer Name als so was Komisches wie … Asp

»Ja, das ist auch komisch«, musste Fritz einräumen.

»Naja. Asp war im jetzigen Leben Alex’ Autorenkürzel in der Schülerzeitung, aber wir glauben, dass es gleichzeitig die ersten drei Buchstaben seines Wahrnamens sind. Oder ein Akronym. Wir haben schon ganze Abende damit zugebracht, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Irgendwie fangen nur blöde Wörter mit Asp an: Asphalt … Aspiration … Asphyxie … Asperger-Syndrom … Aspartam … Aspirin …«

»Ich google das mal.« Elsi tippte etwas in den Laptop. »Hmm … Also, ASP ist kurz für: Abenteuerspielplatz … Afrikanische Schweinepest … den Flughafen Alice Springs … Amnesic Shellfish Poisoning, die toxische Wirkung essbarer Meerestiere … Antisoziale Persönlichkeitsstörung … den Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik der CSU … Aufbauseminar für punkteauffällige Kraftfahrer …«

»Und für Astralpunkte bei DSA«, ergänzte Falk.

»Wie auch immer, alles Blödsinn. Wir werden es nie rauskriegen. Schade, ein ewiges Rätsel der Menschheit.«

Falk zuckte die Schultern. »Also wenden wir uns lieber wieder der Arbeit zu. Elsi, sag Anna und Birgit bescheid, damit sie rauskriegen, wo das echte Hyperborea landet. Ist ja bestimmt auch in ihrem Interesse, wenn sie das falsche nicht mehr trinken müssen.«

»Vielleicht sollten wir ihnen was von dem Bockmist schicken«, grinste El Silbador. »Frauen stehen doch auf Diät-Shakes.«

»Psssst … Lass Bock nicht hören, dass wir so über sein Essen meckern.«

Fritz ließ die beiden Saltatio-Mortis-Musikanten allein. Seiner Meinung nach waren die beiden für die Situation unangemessen guter Dinge. Eigentlich gab es rein gar nichts zu lachen: Falsche Vampirnahrung mit schlimmen Nebenwirkungen, keine Alternativen, über zwanzig Tote, ohne dass man die Serie unterbrechen konnte, zu wenig Verbündete, zu wenig Antworten, zu wenig Hinweise, Hetzaktionen gegen Vampire, Alea war grundlos ausgeschaltet, Eric und Micha waren schlicht verschwunden, Buschfeldt war dauergereizt, es fehlte an wirksamen Waffen, es fehlte eigentlich an allem

Fritz merkte, dass sich diese Liste schier endlos fortsetzen ließ. Vielleicht lachten Falk und Elsi deshalb so viel: Sie wussten, dass sie schon bald gar nichts mehr zu lachen haben würden.
 

Im labyrinthartigen, unterirdischen Versteck von Fiacail Fhola, wo es weder Tag noch Nacht gab, erwachte Eric wiederholt aus einem flachen, unruhigen Schlaf. Es war schwierig zu schlafen, wenn man rund um die Uhr von grellem, künstlichem Licht beleuchtet wurde, aber ebenso schwierig, nicht zu schlafen, wenn man Stunde um Stunde ohne jede Abwechslung in einer kleinen, nur mit Stroh vollgestopften Gitterzelle sich selbst überlassen wurde. In unmittelbarer Reichweite stand eine Tasse mit schwarzem Tee, der inzwischen kalt war. Eric überlegte, ob er die Hand danach ausstrecken sollte; der Tee war bisher das Einzige, das man ihm gegeben hatte, aber er sah nicht ein, mehr davon zu trinken als nötig. Vielleicht wollten sie ihn an das Getränk gewöhnen und es später nach und nach mit irgendwelchen Drogen versetzen, um ihn gesprächig zu machen. Als Geheimdienstler kannte Eric viele Tricks, die von Kriminellen gerne angewandt wurden.

Kurz nachdem er sich entschieden hatte, den Tee weiterhin stehen zu lassen, wusste er wieder, was ihn diesmal geweckt hatte. Es waren Schritte im Raum nebenan gewesen, Schritte, die er inzwischen kannte: die watschelnden der dicklichen Frau und die des dünnen, rotnäsigen jungen Mannes, der ihn und Micha ausgeknockt hatte. Sie schienen zu Frais’ engsten Vertrauten zu gehören. Wenn sie sich im Zimmer nebenan aufhielten, wusste Eric immer, was das bedeutete: Sie versuchten, an Informationen zu gelangen.

Auch diesmal hatten sie damit keinen Erfolg.

Eric hörte Micha heiser schreien: »Eher beiße ich mir die Zunge ab, ihr Wichser!!«

Danach war es wieder gespenstisch still.

Wenn sie mit ihm durch sind, dachte Eric, bin ich dran. Wenn er nicht redet, hat er keinen Wert für sie, also werden sie ihn einfach verhungern lassen und sich dann mich vornehmen. Ob ich irgendwas tun kann? Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Ob sie ihm Blut geben, wenn ich rede? Aber was sollte er ihnen erzählen? Die Wahrheit verbot sich von selbst. Wie viel wussten sie überhaupt? Ohne das zu wissen, konnte man ihnen nichts vorspinnen. Und außerdem: Wenn Eric jetzt nachgab, untergrub er damit den heldenhaften Widerstand, den Micha Frais und seiner Bande entgegensetzte, und machte ihn sinnlos. Dann wäre das Leid umsonst gewesen …

Einmal mehr hatte Eric das Gefühl, in Hoffnungslosigkeit zu ertrinken. Es gab keine Chance, hier herauszukommen – nicht als Mensch. Würden die anderen ihn und Micha überhaupt vermissen? Würden sie sie suchen? Konnten sie das überhaupt, wenn kein Hyperborea verfügbar war?

Plötzlich musste er mit aller Kraft eine ihn überwältigende Verzweiflung niederringen. Sie schlang sich um seine Brust wie eine Drahtschlinge, ein eisernes Band, aus dem es kein Entkommen gab. Er musste heftig durch den Mund atmen, weil er plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen.

Dann trat plötzlich ganz leise jemand in den Raum. »Eric?«

Der Augenblick gefror.

Eric starrte die schlanke, dunkelhaarige Frau an. Er wollte seinen Augen nicht trauen. »Silke?« Er konnte das Wort selbst kaum verstehen. Sein Hals war ganz trocken, weil er so lange nicht gesprochen hatte.

Frau Schmitt hob ihren langen Zeigefinger an die Lippen. »Bleib ruhig, Eric. Ich sorge dafür, dass du hier rauskommst.« Dann zog sie sich wieder auf Zehenspitzen zurück.

»Silke, warte – …«, krächzte er, doch sie warf ihm einen warnenden Blick zu, der sofort wieder weich wurde.

»Pssst. Alles wird gut«, versprach sie flüsternd. Und verschwand.

Gemeutert, nicht geläutert

»Wir haben die Ergebnisse der chemischen Analyse des Wikingerbluts«, teilte Buschfeldt seinen Agenten missmutig mit. »Es enthält, wenn Dr. Saltz mich richtig informiert hat, einen bunten Cocktail an Hormonen.«

»Und zwar in völlig übertriebener Menge, Chef«, fügte Bock hinzu. »Vor allem Adrenalin und Testosteron. Da die Hersteller offenbar wissen, dass Hormone bei Vampiren problemlos die Blut-Hirn-Schranke passieren …«

»Testosteron?«, wiederholte Simon stirnrunzelnd. »Müssten wir davon dann nicht notgeil werden?«

»Nein, gar nicht«, übernahm Lasterbalk, der sich mit Hormonen ebenfalls auskannte, die Antwort. »Manche Leute benutzen das als Doping-Mittel. Es steigert die Leistung, macht aber auch … aggressiv. Und zusammen mit Adrenalin …«

»Da ist noch viel mehr in dem Gemisch«, fuhr Bock fort, »auch Glückshormone wie Serotonin und Dopamin, alles wild durcheinander und in Mengen, die für menschliches Blut unvorstellbar sind. Da kann man als Vampir nur vor Verwirrung durchdrehen!«

»Gibt es eine Möglichkeit, die rauszufiltern?«

»Nein, Schätzchen. Ein selektiver Filter für Hormone wurde leider noch nicht erfunden.«

Wieder ließen alle die Schultern hängen.

»Ich halte ’s nicht mehr aus, hier rumzusitzen und nichts zu tun!«, grollte plötzlich, zu jedermanns Überraschung, ausgerechnet Sugar Ray. »Vor allem hätte Eric sich längst melden müssen. Bei Micha weiß man, dass er unzuverlässig ist, aber nicht bei Eric!« Als niemand ansetzte, ihm beizupflichten, nicht einmal Simon, stand der schwarzhaarige Vampir wortlos auf und ging.
 

»Lass uns noch ein bisschen Bockmist trinken«, schlug Falk seinem Bandkollegen vor. »Ich hab festgestellt, dass es auszuhalten ist, wenn man was von KPs Kakaopulver reinmacht.«

»Klingt noch ekliger, aber mir tut auch schon wieder der Bauch weh«, antwortete Lasterbalk matt.

»Du weißt, wir können im Moment nicht ständig draußen rumlaufen und Leute beißen. Weiß der Geier, warum Eff Eff gerade die Füße stillhalten, aber wir dürfen der Polizei keine neuen Gründe für verschärfte Kontrollen geben. Oh je, mir tun die braven, registrierten Vampire Leid, die hier wohnen.«

»Die werden sich schon rechtzeitig verkrümelt haben, bis die Luft wieder rein ist.« Lasterbalk hob aufmerksam den Kopf, als El Silbador in den grauen Raum spaziert kam.

»Na? Ist schon wieder ganz schön spät, aber ich bin noch überhaupt nicht müde. Boris und ich haben gerade Anna und Birgit mitgeteilt, was Sache ist, und sie haben versprochen, sich drum zu kümmern. Was ist mit euch, wollt ihr jetzt wieder die Nacht unsicher machen?« Elsi lächelte verwegen. Er hatte auch als jüngstes Mitglied der Band kein Problem damit, bluttrinkende Vampire um sich zu haben. Ja, er war schon ein furchtloser Bursche, der Elsi.

»Nein«, antwortete Falk, während er El Silbador skeptisch beäugte. »Nein, ich fürchte, heute bleibt für uns die Küche kalt.«

»So, und was macht ihr dann stattdessen?« Elsi wartete aufmerksam die Antwort ab; als keine kam, verschwand sein gutmütiges Lächeln wie in Zeitlupe. Unter dem prüfenden Blick der beiden Vampire geriet seine Unerschütterlichkeit nun doch ein wenig ins Wanken. »He, wieso starrt ihr mich denn so an?«

»Elsi …«, begann Lasterbalk vorsichtig, doch schon wich der junge Mann mit dem Ausdruck reifender Erkenntnis zurück.

»Oooooooh nein! Denkt nicht mal dran! Ich erlaube euch bestimmt nicht, mich anzuknabbern!« Mit diesen Worten ging er ziemlich schnell zur Tür, um den Raum unverkennbar fluchtartig zu verlassen.

»Mist«, murmelte Falk. »Ich wusste nicht, dass er so reagieren würde. Hab gedacht, es würde ihn nicht mal überraschen.«

»Ach, der fängt sich schon. Ich gebe ihm …« Lasterbalk schaute auf die Uhr. »… eine halbe Stunde. Dann ist er soweit. Glaub mir, Elsi enttäuscht uns net.«
 

Er behielt Recht. Falk und Lasterbalk blieben genau zweiundzwanzig Minuten abwartend und schweigend in ihrem gemeinsamen Zimmer sitzen, dann wurde vorsichtig die Tür geöffnet, und El Silbador kam, sich verlegen räuspernd, wieder herein.

»Also gut«, erklärte er, »von mir aus. Ich hab Bock bescheid gesagt. Aber wie halten wir das vor Buschfeldt geheim? Bei Einsätzen ist das nicht erlaubt, auch nicht innerhalb der Bands.«

»Du bist erkältet und trägst einen Schal?«, schlug Falk vor.

»Oh … Okay.« Elsi wirkte nicht beruhigt. »Ich – ich kann euch nicht beide füttern«, erklärte er dann nach tiefem Luftholen.

»Schon klar«, sagte Lasterbalk in betont freundlichem Ton. Er wollte weder, dass Elsi Angst hatte, noch dass er es sich wieder anders überlegte. »Wir wollen net satt werden, nur … durchhalten.«

»Okay, wenn ihr meint …«

»Du wirst danach gut schlafen können«, fügte Falk hinzu. »Du brauchst nicht mal aufzustehen, du kannst gleich hier weiterschlafen bis morgen früh, wenn du magst.«

»Gut …«

»Du hast doch keine Angst, oder?«, hakte Lasterbalk stirnrunzelnd nach.

»Ich sollte keine haben, oder nicht?« Als El Silbador sich schließlich ganz ins Zimmer wagte und die Tür hinter sich schloss, konnte seine unbewegten, tapfere Miene nicht darüber hinwegtäuschen, dass er aussah wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. »Gut, bringen wir’s hinter uns«, murmelte er. »Ich erlaube euch hiermit, mich zu beißen …«

»Danke, Elsi. Wir werden dich auch net umwerfen, aber du musst dich hinlegen, weil du sonst kein Blut im Hals hast. Am besten – … ja, genau, auf die Seite.«

Elsi legte sich auf Falks Bett, zog die Beine an den Bauch und versuchte immer noch lässig zu wirken, während er sich mit einer Hand das Haar vom Hals strich. Tatsächlich war sein Anblick für einen guten Menschenkenner so erbärmlich, dass er Lasterbalk richtig Leid tat.

»Jetzt komm, Elsi!« Falk lachte leise und kraulte ihm den Kopf wie einem Meerschweinchen. »Keiner will dich umbringen.«

»Ich bin einfach nicht der Typ für spitze Sachen, die einem in den Hals gerammt werden«, gestand El Silbador und zitterte noch mehr. »Und es … naja, soll schon weh tun …«

»Ach was, du bist doch ein großes Mädchen!«, grinste Lasterbalk. Dann wandte er sich ernsthaft an Falk. »Du zuerst, Spielmeister?«

»Nein, ich lasse dir den Vortritt, Chefdichter«, erwiderte Falk großzügig. »Aber lass mir noch was drin!«

Elsi auf dem Bett kicherte nervös. »Ingo hat gesagt, dass man kein echter MIU-Agent ist, wenn man nie von einem Vampir gebissen wurde. Ich sollte froh sein, dass ihr mich entjungfert und nicht eine von diesen Bestien, was?«

»Da habt ihr wohl beide Recht.« Lasterbalk musste ebenfalls kichern, ehe er mit der linken Hand behutsam in Elsis Haarschopf griff und voller Vorfreude seine Fangzähne herausschnappen ließ.
 

Gegen zwei Uhr fünf schlief Boris Pfeiffer gerade ziemlich tief. Dieser Tatsache war es geschuldet, dass es ziemlich lange dauerte, ehe das zaghafte Meldesignal des im Stand-By-Modus neben dem Bett stehenden Laptops seinen Schlaf durchdrungen hatte. Erst Minuten später zeichnete sich ab, dass derjenige, der da Kontakt aufzunehmen versuchte, dies offenbar in dringlicher Angelegenheit tat. Mühsam die Müdigkeit abschüttelnd griff Pfeiffer neben sich, hob den Laptop vom Boden auf – es gab im Zimmer nichts, auf dem man ihn hätte abstellen können – und setzte ihn vor sich auf der Bettdecke ab, um ihn im Vollmodus zu starten und sich das Headset aufzusetzen. Nicht immer gab es einen Grund, auf nächtliche Nachrichten umgehend zu reagieren, doch in der herrschenden Situation war Boris sofort angespannt und wissbegierig auf die Information. Er hoffte, dass es Micha war oder wenigstens Eric oder auch Fírinne, hoffte aber nicht, dass ein Anklopfen zu so mieser Zeit etwas Schlimmes bedeutete.

Wir werden sehen, dachte er und meldete sich. »Hallo, hier Adler Eins …«

»Yellow Pfeiffer von In Extremo?«, fragte eine gemessene weibliche Stimme, die Boris kannte. »Kannst du offen sprechen?«

»Frau Schmitt!«, rief er aus. Mit ihr hatte er am allerwenigsten gerechnet. »Ja, kann ich! Schieß los!« Schon verrenkte er sich den Oberkörper, um mit den Fingern den Lichtschalter in der rohen Betonwand zu erreichen. Für diese Unterhaltung musste er einfach wach sein.
 

Marco und Basti waren die ersten, die anlässlich der hochbrisanten, neu eingegangenen Informationen ebenfalls aus dem Schlaf gerissen wurden.

»Schnell, wir müssen alle zusammentrommeln!«, insistierte Boris, und er sah nicht aus, als würde er einen Witz machen. »Holt alle!«

»Etwa auch den Chef?«, fragte Flex, sich die Augen reibend.

»Ich sagte alle

»Jaja, schon gut.«

Innerhalb der nächsten Viertelstunde gelang es, den gesamten MIU-Unterschlupf mit allen verbleibenden vierzehn Mann zu mobilisieren.

»Also!«, erklärte Pfeiffer den Versammelten, die angesichts seiner Erregung mittlerweile hellwach waren. »Frau Schmitt hat mir alles mitgeteilt. Micha und Eric sind bei Fiacail Fhola, und zwar als Paul Frais’ persönliche Gefangene. Angeblich weiß er inzwischen, wo wir uns verstecken. Das Sicherheitsleck muss bei Fírinne liegen, denn Eric und Micha wurden geschnappt, sobald sie sich von denen getrennt hatten. Eff Eff müssen bei den Iren einen Informanten haben.«

»Was sollen wir machen?«, fragte Simon. »Angreifen? Wie bei Aleas Befreiung?«

»Nein«, wies Boris den Vorschlag strikt zurück, »das geht jetzt nicht mehr. Frais hat auf diesen Schlag reagiert und seine Leute zusammengezogen. Das Versteck ist jetzt uneinnehmbar.« Er zögerte und fügte hinzu: »Uneinnehmbar für … viele.«

»Ich verstehe nicht«, knurrte Buschfeldt.

»Ich auch nicht«, gestand Schievenhöfel.

Boris befeuchtete sich die Lippen und hielt den Laptop hoch, den Bildschirm den Umsitzenden zugewandt. Darauf zeichnete sich der Scan einer labyrinthartigen Skizze ab. »Seht ihr? Silke hat mir einen Plan des ganzen Verstecks geschickt. Das Tunnelsystem ist sehr weitläufig, es unterkellert fast die halbe Stadt, wie ich schon befürchtet habe. Es gibt mehrere Zugänge. Sie kann mich auf dem Laufenden halten, wann welcher Eingang wie bewacht wird, und sie kann ein paar von uns durch die Tunnel lotsen. Aber wir können nicht alle da runter, das fällt sofort auf.« Seufzend fügte er hinzu: »Wir können keine Vampire runterschicken. Die Eff-Eff-Vampire würden das sofort wittern. Menschen allerdings tummeln sich da unten gewaltig viele, weil Paul Frais ständig unter Vorwänden Fremde runterlockt. Vor allem natürlich als … Speisevorrat.«

»Ah ja«, begriff Ingo. »Ich sehe schon, was du vorhast: Ein paar von uns Menschen lassen sich als Hauptgericht einschleusen … und wenn sich die Gelegenheit bietet, dann …«

»Genau.« Pfeiffer nickte.

»Dann steht das Team ja fest, oder? Sebastian, Marco … und ich.«

»Und ich!«, fügte jemand hinzu. Alle Köpfe wandten sich nach ihm um.

»Och, Fritz«, sagte Falk kopfschüttelnd. »Wir wissen deinen Mut zu schätzen, aber hältst du das wirklich für klug? Du warst doch schon bei Eff Eff da drinnen, willst du das wiederholen?«

»Micha ist mein Partner!«, beharrte Fritz.

»Jaah, aber aus irgendeinem Grund, den du uns nicht nennen willst, haben Eff Eff dich entführt, ohne dass der alte Herr Rhein irgendwas dagegen unternommen hätte, oder sehe ich das falsch?«

»Ich glaube nicht, dass er das für Micha macht«, behauptete Ingo Hampf und kreuzte die kräftigen Arme vor der Brust. »Ich glaube eher, Klugscheißer will sich selbst was beweisen.«

Fritz senkte den Blick und sah ertappt aus.

»Ick bin dafür, dass wir ihn mitnehmen«, sprach sich Basti für Fritz’ Teilnahme am Einsatz aus. »Wir können jeden jebrauchen, und als Fakefang isser doch mittlerweile janz brauchbar.«

»Gut.« Pfeiffer nickte beifällig und wandte sich wieder dem Laptop zu. »Dann werden Frau Schmitt und ich jetzt einen Plan ausarbeiten, damit wir anfangen können, bevor es hell wird. Elsi, kommst du?«

»Ja, ja, bin schon da …« Die Antwort ging in einem Gähnen unter.

Boris drehte sich nach dem wenig affirmativen Geräusch um und stutzte, als sein Blick auf El Silbador fiel. Nicht nur, dass der junge Mann einen dünnen Fransenschal eng um den Hals geschlungen trug, nein, er sah auch noch verdächtig blass und müde aus. Pfeiffer holte tief Luft und beherrschte sich, bis Buschfeldt ohne jeden Kommentar das Besprechungszimmer verlassen hatte; dann sprang er auf, um den Vampiren, die ihm gerade folgen wollten, den Weg abzuschneiden und vor ihren Nasen die Tür zuzudrücken. Falk und Lasterbalk schauten ihn unerfreut an und schienen schon zu ahnen, was ihn verärgert hatte.

»Sagt mal, habt ihr sie noch alle?«, schimpfte Boris, der es immer noch nicht ganz glauben konnte. Anklagend zeigte er auf Elsi. »Wir brauchen jeden wachen Kopf und ihr beißt einen unserer Supervisors? Spinnt ihr? Ihr wisst, dass das auf Einsätzen tabu ist!«

»Bock hat es erlaubt«, murmelte Elsi. »Er hat mir Tabletten gegeben. Es ist eine Notsituation, und … ich lebe ja noch.«

»Notsituation?«, wiederholte Boris. »Nur weil diese Pfeifen das Buck-Up nicht trinken wollen?«

»Man kann das nicht trinken!«, rechtfertigte Falk sich ärgerlich.

»Trotzdem könnt ihr euch nicht einfach durch das Team beißen!«

»Machen wir ja auch gar nicht!«

Unerwartet ging Ingo Hampf dazwischen. »Ich frag mich gerade, warum ihr das nicht macht. Das ist eine verdammt geile Idee! Wir jammern, dass wir kein Blut für unsere Vampire haben, dabei sind wir Menschen voll mit dem Zeug! Wer könnte besser im Geheimen Blut spenden als wir

Pfeiffer ließ entgeistert die Schultern fallen. Darauf fiel ihm so schnell keine Erwiderung ein, doch Basti und Flex sprangen ihm zur Seite.

»Willste jetzt damit sagen, dass wir uns alle schwächen lassen sollen, bevor wir da in dit Versteck rennen? Ick denk ja nicht dran!«

»Es ist doch nur ein bisschen Blut, Lange!«, hielt Hampf dagegen. »Hab dich doch nicht so! Wer ist denn hier, um unser Versteck zu schützen, wenn wir weg sind, na? Außerdem haben Simon und Silvio genauso Hunger wie wir!«

»Ick gloobe nicht, dass ick für die Subway-Vampire bluten werde, Kumpel.«

»Für uns auch net?«, fragte Lasterbalk.

»So was sollte gar nicht nötig sein!«, befand Flex.

»Pech, es ist aber nötig.« Ingo sah fest vom einen zum anderen. »Wenn Michael hier wäre, hätte er jetzt genau das gleiche Problem.«

»Micha würde uns niemals beißen!«, empörte sich Marco. »Ganz egal, wie großen Hunger er hat!«

»Oh, ja, ich erinnere mich«, sinnierte Ingo und zitierte, wobei er versuchte, Michas Tonfall zu imitieren: »Nääääh, ich beiße meine Bänd nicht! Sind meine Fräunde, keine Bierdosen! Wär doch total respäktlos!«

»Janz jenau.« Basti reckte das Kinn vor.

Energisch trat Ingo auf ihn zu und fuhr ihn an: »Und wenn euer letztes Einhorn am Verhungern wäre, he?! Würdet ihr ihm nicht mal so ’nen kleinen Freundschaftsdienst erweisen, ihr Feiglinge?«

Basti machte einen Schritt rückwärts, verblüfft über die Offensive, und war plötzlich um eine Antwort verlegen. Fragend suchte er die Blicke seiner Bandkollegen.

Schließlich sagte Marco ruhig: »Natürlich würden wir.«

»Jeder von euch?«, bohrte Ingo.

»Ja. Klar.«

»Ach! Und wenn er sich weiterhin weigern würde, euch zu beißen? Würdet ihr ihn verrecken lassen? Oder würdet ihr den Beißzwang benutzen, um ihm das Leben zu retten?«

Wieder zögerten die Männer von In Extremo. Wieder war es Flex, der leise sagte: »Ja, würden wir bestimmt.«

»Na, dann sind wir uns doch einig!« Ingo klatschte theatralisch in die Hände. »Jeder blutet für seine Vampire, alles klar? Bock kann das Blut sammeln und kühlen, und aus diesem Pott kriegt dann der Vampir was, der es braucht. Ihr wisst so gut wie ich, dass es Vampiren dreckig geht, wenn sie nichts trinken. Simon, Silvio, Falk und Lasterbalk müssen unser Rattenloch hier verteidigen.«

»Vergiss nicht Asp«, erinnerte ihn Boris.

»Jaah, aber der wird das hormonverseuchte Wikingerzeug unserem Frischblut vorziehen. Was ist? Gehen wir jetzt spenden, oder was?« Ingo machte eine energische Geste zur Tür. »Los jetzt! Und aufpassen, dass der Chef nichts mitkriegt!«
 

Dr. Saltz verriegelte die Tür, nachdem sich alle in den Bockshof gedrängt hatten.

»Ihr habt es euch überlegt?«, wandte Falk sich in versöhnlichem Ton an In Extremo.

Boris nickte etwas verlegen. »Wir müssen zusammenhalten. Tut uns Leid, dass wir das vergessen haben.«

Lasterbalk lachte und sang: »Eins zwei, eins zwei, eins zwei drei … sieben Köche kotzen Brei …«

»Du krichst gleich jar nüscht«, murrte Basti, dem Bock gerade grinsend eine sterile Nadel in die Armbeuge trieb, um das Blut auszuleiten.

»Was ist mit Fritz?«, fragte Pfeiffer.

»Ach, den können wir im Leben nicht dazu überreden.« Ingo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sowieso würde der uns nur umkippen und wäre für den Einsatz nicht mehr zu gebrauchen. Lasst mal, ich bin froh, dass der gerade ausnahmsweise mal ’n bisschen Courage zeigt.«

Nachdem Bock mit Lange fertig war, nahm er auch Flex einen halben Liter Blut ab. »Übrigens«, sagte er, während er an Marcos Oberarm den Gurt festzog, um die Vene anzustauen, »für Alea ist das heute der letzte Tag.«

»Wie?«, fragte Falk verständnislos.

»Ich meine, der letzte, an dem er einfach so rumliegen kann. Länger ist das nicht zu verantworten. Wir haben seinen hilflosen Körper schon viel zu lange sich selbst überlassen. Spätestens heute Abend wird das Personal sich Gedanken machen über künstliche Ernährung, Harnableitung und all das. Ich meine, er schläft zwar, aber sein Stoffwechsel arbeitet natürlich weiter.«

Alle Umstehenden tauschte unbehagliche Blicke. Aleas anhaltende Bewusstlosigkeit war zum unbequemsten Thema von allen geworden. Bock sagte daher nichts weiter dazu. Zuletzt schloss er sich der Blutspendeaktion an und punktierte sich selbst.

»So«, sagte er nach getaner Arbeit. »Wenn wir KP auch noch rumkriegen – und das werden wir –, dann haben wir sechs Spender, macht etwas mehr als drei Liter Blut. Das ist wenig, aber hilft erst mal.«

»Wir hatten ja gestern Abend was, also kannst du erst mal Schmittchen und Silvio damit füttern«, bot Lasterbalk an. »Zum Glück sind wir ohne Alex nur vier Trinker.«

Trotz dieser optimistischen Äußerung war allen klar, dass die aufopferungsvolle Blutspende der MIU-Kollegen nur ein Tropfen auf den heißen Stein war.
 

Fritz verstand sich selbst nicht.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihn wirklich zu der Dummheit bewogen hatte, sich freiwillig für die Unterwanderung des Fiacail-Fhola-Verstecks zu melden. Was brachte ihm das? Warum ließ er nicht andere Leute diese Arbeit machen, vor der er sich insgeheim so fürchtete? Als er seiner Versetzung zur MIU zugestimmt hatte, hätte nichts, aber auch wirklich gar nichts ihn darauf vorbereiten können, was ihn erwartet hatte. Niemals hätte er den Kampf gegen Vampire aufgenommen, hätte er es damals schon gewusst – gewusst, was die MIU wirklich war. Trotzdem stand er jetzt hier vor dem Spiegel und versuchte, UV-Lampe und Natron-Kanone so an seinem Körper zu verstecken, dass sie von außen nicht zu sehen waren. Ganz und gar nicht einfach. Wie machte Eric das bloß? Dessen Waffe Sonnenauge sah man nie – dabei hatte Simon Fritz erzählt, dass Eric die Natron-Kanone immer trug, sobald er auf der Bühne stand. Besonders die so getauften Eisheiligen Nächte um die Weihnachtszeit herum zögen viele Vampire an, nicht alle davon mit guten Absichten; einige nutzten die After-Show-Parties der Fans auch, um sich uneingeladen am menschlichen Buffet zu bedienen.

Als Fritz gerade seufzend zu dem Schluss kam, dass er den Hammer, ohne den er den Pflock nicht einschlagen konnte, unmöglich unterzubringen vermochte, klopfte jemand aus reiner Höflichkeit an die ohnehin offenstehende Tür und streckte den Kopf herein. »Fritz?« Es war El Silbador.

»Ja?«

»Ich find’s hammer, dass du mitgehst. Respekt. Boris und ich haben was für dich.« Der junge Mann hielt etwas hoch; es war so klein, dass Fritz ganz genau hinsehen musste.

»Was ist das?«

»Ein Peilsender. Damit wir ungefähr wissen, wo du dich rumtreibst, und es auf der Karte von Frau Schmitt verfolgen können. Es wäre zu auffällig, wenn ihr selber eine Karte hättet. Deshalb hat das Gerät auch einen Audiokanal.«

»Das heißt, wir können die ganze Zeit mit euch sprechen?«, fragte Fritz und hielt still, während Elsi den winzigen Apparat hinter seiner Ohrmuschel anbrachte.

»Ja, genau. Das Ding ist hochempfindlich. KP hat es gerade von der Polizeistation geholt. Ingo, Basti und Marco haben wir auch schon ausgestattet. Wir werden alles mitbekommen, was in eurer Umgebung passiert. Ihr braucht nur ganz leise zu wispern, wir hören alles.«

Diese Aussicht erfreute Fritz. Es würde beruhigend sein, eine Stimme im Ohr zu haben, die ihm genau sagte, was zu tun war.

»Aber«, brachte ihm Elsi bei, »solange ihr etwas sagt, hört ihr uns nicht, und umgekehrt. Wir können uns nicht gegenseitig ins Wort fallen, so weit ist die Technik noch nicht. Sollte aber kein Problem sein. Bist du bereit?«

Fritz fand, er war bereit.
 

»Es müsste bald hell werden«, stellte Ingo fest. »Auf ins Getümmel.«

Er, Van Lange, Flex und Fritz waren soeben mit aufbauenden Worten von allen Kollegen, die sich in dem engen grauen Flur um sie geschart hatten, verabschiedet worden; zwischen den dicht gedrängt Stehenden schlüpfte Amboss wie ein Stück Seife hin und her und wedelte aufgeregt.

Fritz fühlte sich seltsam ruhig, als sie sich zu viert auf den Weg machten. Es war noch mitten in der Nacht, aber er fühlte sich trotzdem ausgeruht und mit den drei kampferprobten Männern an seiner Seite auch nicht schwach. Der Gang bis zum staubigen Aufgang kam ihm unnatürlich lang vor. Wahrscheinlich würde das auch für den Rest des Weges gelten: Es gab nur eine sehr spezielle Möglichkeit, in das Versteck von Fiacail Fhola einzudringen, und es würde kein Leichtes werden, sie richtig zu nutzen.

Kurz bevor sie die Treppe erreichten, wandelte sich schlagartig das Bild.

»Halt«, sagte eine schroffe Stimme, die Fritz zwar kannte, jedoch noch nie in einem so zornerfüllten Ton hatte sprechen hören. Die Vier drehten sich um. Zwischen ihnen und den Zurückgebliebenen stand Klaus Buschfeldt mit vor Wut weißem Gesicht und geballten Fäusten. Seine Augen waren blutunterlaufen. »Ihr werdet keinen verfluchten Schritt mehr machen«, sagte er drohend.

»Warum nicht?«, fragte Fritz, während die anderen wissend den Mund hielten.

»Weil ich es nicht autorisiert habe«, grollte der Direktor. »Ich habe nichts hiervon autorisiert – weder die Aderlässe noch die Peilsender noch irgendetwas anderes, das hier innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist!«

Fritz schluckte. Niemand regte sich; sowohl sein eigenes Team stand still als auch die übrigen Agenten hinter Buschfeldts Rücken. »Ja, und … was soll das jetzt heißen …?«

»Dass Sie, Herr Wunderbaum, genauso wenig irgendwo hingehen wie die drei Herren da neben Ihnen!« Noch immer sprach Buschfeldt gefährlich ruhig.

Fritz’ Hals war trocken. Er räusperte sich und versuchte, vernünftig einzuwenden: »Aber wir müssen, Chef. Soweit ich gehört habe, geht Paul Frais nicht gerade zimperlich mit Micha und Eric um.« Es war nicht klug gewesen, Micha zu erwähnen, deshalb beeilte Fritz sich zu ergänzen: »Eric ist Ihr bester Agent, erinnern Sie sich? Sie wollen bestimmt nicht, dass Frais ihn tötet.«

Buschfeldt sagte nichts. Er starrte Fritz an, und Fritz starrte zurück. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit befahl Buschfeldt unverändert ruhig: »Ihr Vier kommt sofort wieder her. Die Sache ist beendet. Ich ziehe euch alle von dem Fall ab wegen chronischen Ungehorsams. Genauso alle Vampire, weil sie das Blut anderer Mitarbeiter getrunken haben.« Niemand rührte sich. Buschfeldt fügte hinzu: »Jetzt sofort, wenn ich bitten darf.«

»Das ist nicht – …«, begann Falk, doch Buschfeldt fuhr wie eine Furie zu ihm herum.

»Halt den Rand, du blutsaugender Bastard!«, schrie er. »Haltet endlich alle den Mund und tut, was ich euch sage! Ich habe die Schnauze voll von euch beißwütigen, fangzähnigen Versagern! Ich sage, wir fahren alle zurück nach Alfeld, noch heute! Ich werde Kircher bitten, den Fall anderen Leuten zu geben – Leuten, die der Sache gewachsen sind. Leuten, die keine Probleme machen. Leuten, die kein Blut trinken!«

Schlagartig wurde die Luft ganz kalt. Fritz spürte den eisigen Hauch auf den nackten Armen, die sofort eine Gänsehaut überzog. Eine vibrierende Spannung zwischen den Parteien stand im Raum: zwischen den vier Aufbrechenden an der Treppe, Buschfeldt in der Mitte und dem Rest der MIU am Ende des Kellergangs.

Schließlich sagte Sugar Ray leise: »Nein.«

»Was meinst du mit Nein?«, schäumte Buschfeldt.

»Nein heißt Nein«, schloss sich Lasterbalk an und machte einen provokanten Schritt vorwärts. »Wir werden nicht wegfahren. Wir ziehen das Ding jetzt durch.«

»Wenn ihr das tut«, wisperte der Direktor, »dann sagt eurer dienstlichen und musikalischen Karriere Auf Wiedersehen.«

»Darüber reden wir später.« Auch Lasterbalk war ganz ruhig geblieben; sein Blick fixierte Buschfeldt. Obwohl er Tarnlinsen trug, war in diesem Moment nicht zu übersehen, dass er kein Mensch war; eine bedrohliche, unsichtbare Macht umhüllte ihn und ließ ihn ebenso unwirklich und furchteinflößend erscheinen wie auch die anderen Vampire. »Jungs?«, wandte er sich an die hinter ihm Stehenden, ohne sich nach ihnen umzudrehen. »Ich denke, der Tag ist gekommen, an dem wir mal klarstellen sollten, wer hier die schärferen Zähne hat.« Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung, und die anderen Vampire folgten ihm. Schritt für Schritt näherten sie sich Buschfeldt, nicht eilig, aber auch nicht langsam.

»Was wird das?«, fragte Buschfeldt und wirkte plötzlich angespannt. Erstmals war so etwas wie unterschwellige Furcht in seiner Stimme zu hören. »He – bleibt weg! Was habt ihr vor?«

Als Antwort darauf zogen Lasterbalk, Falk, Simon und Sugar Ray alle gleichzeitig die Oberlippe hoch und ließen leise klickend ihre dolchartigen Fangzähne hervor schießen. Das Geräusch erzeugte an den Wänden ein hohles Echo.

»Nein! Das könnt ihr nicht machen!«

»Legen wir die Nervensäge schlafen«, knurrte Silvio und sprang vor.

Schaudernd sah Fritz, wie die vier Vampire sich auf Buschfeldt stürzten und jeweils dort, wo sie ihn zu packen kriegten, ihre Zähne in sein Fleisch schlugen, um ihr Gift in sein Blut zu spritzen. Das Geheul des Mannes war groß, verebbte aber schon nach wenigen Sekunden in einem Wimmern und Lallen mit den Worten: »Wie könnt ihr es wagen …! Dassssss werdetihr nochbreuen …«

Basti fasste nach Fritz’ Schulter und zog ihn energisch zum Treppenaufgang. »Komm, dit kieken wir uns nicht an.«

»Wieso konnten sie das machen?«, stammelte Fritz, den es immer noch am ganzen Körper fror. »Ich denke, Vampire können nicht beißen, wen sie gut kennen …«

»Wen sie mögen, Fritz«, korrigierte Ingo in beinahe feierlichem Ernst. »Da wir Buschfeldt alle hassen, und zwar schon seit Jahren, war das ein Kinderspiel für sie.«

Nunmehr ungehindert ließen die vier Männer den unheilvollen Keller unter der Uniklinik hinter sich und brachen in die Nacht auf, wo ein erster heller Streifen am Horizont bereits den nahenden Morgen ankündigte.

Ein Angebot zum Anbeißen

Boris Pfeiffer und El Silbador verfolgten die vier blinkenden Punkte gleichzeitig auf Bildschirm und Stadtplan.

»Gut, erst mal haben sie jetzt mit dem Dark Knight eine kleine Strecke vor sich. Bis zur Semperoper sind’s schon ein paar Minuten, wir können uns also getrost was zum Frühstück machen.«

Elsi folgte Pfeiffer, das ausgedruckte Kartenmaterial unter dem Arm. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, das MIU-Außenteam unter eine Schar Vogelstimmenfreunde zu schmuggeln. Es war Frau Schmitts Idee gewesen, weil es die zeitlich nächste Gelegenheit darstellte; die verschiedenen überwinternden Vögel begannen ihr Lied bereits vor der Morgendämmerung. Aber würden Fritz, Ingo, Basti und Marco in einer Gruppe aus wissbegierigen Biologie-Studenten und interessierten Rentnern nicht auffallen? Nun, vermutlich würde der Professor, der die Exkursion durch den Park leitete, sich eher freuen, auch offensichtliche Laien unter den Teilnehmern zu entdecken.

In der Küche hatten auch einige andere schon versucht, ein bisschen zu frühstücken, aber die angespannte Lage verdarb offensichtlich nicht nur den Vampiren gründlich den Appetit. In einem kargen Zimmer, in das man vom Flur aus durch ein kleines verglastes Fenster schauen konnte, schlief Klaus Buschfeldt seinen Vampirgift-Rausch aus. Abwechselnd postierten sich Falk, Lasterbalk und Sugar Ray vor der schweren Luftschutztür, um sich ständig zu vergewissern, dass es ihm gut ging.

El Silbador wartete gerade darauf, dass sein Tee durchzog, als sich am Laptop, der neben ihm auf dem Tisch inmitten von Brotkrümeln stand, erneut das Signal einer eingehenden Nachricht vernehmen ließ. »Ich gehe mal ran«, sagte er, als er sah, dass Boris sowieso kaute, und adjustierte das Headset. »Hier Adler Eins!«

»Guten Morgen, kleiner Elsi!«, sang eine vergnügte Stimme am anderen Ende, die der junge Mann zunächst nicht zuordnen konnte. »Wie geht es uns im sonnigen Dresden?«

»Ähm …« Elsi wusste nicht genau, was er antworten sollte. »Also, es ist nicht sonnig … Es ist erst kurz vor sechs … Nicht, dass uns hier unten viel Sonne erreichen würde …«

»Das ist aber schade. Ich hoffe, wir haben euch nicht aufgeweckt, ihr Tagwandler. Verzeiht, sollte das doch der Fall sein. Für uns geht gerade erst die Zeit des Herumtobens zu Ende.« Ein verhaltenes, amüsiertes Lachen folgte diesem Geständnis.

Und jetzt konnte El Silbador die Stimme endlich zuordnen. »Och nöööö«, stöhnte er, »nicht ihr! Wir sind auf einem Einsatz, wir haben keine Zeit, mit euch zu spielen, also was zur Hölle wollt ihr, Max Coppella?!«

»Einsatz, tse? Drucks nicht herum, lieber Elsi, wir wissen sowieso alles«, besänftigte ihn der Anrufer.

»Ja, das … hab ich befürchtet.«

Boris neben ihm warf ihm einen eindringlichen Blick zu; seine Lippen formten fragend das Wort Coppelius.

Elsi nickte düster. Es war schwer, vor diesen alten Bekannten etwas geheim zu halten; sie hatten ihre Informationsquellen überall. »Ich hoffe, ihr habt euch benommen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte Elsi bemüht zwanglos. Mit derart verstaubten Leuten zu sprechen war immer wieder ein bisschen seltsam.

»Natürlich, natürlich. Wir sind ja schon dankbar, dass wir wenigstens einigen der alten Laster noch frönen dürfen. Nun, wahrscheinlich ist dir klar, dass wir euch nicht aus Spaß anrufen.«

»Nein, wann hättet ihr das je getan?«

»Deshalb lass uns doch gleich zur Sache kommen, guter Elsi. Wir … haben etwas, das ihr gut gebrauchen könntet, da sind wir uns sicher.«

El Silbador zögerte. Wenn man mit Coppelius sprach, durfte man niemals vorschnell antworten. Sie waren ein Sextett aus Vampiren unbekannten Alters, das sich selbst als ein ›Kammermusikorchester‹ titulierte und dabei grundsätzlich eine nur scheinbar maßlos übertriebene Show abzog. In ihrer Musik und ihrem Auftreten gaben sie gern vor, sich der modernen Zeit nicht anpassen zu wollen, kleideten und verhielten sich dem neunzehnten Jahrhundert entsprechend und vermittelten ein so wirres, unberechenbares Bild von sich, dass die MIU ihnen nicht anders als mit großer Vorsicht begegnen konnte. Elsi und die anderen hatten den starken Verdacht, dass Coppelius sich – wie alle anderen Vampire – durchaus anpassen konnten, aber allzu gerne ein verzerrtes Bild ihrer Charaktere präsentierten, das sie äußerst schwer einschätzbar machte. Bevor die MIU auf sie aufmerksam geworden war, waren Coppelius nicht nur Musiker gewesen, sondern außerdem das, was der BfV ›Genussmörder‹ nannte: Sie hatten ohne jedes Unrechtsbewusstsein alte, einsame Menschen um Blut erleichtert und sie anschließend dezent entsorgt, um sich mit den Folgen nicht auseinandersetzen zu müssen. Im neunzehnten Jahrhundert hatte es nicht zum ›guten Stil‹ adliger Vampire gehört, ihre Opfer nach dem Blutkonsum zu pflegen und gesundet wieder zu entlassen. Eric Fish, den die sechs alten Vampire schnell mit ihrer Freundschaft beschenkt hatten, hatte dem Tun persönlich einen Riegel vorgeschoben und dafür gesorgt, dass Coppelius ordentlich registriert und von der MIU überwacht wurden. In der Folge waren sie gemeinsam mit Subway To Sally und auch mit Saltatio Mortis getourt und aufgetreten. Elsi erinnerte sich daran, wie er schaudernd die höflichen Bemühungen Coppelius’ in Aleas Nähe beobachtet hatte; auch sie verzehrten sich nach dem Blut des Vexecutors, so viel stand fest, und Alea hatte natürlich nichts davon bemerkt, sondern war begeistert vom ›authentischen‹ Auftreten der schrägen Musiker gewesen, besonders von Butler Bastille, der die Fähigkeit zu haben schien, seinen fünf ›werten Herren‹ jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Hätte Alea gewusst, dass diese freundlich-weltfremden Gestalten in ihren Gehröcken und Zylindern Genussmörder waren … Er wäre entsetzt gewesen.

»Also … Wir hören uns gerne an, was ihr für uns habt«, gab Elsi nach. Nervös begann er, sich das Headset-Kabel um den Zeigefinger zu wickeln. Er wusste, dass er Max Coppellas Tonlage jetzt schärfstens im Auge behalten musste.

»Wir haben ein Lockstück für euch«, verkündete der Vampir am anderen Ende süffisant. »Nicht irgendeins natürlich. Es ist das Lockstück der Lockstücke! Es ist so unsäglich alt, dass kein Vampir dagegen immun sein kann.« Er machte eine kurze Pause und ergänzte, indem er ganz unwissend tat: »Das ist doch euer Problem, oder nicht? Eure Locksänger sind nicht bei euch … und ihr könnt dieses verbrecherische Geschmeiß nicht hypnotisieren, um eure Pflöcke in ihre Herzen zu treiben. Genau deshalb möchten wir euch helfen. Wir haben dieses Lockstück aus einer zuverlässigen, vertraulichen Quelle, direkt aus Transsylvanien.«

Elsi wusste nicht, was er antworten sollte. Dass Coppelius stets über alles informiert waren, was die MIU tat – und zwar in demselben Maße, wie die MIU sie überwachte – beunruhigte ihn nach wie vor und brachte ihn, wie schon so oft, mental ins Wanken. »Ähm … Was wisst ihr wirklich über die Wirksamkeit des Stücks? Habt ihr es getestet?«

»Wir haben es testen lassen – vielfach! Außerdem sagte ich doch bereits, dass wir dieser Quelle zu einhundert Prozent vertrauen. Das Stück war für Jahrhunderte verschollen. Seine Wirksamkeit ist so grandios wie zu Zeiten seiner ersten Niederschrift!«, beteuerte Max Coppella. »Also lasst euch mit guten alten Freunden auf einen Handel ein. Wir überlassen es euch gegen einen wirklich kleinen, unbedeutenden Handschlag.«

Oha, dachte El Silbador stirnrunzelnd. War ja klar, dass da ein Haken ist. Coppelius waren außerordentlich belesen in Sachen Vampirhistorie, boten aber niemals ihre Hilfe an, wenn sie sich davon keinen Vorteil erhofften. »Und das wäre …?«, traute er sich endlich zu fragen.

Wieder kicherte der Vampir dieses kleine, amüsierte Kichern. »Lieber Elsi … Kannst du es dir nicht denken?«

Doch. Elsi konnte es sich denken. »Ihr wisst, dass das nicht in Frage kommt«, sagte er ruhig.

»Weshalb nicht? Wir benehmen uns ganz passabel.«

»Falk und Lasterbalk werden es nicht zulassen.«

»Die beiden brauchen sich nicht so anzustellen. Wir wollen ja nicht alles haben – nur eine Kostprobe.«

»Wieso wartet ihr nicht, bis wir wieder mal mit euch auftreten?«, fragte Elsi hoffnungsvoll.

»Oh, mit Verlaub, wir können Alea nicht beißen, wir mögen ihn viel zu sehr. Aber jetzt ist er, wie wir hörten, indisponiert und nicht unbedingt, naja, in der Lage zu protestieren.«

Verdammt. Es stimmte, sie wussten wieder einmal alles. Unbehaglich rieb sich Elsi die Stirn und versuchte, Yellow Pfeiffers bohrenden Blick zu ignorieren. »Also, ich … ich kann höchstens versuchen, da was zu arrangieren …«

»Das wäre außerordentlich entgegenkommend von dir. Denk daran, wir würden euch eine mächtige Waffe in die Hand geben. Eine, gegen die wir nicht einmal selber immun sind. Das zeigt dir hoffentlich, wie sehr wir euch vertrauen.«

»Ähm … Ja.«

»Gut, alter Freund. Wir melden uns am Vormittag wieder, in Ordnung? Ja, wir werden nur für euch den Tag zur Nacht machen, wenn es nötig ist. Bis in ein paar Stunden.«

Elsi nahm das Headset ab und versuchte, das unheimliche Kichern aus seinem Kopf zu verscheuchen.

»Was wollen die?«, fragte Pfeiffer ihn scharf.

»Was wohl?« El Silbador starrte zurück. »Ihr von In Extremo hattet noch nicht mit denen zu tun, oder? Was weißt du über sie?«

Achselzuckend antwortete Boris: »Ich habe die Akte gelesen. Eine dicke Akte. Fünf alte, staubige Vampire mit einem Lakaien. Wollen sich partout nicht der Moderne anpassen und sind ständig dabei, sich selbst zu bemitleiden. Jedenfalls soll es so aussehen.«

»Sein und Schein kann man bei Coppelius schwer unterscheiden … Wie auch immer, sie wollen uns ein Lockstück anbieten, ein angeblich unfehlbares, das jemand für sie irgendwo ausgegraben hat. Dafür wollen sie – Surprise! – ein Schlückchen Vexecutor-Blut.«

»Na, das passt ja hervorragend in unseren Terminkalender«, murmelte Pfeiffer und zuckte ratlos die Schultern.

Elsi trank seinen Tee aus und stand auf. »Ich gehe mich den Großen beraten. Die sind wohl diejenigen, die das erlauben müssen … zumindest inoffiziell.«
 

»Wir sollen Alea von Coppelius ausschlürfen lassen?«, wiederholte Falk fassungslos. »Was fällt denen eigentlich ein? Sind die noch ganz dicht?!«

»Die wähnen sich wohl in einer guten Position, um solche Forderungen zu stellen«, fand Elsi.

Auch Lasterbalk stöhnte auf und presste die Hände an die Schläfen. »Verdammte Hacke … Stellt euch vor, wir könnten Eff Eff auf einen Schlag komplett besingen, inklusive Frais! So ein Lockstück wär Gold wert!«

»Oder Blut wert«, knurrte Falk. »Arrrrrrrrr, ich ertrage den Gedanken nicht!«

»Was soll ich ihnen sagen?«, fragte El Silbador ratlos.

»Gnnnnnf … Frag sie, bis wann sie hier sein können …« Lasterbalk bekam die Worte kaum über die Lippen und hielt sich immer noch den Kopf.

Falk sah ihn bestürzt an. »Wollen wir das nicht noch mal überdenken?«

»Wie lange denn bitte? Wenn wir den Tausch durchziehen wollen, müssen wir uns beeilen! Du hast Bock doch gehört! Wenn bei Alea erst mal in sämtliche Körperöffnungen Schläuche gesteckt wurden, wird’s sehr schwierig, ihn kurz von der Station zu entführen!« Während Falk immer noch grummelte, wiederholte Lasterbalk an Elsi die Aufforderung: »Sag ihnen, sie sollen herkommen … noch heute. Ich mache die Sache mit Bock klar.«
 

Ingo und Marco gaben sich zumindest große Mühe, Interesse an Vögeln zu heucheln. Fritz fiel das weit schwerer, und auch Basti, so fiel ihm auf, tat alles andere, als den singenden Herrn Nachtigall auf dem Baum zu suchen, um den die kleine Gruppe aus staunenden Frühaufstehern versammelt war.

»Ich habe ihn!«, rief ein magerer Student mit dicker Brille voller Verzückung. »Da oben – auf dem Ast!« Er zeigte irgendwo in das mit verfärbtem Laub behängte Geäst, als würde das den anderen Suchern irgendetwas nützen.

Fritz entdeckte den Vogel nicht, aber er versuchte es auch nicht wirklich. Immer wieder spähte er auf dem ansonsten menschenleeren Parkgelände um sich, doch von sich nähernden Fremden war noch nichts zu sehen. Es war ausgesprochen kalt an diesem frühen Morgen. Der Himmel war dicht bewölkt und wollte nicht richtig hell werden. Unter seiner dicken Jacke fror Fritz, weil er vor Sorge geschwitzt war. Hinter seinem Ohr klebte der winzige, von außen kaum sichtbare Peilsender weiterhin bombenfest.

»Noch ist nichts zu sehen«, murmelte Sebastian kaum hörbar.

»Bleibt ruhig«, antwortete Yellow Pfeiffer prompt und zeigte ihnen damit, dass er ständig bei ihnen war. »Wir haben euch auf dem Schirm.«

Eben schaltete der Assistent des Professors unter einem Berberitzenstrauch einen tragbaren CD-Player ein und spielte ein reizendes Gezwitscher ab, das den realen Vogel provozieren sollte. »Gleich wird das Männchen der Mönchsgrasmücke angeflogen kommen und sein Revier verteidigen!«, verkündete er.

Fritz schaute sich unbehaglich um. Der Park ringsherum war so verdammt leer, nur Nebel und Feuchte stiegen aus dem taubedeckten Gras auf. Unterdessen ließ sich der graue Vogel mit der schwarzen Haube tatsächlich blicken: Laut protestierend landete er vorwitzig auf einem Zweig ganz in der Nähe und trällerte aus voller Brust gegen den unsichtbaren Rivalen an. Die Exkursionsteilnehmer begafften ihn selig, und die MIU-Leute bemühten sich, es ihnen gleich zu tun.

»Achtung«, wisperte Ingo, der plötzlich dicht hinter Fritz stand. »Da sind sie.«

Fritz sah die beiden bereits. Aus dem mit verblühenden Rosen überwucherten Rondell traten zwei weitere Studenten hervor – zweifelsfrei erkennbar an ihrer Kleidung und ihren Rucksäcken –, einer männlich, einer weiblich, und stellten sich zu dem Biologie-Professor, der die Exkursion leitete, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Der graue Mittfünfziger nickte lächelnd und wandte sich an die Teilnehmer.

»Das Frühstück im Café der Semperoper ist jetzt für uns vorbereitet. Lassen wir unseren kleinen Ausflug gemütlich ausklingen und stärken uns dann alle zusammen bei einer heißen Tasse Kaffee und anregenden Gesprächen.«

Schöne Aussicht, dachte Fritz. Wenn es doch nur so wäre!

Als die Gruppe sich in Bewegung setzte, rückten Hampf, Lange, Flex und Fritz instinktiv zusammen, sodass sie dicht nebeneinander gingen. Die beiden vorher nicht dagewesenen Studenten ließen sie dabei nicht aus den Augen.

»Semperoper, hmmm«, murmelte Ingo.

»Dit is hübsch da«, gab Basti zischelnd zurück.

Gemächlich hielt die Gruppe auf den Theaterplatz in der Altstadt zu. Immer mehr Menschen bevölkerten inzwischen die Straßen, Besorgungen erledigend oder den allmorgendlichen Weg zu ihrer Arbeitsstelle zurücklegend. In Sichtweite der imposanten Semperoper übernahmen nun die beiden Studenten – heiter mit dem Professor plaudernd – die Führung.

»Hier lang, bitte!«, wies sie das Mädchen lächelnd an. Ihre winkenden Hände steckten in gestrickten Pulswärmern, und sie trug eine hellbraune Strickmütze. Fritz beobachtete ihren Hals, der aus dem grün, blau und rot gestreiften Schal hervorragte; er glaubte, zumindest eins von zwei Einstichlöchern erkennen zu können.

Das Café, das sie nun betraten, hatte noch keine anderen Gäste. Es war hell erleuchtet und auf eine Weise eingerichtet, für die Fritz nur das Wort possierlich einfiel. Allerdings hielten die beiden Studenten nicht an einem der großen Tische, sondern traten durch einen Gazevorhang in einen immerhin einsehbaren, dahinter gelegenen Raum. Dort standen auf einem mit Spitzendeckchen ausgelegten Tisch tatsächlich eine große Zahl Tassen und drei Thermoskannen, daneben – und damit hatte Fritz eigentlich nicht gerechnet – ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Besonders auffällig war das mannigfaltige Sortiment an Obst, das zu dieser Jahreszeit sicher kaum noch aus der Region stammte.

»Obst«, raunte Ingo hinter ihm bedeutungsschwer. »Süßes Obst, Fritz.«

Sofort erklärte Boris, was Hampf nicht laut aussprechen konnte: »Vampire mögen Blut mit einem hohen Blutzuckerspiegel besonders gern, es gibt ihnen schneller Kraft. Am höchsten ist der Zuckergehalt im Blut, wenn man gerade gegessen hat, und besonders lieben sie das Aroma von Früchten – das ist einer der Gründe, warum Hyperborea mit Fructose gesüßt wird. Esst ruhig, sonst fallt ihr auf. Gibt es Getränke?«

»Ja«, antwortete Marco leise.

»Dann trinkt sie nicht. Lasst nichts davon eure Zungen berühren. Ihr wisst, was schon ein einziger Tropfen Vampirblut anrichten kann!«, warnte Pfeiffer sie eindringlich.

Fritz brauchte er das nicht zu sagen. Zwar goss er sich mit zitternder Hand einen Becher Kaffee ein, gab jedoch nur vor, daran zu nippen; das Widerstehen fiel ihm leicht, denn er hatte das Gefühl, sein Ekel vor Blut sei nie größer gewesen. Er würde ohnehin nichts von diesem Gebräu bei sich behalten können, ob es nun wirklich mit Vampirblut versetzt war oder nicht.

Während die anderen Exkursionsteilnehmer sich begeistert an den Speisen labten, hielten die MIU-Männer sich eher zurück, obwohl sie versuchten, nicht misstrauisch zu wirken. Fritz biss von einer harmlos aussehenden Apfelspalte ab und beobachtete durch den Vorhang, wie die beiden Studenten völlig gelassen die Eingangstür zur Straße hin wieder zumachten und sogar abschlossen, ohne dass einer der Anwesenden Verdacht geschöpft hätte.

Eine beunruhigende Zeit lang passierte gar nichts. Die Leute ließen sich Zeit mit dem Essen, und sie wurde ihnen gelassen. Fruchtucker wird langsamer aus der Nahrung ins Blut aufgenommen, glaubte Fritz sich zu erinnern. Die wollen, dass wir alle schön süß schmecken, wenn wir gebissen werden …

»Pssst«, machte Basti an seinem Ohr. »Die Leute werden wenijer … Ist dir dit uffjefallen?«

Fritz schaute sich an dem Buffet um. Der Musiker hatte Recht: Nicht nur die Speisen, auch die Menschen waren weniger geworden. Mindestens um die Hälfte.

»Aber wo sind sie hin?«, wisperte Fritz und sah rasch beiseite, als ihm auffiel, dass der Blick der lächelnden Strickmützen-Studentin, die an dem Tisch lehnte, auf ihm ruhte.

»Jibt nur eene Möglichkeit. Die Tür nach draußen ist zu … also sind se alle …«

»… auf der Toilette verschwunden.« Ein irgendwie kurioser Gedanke, aber es musste stimmen.

»Jut erkannt. Wir treffen uns da. Schön eener nach ’m andern.« Mit diesen Worten schob Basti sich ganz gelassen den letzten Käsewürfel in den Mund und schlenderte scheinbar desinteressiert in den angrenzenden Gang, der Ausschilderung folgend. Fritz vernahm, wie seine Schritte auf Stufen widerhallten, leiser wurden und dann nicht mehr zu hören waren.

Fritz ließ sich ein paar Minuten Zeit, ehe er möglichst unauffällig folgte. Eine Treppe, die zu den Toiletten führte, war nicht ungewöhnlich, doch die Stille in dem gekachelten Gang beunruhigte ihn. Vor den beiden Türen – eine mit dem Piktogramm einer Frau, eine mit dem eines Mannes – blieb er zunächst unwillkürlich stehen; es drang kein Laut aus den Waschräumen, und er musste sich regelrecht zwingen, die Tür zur Männertoilette aufzumachen.

Zwei Männer standen dort neben den Urinalen und streckten routiniert eine Hand aus, um Fritz den Zugang zu den Kabinen zu verwehren. »Es ist gerade keine frei, einer nach dem an–«

Aber Fritz konnte nicht anders: In dem Moment, als er den linken Vampir als einen der Wächter erkannte, die ihn bei seiner Gefangenschaft beaufsichtigt hatten, setzte sein Verstand aus, und er verpasste ihm eine Ladung Natron – selbst überrascht, wie flüssig er die Kanone aus ihrem Versteck unter seiner Jacke befördert hatte.

Der getroffene Vampir ließ sich aufheulend auf die Knie fallen, während der zweite alarmiert auswarf und auf Fritz losging. Im gleichen Moment kam Ingo Hampf zur Tür herein und reagierte wie erwartet, indem er ohne merkliche Überraschung den Pflock hervorzog und drauflos pfählte, nur mit einer Hand.

Als beide Vampire erledigt waren, kam Flex herein und staunte nicht schlecht. »War das der Plan?«

»Fritz hat eine Plananpassung vorgenommen«, knirschte Ingo.

Aus einer der Toilettenkabinen drang eine nervöse Stimme: »Carl, Eamon, ist alles okay da draußen …?«

Ingo trat schnurstracks zu der Kabinentür und trat sie einfach mit dem Fuß auf. Dahinter kam, zur Überraschung der drei, keine Kloschüssel, sondern ein heller Tunnel zum Vorschein. In ihm drängten sich Leute, höchstvermutlich Vampire, die jetzt ganz verdattert aufsahen. Gerade reichten sie einen schlaffen älteren Herren, der eine frische Bisswunde am Hals hatte, über ihre Köpfe nach hinten weiter; im Vordergrund des Ganzen kniete ein junger Mann über Basti Lange und hob verschreckt den Kopf, als das Poltern der Tür ertönte. Vor Verblüffung ließ er den Mund offen stehen, und Blut rann ihm aus den Winkeln. »Was, wieso denn drei – ?«

Bevor er den Satz beenden konnte, griffen die MIU-Pfähler an; sie hatten keine Wahl. Die Vampire, die damit nicht gerechnet hatten, drängten strauchelnd nach rückwärts, einige fielen grunzend um. Flex sprang denjenigen an, der Sebastian gebissen hatte, und lieferte sich einen kurzen Nahkampf mit ihm, den er aufgrund seiner schier unmenschlichen Agilität und Wendigkeit rasch für sich entschied. Die Vampire flohen. Ingo folgte ihnen nur ein Stück weit, dann kehrte er wieder um; Fritz kniete sich neben Basti, dessen Halswunde noch blutete, weil der Vampir beim Saugen unterbrochen worden war.

»Iiiiiiigh …«, jammerte Fritz, als er merkte, dass er das Blut schon an den Fingern hatte.

Ingo packte ihn am Kopf und drehte ihn in eine andere Richtung. »Guck einfach nicht hin!« Dann zog er ein Tuch aus der Tasche und bemühte sich, das Gemisch aus Blut und Vampirspeichel aufzuwischen, ehe er das Hilfsmittel vorsichtig auf die Wunde drückte. »Ach, Scheiße«, presste er hervor.

Fritz drehte sich ganz vorsichtig wieder um. »Basti …?«

»Der redet jetzt nicht mit uns, der hat Schlummifix intus. Wahrscheinlich sieht er gerade bunte Pferdchen über ’ne grüne Wiese traben.« Lange stöhnte leise, als Ingo ihm behutsam den Hals abtupfte. »Na, zum Glück macht die Vampirsabber schon ihre Arbeit, wenn man sie ein bisschen breitschmiert. Es hört gleich auf zu bluten.«

Während sie neben Basti knieten, tigerte Marco von einer Tunnelseite zur anderen. »Was sollen wir jetzt machen? Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis entweder von der Seite jemand kommt – oder von der.« Er zeigte erst zur Tür des Waschraums, dann in den Tunnel. »Wir wollten doch da rein, verflixt!«

»Was ist schief gelaufen?«, ließ sich Pfeiffers besorgte Stimme aus dem Ohrknopf vernehmen.

»Alles!«, gab Flex zurück. »Sie haben Basti den Hals gelocht!«

Boris stöhnte. »Und deswegen fand ich die Idee mit dem Blutspenden heute Morgen bescheuert. Wenn der Vampir sich satt getrunken hätte, würde Basti jetzt in einem hämorrhagischen Schock liegen!«

»Nun übertreib nicht«, murrte Ingo. »Sebastian ist ein Fakefang, wie ich, und wir mussten uns ein höheres Blutvolumen antrainieren – du nicht, Boris, du sitzt immer nur vor der Kiste. Mach dir keinen Kopp, auch ein ganzer Liter Verlust würde dem Langen nicht wehtun.«

Fritz verscheuchte den letzten Schwindel hinter seiner Stirn und stand wackelig auf. »Ich gehe die Männer aufhalten, die aufs Klo wollen«, murmelte er.

»Mach das.« Ingo blieb weiterhin neben Basti hocken, der ruhig auf der Seite lag und träge blinzelte.

Als Fritz gerade dem Szenario den Rücken gekehrt hatte und aus der Kabine treten wollte, hörte er eine gebieterische Stimme aus dem Tunnel dröhnen: »Ihr Menschen! Bleibt stehen, wo ihr gerade seid, und rührt euch nicht vom Fleck!«

»Aaaaaha!«, zischte Ingo. »Bleib hier, Fritz. Soll er ruhig denken, wir hätten sein dreckiges Vampirblut gesoffen!«

Fritz verharrte mitten im Gehen; sein Rücken kribbelte. Schritte näherten sich aus dem Tunnel hinter ihm. Lange, gleichmäßige Schritte.

»Fritz, Ingo, Marco«, sagte Boris ganz leise in sein Ohr. »Er wird es persönlich sein … Paul Frais. Tut nichts Unüberlegtes!«

Fritz schluckte.
 

»Nanu, rede ich jetzt etwa mit dem Chef?«, schnurrte Max Coppella an Lasterbalks Ohr.

»Ja«, grummelte der ins iPhone. »Also, ihr … könnt herkommen. Wir geben euch Blut. Ein bisschen. Mehr net!«

»Das freut mich sehr. Aber ich würde euch bitten, mit dem Anzapfen zu warten, bis wir eingetroffen sind. Wir würden das gerne live mit ansehen.«

»Denkt ihr vielleicht, wir bescheißen euch?«

»Nicht doch, nicht doch, Verehrtester. Aber es bringt doch eine gewisse … Spannung, zu sehen, wie das Blut des Vexecutors in ein Gläschen läuft … an dem man dann nippen darf.« Wieder dieses spöttische Kichern.

Lasterbalk zwang sich zur Ruhe. Es war verdammt schwer. »Es ist wolkig heute … Kommt einfach, sobald ihr könnt … Wir empfangen euch dann. Aber es muss vor heute Abend sein!«

»Das werden wir schaffen, so voller Vorfreude, wie wir sind.«

»Na dann … Bis nachher.« Lasterbalk drückte das Gespräch weg und ergänzte um einiges lauter: »Ich hoffe, ihr kotzt!!« Dann warf er das iPhone weit ausholend über seine Schulter.

Es landete weich auf seinem Bett.

Bluthandel

Es war noch nicht einmal zwei Uhr am Nachmittag, als sechs merkwürdig anachronistisch anmutende Gestalten das Carl-Gustav-Carus-Klinikum beehrten. Sie meldeten sich an der Hauptkasse als Besucher an – das heißt, ihr Butler Bastille tat das – und erwarteten daraufhin, sofort zum MIU-Versteck eskortiert zu werden. Was natürlich nicht passierte. Stattdessen wurden sie angewiesen, im Wartebereich Platz zu nehmen. Max Coppella und Comte Caspar reagierten mit überzeugender Verwirrtheit: Sie wären noch niemals zum Warten angehalten worden. Hätten derartige Frechheiten denn heutzutage gar keine Folgen für die Delinquenten mehr? Es gäbe da ein paar angenehm zugige Verliese.

Währenddessen fügten sich die anderen drei in ihr Schicksal und setzten sich freundlicherweise. Bastille richtete wie selbstverständlich einen mitgebrachten Tee auf einem Tablett an, mit der Begründung, es sei zwar nicht an der Zeit, würde aber das Warten auf ein gewisses anderes Getränk überbrücken. Die Menschen, die um sie herum saßen, waren schlagartig verstummt. Fasziniert beobachteten sie die fünf vornehm und archaisch gekleideten Herren, die sich von ihrem blonden Butler mit einer Puderquaste die Zylinder entstauben ließen. Nicht nur Kinder glotzten sich die Augen aus, aber Coppelius störten sich daran nicht im Geringsten.

Schließlich kam Lasterbalk sie abholen. »Willkommen, ihr geschniegelten Nervensägen. Gute Anreise gehabt?« Er lächelte sie an, um das Gesagte Lügen zu strafen. Freundlichkeit bewährte sich stets, wenn man von anderen etwas wollte.

»Es regnete leider«, beantwortete Graf Lindorf die Frage. Es war irritierend, dass er im Präteritum sprach.

»Na dann, in unserem Versteck regnet’s net. Kommt mit, aber seid net entsetzt: So viel Luxus seid ihr bestimmt net gewohnt.« Ein spöttisches Lächeln begleitete diese Bemerkung.

»Wo ist euer cholerischer Chef?«, erkundigte sich Max Coppella scheinheilig, als sie auf die DINZ-Baustelle zuhielten. »Hat er euch bei der Entscheidung gar keine Steine in den Weg gelegt?«

»Chefchen nimmt sich ’ne Auszeit«, gab Lasterbalk knapp zurück, »und ich …« … hab das Kommando an mich gerissen, endete er in Gedanken, befeuchtete sich die Lippen und sagte stattdessen: »… vertrete ihn nach Kräften.«

Tatsächlich hatte Buschfeldt heftig protestiert, doch er befand sich nicht mehr in der Position, Befehle zu erteilen. Er war weggeputscht worden, wie es allen Diktatoren irgendwann passierte. Falk hatte ihm gedroht, sie würden sein Blut stattdessen tauschen, wenn er nicht endlich den Mund hielt, und letzteres hatte der Direktor daraufhin getan. Lasterbalk fragte sich, was das alles für ein Nachspiel haben würde.

Coppelius arrangierten sich völlig kommentarlos mit der alles andere als komfortablen Wohnsituation im zeitweiligen MIU-Hauptquartier. Wie zu erwarten betrachteten Comte Caspar und Max Coppella die rohen Betonwände und die staubigen Flure höchst angewidert. Auf ihrem Weg in den Keller versuchten sie mehrfach, ihren Butler Bastille zum Staubwischen zu ermuntern, doch Lasterbalk lenkte sie erfolgreich von ihrer unattraktiven Umgebung ab, indem er nachdrücklich daran erinnerte, was es in Kürze zu trinken geben würde – und schon galt die Aufmerksamkeit aller sechs wieder ganz ihm.

Das Willkommen fiel eher verhalten aus. Zwar waren alle Insassen neugierig versammelt, um Coppelius zu sehen, aber mit ihnen reden wollte kaum jemand; zu groß war das Risiko, einer ausschweifenden, salbungsvollen Rede nicht folgen zu können oder dem tief verankerten Irrsinn alter Vampirseelen allzu nahe zu kommen. Vor allem die Menschen beließen es bei vorsichtigem Nicken und Lächeln. Zum Glück schien den Besuchern sehr daran gelegen zu sein, schnell zum Geschäftlichen überzugehen, denn sofort nach dieser knappen Begrüßung zwängten sich Coppelius im provisorischen Bockshof zusammen, um dort dem ›Ausschank‹, wie sie es nannten, beizuwohnen.

Bock legte neben seinem Behandlungstisch alles bereit, was er brauchen würde, dann brachen er und Lasterbalk auf, um Alea von der Station zu holen.
 

In dem kleinen Krankenzimmer beugte Lasterbalk sich tief über Alea und inhalierte vorsichtig die warme Atemluft, die in gleichmäßigen Abständen aus dessen Lungen zurückkehrte.

Stirnrunzelnd befand er: »Riecht irgendwie krank … Zumindest weniger appetitlich als sonst.«

»Das wird am Hungerstoffwechsel liegen«, beruhigte ihn der Arzt. »Der Metabolismus verändert sich bei längerem Nahrungsentzug, schaltet auf Sparflamme. Hat er einen Vampir exekutiert, bevor Ingo ihn niedergeschlagen hat?«

»Hmmm … ja.« Lasterbalk rieb sich das Kinn, während er abwechselnd Alea und den Linien zeichnenden Monitor beäugte. »Stimmt ja. Ganz vergessen. Er hat ja immer tierischen Hunger danach.«

Innerhalb der Band hatte sich der Umstand, dass Aleas tödliche Fähigkeit enorme Energie verbrauchte, längst zu einer Art Running Gag entwickelt. Jeder war dazu angehalten, in irgendeiner Tasche ein Stück hochkalorische Nahrung mitzuführen, einen Müsliriegel oder Schokolade, nur für den Fall, dass Alea jemals eine ganze Armee von Vampiren ins Jenseits würde befördern müssen. Auf der vergangenen Sommertour hatten die Roadies ihn schließlich in ›Red Bull‹ umgetauft, seit er hartnäckig versucht hatte, mit dem koffeinhaltigen Getränk die erlittenen Verluste auszugleichen. Genutzt hatte das nichts: Sein Körper schmolz Kalorien wie Softeis, wenn er Vampirherzen zum Stillstand zwang, und forderte sie hartnäckig wieder ein; Aufputschmittel waren völlig machtlos. Falls Alea diesen Hungerattacken, die denen eines ausgehungerten Vampirs nicht unähnlich waren, nicht innerhalb einer guten Stunde nachgab, konnte es tatsächlich passieren, dass er vor Erschöpfung umfiel. Und das stand einem gut ernährten, muskulösen Mann wie ihm nicht gerade gut zu Gesicht.

Inzwischen hatte Bock begonnen, die Messelektroden für das EEG vorsichtig zu entfernen und die beklebten Stellen vom Leitgel zu säubern. »Hilfst du mir, oder guckst du nur?«, fragte er den Vampir mit einem Seitenblick.

Lasterbalk schnupperte noch einmal misstrauisch. »Ich meine, dass das ein ziemlich ungewohnter Geruch ist. Hunger riecht bei Menschen eigentlich eher … süß-säuerlich, ein bisschen wie Apfel. Und das hier ist so … hmmm.«

Bock verdrehte die Augen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du gerade verzweifelt nach einem Grund suchst, Coppelius nicht sein Blut trinken zu lassen.«

»Stimmt net«, behauptete Lasterbalk und fügte sofort hinzu: »Ist mir total egal, ob die die Scheißerei kriegen, wenn sie aus ihm trinken. Ich hab nur gesagt, er riecht komisch. Das könnte ja auch an dem Desinfektionsmittel liegen, mit dem sie ihn saubermachen, oder … ach, ist mir doch egal.«

Mit sich selbst nicht ganz einig, was ihm ein so ungutes Gefühl bescherte, hob Lasterbalk den schlafenden Sänger behutsam auf seine Arme und schickte sich an, dem Arzt zu folgen.

Da kam plötzlich die burschikose Nachtschwester herein. »Was machen Sie denn da?«, erkundigte sie sich mit zusammengezogenen Augenbrauen, als sie sah, dass die beiden Alea davon zu tragen gedachten.

»Wir leihen ihn kurz aus«, erwiderte Bock. »Warum sind Sie überhaupt noch hier?«

»Überstunden«, antwortete sie und rieb sich die Augen, um entsprechend müde zu wirken. »Ich gehe aber jetzt nach Hause und bin dann ab acht Uhr wieder für ihn da. Bis dahin will ich ihn wieder in seinem Bett sehen! Sie wissen, dass wir dann Sonden und Katheter legen müssen!«

»Weiß ich«, versicherte Bock. »Es wird nicht lange dauern.«

Damit war der Fall erledigt, und die Schwester ging mit einem widerwilligen Kopfnicken.

Verwundert wandte Lasterbalk sich an den Arzt: »Die lassen dich hier aber auch alles bestimmen, oder?«

»Haben die eine Wahl?«, gab Bock zurück, während er dem großen Mann half, Alea durch die Tür zu heben. »Wenn irgendwo MIU draufsteht, ziehen alle die Finger weg, man könnte sich ja dran verbrennen. Keine Sorge, die machen uns keine Probleme.«

Tatsächlich: Man ließ die beiden mit Alea gehen, und obwohl man ihnen misstrauisch hinterher sah, beanstandete niemand, dass Lasterbalk den bewusstlosen Mann nicht auf einer Liege, sondern einfach auf den Armen trug.
 

Als sie im Bockshof ankamen, saßen dort alle außer Buschfeldt, El Silbador und Pfeiffer versammelt. Coppelius genossen in aller Ruhe einen giftgrünen Absinth und wirkten bestens gelaunt. Richtig zu strahlen begannen sie aber erst, als alle für Lasterbalk den Weg freimachten und er Aleas schlaffen Körper auf Dr. Saltz’ Tisch ablegte.

»Der Vexecutor! Wunderbar!«, ließ Sissy Voss in höchster Verzückung verlauten. Unverhohlen gierig beugte er sich über Alea, betrachtete ihn fast zärtlich und zog dann ganz befangen mit der Fingerspitze den Verlauf der Halsvenen nach.

Lasterbalk bleckte die Zähne. »Hier wird net gebissen, kapiert?«

»Ich weiß, ich weiß«, versicherte ihm der ältere Vampir und seufzte traurig. »Aber wir werden diesen Moment trotzdem auskosten, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben ein paar feine Gläser mitgebracht. Bastille?«

Prompt stellte der Butler mit einer einzigen fließenden Bewegung acht Schnapsgläser auf dem Teetablett ab; sie hatten alle den gleichen Abstand zueinander und waren blitzsauber.

»Aus so was trinken wir normalerweise Korn«, sagte Falk argwöhnisch. »Wieso sind das acht?«

»Weil wir davon ausgegangen sind, dass die Besitzer sich auch gerne selbst mal ein Schlückchen genehmigen würden«, antwortete Comte Caspar, und sein Ton verriet, dass er ganz genau bescheid wusste. Spitz ergänzte er: »Es gibt sicher viele Gründe dafür, dass ihr es bisher nicht gewagt habt.«

Falk, dessen Missmut daraufhin jäh verrauchte, musste schlucken. Er glaubte, dass alle es hören konnten. »Viele … Gründe«, antwortete er heiser. »Ich meine, wir konnten ja nicht einfach … Es ergibt sich einfach nicht, und … mal ganz abgesehen von der Beißhemmung …«

»Ja, alter Freund, wir verstehen schon. Also – genießen wir diesen edlen Tropfen doch alle gemeinsam! Jetzt leugnet nicht, dass ihr schon lange davon träumt!«

Falk fand, dass er eigentlich widersprechen müsste, doch dann würde er lügen. Selbstverständlich reizte es ihn und auch Lasterbalk sehr, ein so sagenumwobenes, vielgepriesenes und von Geheimnissen umgebenes Blut zu trinken wie das ihres Sängers – des Menschen, der Vampire durch den Willen töten konnte. Da sie selbst das nicht einfach tun durften, wäre es ein grässliches Gefühl gewesen, zu wissen, dass stattdessen fremde Vampire den Geschmack kannten und nie vergessen würden. Coppelius waren immerhin Freunde – oder zumindest so etwas Ähnliches –, und Falk wusste, dass er und Lasterbalk sich dazu durchgerungen hätten, sie probieren zu lassen. Wenn sie ihnen nun jedoch anboten, gemeinsam zu trinken …

Mit flauem Magen schaute Falk zu Lasterbalk und fand dort keine Hilfe. Der Hüne erwiderte seinen Blick ratlos. Ein unbehaglicher Gedanke stand im Raum: Alea würde ihnen das, was sie hier mit ihm machten, niemals, niemals verzeihen, sollte er je davon erfahren. Seine Hilflosigkeit auszunutzen und sein Blut nicht nur einzutauschen, sondern es auch noch selbst zu trinken, grenzte an … Verrat.

Und doch … Es war so unglaublich verlockend …

Es war Bock, der nach Minuten des Schweigens einschritt. »Ich weiß schon«, seufzte er. »Ihr könnt nicht ablehnen. Ich verstehe das. Ist kein Problem … Achtmal zwei Zentiliter sind hundertsechzig Milliliter. Das wird Alea überhaupt nicht kratzen.«

Beinahe gleichzeitig erhoben sich Simon, Sugar Ray und Asp. »Das müssen wir uns nicht unbedingt ansehen«, erklärte letzterer.

»Stimmt, da wird man nur neidisch«, brummte Simon. »Aber naja, ich gönn’s euch. Prost.«

Die drei Vampire ließen die Übrigen allein; dann ging auch Schievenhöfel mit den Worten »Ich rede mal ein bisschen mit dem Chef.«

Nun waren sie zu neunt, wenn man Alea nicht mitzählte. Bock sah den Vampiren in die erwartungsvollen Gesichter und griff schließlich mit der einen Hand nach Aleas linkem Arm, mit der anderen nach dem Stauschlauch. »Wartet gefälligst, bis ich fertig bin, ja? Falk, du reichst mir ein Glas nach dem anderen.«

»Wird er auch net aufwachen?«, fragte Lasterbalk zweifelnd.

»Äußerst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass wir schon alle möglichen Schmerzreize ausprobiert haben, auf die er nicht reagiert hat.«

»Und diese Schwester wird es auch net merken?«

»Dass wir ihn punktiert haben? Doch. Aber offiziell habe ich dann einfach eine Blutprobe genommen.« Bock desinfizierte Aleas Ellenbeuge mit einem scharf alkoholisch riechenden Wattetupfer, dann schob er die Kanüle in die hervortretende Armvene vor, löste den Venenstauer und nahm Falk das erste Schnapsglas ab. »Irgendwie seid ihr ganz schön dekadent«, stellte er fest. »Wieso holt ihr euch nicht noch Trauben und Käsewürfel wie bei einer Weinprobe?«

Die Vampire waren viel zu erregt, um zu antworten. Coppelius durchbohrten Aleas Körper mit Blicken, die denen der Mädchen vor der Bühne in wenig nachstanden. Als das erste Blut austrat, zuckten aller Augen dorthin. Tropfen für Tropfen quoll hervor, erst langsam, dann schneller. Genüsslich inhalierten die alten Vampire den Geruch; Max Coppella leckte sich verhalten die Lippen und sah plötzlich viel weniger übellaunig aus als gewöhnlich. Jedoch hatten sich nicht alle von ihnen so gut unter Kontrolle: Als das erste Schnapsglas voll war und Bock es beiseite stellte, um nach dem nächsten zu greifen, schnappten plötzlich Nobusamas Fänge hervor, und er presste peinlich berührt eine Hand auf den Mund.

»Contenance!«, zischte Comte Caspar. »Du bist doch kein geifernder Frischling mehr!«

Der Getadelte nickte sichtlich beschämt, murmelte eine wohlformulierte Entschuldigung und zwang seine Zähne wieder zurück an ihren Platz. Beherrschung sei doch eine große Tugend! Falk und Lasterbalk tauschten wieder einen Blick; ihnen war der Geruch des Blutes nicht fremd, doch auch sie kämpften merklich mit ihrem Verlangen.

Weiterhin schweigend und voller Spannung sahen sie zu, wie Bock ein Gläschen nach dem anderen mit dem frischen, duftenden Blut füllte. Für sie dauerte es sicher eine gefühlte Ewigkeit, bis der tröpfelnde rote Quell auch das letzte der acht Gefäße akkurat bis an die Markierung gefüllt hatte.

»Mach schneller! Es gerinnt ja schon!«, drängte Lasterbalk.

»Ja, ja!« Bock zog die Nadel zurück, um die kleine Wunde abzudrücken. »Dann guten Appetit.«

Unverhohlen gierig griff jeder der acht Vampire nach einem der Schnapsgläser. Keiner von ihnen konnte sich jetzt mehr zurückhalten.

»Ich kann’s nicht fassen, dass dieser Tag mal gekommen ist«, ließ Falk ganz beklommen verlauten und starrte das Getränk an.

»Das kann ich nur unterstreichen«, schloss sich Lasterbalk an.

»Oh, wir wussten, dass er kommen würde!«, kicherte Graf Lindorf. »Und jetzt lasst uns anstoßen! Auf die Freundschaft – und darauf, dass unser Lockstück euch helfen wird, die irische Vampir-Mafia zu zerschlagen!«

»Jap, darauf trinke ich ganz bestimmt!«, nickte Lasterbalk und leckte sich die Lippen, nunmehr ohne jede schamhafte Zurückhaltung. »Zum Wohl! Oder wie es bei Eff Eff wohl heißen würde: Sláinte

Und dann tranken sie. Kippten sich Aleas Blut in einem Zug hinter die Binde wie einen Kurzen. Bock schüttelte den Kopf; von Genießen verstanden Vampire wirklich nichts. Allerdings musste man einräumen: Für gewöhnlich geronnen vor ihren Augen unbehandelte, frische Drinks außerordentlich schnell zu braunen Klumpen.

Als die Gläser leer waren, seufzten die acht Trinker und erschauerten wohlig, wobei sie alle beiseite sahen. Immer wieder leckten sie sich die Lippen und versuchten, dem Geschmack so lange wie möglich nachzuspüren.

Bock sah fragend vom einen zum anderen. »Ja … und? Wie ist es?«

»Unglaublich«, murmelte Falk.

»Ein Zungenorgasmus«, ergänzte Lasterbalk.

»Deliziös!«, ließ Comte Caspar sichtbar zufrieden verlauten.

Der Mediziner furchte die Stirn. »Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, dass Alea tagelang nichts gegessen hat. War es süß?«

Falk nickte. »Jaah, süß wie Honig … Genau wie es immer gemunkelt wurde!«

»Merkwürdig. Äußerst merkwürdig.«

»Das ist net merkwürdig, Bock!«, widersprach Lasterbalk lächelnd. »Alea ist ein Vexecutor! Er ist so was wie ein … Blutgott!«

»In der Tat, in der Tat, da kann ich dem Herren nur lebhaft beipflichten«, äußerte sich nun auch Sissy Voss etwas zurückhaltender zu der jüngst gemachten Geschmackserfahrung. »Ein wirklich ungewöhnliches, aber auf jeden Fall unvergleichlich gutes Aroma.«

»Das Lockstück«, fügte Max Coppella daraufhin hinzu, »gehört natürlich euch. Bastille? Bitte händige den Herren unseren Teil der Abmachung aus.«

Der blasse Diener, der selber noch ganz trunken wirkte, fischte ein Stück vergilbtes Papier aus seinem Hosenbund – was auch immer es dort zu suchen hatte – und gab es Lasterbalk; es erinnerte an eine Schatzkarte, doch als der große Mann es vorsichtig entrollte, stellte er fest, dass einigermaßen sauber geschriebene Noten es zierten.

»Soso«, kommentierte Lasterbalk. »Das ist … hmmm. Ah, ja … aber … was bedeutet … Taragot

»Das ist das Instrument, für das es ausgelegt ist«, erklärte Bastille.

»Und was ist das?«

»Oh, bitte …«, seufzte Max Coppella und rollte theatralisch die Augen. »Wir verstehen uns auf Kammermusik, ihr euch auf volkstümliche Allerwelts-Klampferei. Ihr solltet das wissen.«

Lasterbalk schaute zu Falk, und Falk schaute zurück; dann zuckten beide kaum merklich die Schultern. Lasterbalk rollte das Papier vorsichtig zusammen und legte es dann einfach auf Aleas Bauch, die einzige Ablagefläche in Reichweite. »Gut, ich werde mir das nachher genauer ansehen. Vielen Dank.«

»Wir haben zu danken!«, erwiderte Sissy Voss bemüht liebenswürdig. »Auf weiterhin gute Zusammenarbeit – und viel Erfolg bei eurem Einsatz.«

Gemeinsam geleiteten die Saltatio-Mortis-Vampire ihre Gäste durch das Klinikgebäude zum Haupteingang. Regelrecht exaltiert sangen sie dabei in lautem Chor: »Bluuut, Bluuut … alle saufen Bluuut …«, sodass ihnen erneut wartende Patienten und Angehörige wie vom Donner gerührt hinterher sahen.
 

Am Haupteingang des Krankenhauses angekommen, setzten sich Coppelius – mit Ausnahme von Nobusama und dem blondgelockten Butler – ihre Zylinder auf, drehten sich zu Lasterbalk und Falk um und deuteten zum Abschied eine leichte Verbeugung an, eine Hand an der Hutkrempe, wie es sich für feine Herrschaften gehörte. Die MIU-Vampire hingegen brachten nur ein knappes, eher angestrengt aussehendes Nicken zustande, ehe sie sich umdrehten und den Rückweg zum Keller antraten.

Bereits in der Nähe der Baustelle bemerkte Lasterbalk ein seltsames Gefühl in der Brust. Sein Herz pochte ungewöhnlich schnell, und er hatte die sonderbare Empfindung, alle Dinge in seinem Blickfeld würden einen bunten Schweif ziehen, wenn er die Augen bewegte.

»Sag mal … Fühlst du dich gerade auch so komisch …?«, fragte er seinen Kollegen beunruhigt, ehe sie die Treppe wieder erreicht hatten.

Falk, der eine Hand auf sein Herz gelegt hatte, nickte. »Als hätte ich irgendwas ganz Übles genommen … Mir ist ganz schwindelig …« Als er nach dem Treppengeländer greifen wollte, griff er zunächst ins Leere, fing sich aber dann noch rechtzeitig. »Aleas Blut muss ganz schön Power haben … Hoffentlich ist es für Vampire nicht giftig, ich meine …«

»Bluuut, Bluuut … ja, das schmeckt uns guuut …«, sang Lasterbalk schief und hangelte sich mühsam das Geländer hinunter. »Üargs, meine Fähigkeit zum Spontanreimen nimmt schon ab … Jetzt wird mir langsam wirklich übel …« Er merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und blieb mitten auf der Treppe stehen, um nicht beim Laufen in die Knie zu sacken.

Falk neben ihm sank hastig atmend auf die Stufen. »Hier stimmt was gewaltig nicht, sag ich dir …«

Lasterbalks Mund war trocken. Noch hielt er sich aufrecht, aber immer größere Angst kroch ihm die Kehle hoch und ließ ihn frösteln. Eben noch war es lustig gewesen, aber jetzt war es … gespenstisch.

»Ich will net sterben«, hörte er sich sagen.

»Dann geht’s dir wie mir.« Falk ließ den Blick schweifen. Die Farben rundherum waren jetzt viel zu grell – vor allem gemessen an der Tatsache, dass das MIU-Versteck aus eintönig grauem Beton bestand. »Wir sollten Alea von Bocks Tisch werfen und uns selber drauflegen …«

»Wem sagst du das …«

»Los, schnell zu Bock. Vielleicht weiß er, was es ist.« Schwach streckte er dem Größeren die Hand hin. »Hilf mir mal …«

Lasterbalk packte ihn und zog ihn auf die Füße. Beide lehnten sich schwer gegen das Geländer.

»Los, nur ein paar Meter noch«, ermunterte Lasterbalk seinen langjährigen Freund. »Heute sind wir noch net dran!«
 

Dr. Saltz war erstaunt, die beiden so unruhig und konfus zu sehen. »Setzt euch hin«, forderte er sie auf und bot ihnen Stühle an. Dann untersuchte er sie nacheinander: Beschaute sich die Augen und Schleimhäute und nahm schlussendlich noch ein paar gründliche Messungen vor.

»Schneller Puls und hoher Blutdruck«, fasste er die Ergebnisse stirnrunzelnd zusammen. »Das ist mir suspekt. Hier, tut das weh?« Er kniff Falk in den Arm.

»Nicht so richtig, nein …«

»Hm.« Bock verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist auffällig. Ihr habt die gleichen Symptome wie Alea – also, ich habe sie nicht für Symptome gehalten, aber … hohe Kreislaufaktivität, Tachykardie und Analgesie … Es hat mich schon gewundert, dass Alea bei einer so flachen Bewusstlosigkeit nicht mit Abwehrbewegungen auf Schmerzreize reagiert … und diese regelmäßige Kurvenveränderung im EEG …«

»Bock, was willst du uns damit sagen?«, ächzte Falk. »Dass das alles gar nicht natürlich ist?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete der Arzt zögernd, »aber meine Vermutung, es wäre auf Vampirgift zurückzuführen, ist damit eindeutig widerlegt …« Er schaute auf Alea, dann wieder auf die Vampire, und erklärte schließlich: »Ich werde Alea jetzt zurück auf die Station bringen und das melden. Und dann … werde ich lauern.«

»Lauern?«, stöhnte Lasterbalk. »Worauf denn lauern?«

»Ich vermute, dass Alea … vielleicht eine Medikation bekommt, die in seinem Krankenblatt nicht vermerkt ist, warum auch immer. Kann sein, dass ich mich irre, aber wenn nicht … Tja. Ich warte mal ab, was passiert.«

»Ich schätze, wenn wir auch lauern, erregt das Aufsehen, hmm?«, murmelte Falk.

»Ich würde euch bitten, nach mir zu suchen, wenn ich auffällig lange wegbleibe«, antwortete Bock. »Sagen wir … so gegen vier Uhr komme ich zurück.«

»Okay …«

»Euch gebe ich jedem eine Diazepam-Tablette, damit es euch besser geht, in Ordnung? Versucht ruhig zu bleiben und euch möglichst wenig Reizen auszusetzen, dann sollten die Halluzinationen bald abklingen.«

Falk und Lasterbalk widersprachen nicht; es war offensichtlich, dass der Arzt einen klaren Verdacht hatte, wo die Ursache der Misere zu suchen war. Immerhin ging es ihnen selbst nun besser und sie hatten Gewissheit, nicht an irgendeinem Gift zu sterben. Coppelius hingegen gönnten sie den kleinen, harmlosen Horrortrip von Herzen – schließlich hatten die sich Aleas Blut mehr oder weniger ergaunert. Wenn es ihnen nicht bekam, umso besser. Allerdings waren die sechs von ihrem Absinthkonsum sicher schon einiges gewohnt.
 

»Meine Güte«, kommentierte El Silbador, als er die beiden Vampire seiner Band sediert im Bockshof vorfand. »Ich wollte eigentlich fragen, wie’s geschmeckt hat, aber ihr seht aus, als würdet ihr gleich loskotzen.«

»Ooooh, Elsi«, murmelte Falk, »Alea war köstlich … Wenn der wüsste!«

El Silbador wirkte enttäuscht. »Köstlicher als ich, nehme ich an.«

»Och, Elsi … Du warst schon deshalb köstlich, weil du den ganzen Tag nur Weintrauben gegessen hattest … aber unser kleiner König hat einfach geschmeckt wie … ich weiß nicht, wie was, das ich noch nie geschmeckt habe …«

»Schon klar.« Mit einem Schnauben wandte Elsi sich wieder zum Gehen.

»Du bist doch jetzt net eifersüchtig oder so was?«, hakte Lasterbalk nach und klaubte dafür allen noch verbliebenen Verstand zusammen. »Wir können gerne darüber reden, wenn das Valium nicht mehr wirkt …«

»Nönö«, erwiderte Elsi murrig und beendete damit das Thema. »Boris und ich müssen uns jetzt wieder um das Außenteam kümmern, die wurden von Paul Frais ziemlich tief in das Versteck geschleppt. Ich hoffe, alles geht gut. Noch weiß er nicht, dass sie nicht wirklich unter seiner Blutfessel stehen. Vielleicht kriegt Ingo ’ne Chance, ihn zu pfählen.«

Falk und Lasterbalk reagierten dank des Valiums eher gelangweilt auf diese Information und starrten weiter vor sich hin. El Silbador ging zurück zu Yellow Pfeiffer und setzte sich wieder neben ihn an den Laptop. »Und?«

»Ich hab noch nichts weiter gehört«, antwortete Boris unbehaglich. »Frais hat ihnen befohlen zu schweigen, und das müssen sie jetzt tun, um nicht aufzufallen.« Sich die Finger massierend, fragte er: »Haben wir jetzt das Lockstück?«

»Ja, Coppelius haben es dagelassen.«

»Ich hab sie reden gehört. Komische Typen.«

»Der Witz ist, dass die ganz normal reden können und sich total unauffällig verhalten können … aber sie wollen eben nicht. Ich glaube, die wären selber saugeile Locksänger … aber bei deren geringer Fähigkeit, sich anzupassen, wären alle bösen Vampire immun gegen das Lied, bevor sie es selber sind.«

»Tja. Kann uns egal sein, solange sie nur keine siechen Rentner mehr meucheln. Jedenfalls brauchen wir jetzt unsere eigenen Locksänger. Ich versuche gleich noch mal, Polly zu erreichen.«

»Dann übernehme ich jetzt die Überwachung des Außenteams«, bot Elsi an. »Sag mir dann, was Polly geantwortet hat.«

»Mache ich«, versprach Boris, fand sein iPhone und ging hinaus, um oberirdisch nach Empfang zu suchen.
 

Bock schob die Krankenliege neben das Bett und legte erst Aleas Beine, dann seinen Oberkörper wieder auf die Matratze. Er verzichtete darauf, die Messelektroden wieder anzubringen; sie lieferten ja doch keine brauchbaren Ergebnisse. Nachdem er den Sänger zugedeckt und ein weiteres Mal seine Werte notiert hatte, suchte der Arzt nach einem geeigneten Lauerort, wo man ihn, wenn man nicht gerade nach ihm suchte, nicht entdecken würde. Nach kurzem Überlegen duckte er sich einfach zwischen Nachtschränkchen und Fensterwand. Nicht das kreativste Versteck, doch wenn er die Beine anzog und sich ruhig verhielt, wäre er weder von der Tür noch vom Bett aus zu sehen. Hoffentlich reichte das. Gott, bin ich heute unkreativ. Aber was kann ich dafür, dass Krankenzimmer so ungünstig eingerichtet sind?

Die Wahl bereute er bereits nach einer halben Stunde. Es war unglaublich unangenehm, derart zusammengekauert auf dem harten Fliesenboden mit den Schulterblättern an einer ebenso harten Wand auszuharren. Als Mediziner hätte er das eigentlich wissen müssen. In seinem rechten Fuß hatte er bereits kein Gefühl mehr; es würde schmerzhaft sein, wenn die Nerven wieder mit Blut versorgt wurden. Ach, verdammt, Blut. All das nur wegen blödem Scheiß-Blut!

Eine weitere Viertelstunde verging. Immerhin konnte Bock auf seine Uhr sehen, ohne sich völlig zu verrenken – glücklicherweise, denn das leise tickende Chronometer an der Wand war von seinem unbequemen Versteck aus nicht zu sehen. Minutenlang lauschte er trotzdem diesem Ticken, das in seinem Kopf immer lauter und langsamer zu werden schien. Kein anderes Geräusch mischte in diese eintönige Kulisse, wenn man vom nicht weniger eintönigen Geräusch des entspannt und gleichmäßig atmenden Sängers im Raum einmal absah. Je länger er zuhörte, desto dichter wurde die Stille darunter, wie eine Decke aus Watte, die sich über dem Krankenzimmer auszubreiten schien.

Nach einem erneuten Blick zur Uhr zitterte Bocks angestrengter Arm gefährlich, als er ihn wieder sinken ließ. Lange würde er diese unkomfortable Körperhaltung nicht mehr beibehalten können.

Fünf Minuten später ging endlich die Tür auf. Bock erstarrte und spähte unter dem Bett hindurch; er sah die typischen Krankenschwester-Schuhe, weiß und löchrig und gepolstert, damit die Schritte nicht unangenehm laut waren und schlafende Patienten schon vom Gang aus störten. Eine Stimme sagte: »Da bist du ja wieder, mein Hübscher!«

Bock staunte nicht schlecht, als er den Tonfall erkannte: Es war die Nachtschwester, die ihnen Alea unmittelbar nach seiner Rettung abgenommen hatte und seither für ihn zuständig gewesen war. Was machte sie jetzt hier? Sie hatte behauptet, erst um acht Uhr abends wieder Schicht zu machen! Stumm und starr verfolgte Dr. Saltz, wie die Schwester Aleas notierte Werte zur Kenntnis nahm und sie dann, der fortgeschrittenen Stunde entsprechend, selbst noch einmal überprüfte und aufschrieb. Dies tat sie sehr gewissenhaft und summte dabei leise vor sich hin. Als sie fertig war, ging sie jedoch nicht etwa hinaus, sondern zog – Bock konnte es nicht richtig sehen – offenbar einen Gegenstand aus der Kitteltasche, in den sie leise flüsterte: »Ned? Wir hatten Glück. Er ist schon wieder hier und es ist alles unverändert. Wir können den Start vorziehen. Ich gebe ihm jetzt die letzte Dosis, dann bereite ich den Abtransport vor. Klara Ende.«

Soso, dachte Bock und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er sah, wie die Schwester eine Kanüle auf eine lange Spritze aufsteckte. Ach, guck an … Jetzt kommen die großkalibrigen Geschosse! Vor Anspannung bebend verfolgte er, wie sie die Ampulle bis zum Anschlag mit einer farblosen Flüssigkeit aufzog. Kein Zweifel: Sie würde Alea die ganze Dosis injizieren, auf der Stelle. Schon griff sie nach seinem Oberarm und drückte eine Hautfalte zusammen, um die Nadel anzusetzen.

Bock sprang auf. Seine abgeklemmten Glieder reagierten nicht sofort, er stolperte und fiel der Länge nach hin. Die Schwester fuhr mit einem Aufschrei zurück, wobei sie die Spritze fallen ließ; dann erkannte sie, wen sie vor sich hatte, und ging zum Gegenangriff über. »Niemand wird ihn uns noch einmal wegnehmen!«, fauchte sie, und ehe Bock seine lahmen Füße unter den Bauch ziehen konnte, hatte sie sich auf ihn gestürzt.

Jetzt konnte Bock nirgendwohin entkommen. Ihr Gewicht schlug auf ihn nieder, ihre zu Krallen verkrampften Finger packten ihn an Kopf und Schultern wie Raubvogelklauen. Dicht über ihn gebeugt sperrte sie den Mund auf und entblößte Vampirzähne. Er roch ihren Atem, spürte die Spannung der stahlharten Muskeln. Einige ihrer wirren Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Sie grinste – ein hämisches, verzerrtes Grinsen – und biss zu.

Schmerz fuhr in seinen Hals ein wie zwei glühende Nadeln, dann strömte aus den Fangzähnen Trägheit in seinen Leib, und er erschlaffte im Griff der Vampirin. Es wäre, das wusste Bock im Nachhinein, wohl klüger gewesen, sie die Droge applizieren zu lassen und Alea einfach erneut zu entführen, sobald sie gegangen war. Vielleicht aber wäre sie gar nicht gegangen. Sie hatte bereits Komplizen benachrichtigt. Warum, zum Teufel, hatte die MIU nie in Erwägung gezogen, dass Fiacail Fhola die Universitätsklinik infiltriert hatten?

Jetzt trinkt das Miststück mein Blut! Gierig schlürfend sog sie es in sich hinein, und der Arzt konnte kaum seine Gedanken beieinander halten. In diesem Moment hasste er Vampirgift, jene psychoaktive Substanz, die er so intensiv studiert hatte …

Dann stürzten zwei Gestalten ins Zimmer. Bock sah sie nur schemenhaft, aber sie packten die blutsaugende Bestie und zerrten sie von ihm herunter.

Die Schwester setzte sich rasend zur Wehr. Kein Vampir wurde gern beim Trinken gestört und von seinem Opfer fortgerissen. Fauchend wie eine Furie schlug und trat sie um sich, und Bock versuchte trotz der Benebelung, nicht Opfer der Attacken zu werden.

»Simon?«, schnaufte derjenige der beiden Retter, der die zornige Bestie von hinten umschlungen hielt. »Kümmer dich um die Bisswunde, still die Blutung. Ich regle das mit der Dame!«

Ins Bewusstsein des Arztes drang immerhin die Information, dass es die Subway-To-Sally-Vampire waren, die ihn gerade gerettet hatten. »Nicht … pfählen …«, murmelte er, ehe alles wieder durcheinander schwamm. Ganz am Rande seiner Aufmerksamkeit sah er, wie Silvio Runge alias Sugar Ray die Spritze aufhob und sie der sich heftig wehrenden Krankenschwester – dieses Bild wäre sicher amüsant gewesen, hätte Bock es genießen können – in die Schulter rammte. Zwei oder drei Minuten lang hielt er sie fest, während sie – noch immer nicht aufgebend – verzweifelt mit ihm rang; dann, endlich, wurden ihre Bewegungen zunehmend langsamer und unkoordinierter. Silvio wartete, bis sie gänzlich das Bewusstsein verloren hatte, dann erst ließ er von ihr ab.

Simon wandte sich derweil dem deliriösen Mediziner zu. »Keine Angst, Bock, die beißt nicht mehr.«

»Alea …«, murmelte der Arzt und kämpfte mühsam darum, seine Gedanken beieinander zu behalten.

»Ja, wir haben’s schon geschnallt«, besänftigte ihn Simon, spuckte sich auf die Hand und klatschte diese dann einigermaßen liebevoll auf Bocks Hals. »Siehst du, dein Biss blutet auch nicht mehr.«

»Alles ergibt ’n Sinnnnn …«, fuhr Bock nuschelnd fort, als Sugar Ray ihn aufhob. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie die narkotisierte Schwester an Aleas Stelle ins Bett gelegt hatten. Den Sänger trug Simon, der trotz seines nicht allzu kräftigen Erscheinungsbilds kein Problem mit dessen Gewicht hatte. »… die Hirnssssströme … der be-schleunichte Herzschlag …« Oh Gott, hätte doch nur das Gift ihn nicht in einen sabbernden, brabbelnden Idioten verwandelt! »… uuuund vor allem … die – die Narkose … ohne Ausfffflllll … der Refleggse …«

Simon ignorierte das unzusammenhängende Geplapper, doch Sugar Ray war sofort hellhörig geworden. »Reiß dich zusammen und sprich deutlich!«, verlangte er, während er Bock fester an sich drückte. »Was hat die ihm die ganze Zeit gegeben?«

Fast schon hatten sie die Kellertreppe zum Versteck erreicht. Bock bemühte sich, seine Zunge unter Kontrolle zu bringen, konnte aber nicht vermeiden, dass er weiterhin nuschelte, als sein Mund das Wort formte: »Ketamin …«

»Was?«, bohrte Silvio.

Simon rollte die Augen.

»Das einzige Anästhetikum, das kreislaufsteigernd wirkt …« Oha, es wurde endlich besser! »… wie Vampirgift … Es fällt nicht unter das Betäubungsmittelgesetz, ist als illegale Droge gut zu beschaffen … archzzzzz … Ich hätte mehr Tests machen müssen … Ich hätte viel früher misstrauisch sein sollen …« Er zog den Kopf ein, als Sugar Ray ihn durch die Tür in seinen Bockshof trug. »Ich bin nur drauf gekommen, weil es Falk und Lasterbalk so seltsam ging, nachdem sie sein Blut getrunken hatten …«

»Dass die beiden so drauf waren, lag also gar nicht daran, dass Alea ein Vexecutor ist?«, fragte Simon staunend. Er legte Alea auf den Behandlungstisch, während Silvio Bock vorsichtig auf einem Stuhl an der Wand absetzte.

»Hahaha … Nein … Ich glaube, Alea hat stinknormales Blut … aber als die Vampire es getrunken haben, war es voll mit hypnotischen Drogen …«

»Oh, das wird die beiden aber gar nicht freuen. Was für ein Beschiss!«

»Jaah, aber Coppelius waren begeistert … Ahahaha, das ist so blöd, dass es schon wieder lustig ist!« Bock kicherte mindestens zehn Minuten still vor sich hin, während die beiden anderen Männer kurz verschwanden. Dann, endlich, ließ die Wirkung des vampirischen Sedativums wieder nach. »Oh, gute Güte … Wie soll ich Falk und Lasterbalk das nur verklickern …?«

Sugar Ray furchte die Stirn und setzte sich neben Alea auf die Bettkante. Nachdem er den Sänger kurz betrachtet hatte, sah er wieder zu den beiden anderen auf. »Würde sagen«, seufzte er, »wir klären das gleich mal auf ’ner Stegreifkonferenz. Sieht ja doch so aus, als müssten wir uns über einiges hier klar werden.«

On The Move

»Eff Eff haben also das Klinikpersonal unterwandert«, brummte Falk, als alle übrigen MIU-Leute im Flur zusammengekommen waren.

»Im Nachhinein glaube ich das nicht«, hielt Bock dagegen. »Ich denke eher, dass die Schwester eigentlich eine unauffällige, registrierte Vampirin ist, die hier nur brav ihre Arbeit macht … die aber mit Fiacail Fhola sympathisiert oder Freunde hat, die das tun. Also, soweit ich das beurteilen kann, hat sie die Patienten der Station immer gewissenhaft versorgt, und ich könnte mir vorstellen, dass auch sie es war, die für Ketamin plädiert hat, weil es einfach vergleichsweise ungefährlich ist. Dass sie mich angegriffen hat, kann ich ihr nachsehen … Sie hätte mich auch töten können.«

»Na, wenn du meinst«, räumte Falk ein. »Trotzdem hätten wir früher darauf kommen müssen, dass da irgendwas nicht ganz richtig läuft. Wir wissen doch, dass Eff Eff fast überall ihre Finger drin haben können!«

»Ich kam gerade noch rechtzeitig. Sie wollten Alea heute Abend aus der Klinik schmuggeln, wahrscheinlich zurück ins Versteck. Tja, das wird nun nichts.«

»Also sollte diese Schwester dafür sorgen, dass er die ganze Zeit schön schläft und wir nichts bemerken. Frais will ihn immer noch lebend.«

»Ja, ganz offensichtlich. Falk, die Schwester liegt noch oben in Aleas Bett. Ihr müsst sie von hier wegbringen und vorerst festsetzen. Ich werde mich um ihre Patienten kümmern und der Frühschicht mitteilen, dass sie wegen Unwohlseins nach Hause gehen musste, oder so.«

»Und was machen wir jetzt mit Alea?« Simon nickte in Richtung Krankenzimmer. »Ich meine, er hat seine Schlafspritze ja jetzt nicht gekriegt, also …«

»Wir lassen ihn hier unten einfach aufwachen«, nickte Bock. »Aber ich sage euch, das wird nicht lustig. Ketamin ist viel potenter als Vampirgift, auch was die Psychotropie betrifft. Er wird albtraumhafte Halluzinationen haben, wenn er zu sich kommt. Allerdings haben wir eine erhöhte Chance darauf, dass er sich nicht an euer Outing erinnert.«

Lasterbalk sagte vorsichtig: »Das ist eine gute Nachricht …«

»Ich habe auch eine Nachricht«, meldete sich Yellow Pfeiffer zu Wort, »falls ihr sie jetzt hören wollt.«

»Was machen unsere Helden in der Höhle des Löwen?«, fragte Asp teilnahmsvoll.

»Keine Ahnung. Das meinte ich nicht. Ich habe Infos von Fírinne

Augenblicklich waren alle ganz Ohr. »Lass hören«, sagte Falk.

»Ein Mann namens Niklas Löhse, der offenbar die irische Präsidentin betreut, hat sich ganz vorwurfsvoll erkundigt, warum wir uns nicht melden. Fírinne hatten ja diese kleine Besprechung mit Eric und Micha, und die beiden sollten uns eigentlich davon in Kenntnis setzen, was dabei rausgekommen ist.«

»Ach je. Hast du ihnen schonend mitgeteilt, dass Micha und Eric hier gar nicht aufgeschlagen sind, sondern von Eff Eff gekidnappt wurden?«

»Ja, und ich habe sie auch mit der Feststellung konfrontiert, dass Fiacail Fhola bei Fírinne einen Informanten haben müssen, weil das sonst gar nicht möglich gewesen wäre. Au, da war der gute Herr Löhse aber angefressen. Hat vehement abgestritten, dass so was denkbar wäre. Hätte es nie gegeben und würde es nie geben, behauptet er.«

Die Männer seufzten kollektiv. Schließlich sagte Lasterbalk: »Gut, dann sollen die eben ihr Ding machen und wir unsers. Wir konzentrieren uns jetzt erst mal auf das, was uns weiterbringt. Boris … Wenn ihr mal kurz Zeit habt, findet bitte raus, was ein Taragot ist. Das muss ein Musikinstrument sein.«

»Hmmm … «, sinnierte Pfeiffer. »Ich glaub, ich hab schon mal davon gehört. Ist eine Art … Holzpfeife, wenn ich da nicht ganz falsch liege. Aber das finde ich schon raus. Da fällt mir übrigens noch was ein, das euch außerdem interessieren dürfte: Ich hab Faun erreicht. Ja, sie haben sich endlich losgemacht. Unsere Locksänger kommen – so schnell sie können.«
 

»Wie ihr seht, haben wir bereits wieder angefangen, das Versteck zu räumen«, erklärte Paul Frais lächelnd den vier Menschen, die er ohne jeden physischen Zwang einfach im Gänsemarsch hinter sich her durch den schwach erleuchteten Tunnel trotten ließ. »Deshalb ist es so leer hier. Ehrlich gesagt … Ich bin immer noch nicht ganz sicher, was ich mit euch machen soll, meine MIU-Freunde.«

Fritz, Ingo, Basti und Marco schwiegen. Sie durften keinen Ton sagen, wenn sie Frais in dem Glauben lassen wollten, sie stünden unter seiner Blutfessel. Zum Glück fuhr der irische Vampir im Plauderton fort, die flackernde Stille weiterhin mit Leben zu füllen.

»Habt ihr wirklich gedacht, ihr könntet diese dummen Hobbyornithologen, unter die ihr euch gemischt habt, vor ihrem Schicksal bewahren? Die werden alle mit ins neue Versteck gehen. Wenn wir weg sind, wird Dresden um viel süßes Blut ärmer sein, so viel steht fest.« Der gut gekleidete Mann lachte hell und vergnügt.

Fritz schauderte es beim Klang seiner Stimme jedes Mal aufs Neue. Er glaubte, in Frais’ Nähe spüren zu können, wie unglaublich alt und unnahbar dieser Vampir war, wie weit er von einem Leben als Mensch entfernt war, wie hoch über allem anderen er thronte, obwohl er, wie sie, auf dem Boden ging. Jetzt wusste Fritz, was Alea meinte, wenn er von Vampir-Aura sprach. Wäre Fritz entsprechend sensibel gewesen, hätte ihn Frais’ Präsenz wahrscheinlich ebenso erschlagen.

Als jeweils zur Linken und Rechten eine Tür mit kryptischer Beschriftung abzweigte, drehte Frais sich um und sagte freundlich: »Wartet bitte hier. Ich sehe mal nach, ob wir noch einen Platz für euch haben.« Damit wandte er sich der rechten Tür zu, auf welcher Fritz das Wort ifreann lesen konnte, und ging hinein. Die linke, auf welcher neamh stand, ließ er unbeachtet.

Nun waren die vier allein; Ingo wagte es als erster zu sprechen. »Heilige Scheiße, ey. Ich kann nicht fassen, wie viele Vampire hier rumspringen. Und wie viele Menschen! Wahrscheinlich sind die alle selbst gemacht, in jeder Hinsicht. Frais muss wie blöd Abkömmlinge erschaffen und Frauen geschwängert haben, nachdem wir ihn damals über die ganze Insel gejagt haben!«

Fritz zuckte bei diesen Worten zusammen. »Moment mal, Moment mal! Vampire erschaffen andere Vampire, wenn sie alt genug sind, durch so eine Art Ritual, richtig? Aber sie … können sich auch sexuell fortpflanzen …?« Diese Erkenntnis war, euphemistisch ausgedrückt, ernüchternd.

»Oh, ja«, bestätigte Hampf grimmig, »können sie. Aber wenn sie das machen, dann zeugen sie rein menschliche Nachkommen, woran man erkennt, dass der genetische Code auch nach der Verwandlung noch die Informationen aus dem menschlichen Leben enthalten muss. Ich weiß zufällig, dass dein Kumpel Micha einen Sohn und eine Tochter hat, vielleicht auch noch mehr Kinder, bin nicht sicher.«

»Oh … Wirklich?« Schon wieder durchzuckte Fritz das altbekannte Ich-weiß-von-nichts-Gefühl. »Das hat er nicht gesagt … Irgendwie redet er nie über sich.«

»Ich würde auch nicht drauf wetten, dass sich das ändert. Viele von uns haben eine Familie, aber wir versuchen, unser Privatleben aus unserer Arbeit rauszuhalten. Das ist, wenn man bei ’nem Geheimdienst arbeitet, auch sinnvoll, damit die Angehörigen nicht ins Fadenkreuz eventueller Feinde geraten.«

Natürlich. Fritz kam sich über die Maßen dumm vor. Ständig hatte er allen, auch Micha, erzählt, was seine Frau den ganzen Tag trieb, dass sie Tierärztin war und was sie über Gott und die Welt dachte. Nie hatte jemand sich nach Kitty erkundigt. Er selbst hingegen wusste nichts über die Leute, mit denen er zusammenarbeitete. »Okay«, sagte er und schluckte das Unbehagen tapfer hinunter. »Und was … was machen wir jetzt? Wie lange wollen wir diesen Frais noch täuschen?«

»Bis sich ’ne jute Jelegenheit bietet, ihn zu töten«, antwortete Van Lange. Er hatte sich wenige Minuten, nachdem Paul Frais sie aufgegriffen hatte, von der Wirkung des Vampirgifts erholt und den Blutverlust, wie prophezeit, gut verkraftet. »Aber erst mal müssen wir rauskriegen, wo seine Jefangenen sind. Ick hatte jehofft … also … dass die Schmitt sich ma blicken lässt.«

»Die Frau ist nicht total bescheuert«, belehrte ihn Hampf prompt.

Aus dem Off meldete sich leise El Silbador zu Wort: »Jungs, bitte gebt mir schnell mal durch, was Sache ist.«

Flex übernahm die Informationsübermittlung und erkundigte sich anschließend: »Was ist aus der Sache mit Alea geworden?«

»Er ist in Sicherheit«, antwortete Elsi. »Wir beraten uns demnächst mit Faun darüber, wie wir vorgehen, um das Versteck hochzunehmen. Uns gefällt nicht, dass Eff Eff schon wieder dabei sind, es zu räumen.«

»Wir halten dich auf dem Laufenden. Jetzt müssen wir aber wieder die Klappe halten – ich glaube, ich höre ihn wiederkommen …«

Die Männer verstummten. Von innen näherten sich Frais’ Schritte der ifreann-Tür, und der Vampir trat lächelnd daraus hervor. »Wenn die Herren bitte eintreten wollen … Unser Team ist jetzt voll und ganz für Sie da.«

Jeder andere vampirische Herrscher wäre wohl hochmütig aus der Tür getreten und hätte seinen Gefangenen nur herablassend die Richtung gewiesen, um auf diese Weise seine Überlegenheit zu demonstrieren; nicht so Frais. Eben so etwas tat er nicht – nie. Solange er sich unter Kontrolle hatte, gab er sich charismatisch, was oft im krassen Gegensatz zu den Grausamkeiten stand, die er unbeschwert wie Wettervorhersagen aussprach. Hochmütig aufzutreten und mit den Muskeln zu spielen hatte er nicht nötig. Er gab sich liebenswürdig, war jedoch gleichzeitig auf schauerliche Weise unnahbar und eiskalt.

In Fritz’ Augen war das, was sie nun betraten, der reinste Albtraum. Er und die anderen kamen in ein Rondell, das von Gittern umgeben war – und hinter diesen befanden sich Vampire. Es waren vier, genau wie sie. Fritz erkannte sie: Es waren diejenigen, die von den MIU-Vampiren bei Aleas Befreiung einfach überwältigt worden waren, ohne getötet zu werden. Frais hatte sie dafür bestraft. Jetzt lechzten die vier im Hungerwahn nach Blut, völlig ausgezehrt, sabberten und stöhnten unter Qualen, während sie gegen die eisernen Begrenzungen ihrer Gefängnisse ankämpften, immer wieder krachend ihre Schädel gegen das kalte Metall rammten. Der Geruch der Menschen machte sie wild und unberechenbar, gab ihnen neue Kraft für den rettenden Angriff.

»Ich denke, das wird ein schöner Zeitvertreib für mich. Bietet sich gerade so an«, sagte Frais beinahe entschuldigend. »Es ist ja nicht so, als ob ich meine Leute töten würde. Welcher Idiot würde seine eigenen Reihen lichten? Keine Angst, auch ihr werdet es überleben. Ich denke nur, dass meine vier Halbstarken ihren Fehler inzwischen eingesehen haben und lange genug bestraft worden sind. Zeit fürs Abendbrot. Ich werde da oben sein und zusehen.« Er deutete die Wand hinauf, wo sich knapp unterhalb der hohen grauen Decke eine Glasscheibe befand, gut zwei Meter hoch und sechs Meter lang. »Na dann, guten Appetit. Menschen, ihr werdet euch nicht bewegen. Bis nachher.« Und dann schritt er ausgreifend zur Tür zurück und verließ den Raum.

Fritz stand wie angewurzelt zwischen Basti und Flex; die Haare standen ihm zu Berge. Ich werde gebissen, schoss es ihm durch den Kopf, so oder so, die fressen mich bei lebendigem Leibe, die saugen mich leer und spritzen alles mit meinem Blut voll! Ein Würgen drang seine Kehle hinauf. Und wenn ich nicht der erste bin, dann reißen sie einen der anderen in Stücke! Blut, Blut auf dem Boden, an den Wänden, es wird überall sein, ich werde drauf ausrutschen – ! Ingo hieb ihm in die Seite, und dies riss ihn in die Realität zurück.

Aus dem Gitterrund war das hungrige Keuchen der Vampire zu hören. Sie griffen durch die Metallstäbe und leckten sich ihre ausgeworfenen Fangzähne so gierig, dass sie sich in die eigenen Zungen schnitten.

Ingo Hampf richtete das Wort an Fritz: »Ganz ruhig, Kleiner. Guck es dir genau an. Das passiert, wenn du als Vampir Paul Frais auf den Sack gehst. Er hat sie mit Nahrung so kurz gehalten, dass sie langsam ausgehungert sind. Hätte er sie komplett auf Nulldiät gesetzt, wären sie jetzt schon fast tot – aber er wollte, dass es noch langsamer geht.«

»Wat machen wir?«, zischte Basti. »Wenn wir heute Morgen keen Blut jelassen hätten, würde ick sagen, wir lassen die armen Viecher saufen … aber ick gloobe nicht, dass ick dit überlebe.« Er meinte das ernst. Fritz entging nicht, wie blass und besorgt Lange aussah.

»Du gibst in den nächsten sechs Wochen keinem Vampir mehr zu trinken, Basti, verlass dich drauf«, sagte Marco mit fester Stimme. »Und ich fürchte, dass es denen gerade scheißegal ist, ob wir mit dem Blutverlust klar kommen oder nicht.«

Bei allen dreien schien es hinter der Stirn fieberhaft zu arbeiten. Es musste irgendeinen Ausweg aus dieser Situation geben, irgendeine Möglichkeit, dass sie alle diesen Raum lebend verließen.

»Vielleicht«, wandte Ingo leise ein, »können wir die beiden Geifernden erledigen … und den anderen helfen. Seht ihr die Tusse da drüben?« Er nickte vage zur linken Seite, wo eine rothaarige Vampirin gekrümmt in dem Stroh lag, das ihr Gefängnis ausfüllte. »Die hat keine Kraft mehr, einen von uns anzufallen, wenn derjenige keinen Bock drauf hat. Könnte unser Vorteil sein. Fritz? Du bist der Einzige von uns, der noch unvermindert viel Blut im Körper hat.«

»Was? Vergesst es!«, quiekte Fritz. »Eher sterbe ich, als mich von einem Vampir beißen zu lassen!« Durch seinen Körper strömte der Impuls, vor seinen Kollegen zurückzuweichen, und nur mit enormer Beherrschung, die glücklicherweise jäh zurückkehrte, konnte er ihn unterdrücken. Noch durfte Frais nicht sehen, dass sein Befehl keine Wirkung zeigte.

»Hör doch erst mal zu!«, zischte Ingo. »Von Beißen war noch gar nicht die Rede! Also: Es gibt drei Reflexe, die bei einem ausgehungerten Vampir erst ganz zuletzt aussetzen und die man nutzen kann, um ihn unter günstigen Umständen noch zu retten. Zuerst, jaah, der Beißreflex, der ausgelöst wird, wenn man als Mensch um einen Biss bittet. Wenn der nicht mehr funktioniert, aktiviert man den Saugreflex, indem man dem Vampir eine offene Wunde anbietet. Zum Schluss, viel später, erstirbt auch der Schluckreflex. Wenn du ’nem sterbenden Vampir Blut in den Mund schüttest und er nicht schluckt, kannst du nichts mehr machen.«

»Und dann?«, quetschte Fritz aus seiner trockenen Kehle hervor.

»Dann tritt der Tod ein«, übernahm Flex die Antwort. »In diesem Zustand ist der Vampir sowieso schon komatös. Man nennt das Verzweiflungsphase. Davor kommt die Wahnphase – das ist die, in der ein Vampir noch mal richtig zur Bestie wird und skrupellos anfällt, wen er erwischen kann. Wohlgemerkt, die Beißhemmung bei Freunden fällt dann aus. Es geht nur noch ums Überleben. In der Wahnphase verausgaben Vampire sich bis an den Rand der Erschöpfung, kämpfen und schreien wie bekloppt. Wenn das vorbei ist, werden sie bewusstlos und erleiden einen Kreislaufzusammenbruch.«

»Eine grausame Art der Hinrichtung«, murmelte Hampf und Fritz konnte sehen, wie sehr es ihn berührte. Ingo, der Pfähler, voller Mitleid für gequälte Blutsauger – das kam unerwartet.

»Die haben Alea und mich entkommen lassen …«

»Richtig. Also, Fritz, wir wollen hier niemanden mit deinem Blut satt machen, aber vielleicht können wir die beiden Schwächeren zumindest anfüttern, also, ihnen einen Energie-Kick verpassen, damit sie erst mal wieder richtig zu sich kommen und klar denken können. Kann sein, dass wir dann Verbündete haben. Kann sein, muss aber nicht.«

Ein Teil von Fritz erkannte die Notwendigkeit der Maßnahme, doch der andere konnte sie einfach nicht akzeptieren. »Wenn ich mein eigenes Blut sehe, werde ich tot umfallen!«, jammerte er und rang die Hände. »Warum ich

»Weil wir anderen – !«, begann Basti in scharfem Ton, doch soeben ließ ein rasselndes Geräusch die Männer aufschrecken.

Langsam hoben sich die trennenden Gitterwände aus den Fugen im Fliesenboden und rollten laut ratternd in ihre Deckenscharniere. Ihr Ächzen und Knirschen erfüllte den ganzen Raum, während sie langsam den Weg freigaben. Die Vampire duckten sich – zwei von ihnen schienen noch richtig flink auf den Beinen zu sein – und versuchten wild entschlossen, sich unter den Metalldornen durchzuwinden, noch ehe diese ihnen genug Raum dafür ließen. Ihre entblößten Zähne zogen Speichelfäden über den Boden, ihre krampfenden Finger reckten sich in kopfloser Gier nach der Beute.

»Keine Zeit zu verlieren!«, bellte Ingo. »Killt die beiden Fitten! Jetzt!« Und er riss den Pflock unter seinem Hemd hervor. Fritz hätte zu gern Paul Frais’ Gesicht gesehen, als seine scheinbar willenlose Beute zum Gegenangriff überging.

Der erste der beiden noch kräftigen Vampire war vor Hunger dumm genug, sich direkt auf Hampf zu stürzen, der zweifellos das lohnendste Ziel darstellte. Mit heiserem Röhren sprang er vor, die Finger zum Zupacken gekrümmt. Seine Zähne verfehlten den kräftigen Hals des Mannes, dessen Pflock jedoch nicht das Vampirherz, das nach der Perforation heftig blutend seine Pumptätigkeit einstellte. Der zweite noch sehr mobile Blutsauger, ein blonder Jüngling, hatte sich dem anderen untergeordnet und stattdessen Marco ausgesucht. Der Hunger machte ihn pfeilschnell. Flex wich ihm aus, doch der Vampir konnte mithalten, änderte genauso schnell die Richtung wie er, versuchte immer wieder, Marco aus einer günstigen Position heraus anzuspringen – und triumphierte schließlich mit einem flinken Hakenschlag. Als Fritz sah, wie er den In-Extremo-Akrobaten erwischte und zugleich Basti Lange mit einem derben Fußtritt in den Magen aus dem Weg beförderte, musste er eingreifen – die Aussicht darauf, erneut einen Biss mit ansehen zu müssen, verlieh ihm neue Kraft. Fritz griff frontal an. Der Vampir war jedoch so schnell, dass Fritz stattdessen nur den verwirrten Flex erwischte. Als der Vampir das sah, griffen plötzlich, durch alle Hungeridiotie hindurch, die Gesetze vampirischer Rangordnung und ließen ihn konsterniert einen Schritt zurückweichen.

Nanu?, dachte Fritz mit wilden Gedanken. Glaubt er etwa – ? Natürlich! Ich verteidige meine Beute! Genau das mache ich! Fauchend packte er Marco, wie er es bei Basti und Boris gelernt hatte, und warf ihn mit dem Bissgriff zu Boden. Flex war noch immer viel zu verblüfft, um sich zu wehren.

Der gegnerische Vampir warf die Hände in die Luft und stöhnte gequält auf: »Verdammte Scheeeeeeiße, ich hab doch so ’nen Huuuunger!« Aber Fritz hatte mehr Kraft – damit war er überlegen. Dieser Mensch gehörte ihm!

»Such dir was anderes!«, keifte Fritz. Dann wurde sein Blick von einem feuerroten Fleck in seinem Sichtfeld aufgehalten. Es war die rothaarige Vampirin, die soeben völlig erschöpft aus dem Stroh auf ihn zukroch.

»Maith thú, a Fhial …«, keuchte sie.

»Oh, mein Gott! Ríona?« Auch das noch – eine alte Bekannte! »Warum du?« Er war überrascht, sie wiederzusehen. Da er sie bereits kannte, wunderte er sich, wie ausgerechnet sie in so eine Lage hatte geraten können.

Sie lachte gequält. »Ich war zu freundlich zu dir … und habe nicht eingegriffen, als du gerettet wurdest, a stóir … Aber Paul sieht jetzt, dass du einer der Vampire bist, die ihre Aura verbergen können … und er wird mich schonen!«

Ingo, Flex und Basti, die inzwischen auch den zweiten Vampir in die ewigen Jagdgründe geschickt hatten, verfolgten den Dialog verständnislos. »Insider?«, fragte Hampf.

»Keine Zeit!«, gab Fritz zurück. »Ihr müsst hier raus!« Er hatte selbst keine Ahnung, was er vorhatte. Er wusste nur: Wenn er tiefer ins Herz des sich leerenden Verstecks wollte, dann musste er die Fakefang-Nummer jetzt durchziehen – und zwar überzeugend!

»Find ick jut«, kommentierte Basti und meinte damit, wie Fritz kurz darauf auffiel, die Tatsache, dass Paul Frais wieder hereinkam. Selbstredend hätte er jeden seiner Handlanger vorschicken können, doch Frais war ein Macher: Dingen, die ihn interessierten, widmete er sich gern persönlich.

Nun sah er noch entgeisterter aus, als die Männer für möglich gehalten hätten. Zorn und Verblüffung brachen sich Bahn. »Wie kann es sein, dass ihr mich so täuscht?!«, schnarrte er. »Wie macht ihr es? Wie macht ihr es? Ich werde es erfahren! Du!« Sein zitternder Zeigefinger richtete sich auf Fritz. »Dich nehme ich mit, und du wirst mir sagen, was ich wissen will!« Damit ergriff er Fritz am Arm, fest wie ein Schraubstock, und holte so tief Atem, als wollte er seine Lungen zum Bersten bringen.

»Scheiße!«, keuchte Ingo, und die übrigen drei MIU-Leute stürzten in Richtung Ausgang drauf los. So schnell sie konnten, kehrten sie Frais den Rücken und versuchten, noch rechtzeitig die offene Tür zu erreichen.

Sie versagten knapp.

Paul Frais öffnete den Mund und stieß einen so markerschütternden, dröhnenden Schrei aus, dass es Mann und Maus von den Füßen riss. Fritz, der unnachgiebig festgehalten wurde, hatte das Gefühl, sein Trommelfell müsste jeden Moment zerspringen. Der Schrei, dachte er entsetzt. Diesen Angriff hatte er schon gesehen – im Musikvideo zu Vollmond. Der ungeheure Luftstoß beförderte nicht nur seine Kollegen, sondern auch die anderen Vampire unsanft gegen die Wand, ehe sie es schafften, gegen Frais’ übermenschliche Kraft ankämpfend, den Ausgang zu erreichen.

Als es jäh still war, brach Paul Frais die Attacke ab. Er glättete seinen Mantel, als wäre nichts gewesen, und machte dann abrupt kehrt, Fritz hinter sich herziehend. »Weiß der Geier, wie ihr es schafft, eure Fangzähne ständig unter Kontrolle zu behalten!«, fauchte er, noch immer in zorniger Erregung. »Aber diesmal kommt ihr mir nicht davon. Du wirst es mir sagen. Spätestens in fünf Tagen, wenn du kurz vor dem Verhungern bist. Es eilt ja nicht – so lange kann ich jetzt auch noch warten!«

Damit packte er Fritz am Kragen. Dieser wurde augenblicklich schlaff wie ein Fischköder, gelähmt von Angst und der Tatsache, dass er gegen den alten Vampir völlig chancenlos war. Frais würde ihn persönlich foltern, sich nebenbei daran ergötzen, alle Informationen aus erster Hand erfahren. Eins hatte der Vampirboss klargemacht: Es war gern ganz vorn dabei, dort, wo der Spaß war.

Frais schleifte Fritz mit sich, durch eine Stahltür gegenüber, durch einen dunklen Schacht – und dann in einen ebenso dunklen Raum mit kalter, feuchter Luft. »Hier bleibst du, bis ich Platz geschaffen habe!« Dann wirbelte er erneut herum, und die Tür fiel ins Schloss. Es klickte leise. Dann entfernten sich die ausgreifenden Schritte. Augenblicklich hörte Fritz auch das Trippeln vieler kleiner aufgescheuchter Tierfüße über den feuchten, von Algen glitschigen Boden. Ratten!, dachte Fritz pikiert und entsetzt zugleich. Ihm blieb aber auch wirklich gar nichts erspart.

Ein paar Minuten lang blieb Fritz zitternd auf dem Bauch liegen. Was hatte er jetzt angerichtet? Er war völlig durchgeschwitzt, und in der klammen Kühle begann er sofort zu frieren. Dass er nicht ganz allein war, fiel ihm erst wieder ein, als El Silbador sich meldete. »Hey … Leute … Was ist passiert?«

Fritz sagte nichts. Die anderen würden zuerst antworteten, und wenn sie alle durcheinander redeten, würden Elsi und Boris nichts verstehen. Er wartete einfach. Ohnehin hatte er sich jetzt sehr, sehr tief ins Unglück gestürzt. Wieder war er Gefangener – und diesmal gab es kein Entkommen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ausgerechnet vor Paul Frais einen Vampir zu spielen?

Nach ein paar Minuten hörte er Elsi leise fragen: »Fritz … Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«

»Ja«, wimmerte Fritz ganz leise.

»Oh, puuh, da bin ich ja beruhigt! Basti hat erzählt, was passiert ist. Die anderen suchen sich gerade einen anderen Weg. Tut mir Leid, ich kann dich auf der Karte nicht finden. Dein Sender ist abgeschirmt. Du musst in einer Art Bunker sein.«

»Schon möglich … Es ist hier stockdunkel und tropfnass. Ich soll … wahrscheinlich wieder in eine von diesen Strohzellen …«

El Silbador sog scharf die Luft ein, bevor er eindringlich sagte: »Du darfst jetzt nicht den Mut verlieren, hörst du? Vielleicht findest du raus, wo sie Michael und Eric gefangen halten. Dann musst du es mir sofort mitteilen!«

»Natürlich«, murmelte Fritz. Mittlerweile zitterte er vor Kälte.

»Nur Mut, Fritz. Ihr anderen? Er ist in Ordnung. Ich beobachte euch.«

Dann schwieg die Regie. Fritz wartete noch einen Moment ab, ob Elsi nicht doch noch einmal zu ihm sprechen würde; doch als kein Ton mehr kam, zog er die Beine dicht an den Körper und setzte sich auf dem kalten, nassen Steinboden auf. Immerhin roch die Luft frisch, so als befände er sich in einem unterirdischen Brunnen. Zitternd richtete er sich auf, kiekste ein hohl nachhallendes »Ha-Hallo?« und war erstaunt, als er eine leise Antwort bekam.

»Friedrich?«

Er horchte auf und wandte sich der Stimme zu. »Eric?«

»Hier drüben.«

»Mist, ich kann kaum was sehen!« jammerte er, streckte die Hände vor und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Seine Füße bewegten sich durch leise plätschernde, großflächige Pfützen. Schließlich erreichte er die steinerne Wand und folgte ihr vorsichtig. Dann, nach gefühlten zehn Metern, aber wahrscheinlich weit weniger, stieß er jäh auf schwere, laut rasselnde Eisenketten und schrak zurück. »Oh Gottogott«, wimmerte er.

»Der hilft uns auch nicht«, murmelte Eric, jetzt ganz nah bei ihm. »Bist du verletzt?«

»Nein … Du?«

»Na, noch nicht.«

Fritz streckte die Hand aus und berührte Erics Arm; das Gelenk lag in einem breiten Eisenring, welchen die massive Kette mit ihrem Gewicht am Boden hielten. »Scheiße, du kannst dich ja gar nicht bewegen …«

»Was du nicht sagst. Ich bin mit so ziemlich jedem Körperteil an die Wand gekettet. Fühle mich wie in einer dieser Scheiß-Fanfictions, in denen ich ständig misshandelt werde«, fügte Eric säuerlich hinzu. Dann wurde sein Ton wieder matt: »Ich konnte es nicht mehr rauszögern. War klar, dass sie mir Vampirblut in diesen komischen Tee mischen, aber irgendwann ist der Durst nun mal stärker.«

Fritz war ganz verzweifelt. Jetzt waren sie beide in einer aussichtslosen Lage, und es konnte nur noch schlimmer kommen. »Es tut mir so Leid … dass sie dir das antun.«

»Ach, Friedrich«, brummte Eric unbehaglich, »glaub mir, auch wenn ich jetzt rumjammere, es ist auszuhalten … Ich bin darauf trainiert, mich von Gefangenschaft nicht psychisch erledigen zu lassen. Und was den Rest betrifft: Sie kümmern sich gut um mich. Alle paar Stunden fordern sie mich zum Trinken auf, damit ich Vampirblut im Körper habe, aber noch haben sie mir keinen schlimmeren Befehl gegeben, als keine Gegenwehr zu leisten. Dabei könnten sie’s tun … Sie könnten mich mit der Blutfessel zwingen, grauenhafte Dinge zu tun, so wie sie es mit den vielen anderen Menschen machen. Aber sie lassen es … als ob ich zu schade dafür wäre.« Er rührte sich ein wenig, und die Ketten klirrten; ihr Echo zerriss die Stille, die zuvor nur von einem leisen, steten Tropfen erfüllt gewesen war. »Wenn ich nur wüsste, was sie mit mir vorhaben …«

Fritz hatte bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt, Eric Hecht nicht leiden zu können. Er mochte die distanzierte, rechthaberische Art dieses Mannes nicht. Jetzt jedoch, als er ihn so gefasst über die bedrohliche, ungewisse Situation sprechen hörte, in der er sich befand, war Fritz jäh erfüllt von einem tiefen Respekt. Er selbst hätte es in diesem finsteren Loch nicht einmal zwanzig Minuten ausgehalten, ohne den Verstand zu verlieren, das wusste er. »Ich hol dich hier raus«, sagte er bestimmt.

»Aber nicht jetzt«, berichtigte Eric ihn mit fester Stimme. »Vorher hast du was anderes zu tun. Fiacail Fhola haben nicht nur mich erwischt, wie du weißt. Ich bin mit zentimeterdickem Stahl angekettet, sieh’s ein: Mir kannst du im Moment nicht helfen. Wenn du jemanden retten willst, dann fang mit Michael an.«

»Michael«, wiederholte Fritz, als hätte er ganz vergessen, wer das war. »Micha … Wo ist Micha?«

»Gleich nebenan.« Wieder rasselten die Ketten nur ein wenig, doch es reichte für enormen Lärm. Der Krach hallte von den Wänden wider, wurde dadurch umso lauter und malträtierte das Trommelfell der beiden Männer. »Er hätte uns befreien können, hat es aber vorgezogen, mein Blut abzulehnen … und sich aushungern zu lassen.«

»Was? Warum hat er dich nicht gebissen?« Fritz war verwirrt. Micha hatte doch stets behauptet, mit dem Beißen kein Problem zu haben …

»Weil er ein halsstarriger Bastard ist«, antwortete Eric in gekränktem Ton. Fritz konnte die von Frust verzerrte Miene des Sängers im Geiste vor sich sehen. »Also ist das jetzt deine Aufgabe. Sieh zu, dass er dich beißt. Wenn du ihn dazu aufforderst, muss er es machen, und wenn er Blut schmeckt, wird er auch trinken.«

Automatisch wich Fritz zurück. Er spürte, wie Panik nach seiner Kehle griff und sein Puls sich beschleunigte. »Nein!«, keuchte er. »Du weißt, dass das nicht geht! Ich – ich habe eine Phobie vor Wunden! Deswegen hab ich doch so wild versucht, bei Micha eine Beißhemmung zu bewirken! Ich werde niemandem in den Mund bluten, auf keinen Fall!«

»Und wie du das wirst! Sei kein Feigling!«, wies Eric ihn in scharfem Ton zurecht.

»Aber er hat mich gezwungen, sein Blut zu trinken! Verstehst du? Blutfessel!« Fritz blieb unnachgiebig. Die Angst betäubte seinen ganzen Körper.

Eric bemühte sich mit einem tiefen Atemholen um Geduld. »Ich weiß, aber das musst du jetzt vergessen.«

»Vielleicht will ich ihm gar nicht helfen!«, sagte Fritz bockig.

»Jetzt hör aber auf mit dem Scheiß!« Plötzlich war Erics Ton kalt und befehlend und schneidend wie ein Messer. Er atmete erneut tief durch und fügte etwas ruhiger hinzu: »Sie wollten alles von ihm wissen. Warum er und die anderen Vampire sich im Sonnenlicht bewegen können. Wie sie es schaffen, dass Alea sie nicht als Vampire erkennt. Er hat ihnen kein Wort verraten.« Die zornige Erregung in der Stimme des Sängers war nicht zu überhören, doch wieder schluckte er sie hinunter, um freundlicher zu sprechen. »Fritz, hör zu … Heute ist Michael still, aber gestern Nacht … hab ich ihn schreien gehört.« Er schauderte sichtbar. Fritz spürte es. »Ich glaube, wir können uns nicht mal ansatzweise vorstellen, wie qualvoll das Aushungern ist. Wenn du also meinst, du kannst ihm dein Blut nicht anbieten, dann versuch verdammt noch mal, dich in ihn hinein zu versetzen!«

»Ich –«, begann Fritz, doch Eric unterbrach ihn sofort.

»Nein, sei still! Du machst jetzt meine Jacke auf und greifst in die linke Innentasche. Los, mach schon!«

Fritz gehorchte. Es war unmöglich, Eric Fish nicht zu gehorchen, wenn er es verlangte. Erstaunt fand er in der Jacke des Sängers eine von außen kaum ertastbare, gut gepolsterte Innentasche vor, die während der ganzen Zeit seiner Gefangenschaft offensichtlich noch nicht bemerkt worden war. Darin lag ein unerwartet schweres, längliches Stück Metall mit einem scharfen, gebogenen Dorn am Ende. »Www-was ist das?«

»Eine Fliete, ein Lassmesser«, erklärte Eric ruhig.

Schaudernd betastete Fritz das grobschlächtige Werkzeug.

»Es kann sein, dass du es brauchst«, fuhr Eric fort. »Wenn Michael nicht mehr in der Lage ist, dich zu beißen, musst du dir die Armvene öffnen.«

Argh!, schrie sofort alles in Fritz auf, und beinahe hätte er das kalte Ding fallen gelassen.

»Damit kannst du ihn nicht satt machen, weil die Vene zu dünn ist und ohne die Zähne der Speichel die Wunde schnell verschließen wird … aber du kannst ihn anfüttern, wie wir das nennen. Ihm so viel Kraft geben, dass er die Fangzähne benutzen kann.«

»Aber das kann ich nicht!«, jammerte er.

»Darüber werde ich mit dir nicht weiter diskutieren.« Der herrschende Ton war wieder da. »Ich gehe davon aus, dass du tun kannst, was nötig ist. Hör zu.« Jetzt sprach Eric wieder sanfter. »Wenn du Michael findest und er kalt ist, muss das nichts bedeuten. Vampire werden vor dem Tod kalt, nicht erst danach. Verstanden?«

Fritz wusste, dass er nichts anderes antworten konnte, und presste hervor: »J-Ja …«

»Dann verschwinde jetzt.«

Als hätte er es vorhergesehen, ging im gleichen Moment die Tür auf, und weißes, blendendes Licht flutete herein.

»Na, MIU-Vampir?«, knirschte jemand. »Schön an deinem Kollegen genuckelt? Scheißegal, es war sowieso deine letzte Mahlzeit. Jetzt kommst du dahin, wo es richtig unangenehm wird!« Und lachend kam der rotnäsige Vampir auf Fritz zu, um ihn aus dem Raum zu zerren.

Aufs Blut

Fritz staunte: Der Vampir namens Ned hatte Schnupfen. Oder zuviel gekokst, eins von beidem. Er ging nicht gerade sanft mit seinem Gefangenen um, als er ihn am Oberarm in den angrenzenden Raum zerrte. Dieser Raum glich dem, in welchem Fritz mit Alea eingesperrt gewesen war, und er fragte sich, wie viele weitere Gitterzellen Fiacail Fhola hier unten noch angelegt hatten. Es mussten etliche sein.

Das Licht war hier besser als in Eric Fishs feuchtem, höhlenartigem Gefängnis, aber nicht gut genug, um alle Winkel auszuleuchten. Fritz sah lediglich, dass nur eine einzige, größere Zelle vom Rest des beengenden Raumes abgetrennt war.

»So«, knurrte sein Peiniger und zog die quietschend protestierende Gittertür auf. »Hier kannst du schon mal einen Blick auf das werfen, was dich demnächst erwartet! Hoffentlich macht dir das so viel Angst, dass deine verdammten Klöten abfallen!« Mit Schwung wollte er Fritz ins Innere der Zelle befördern – dann jedoch hielt er noch einmal inne. Blinzelnd musterte er Fritz, und diesem wurde klar, dass die leuchtenden Augen des Vampirs mit den schummrigen Lichtverhältnissen keine Probleme hatten, ganz im Gegensatz zu Fritz’ eigenen. »Was ist denn das, ey? Bist du irgendwie verwanzt? Ah, klaaar bist du das!« Ned pinzettierte den Sender hinter Fritz’ Ohr mit Daumen und Zeigefinger, riss ihn ab und musterte ihn verächtlich; dann ließ er ihn auf den Boden fallen und trat darauf. Es knackste. »Naja, jetzt nicht mehr!«

Betäubung brach mit einem Schlag über Fritz herein. Sein Peilsender! Er war sein einziger Kontakt zur Außenwelt gewesen – zu Elsi, Boris und den anderen! Nun war er allein! Ganz allein!

Ned, der Fritz’ völlige Resignation bemerkte, umfasste dessen widerstandslosen Körper erneut fester. »So, rein mit dir. Viel Spaß!« Damit stieß er Fritz so hart in die Zelle, dass dieser mit dem Kopf voran mitten ins Stroh stürzte, packte die Gittertür und warf sie zu, sodass sie mit einem lauten Scheppern ins Schloss fiel – dann schob er lachend einen Schlüssel in das Schloss und drehte ihn dreimal herum, ehe er, noch immer gehässig kichernd, aber auch leise schniefend, aus dem Raum verschwand.

Die Stille, die sich anschloss, war perfekt.

Und Fritz hatte das Gefühl, innerlich erstarrt zu sein. Es war alles vorbei. Er war eingesperrt, mutterseelenallein, hatte nicht einmal mehr die Wanze im Ohr. Was sollte er jetzt anfangen? Wie sollte er hier rauskommen? Wie überleben? Der Schock saß tief in seinen Eingeweiden. Minutenlang war er zu gar keiner Regung fähig. Stille umgab ihn so dicht und unangenehm wie das Stroh, füllte den kühlen Raum zwischen vier kahlen Wänden.

Irgendwann kam doch wieder Bewegung in ihn. Mehr automatisch als zielgerichtet streckte Fritz die zitternden Hände vor, tastete sich durch die raschelnden Halme. An den Wänden waren sie dick aufgehäuft, wie er es schon kannte. Zur Linken in der Wand war kurz über dem Boden ein kleiner Wasserhahn angebracht; darunter hatte man einen braun angelaufenen Gitterrost eingelassen, kaum größer als Fritz’ Hand. Nein, eine Fluchtmöglichkeit war das nicht. Fritz bückte sich und drehte den Hahn auf, um ein paar Schlucke zu trinken. Das Wasser war eiskalt, aber ganz klar und sauber. Immerhin – daran mangelte es also nicht. Hoffnung keimte jäh wieder in ihm: Wenn sie ihn nicht mit Blut fütterten, so konnte er gut damit leben. Fünf Tage Nulldiät, naja, waren nicht angenehm, aber für einen Menschen durchaus überlebbar. Die Frage war nur, was danach kommen sollte …

Wie schon bei seiner ersten Gefangenschaft begab sich Fritz ergeben zu dem Strohberg und begann damit, die piekenden gelben Halme umzuverteilen. Er würde es sich an diesem bedrückenden Ort so gemütlich wie möglich machen. Es quälte ihn, dass der Sender hinüber war. Ein aufmunterndes Wort hätte er jetzt – und auch über die nächsten fünf Tage – sicherlich gut gebrauchen können … Seufzend hob Fritz einen Arm voll Stroh nach dem anderen beiseite und häufte es zu einer Art Bett.

Ich muss überleben, mahnte er sich. Einfach durchhalten. Wie Eric. Das geht. Ich kann das!

Beinahe blindwütig fuhr er mit der Arbeit fort, und sie half ihm, die schlimmen Gedanken in Schach zu halten, was bedeutete, nicht den Verstand zu verlieren. Das war gut. Guuut.

Dann hatte er den größten Teil der notdürftigen Unterlage abgetragen. Und ihn ergriff das unheimliche Gefühl, dass dort im Stroh, unter seinen Fingern, noch etwas anderes war. Etwas … Er tastete, schob zaghaft, doch beherzt die Hände tiefer in die Streu –

– und erschrak fürchterlich.

Fritz sprang auf und prallte mit dem Rücken gegen die Gitter. Was zum – ?! Eine Hand auf sein Herz pressend stierte er auf den reglosen Körper, der sich offensichtlich unter dem vielen Stroh verbuddelt hatte und dort gestorben war. Ja, gestorben! »Scheiße!«, quietschte er. Hatten die das gar nicht bemerkt? Wussten die nicht, welche Gefangenen in welchen Zellen hockten und wann sie tot waren?!

Er musste sich zu beruhigen. Keine Panik. Das brachte nichts. Nichts, klar?!

Fritz beruhigte seinen Atem. Es dauerte mehrere Minuten, doch es ging. Dann zwang er sich, zu der Stelle zurückzukriechen. Ganz langsam kniete er sich wieder neben die Leiche und begann, das Stroh vorsichtig, als könnte er den Toten wecken, von dessen Kleidung zu klauben. Oh Gott, wie unheimlich! Ihn schauderte. Aber er brauchte das Stroh, jeden Halm, sonst würde er bald frieren. Überwindung, Fritz! Tote tun nichts mehr!

Mit einem Mal stellte er fest, dass er die Jacke kannte. Das dunkle Leder … Der Lammfellkragen … Was – ?

Entsetzen durchzuckte ihn wie ein heißer Blitz. Micha! Fritz erkannte ihn augenblicklich. Er hätte ihn überall erkannt, jetzt, da er sein markantes Gesicht sehen konnte. Ohgottohgott! Zitternd wischte Fritz die Halme von der Wange des Vampirs und zupfte sie aus dem gleichfarbigen Haar. Jetzt verstand er, was Ned gemeint hatte: Hier kannst du schon mal einen Blick auf das werfen, was dich demnächst erwartet! Hoffentlich macht dir das so viel Angst, dass deine verdammten Klöten abfallen!

Fritz holte tief Luft und zwang sich erneut zur Ruhe. Er durfte jetzt nicht durchdrehen, sondern musste methodisch vorgehen. Ja.

Der Berührungstest ergab: Micha war kalt. An der Stirn, im Nacken, auch am Bauch unter der Jacke – überall. Aber Eric hatte gesagt, Vampire würden schon vor dem Tod kalt. Hastig drückte Fritz drei Finger in Michas Kehlgrube. War da vielleicht doch noch etwas? Irgendwas? Nein. Oder … Doch. Ja. Ein kaum tastbarer, langsamer Puls. Micha war noch am Leben. Allerdings, und das ließ sich nicht leugnen, war er mehr tot als lebendig. Diese ganzen Reflexe, von denen Ingo geredet hatte, waren bestimmt schon erloschen. Oder? Vorsichtig rüttelte Fritz an der Schulter des blonden Mannes. »Micha? Micha … Ich bin’s, Fritz. Hörst du mich?« Null Reaktion. Fritz rüttelte fester. »Micha! Micha!« Oh Schreck, bloß nicht zu laut werden – Frais’ Schergen wachten mit Sicherheit in der Nähe! Fritz beugte sich tief über Michas Ohr und zischte heiser seinen Namen, einmal, zweimal. Erfolglos.

Vielleicht war Micha in Thanatose gefallen. Hatte sich selbst gefreezt, wie die MIU-Vampire es nannten. Fritz untersuchte seinen Hals, fand aber keine Würgemale. Verkrampft war er auch nicht. Und: Als Fritz einen Moment lang Michas Brust beobachtete und ein Ohr über seine Nase hielt, stellte er eine sehr langsame, flache Atmung fest. Nein, nichts Freeze. Micha war wirklich so im Arsch, wie er aussah.

Ganz vorsichtig schob Fritz mit dem Daumen die Oberlippe des Vampirs hoch. Darunter kamen die langen Fangzähne zum Vorschein. Fritz erinnerte sich, dass hungernde Vampire die Kontrolle über ihre Dentes sanguinis verloren. Ob es wohl half, wenn er …? Ich muss es versuchen. Zu was anderem kann ich mich ja doch nicht überwinden. Fritz raffte allen Mut zusammen und zog seinen Daumen über Michas Fangzahn. Der Schnitt brannte. Schnell sah er beiseite, als der messerscharfe Hauer seiner Haut Blut entlockte. Ohne hinzusehen, rieb Fritz den Blutstropfen an Michas kalter Zunge ab und erzitterte.

Die Reaktion fiel nicht so prompt aus wie befürchtet, aber sie kam: Michas Körper durchlief ein Zucken. Seine klammen Finger umschlossen Fritz’ Handgelenk, dessen blutender Daumen noch halb in seinem Mund steckte, erst sanft, dann packte er plötzlich zu – ein jäh festerer, dennoch seltsam kraftloser Griff. Schaudernd wich Fritz zurück und machte sich los, wobei er mit dem Hintern in seinen Strohberg fiel.

Micha regte sich, leckte sich die Lippen und machte blinzelnd die Augen auf. Unter den schweren Lidern war sein Blick desorientiert und ging durch alles hindurch; es sah nicht aus, als würde er Fritz erkennen. Dann jedoch sagte er ganz leise, mit mehr Lufthauch als Stimme: »Duu …? Was machst duu hier …?«

Fritz starrte ihn an; er war auf der Hut. »Na, ich, äh … bin wieder da …«

»Oh … Scheiße.« Micha versuchte sich zu bewegen, aber er konnte nicht einmal den Kopf heben. »Ich wünschte, ich könnte … dich einfach … anfallen … Aber kann ich nicht.« Er bleckte hilflos die Zähne. »Scheiß…beiß…hemmung …«

Beißhemmung … Also doch. Micha konnte ihn nicht beißen, er konnte nicht!

Die ganze Zeit hatte Fritz gehofft, dass es so kommen möge. Nun stellte ihn dieser Umstand vor die schier unmögliche Aufgabe, das Nötige selbst zu tun. Wie betäubt griff er in seine Tasche und holte das Lassmesser hervor.

Micha sah das Werkzeug und keuchte überrascht auf. »Oh, Gott sei Dank … du hast ein Flebotomum! Oh, Mann … Benutz es … loos … Ich hasse Betteln, aber … bitte … bitte …«

Der jetzt sehr glasige eisblaue Blick bohrte sich in den von Fritz; dieser begann wie in Trance, sich den linken Ärmel hochzukrempeln. Doch der verzweifelte Bann brach, als es daran ging, die kleine Klinge in die Ellenbeuge zu treiben. Fritz schüttelte sich vor Abscheu. »I-I-Ich kann nicht, es …«

»Nein, nein, nein«, keuchte Micha, »… drück den Dorn an die Vene … und hau auf das andere Ende … Stell dich doch nicht so an …!«

Fritz wollte es versuchen. Er wollte es wirklich. Auch wenn er, weil er die Vene nicht stauen konnte, nicht wirklich wusste, wo sie verlief, so hatte er trotzdem vor, dieses fiese Gerät in sie hineinzurammen. Seine rechte Hand hing bebend über dem Schlegel, der den Dorn durch die Haut befördern würde. Er musste nur den Mut finden … Er musste

Minuten vergingen. Minuten, in denen Fritz’ Hand zwar zitterte, er es aber nicht über sich brachte, die entscheidende, entschlossene Bewegung zu machen.

»Fritz«, jammerte Micha flehend. »Bitte

Fritz kniff die Augen zusammen, sammelte sich und versuchte zuzuschlagen. Seine Hand stoppte über dem Eisen. Es ging nicht. Es ging nicht! »Scheiße!« In einem Anfall von ungehemmtem Stress und Zorn ergriff Fritz die Fliete und schleuderte sie in hohem Bogen durch die Gitter. Sie prallte mit einem lauten Plong an der gegenüberliegenden Wand ab und blieb auf dem Steinboden liegen. Völlig unerreichbar.

Micha wimmerte auf vor Verzweiflung. »Du Vollidiot!«

»Es tut mir so Leid, Micha!«, beteuerte Fritz entsetzt, als ihm klar wurde, was er getan hatte. »Ich konnte nicht! Ich konnte einfach nicht!«

»Ich hab’s gesehen … Oh, Fritz … Wenn du doch bloß Eier hättest, du Scheißkerl …«

Fritz versuchte, Michas Gejammer auszublenden. Dieses Spiel war vorbei. Er hatte getan, was er konnte. Mehr war nicht zu machen. Bei aller Liebe! Bei allen Mühen! Er konnte nicht helfen, egal was passierte. Es ging nicht anders. Micha musste sterben. Es ging nicht anders! Fritz kauerte sich zusammen und presste sich die Hände auf Augen und Ohren. Durchhalten. Er musste das hier nur überstehen. Es gab nichts mehr für ihn zu tun. Gar nichts.

»Fritz«, sagte Micha sanft, nachdem eine ganze Weile nichts passiert war. »Fritz … pass auf. Plan.« Als er sah, dass Fritz eine Hand vom Ohr nahm, sammelte er sich und versuchte, trotz der Anstrengung deutlich zu sprechen. »Also … Irgendwann … wird dieser rotnäsige Spasti wiederkommen … und feststellen, dass ich tot bin. Tu so, als wärst du völlig neben dir … drück dich an die Wand, roll die Augen und laber Schwachsinn vor dich hin … und wenn er gerade nicht aufpasst … krall ihn dir. Sei schnell. Du … wirst nicht viel Zeit haben. Der Schlüssel ist in seiner rechten Hosentasche … Hol ihn dir, sperr den Wichser hier ein … und schon bist du frei.«

Fritz sagte nichts. In diesem Moment hielt er nicht viel von sich. Wenn es so um seine Tapferkeit bestellt war, dass er nicht mal einem sterbenden Vampir etwas Blut geben konnte, dann konnte er sicherlich auch keinen Feind überwältigen. Er konnte gar nichts. War zu nichts zu gebrauchen. Nur ein Idiot, den man dazu abkommandierte, irgendwo zu warten. Der nichts alleine zu Wege brachte.

Es war auch unwichtig. Ganz egal, wie es ausgehen würde – es würde sich erst etwas in Bewegung setzen, wenn Micha tot war. Fritz zwang sich hinzusehen: Micha lag ausgestreckt im Stroh und atmete schwer, aber er schien immerhin keine Schmerzen zu haben. Vielleicht würde er innerhalb der nächsten Minuten einfach ruhig einschlafen. Viel Kraft konnte ihm der einzelne Tropfen Blut nicht gegeben haben. Es war bald vorbei … bestimmt.

Als Micha die Augen wieder öffnete, bemerkte er Fritz’ mitleidigen Blick. Ungehalten knurrte er: »Glotz mich … nicht so an, du … blöde Ficksau …«

»Warum beleidigst du mich?«, fragte Fritz, der sich unsäglich elend fühlte.

»Weil du mich begaffst … wie ’nen krepierenden Köter! Das hat was von … Spannerei … weißt du das?« Er leckte sich die Lippen und fügte leise und erstickt hinzu: »Du mieses Arschloch.«

Fritz wandte den Blick ab. Außerhalb der Gitter lag die Fliete, ansonsten gab es dort nichts zu sehen. Alles war still. Die Ruhe war unerträglich. Durchhalten … Aber das war leicht gesagt. Er ertappte sich dabei, wie er durch seine Handflächen hindurch auf die gequälten, langsamen Atemzüge lauschte. Es half nicht, an nichts zu denken. Die Situation war so verdammt gegenwärtig. Sie ließ sich nicht ausblenden.

Als kleiner Junge hatte Fritz seinen Hund sterben sehen, einen schwarzen Terriermischling. Daran konnte er sich noch gut erinnern. Das Tier war an einer Magendrehung gestorben. Es hatte in Fritz’ Armen gelegen. Krämpfe … Hecheln … Zappeln … Zucken … Schnappatmung … dann das komplette, endgültige Erschlaffen. Die offenen, starren Augen, das Heraushängen der Zunge. Der Tod war ein scheußlicher Anblick. Nächtelang hatte das Bild Fritz in seinen Alpträumen verfolgt. Das Schlimmste daran war, dass die Agonie, der Todeskampf, sich über Stunden hinziehen konnte – Stunden, die auch für alle, die es mit ansehen mussten, zur Qual wurden. Der Todeskampf des Hundes war grausam gewesen, so grausam, dass es ihm als kleinem Jungen jeden logischen Gedanken geraubt hatte, überhaupt nichts tun zu können, um das Leiden auf irgendeine erdenkliche Weise zu lindern oder zu beenden.

Einen ähnlichen Gedanken schien auch Micha zu haben. In ängstlichem Ton fragte er: »Was glaubst du, wie es schneller geht … wenn ich rumzappel … oder wenn ich ruhig bin und versuche einzuschlafen …?«

»Ich … weiß nicht«, gab Fritz leidvoll zurück. »Bist du nicht … müde?«

»Doch … total müde.« Wieder lag Micha ein paar Minuten lang ganz still. Dann sprach er wieder. Noch leiser. »Hör mal, ich … rede jetzt nur noch einmal mit dir, versprochen … aber du … du musst meiner Familie was sagen. Ja, du … dachtest wahrscheinlich, ich hätte keine, aber …«

Vor Fritz tauchte Kitty auf. Er konnte es nicht verhindern. Seine Frau machte sich unglaubliche Sorgen um ihn. Seit er mit der MIU aufgebrochen war, hatte sie fast jeden Tag angerufen und sich immer dieselben, eintönigen Antworten angehört, weil er ihr nichts über seine Arbeit erzählen durfte. Es hatte sie nicht davon abgehalten, sich jeden Abend aufs Neue nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Weil sie ihn liebte.

Konnte man irgendjemandem das antun? Konnte er Micha das antun?! Fritz glaubte, er müsste jetzt wirklich den Verstand verlieren. Michas Familie sagen, dass er mit Schuld an seinem Tod war? Um Himmels Willen, nur das nicht!

Er stieß einen hellen Schrei aus, in dem sich Wut und Verzweiflung mischten, und presste sich beide Hände an die Schläfen. »Wenn ich doch nur keine Angst vor Blut hätte!«, stöhnte er, und seine Fingerknöchel wurden weiß. »Wenn ich nur ein bisschen mehr Eier hätte! Ich will dir doch helfen, ich will dir helfen, aber ich kann mich einfach nicht – !«

Hineinversetzen.

Fritz verstummte. In seinen Ohren hallten plötzlich Erics scharfe Worte nach: Wenn du also meinst, du kannst ihm dein Blut nicht anbieten, dann versuch verdammt noch mal, dich in ihn hinein zu versetzen!

Hineinversetzen. Blut. Hineinversetzen!

Da wusste Fritz endlich, was er tun musste.

Er packte Michas schlaffe, kalte Hand, die keinerlei Widerstand leistete, und drückte sie an die Lippen des Vampirs, was Micha wiederum ohne Protest beließ. Als endlich ein zäher, dunkler Tropfen aus dem geritzten Handballen quoll, beeilte Fritz sich, die Augen zuzukneifen und das kalte Blut aufzulecken.

Er hatte nicht gewusst, was ihn erwartete. Voller Entsetzen ließ er Michas Hand los, als sein ganzer Körper in Qualen aufschrie. Scheiße, was hatte er sich da nur vorgenommen?! Das war – …!

Ohne den Kontakt verschwand das Chaos. Micha sah aus trüben Augen zu Fritz auf. Er hätte jetzt etwas sagen können, etwa ›Gib mir Blut‹, und Fritz hätte gehorchen müssen, egal wie. Doch Micha sagte nichts. Selbst jetzt, als es um sein Leben ging, zwang er Fritz kein zweites Mal unter seine Blutfessel.

Mühsam beherrscht streckte Fritz erneut die Finger aus, um ihn anzufassen und zu teilen. Er konnte nur helfen, wenn er mit jeder Faser seines Körpers mitfühlte.

Auch diese nächste Berührung war ein Albtraum. Fritz musste seinen ganzen Willen zusammennehmen, um nicht mit einem Aufschrei zurückzuzucken. Eine rasende Verzweiflung pulsierte durch seinen ganzen Leib, und grässliche Schmerzen, die aus seiner Mitte in alle Richtungen ausstrahlten, mischten sich mit roter Todesangst. Sein Herz würde rasen, wenn es könnte, doch da war keine Kraft, die vom Feuer des Hungers nicht verzehrt worden wäre, kein Widerstand mehr, die brechenden Dämme zu halten. Unaufhaltsam rückte das Ende näher. Grelle Pein loderte in ihm. Das Wissen, dass er nicht überleben würde. Nur noch Minuten, bis sein Leben zu Ende war. Die lähmende Schwäche, die ihn kaum noch atmen ließ. Die grausame Kälte, die ihn vereinnahmte. Fast wünschte er sich, es wäre endlich vorbei …

Doch … Blut. Rotes, heißes Blut! Es saß dort, weniger als einen halben Meter entfernt. Es sträubte sich. Dieses Vieh, das ihn sterben ließ. Das kein Erbarmen kannte. Das sich aus Feigheit nicht dazu durchringen konnte, das Eine zu tun, das ihn vor dem Tod retten würde. Das ein Lassmesser lieber in hohem Bogen durch die Gitter warf, als mit einem sanften Stoß eine Leben spendende Ader zu öffnen. Das einfach nur zusah. Das ihn folterte. Ihn vor vollen Schüsseln verhungern ließ.

Aber Fritz war nicht so ein Monster. Jetzt nicht mehr.

Mit der Kraft der Gier und der Angst, die er mitfühlte, packte er Michas schlaffen Körper und zog ihn hoch, lehnte ihn gegen sich, sodass er selbst ins Stroh fiel und Micha, der keine Bewegung mehr allein machen konnte, halb auf ihm lag. Von ihm ging so viel Kälte aus, dass Fritz unter seinem Gewicht zu erfrieren glaubte.

»Beiß mich!«, japste er. »Micha, ich bitte dich, mich zu beißen!«

Er musste kein zweites Mal bitten.

Die Unwiderstehlichkeit der Einladung jagte einen Impuls letzter Kraft durch den Körper des Vampirs. Seine Hand krallte sich in Fritz’ Haarschopf, riss sein Kinn hoch und legte die Kehle frei. Dann schlugen die Fangzähne ein. Ein scharfer, heftiger Schmerz schoss durch Fritz’ Hals, doch er erstarb sofort, und an seine Stelle trat dumpfe Betäubung. Eine heiße, schwindelige Welle rollte von dem Biss aus hinauf in sein Gehirn – und vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Wahrnehmungen rückten in die Ferne. Seine Lider flatterten. Jeder Widerstand brach. Das Vampirgift wirkte.

Und immer noch teilten sie. Fritz konnte das ekelhaft schmerzende, nach Blut schreiende schwarze Loch in Michas Innerem spüren. Der Vampir zog die Zähne einen Millimeter zurück, sodass sie die Wunden nicht mehr verschlossen; er hatte die Wand der Drosselvene durchbohrt, und nun floss, endlich, warmes Blut in seinen Mund.

Fritz fühlte die Erlösung. Fühlte das Überschäumen der Sinne, die Beschleunigung des Herzschlags. Sein Körper – oder Michas, oder wessen auch immer – begann zu beben wie im Fieber. Der intensive, metallische Geschmack war überwältigend, so salzig, so sprudelnd, so lebendig. Micha fing in großen, gierigen Schlucken an zu trinken. Das Vakuum in ihm begann sich zu füllen wie ein vertrocknetes Flussbett mit warmem Regen.

Die ersten Sekunden waren lebensrettend. Danach musste Micha keuchend innehalten. Er war so schwach. Seine entkräftete Kehle konnte nicht so schnell schlucken, wie das Blut hervorquoll. Es rann mit Speichel vermengt zu beiden Seiten des Halses hinunter.

Fritz war das völlig egal. Wenn er nicht Michas tobenden Hunger spürte, driftete er durch Wolken. Sein Zeitgefühl verschwand. Es war unwichtig, dass jemand sein Blut trank, und noch unwichtiger, wie viel davon. Micha sollte haben, was er brauchte.

Das Blutsaugen zog sich hin. Fast eine halbe Stunde lang versuchte der Vampir mühsam, seinen krampfenden Magen mit Nahrung zu füllen; es dauerte viel länger, als es sollte. Er hatte einfach keine Kraft. Ständig musste er das Trinken unterbrechen und keuchend Atem holen. Zwar konnte er, angepasst an saugende Ernährung, gleichzeitig schlucken und inhalieren, doch jetzt brachte ihm das nicht genügend Sauerstoff, um die Anstrengung auszuhalten. Es war pures Glück, dass man ihn und sein Opfer so völlig sich selbst überlassen hatte.

Irgendwann kam Fritz langsam wieder zu sich. Vielleicht war er kurz weg gewesen, vielleicht hatte auch nur seine beeinträchtigte Wahrnehmung ihm einen Streich gespielt. Er lag noch immer im Stroh, und noch immer saugte Micha unter größter Anstrengung Blut aus seinem Hals. Sein Atem ging schleppend und mühsam.

Es war gerade noch rechtzeitig, begriff Fritz. Nur eine Minute später, und er wäre zu schwach gewesen, um mich zu beißen …

Langsam wurde es unangenehm. Fritz merkte, wie er unruhig wurde. Vor seinen Augen flimmerte es, und eine beunruhigende Schwäche befiel ihn – diesmal war es seine eigene. »Mmmicha …«

Der Vampir hielt ihn fest. »Später«, keuchte er. »Man redet nicht beim Essen.«

Fritz zwang sich zum Wachbleiben. Da das Gift nicht mehr wirkte, nahm seine Angst zu. Er hatte kein gutes Blutvolumen. »Micha … Du musst mich … Du kannst nicht …«

»Ist ja gut«, antwortete Micha und zog endlich seine Zähne wieder ein. Er war immer noch an der Wunde zugange, saugte aber nicht mehr an der Vene. Nur wenige Sekunden später ließ er ganz von ihr ab und kroch von Fritz herunter.

Fritz blinzelte. Seine Hand zuckte an die kribbelnde Stelle, wo die Zähne gesteckt hatten. Sie war ein bisschen feucht, aber sauber. Nirgends war Blut.

»Echte Vampire hinterlassen keine Sauerei«, erklärte Micha schwach. »Die Wunde ist dicht.« Er hatte sich kraftlos an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Beißen und Saugen hatten ihn völlig erschöpft. Fritz streckte prüfend eine Hand vor und fand die von Micha; der Puls, den er dort ertastete, pochte jetzt ganz kräftig und schnell. Der Körper des Sängers bemühte sich, die Temperatur wieder hochzutreiben.

»Wir müssen hier raus«, stellte Fritz fest. Ihm war übel.

»Hmmm.«

»Kannst du aufstehen …?«

»Einen Moment noch … dann ja … Was ist mit dir?«

»Keine Ahnung … Ich würde sagen, wir behalten den alten Plan bei … aber du machst Rotznase fertig.«

Micha nickte langsam. »Dann machen wir es so. Wenn wir Glück haben, kann ich bis dahin noch ein bisschen verdauen … Scheiße, ich bin voll erledigt.«

Fritz war ebenfalls erledigt. Wenn er den Kopf bewegte, drehte sich alles. Trotzdem fühlte er sich auf seltsame Weise gut. Er hatte es am Ende doch noch fertig gebracht, genau das zu tun, was nötig war. Was richtig war. Micha war satt – vorerst. Jetzt musste er sich nur noch erholen.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Vampir namens Ned zurückkam. Sie hatten großes Glück gehabt. Hastig zog Fritz sich beim Näherkommen der Schritte in eine Ecke der Zelle zurück – er musste sich kriechend dorthin schleppen, denn sein Kreislauf erlaubte ihm keine großen Sprünge – und kauerte sich zu einem Häufchen Elend zusammen. Micha hingegen grub sich wieder halb ins Stroh ein und gab sich Mühe, tot auszusehen. Er stellte sogar sein heftiges, von der jüngsten Anstrengung zeugendes Atmen ein, als der Fiacail-Fhola-Vampir lässig den Raum betrat.

»Na, meine Süßen? Wie ist es euch ergangen, hmmm?«

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, wimmerte Fritz ohne Unterlass vor sich hin. »Ihr habt ihn umgebracht … Ihr habt ihn ausgehungert … oh Gott, oh Gott …«

Ned zog die Nase hoch und grinste triumphierend, ehe er behäbig die Gittertür aufschloss. »Hat der alte Köter also endlich sein Leben ausgehaucht, ja? Na, wurde ja auch Zeit. Einen so zähen Bastard hab ich lange nicht gesehen. Muss alt gewesen sein.« Fritz in der Ecke nicht beachtend, kniete er sich leise pfeifend zu Micha, wischte mit der Hand das Stroh von seinem Hals und prüfte mit der anderen den Puls.

Micha verlor keine Zeit. Im selben Moment schnellte er hoch wie ein Geschoss und rammte die Fangzähne in Neds Hals, wo er ihm eine geradezu barbarisch blutende Wunde beibrachte. Als der andere Vampir, von Schmerzen und Überraschung völlig überwältigt, beiseite sackte, stahl Micha den Schlüssel, griff nach Fritz und schleppte ihn nach draußen. Hinter ihnen fiel die Zellentür mit lautem Scheppern ins Schloss.

»Heeeeeey!«, kreischte Ned und presste eine Hand an seinen Hals. »Ihr werdet es hier nie, niiiiie rausschaffen, ihr Scheißkerle!« Das Blut, das schäumend unter seiner Hand hervorspritzte, war hellrot, wie Fritz würgend feststellte. Micha hatte nicht nur die Vene, sondern auch die Halsschlagader aufgerissen.

»So, Fritz, und wir machen jetzt ’nen gepflegten Abgang, solange wir noch können!«, knurrte Micha. »Wir müssen uns einen Weg hier raus suchen!«

Fritz konnte immer noch nicht stehen; er kippte um, als Micha ihn losließ. Hinter seiner Stirn schwankte alles. »Nnnnein … Micha, Eric, wir müssen … Er ist nebenan!«

»Oh. Hast Recht. Der olle Hecht muss auch mit, sehe ich ein.« Und wieder packte er Fritz und kämpfte sich, mit ihm beschwert, zur Zimmertür.

Als sie den dunklen, feuchten Raum erreichten, war die Enttäuschung groß: Alle Ketten hingen schlaff an der Wand. Eric war nicht mehr dort.

»Oh, Scheiße!«, stöhnte Fritz, über die Maßen entmutigt. »Sie räumen das ganze Versteck! Wir waren also die letzten Gefangenen, die noch hier eingesperrt bleiben sollten! Micha, wir müssen die anderen finden! Ingo, Marco, Basti! Wenn ich nur den Sender noch hätte …«

»Keine Ahnung, wovon du redest, aber hier ist der Zug abgefahren«, stellte Micha fest. »Machen wir, dass wir hier weg kommen!«

Fritz wollte widersprechen. Er suchte nach Argumenten, nach Einfällen, doch in seinem wirren Geist reihte sich kaum ein Gedanke an den anderen. Wohin wurde das Versteck verlagert? Wo waren alle hin? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, aus dem unterirdischen Irrgarten zu entkommen? Während er verzweifelt versuchte, wieder Herr seiner Sinne zu werden, musste er sich hilflos von Micha davon schleifen lassen. Der Vampir suchte zielstrebig mithilfe seiner nun wieder funktionstüchtigen Sinne einen Weg nach draußen. Weg vom Feind. Sie waren zu angeschlagen, um zu kämpfen; das begriff Fritz allmählich. Trotzdem wünschte er sich sehnlichst, mehr tun zu können als nur – wieder einmal – davonzulaufen.
 

»Arrrrrrrrrrrrrrr!« Wütend ließ El Silbador seine Faust auf die Tischplatte neben der Tastatur niedersausen, nur um danach heftig die schmerzende Hand zu schütteln. »Au! Kackfick! Ich hab sie verloren! Alle verloren! Verdammt, wo sind sie hin?!«

»Jetzt beruhig dich mal!«, verlangte Boris beinahe empört. »Geschrei und Gefluche bringt doch nichts! Wo waren sie zuletzt?«

»Hier!« Elsi tippte hektisch auf den Bildschirm, wo der Scan des Lageplans aufgerufen war. »Unter dem Neubau der Biologischen Fakultät! Fritz war hier unten an der Mensa Siedepunkt, und irgendwo da muss auch Eric sein … Er war zuerst weg … und jetzt sind alle weg!«

Boris betrachtete den Plan mit wachsendem Unbehagen. Neben sich sah er Elsi vor Anspannung zittern. Seine eigene Aufmerksamkeit galt dem iPhone; sie warteten nun schon den ganzen Tag auf eine Rückmeldung von Schandmaul. »Krieg dich wieder ein, in Ordnung? Geh lieber zu den anderen. Ich übernehme.«

Elsi, der noch immer auf den Bildschirm stierte, holte tief Luft und sah nur ganz kurz zu ihm rüber. »Jaja … Ich brauch ’ne Pause, das kannst du mir glauben … Ach, verdammter Scheiß!«

Erzürnt über sein eigenes Versagen erhob sich der junge Mann augenrollend von seinem Platz am Laptop, um Yellow Pfeiffer Platz zu machen, der ihn bereits mit den Blicken aufspießte.
 

Sich den Schweiß von der Stirn wischend floh El Silbador zu seinen Bandkollegen. Falk und Lasterbalk fand er, wie nicht anders zu erwarten, bei Alea. Der Sänger hatte sich auf der Liege so klein wie möglich gemacht. Sein Blick zuckte kreuz und quer durch den Raum, und als er Elsi sah, schien er statt des vertrauten Kollegen etwas höchst Bedrohliches wahrzunehmen. Selbst von der Tür aus sah Elsi, wie Aleas Augen sich weiteten.

Ach ja, fiel es dem Bandjüngsten wieder ein, da war ja was. Special-K-Trip.

Während Lasterbalk eher unbeteiligt an die Wand gelehnt stehen blieb, beugte Falk sich mit gefurchter Stirn über den Sänger. »Keine Angst, es ist nur Elsi.«

Alea stöhnte und wand sich. »Fuck, ich sehe überall Vampire!« Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. »Wann hört das endlich auf?«

»Ich versichere dir, hier gibt es keine Vampire. Das würdest du schon merken.« Wie immer log Falk sehr überzeugend. Der warme Klang seiner Stimme schien Alea tatsächlich zu besänftigen, denn dessen Körper verlor augenblicklich an furchtsamer Spannung.

»Würden sich bloß die Scheiß-Wände nicht bewegen«, murrte der Sänger vor sich hin und legte einen Arm über die Augen.

Elsi schätzte die Situation nunmehr als harmlos ein und trat vorsichtig näher. »Wir haben die Signale verloren«, erlaubte er sich den anderen mitzuteilen.

»Das ist Mist«, murmelte Falk.

»Wo sind Simon, Asp und Silvio?«

»Beim Chefchen. Führen ein … Verhandlungsgespräch. Ich glaube, wir anderen haben uns gerade viel zu schlecht im Griff, um Buschfeldt nicht an die Kehle zu springen.«

Seufzend sah El Silbador ebenfalls auf die Uhr. Es war schon später Nachmittag, und abgesehen von Aleas Bewahrung vor einer erneuten Entführung war der Tag alles andere als erfolgreich verlaufen. Aber was, fragte er sich, haben wir denn auch erwartet? Dass unser Außenteam in das Versteck spaziert und mit Eric und Micha wieder rausspaziert? Er musste zugeben: Ja. Genau das hatten sie gehofft.

Unverrichteter Dinge ließ er seine Bandvampire im Bockshof wieder allein. Die kümmerten sich sowieso nicht um ihn, da Alea wieder einmal höchst erfolgreich aller Aufmerksamkeit beanspruchte. Seine Halluzinationen würden, so hatte Bock gewarnt, eine gute Stunde lang anhalten. Falk und Lasterbalk konnten sich einreden, dass sie etwas Sinnvolles taten, indem sie ihn beobachteten.

Und ich?, dachte Elsi matt. Soll ich nutzlos in der Gegend rumstehen?

Zu einem ebenso frustrierten Boris wollte er eigentlich nicht zurück. Vielleicht … ja, vielleicht sollte er sich mal das Lockstück ansehen, das Coppelius dagelassen hatten. Gut möglich, dass ihn das auf andere Gedanken brachte, bis Schandmaul sich meldeten.

Tja, Elsi, dachte er, es wird noch viele andere Tage in deinem Leben geben, die du später am liebsten mit dem Rotstift wieder streichen würdest. Also hör auf zu heulen und komm mal klar.

Einigermaßen ermutigt schlich er mit dem vergilbten Notenpapier in sein Zimmer.

Der Letzte macht das Licht aus

Rea Garvey fühlte sich mehr als schuldig.

Die vergangenen Tage über war er hin- und hergerissen gewesen zwischen dem dringenden Bedürfnis, auf jeden Fall das Richtige zu tun, und der Angst vor dem, was passieren würde, wenn er sich nicht an die Regeln hielt. Er hatte sich wirklich bemüht, hatte durchgesetzt, dass man sie nicht allzu schlecht behandelte – die beiden Männer, die er, notgedrungen, an Fiacail Fhola verraten hatte. Und nun …

»Ihr verdammte Hunde!«, knurrte er. »Ihr habt euch nicht an die Regeln gehalten!«

»Du vergisst, wir machen die Regeln, a chara«, antwortete der massive Vampir namens Conall Cernach, der ihn ohne Mühe am Kragen seiner Jacke gepackt hielt. »In der Hinsicht haben wir genau das gemacht, was wir besprochen hatten, nach ea? Aber richtig: Du hast deinen Teil erfüllt, jetzt erfüllen wir auch unseren. Céard faoi sin? Sorg dafür, dass Fírinne das Land verlassen. Bis zum Morgengrauen will Paul keine irischen Geheimdienst-Vampire mehr in Deutschland riechen, keinen einzigen verdammten Fangzahn. Dafür wird deine Tochter schon bei dir zu Hause sein, wenn du nach getaner Arbeit dort ankommst. Was meinst du?«

In Garveys Brust gab es einen kurzen, schmerzhaften Stich wie von einer Nadel. »A Chonaill … Die Präsidentin ist totally entschlossen, die MIU zu finden und sie beizustehen … wie damals. Das kann ich sie nicht ausreden …« Er hustete, als der Zug um seine Kehle enger wurde.

»Hat McAleese denn nicht genug in ihrem eigenen Land zu tun? Etwa den Wahlkampf zu gewinnen?«, gab Conall Cernach übellaunig zurück.

»Hhnnnngh … Ihr wisst genau, dass sie diese Wahl nicht gewinnen wird … Michael D. Higgins wird der Rennen machen … Mary hat ihn schon … nnngh … erklärt, was Fírinne betrifft …« Garvey zappelte, versuchte, die eiserne Pranke um seinen Hals ein wenig zu lösen. Es nützte nichts.

»Und das soll ich dir glauben? Mit Verlaub, ich habe keine guten Erfahrungen mit der irischen Regierung gemacht, a Réamainn. Vor allem eure Vampirpolitik kotzt mich an, gelinde gesagt. Besonders kotzt sie allerdings Paul an. Ich empfehle der Präsidentin wärmstens, sämtliche irischen Ärsche, die ihr unterstehen, aus der Bundesrepublik ausfliegen zu lassen, ihren eigenen inklusive.« Mit diesen Worten ließ er Garvey endlich los.

Der Sänger wich instinktiv vor dem Koloss zurück und rieb sich den Hals. »Ich werde tun, was ich kann«, krächzte er. »Aber erst haltet die Deal ein und gebt mir meine Tochter zurück!«

»Natürlich. Und die Präsidentin?«

»Cuirfidh mé scéala chuici

Conall Cernachs raues Lachen folgte Garvey, als er die Elbe entlang floh. Manchmal war es ratsam, die Füße still zu halten, bis alles im Lot war – aber keinesfalls länger. Er würde der MIU helfen und wiedergutmachen, was er seinem alten Bekannten Micha notgedrungen hatte antun müssen. Vorher aber musste er Fío ihr Druckmittel entreißen.
 

Endlich war die Flucht vorüber. Frais’ Schergen waren außer Reichweite, und die drei Männer der MIU, noch immer begleitet von Ríona Rua, konnten ihre Energie aus den Muskeln zurück ins Hirn leiten – um einen Weg zu suchen, das Labyrinth aus Kanälen zu verlassen. Im Moment gab es keine Regieanweisungen über die Sender, daher waren sie auf sich allein gestellt.

Ríona indes versuchte, ihnen zu gefallen – weil sie genau wusste, wie wenig sie in ihrem erbärmlichen Zustand gegen die erfahrenen Vampirjäger würde ausrichten können. Nun hatte sie mit ihren feinen Sinnen die Führung übernommen und zielstrebig einen Weg eingeschlagen – einen Weg, der die vier an ein Ziel führte, das wohl vor allem Ríona vor Augen gehabt hatte. Denn sie hatte Hunger.

Ingo, Sebastian und Marco wandten höflich den Blick ab, als die rothaarige Vampirin ihre Zähne in den Hals des überraschten Kanalisationsarbeiters rammte. Der Mann wurde augenblicklich schlapp wie ein Lappen und grinste dämlich, während sein Blut in Ríonas Kehle gluckerte.

»Bist du sicher, dass wir ihr vertrauen können?«, wandte Flex sich zum wiederholten Male raunend an Ingo Hampf.

»Wann hab ich was von Vertrauen gesagt?«, murrte dieser zurück. »Das Ding war hungrig – in so ’nem Zustand versprechen die Biester einem doch alles. Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich bin allerdings nicht sicher.«

»Hätte ja ooch ma wat jut jehen können«, sagte Van Lange missmutig.

»Dumm ist, dass Boris uns offenbar nicht orten kann … Die Wände schirmen wohl das Signal ab.« Flex deutete vage auf die Steinwände, die sie umgaben. Nach langer Zeit des Umherirrens war der Tunnel als Ausläufer des Vampirverstecks in einen unterirdischen Kanal übergegangen, der wiederum in die Kanalisation gemündet hatte. Hier unten war es alles andere als gemütlich, aber immerhin ungefährlich.

Ríona Rua – offensichtlich eine Bekannte von Fritz während seiner Gefangenschaft – hatte, ausgehungert wie sie war, ihre Hilfe angeboten und ihnen den Weg gezeigt. Als Beweis dafür, dass man ihr vertrauen konnte, hatte sie keinen der Männer anzufallen versucht. Der zweite Vampir, der außerdem bei Frais’ Einsatz des Schreis einfach davon geweht worden war, hatte sich sofort aus dem Staub gemacht, mehr auf allen Vieren denn aufrecht, als hätte er eingesehen, dass keine Beute zu machen war. Er würde schon wissen, wo er sich etwas zu essen beschaffen konnte.

Während die drei menschlichen MIU-Mitarbeiter beiseite starrten und den unirdischen Wellenbewegungen zusahen, welche von der Laterne des Kanalisationsarbeiters an die röhrenförmigen Steinwände gespiegelt wurden, beendete die Vampirin ihre Mahlzeit und sah dann schüchtern zu den Männern auf.

»Eure Vampire spielen nicht mit der wehrlosen Beute, wenn sie fertig sind, oder …?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Nein«, antwortete Ingo betont. »Wenn unsere Vampire fremde Menschen beißen müssen, dann bleiben sie danach bei der Beu– … bei dem Opfer und schützen es, solange das Gift wirkt. Danach lassen sie es gehen. Sie spielen nicht damit. Sie sind freundlich zu der Beu– … zu dem Opfer und behandeln es respektvoll. Klar?«

Ríona wirkte enttäuscht. »Ceart go leor«, murmelte sie einsichtig und schob den gebissenen Mann so zurecht, wie sie es wohl für bequem hielt, um sich dann gelangweilt neben ihn zu setzen.

Eine unangenehme Stille schloss sich an. Rundherum plätscherte und tropfte es. Kleine pelzige Gestalten huschten über Rohre und feuchten Stein.

»Ríona«, begann Marco schließlich, »wohin verlegt ihr gerade euer Versteck?«

Die Vampirin erwiderte seinen Blick ratlos. »Ich weiß es nicht. Die letzten Tage, in denen sie damit angefangen haben, war ich schon eingesperrt für mein Versagen. Es gab schon länger den Plan, wieder umzuziehen, aber Paul wusste noch nicht wohin …«

»Weißt du wenigstens, wo Michael und Eric sind?«, bohrte Ingo. »Oder wo Frais Fritz hinschleppen wird?«

»Sie sind ganz bestimmt nicht mehr dort, wo sie waren, als ich es noch wusste. Ich weiß, dass er an Éiric mit dem amhrán experimentieren will –«

»Mit dem was, verdammt?«

»Mit dem Lied!«, beeilte sich Ríona. »Ní maith liom é, es ist so düster und böse. Er wird daran arbeiten … so lange, bis es bei allen Menschen wirkt.«

»Und wieso gerade Eric?« Ingo fixierte sie weiterhin argwöhnisch.

»Níl a fhios agam! Du musst mir glauben! Ich verstehe nichts von na rudaí seo, ich habe damit nichts a dhéanamh

Ingo schien endlich zu kapieren, dass die Vampirin nur noch mehr Gälisch sprach, je aufgeregter sie wurde, und hörte auf, sie anzustarren. Ihr Blick dagegen haftete weiterhin am Pflock an seiner Seite. Sie hatte gesehen, wie präzise er damit umging. »Na schön, na schön«, presste er mühsam hervor. »Und was ist mit Michael?«

»Mícheál wird inzwischen tot sein«, gab sie sofort zu, »das war jedenfalls der Plan. Er wollte nicht reden, auch unter Krämpfen nicht. Tá sé marbh anois, tá mé cinnte

»Oh, Scheiße«, stöhnte Basti. Er kniff die Augen zusammen und rieb sich die Stirn, wobei er kummervoll sagte: »Aushungern, dit haick befürchtet … Armer Micha …«

»Immer langsam«, verwies Ingo ihn prompt. »Wenn Eff Eff umgezogen sind, haben sie ihn und Eric wahrscheinlich mitgenommen. Noch ist nicht aller Tage Abend. He, Vampirin – was könnte Fritz für Frais interessant machen?«

»Das gleiche wie Mícheál … dass er ein Vampir ist, den Lámh Dé nicht als einen erkennt.«

Die Männer tauschten einen verblüfften Blick. Niemand wies Ríona darauf hin, dass Fritz gar kein Vampir war; die Tatsache, dass Frais etwas so Banales so begierig in Erfahrung zu bringen versuchte, erfüllte die drei mit Erstaunen.

»Interessant«, kommentierte Marco. »Da haben unsere Vampire euch wohl was voraus.«

Während sie in der klammen Kälte beieinander standen, begann der Kanalisationsarbeiter sich langsam wieder zu regen. Er blinzelte dümmlich und rappelte sich dann hoch, wobei er Ríona, die neben ihm saß, anstarrte wie eine alte Liebhaberin.

»Naaaa, das war ja was schön mit uns!«, nuschelte er und grinste.

»Gan amhras«, antwortete sie wohlwollend und stand auf, da er keine Hilfe mehr zu brauchen schien.

»Warten Sie mal«, hielt Ingo den Mann sofort auf, »wir müssen zum Uniklinikum. Wie kommen wir dahin?«

Die Frage hätte er besser nicht stellen sollen. Es folgte eine hitzige Debatte darüber, was ›Laienpersonen‹ überhaupt in den Kanälen zu suchen hätten. Eine Erklärung, wie und wo man das unterirdische Labyrinth verlassen konnte, folgte erst nach einem fast halbstündigen Vortrag. Teile des Gangsystems seien gesperrt wegen erneuter Rohrbrüche, das sei ja eine Pfuscherei, eine Blamage sei das ja, und dann kämen auch noch Leute in die Gänge, die da gar nichts zu suchen hätten, wie man das denn erlauben könne, wer das denn rechtfertigen wolle und wie?

Die Nerven der vier waren schlussendlich überstrapaziert, und nach dem Abschied ergriffen sie schier die Flucht.

»Wenigstens hat der Biss ihm nicht geschadet«, kommentierte Flex, als sie endlich ihrer Wege gingen.

»Hätte er mal sollen«, murrte Ingo.

Ríona folgte ihnen leichtfüßig, bis sie den Aufgang zur Straße erreicht hatten; dann sagte sie: »Go raibh maith agaibh, ihr Menschen. Ich werde sehen, ob ich Fial noch helfen kann. Schließlich habt ihr mich verschont, und ich habe ihn verschleppt … Ich schulde euch und ihm noch was, ceapaim

»Okay. Wir kommen wieder, sobald wir können«, versicherte Flex und vermied es, sie auf die Locksänger hinzuweisen, die bald zur MIU stoßen und das Blatt ohnehin wenden würden. »Sieh zu, dass du nicht getötet wirst.«

»Ar ndóigh! Slán go fóill!«, rief sie, machte einen Knicks und huschte dann so schnell zurück in den schummrigen Tunnel, dass man ihren Schatten kaum verschwinden sah.
 

»Vielleicht sollten wir Alea fragen, ob noch mehr Vampire unter dem Klinikpersonal sind«, schlug Falk den anderen vor. »Ich meine, wir müssten erst jeden abschnüffeln, aber er dürfte es auch aus einiger Entfernung feststellen können.«

Lasterbalk schüttelte den Kopf. »Jetzt sofort? Vergiss es. Bock hat ihm ’ne Leck-Mich-Pille gegeben, damit er von dem üblen Trip runterkommt. Jetzt gafft er nur noch blöd die Wand an.«

»Oh … Schlummifix in Tablettenform?«

»Scheint jedenfalls härter zu sein als das, was er uns gegeben hat. Schmittchen und Silvio sind ja bei ihm.«

Klaus-Peter Schievenhöfel nahm seine dicke Brille ab und begann, sie an seinem Sweatshirt zu putzen. »Jungs, was ist denn jetzt eigentlich mit dem Lockstück?«

»Das hat Elsi«, antwortete Falk. »Schandmaul haben sich noch nicht gemeldet – naja, ist ja auch bald mitten in der Nacht –, und er brütet jetzt schon ’ne Ewigkeit über dem Stück. Wenigstens wissen wir jetzt, was ein Taragot ist: Es scheint ein transsylvanisches Holzblasinstrument zu sein, das ein bisschen klingt wie eine … Trompete. Wobei es natürlich ein Holzblasinstrument ist, also ist der Klang etwas tiefer, nicht metallisch.«

Der dicke Mann sah ihn fragend an. »Und wer von euch kann das spielen?«

»Jeder oder keiner, das werden wir dann schon rauskriegen. Wir wollten Schandmaul fragen, denn die können ja bekanntlich alles spielen – wenn ihr mir diese kleine veranschaulichende Übertreibung erlaubt –, aber leider hören wir ja nichts von ihnen.«

Alle seufzten kollektiv.

»Dafür wird Polly morgen früh hier sein«, sagte Lasterbalk schließlich, um die Stimmung aufzuhellen. Es gelang nicht ganz.

»Nur er? Wieso nicht der Rest?«, fragte Schievenhöfel prompt in besorgtem Ton.

»Der kommt nach. Keine Panik, das ist wohl nur ein … logistisches Problem.«

»Als hätten wir davon nicht schon genug«, sagte Falk verdrossen. »Wieso hockt Asp eigentlich immer noch bei Chefchen rum?«

Lasterbalk lachte freudlos. »Weil der gute Herr Spreng nach wie vor glaubt, wir könnten das Ganze friedlich lösen. Der hat gut Reden, er ist ja auch von uns Vampiren der einzige, den Chefchen wenigstens annähernd sympathisch findet – wahrscheinlich auch nur wegen seiner besonderen Freundschaft mit Eric.«

Falk konnte nur den Kopf schütteln. Er war sich seit seinem Arbeitsantritt bei der MIU nicht mehr so nutzlos vorgekommen. Es ging aber nicht nur ihm so, wie er wusste; im Moment liefen alle herum wie Falschgeld, niemand wusste, wie sich effektiv zur Rettung der Lage beitragen ließ. Frustrierende Tatenlosigkeit hatte sich im gesamten Stützpunkt breitgemacht und keinen verschont. Es half nicht viel, sich zu sagen, dass sich im Morgengrauen wahrscheinlich einiges ändern würde.
 

In Fritz’ Schädel dröhnte und kreiselte es, als sie die nächste Ecke hinter sich brachten. Der unterirdische Komplex war wie leergefegt – zum Glück, denn nicht genug damit, dass er und Micha nur quälend langsam voran kamen, nein, sie hatten sich auch noch hoffnungslos in den zahlreichen, ineinander mündenden Gängen verirrt. Nun bremsten sie das zielstrebige Vorwärtsdrängen langsam ab und sahen sich um. Der Korridor sah aus wie die anderen, mit weißen, hier und da dreckverkrusteten Kacheln aus vergangenen Jahrzehnten und maroden Türen, mit keinerlei schmückende Details. Einige Leuchtstoffröhren an der Decke spendeten ein dünnes, kaltes Licht.

Stolpernd kam Fritz zum Stehen, taumelte mit dem Rücken gegen die kühle Wand und ließ sich an ihr hinunter gleiten. »Micha, wir … müssen Pause machen.«

Im Grunde brauchte er dem Vampir das nicht zu sagen. Micha hatte sich von der Aushungerung nur marginal erholt. Fritz hatte gehofft, dass ein Magen voller Blut den Sänger sofort revitalisieren würde, doch dem war offenbar nicht so. Trotzdem, und das war nicht zu übersehen, versuchte Micha nach Kräften, sie aus dem Versteck heraus zu schleusen. Nun jedoch setzte er sich neben Fritz und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»’Tschuldigung«, sagte er, »ich weiß, es ist nicht für jeden ’ne schöne Erfahrung.« Fritz wusste, dass er den Biss meinte. »Wenn du nicht darüber schweigen müsstest … könntest du jetzt deiner Frau erzählen, wie erotisch ein Vampirbiss ist … nämlich null.«

Danke auch, dachte Fritz. Schwindelig lehnte er den Kopf an die kalten Fliesen und schloss die Augen. Er fühlte sich wie nach einer Achterbahnfahrt, alles in ihm drehte sich noch immer, obwohl er sich gar nicht bewegte. Ohnehin hatte sich sein Blickfeld auf ein kleines, flimmerndes Zentrum verringert – der kreislaufbedingte Tunnelblick, wie er aus Erfahrung wusste.

»Es kann sein«, sagte Micha schließlich, »dass du … wenn du das nächste Mal schläfst … komische Träume hast. Weißt du, ich … hab dir mehr Gift mitgegeben als nötig. Damit du es dir bloß nicht anders überlegst … und mich abschüttelst, ich hätte ja gar nichts dagegen machen können. Ich hatte Angst, echt … Todesangst. Wenn ich dich nicht gebissen hätte, wäre ich verreckt. Du hast mir das Leben gerettet.« Als Fritz darauf nicht antwortete, fügte er nachdenklich hinzu: »Ich hab überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass du’s machen würdest. Bin davon ausgegangen, dass du mir in deiner Angst nur beim Krepieren zuguckst. Ich muss sagen, Fritz: Du hast doch Eier.«

Fritz gab nur ein unwilliges Geräusch von sich. Seine Eier, das wusste er, würden ihnen wahrscheinlich nicht hier heraushelfen. Die Nachwirkungen des Giftes und der Blutverlust machten es ihm ausgesprochen schwer, auch nur geradeaus zu denken.

»Aber ich muss dich was fragen«, fuhr Micha behutsam fort. »Woher wusstest du das mit dem Teilen?«

Fritz öffnete matt ein Auge. »Alex.«

»Ah ja? Hmmm. Hätte ich mir denken müssen. Er findet das total faszinierend. Hat ein Lied darüber geschrieben, Werben … Irgendwas über ein vampirisches Paar, das damit sein Sexleben aufpeppt. So verschmolzen mit den Gedanken eines anderen … fandest du das nicht ganz schön … naja, unheimlich?«

»Doch … aber allemal besser als Blutfessel. Das war schlimm, Micha.« Und damit übertrieb er nicht. Dass der eigene Körper einem nicht gehorchte, das war Stoff für einen Horrorfilm.

Micha machte eine verlegene Pause. Dann hakte er vorsichtig nach: »Was hat Buschfeldt gesagt, als er das mit der Blutfessel erfahren hat?«

»Ach, das … weiß er gar nicht.«

»Wie, du hast nicht gepetzt?«

»Ich hab es Alex gesagt.«

»Und Lex hat gesagt, du sollst es nicht erzählen?«

»Er hat gar nichts gesagt. Es war meine Entscheidung.«

»Hmmm«, sagte Micha gedankenverloren. »Sieh an … Der Fisch weiß es auch, aber eine Petze ist er nicht, also … wird es wohl keiner rauskriegen.« Er zögerte, um dann schlussendlich zu bekennen: »Tut mir Leid, Fritz. Dass ich das gemacht hab. Im Ernst. Mir ist nichts Schlaueres eingefallen. Wenn ich gestresst bin, bin ich nicht so kreativ, weißt du. Aber es war ’ne miese Wichserei, und –«

»Jaja. Lass uns einfach nicht mehr drüber reden«, lenkte Fritz ab. Er wollte am liebsten gar nicht reden. Nie wieder.

»Pass auf, ich versprech dir, dass ich uns hier raushole«, versicherte Micha ihm mit einer Entschlossenheit, die Fritz plötzlich doch wieder so etwas wie Hoffnung gab. »Irgendwie!«

Nach einer ganzen Weile mäßig erholsamer Untätigkeit brachen sie noch immer kraftlos wieder auf. Micha behauptete, die Elbe zu riechen – ein halbwegs guter Indikator zur Feststellung ihrer momentanen Position – und schlug einen Weg ohne verkleidete Wände, dafür mit erdverklebten Leitkegeln ein, die den Weg säumten.

»Wenigstens sind keine Bestien in der Nähe. Die kann man auf zwei Kilometer Entfernung riechen, wenn man sensibel dafür ist.«

Fritz an seiner Seite wurde hellhörig. »Also riechen Bestien wirklich anders als menschenfreundliche Vampire!«

»Nicht, wenn man nicht lernt, darauf zu achten. Es muss aber noch mehr Unterschiede geben als den Geruch. Überleg mal, als wir mit Sonnenscheinchen rumgerannt sind … Als wir in dem blutversifften Zimmer waren, wusste er sofort, dass da vorher Bestien waren, obwohl die längst weg waren. Mich und die anderen erkennt er aber nicht als Vampire, auch dann nicht, wenn seine Bandleute ihn anfassen oder umarmen. Komisch. Der Kleine ist wie ein Bestiendetektor: Schlägt nur Alarm, wenn die Bösen in der Nähe sind. Die Netten bemerkt er nicht, auch wenn sie regelmäßig beißen. Das macht aber eigentlich auch nichts, denn nach so ’nen Vampiren suchen wir ja meistens nicht.«

»Aber das ist es, was Paul Frais wissen will … wie man sich als Bestie vor Alea tarnt.«

»Tja, die Antwort ist: gar nicht.«

»Warum hast du ihm das nicht einfach gesagt, als er dich gefoltert hat? Das hätte dir viel erspart, und genutzt hätte ihm die Erkenntnis nichts.«

»Weil ihn das nicht zufrieden gestellt hätte. Weißt du, der Paul Frais ist ein Vampir der ganz alten Liga. Der kennt den Unterschied zwischen Bestie und kultiviertem Vampir gar nicht … Oder ich sag mal, der will gar nicht raffen, dass Vampire sich anders verhalten können als Bestien.«

Fritz dachte darüber nach. »Viele Vampire sind also böse, weil sie es nicht besser wissen.«

»Nicht besser wissen wollen. Denk dran, ich bin auch alt, aber ich bin keine Bestie«, erinnerte ihn Micha nachdrücklich. »Ich bin auch nie eine gewesen. Ich meine, klar … Ich beiße … manchmal … aber Bestien machen zum Spaß noch schlimmere Sachen mit den Opfern.«

»Zum Beispiel?«

»Das willst du nicht wissen. Die halten Menschen einfach nicht für gleichgestellt, sondern eher für … Vieh. Sind ein bisschen wie Nazis, die Bestien.«

»In den ganzen Vampirfilmen«, begann Fritz, »also, das sagt jedenfalls Christine …«

»Ach, Vampirfilme sind für’n Arsch, wenn’s um den Informationsgehalt geht«, würgte ihn Micha prompt ab. »Total verkitscht, und immer beißen die Vampire ihre Frauen – total abartig! Wer bitte macht denn so was? Mit Leuten, die man mag oder sogar liebt? Die Beißhemmung hat ’nen Grund! Mann, Mann, Mann, ich könnte mich da immer wieder drüber aufregen.«

»Lass mich raten, Micha … Es gibt sowieso keine Schauspieler, die das authentisch rüberbringen.«

»Kommt drauf an. Der beste Vampirdarsteller ist meiner Meinung nach Klaus Kinski … obwohl er kein Vampir war. Das spricht für sein Talent.«

»Jetzt sag nicht, du hast alle Vampirfilme gesehen …«

»Nee, wer tut sich denn das an? Aber ich hab selber mal in einem mitgespielt. War so eine Independent-Produktion, ist leider nie ganz fertig geworden.«

»Und was hast du da gespielt? Einen Vampir?«

»Nee, Vampire spielen in Vampirfilmen immer Menschen – weißt du das nicht?«, spottete Micha.

Fritz kam sich dumm vor. Trotz der Entkräftung war Micha also schon wieder in der Lage, sich über ihn lustig zu machen. »Okay, also ja.«

»Ja. Ich mag es eigentlich, mich als Vampir zeigen zu können. Hast du ja gesehen. Ich würde mir wünschen, dass wir eines Tages als Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert sind und mit diesem Scheiß-Schattendasein aufhören können.«

»Das wird nie passieren, Micha. Sicher nie.« Kurz blieb Fritz stehen, um sich im schummrigen Halbdunkel umzusehen. Eine Lampe über seinem Kopf flackerte und zischte. Als sein Blick wieder auf Micha fiel, war dieser ihm bereits eine größere Distanz voraus. Gerade drehte er sich um und rief leise:

»Komm mal her! Ich glaub, ich hab was gefunden!«
 

Langsam, aber sicher fielen El Silbador die Augen zu. Er lag bäuchlings auf seinem Bett, und das war sicherlich keine gute Position, um mitten in der Nacht scharf über etwas nachzudenken. Vor seinen müden Augen verschwammen die Noten auf dem gelblichen Papier ineinander, und immer wieder musste er den Mantel des Schlafes, der über ihn kroch, heftig beiseite schütteln – mit stets abnehmendem Erfolg.

Was bedeutete bloß diese blöde Fußnote? Hinter dem Wort ›Taragot‹ prangte ein kleines Sternchen, zu dem ein winziger, kaum lesbarer Text am unteren Rand der Seite gehörte. Er war in lateinischen Buchstaben geschrieben, allerdings in einer Elsi unbekannten Fremdsprache. Unter oder über einigen Lettern befanden sich kleine Häkchen. El Silbador hatte versucht, die Sprache irgendeinem Typ zuzuordnen, den er kannte; hier und da fühlte er sich ein klein wenig ans Romanische erinnert, doch die Diakritika – so hießen doch die Zeichen, die über oder unter Buchstaben standen? – ließen die Sprache zugleich irgendwie slawisch aussehen, zumindest in seinem Laienverständnis. Woher, hatten Coppelius gesagt, stammte das Lockstück? Transsylvanien? Dann musste es Rumänisch sein. Das Taragot war zwar ein ursprünglich ungarisches Instrument, doch Ungarisch sah ja doch wieder ganz anders aus. Oder? Vielleicht war es auch gänzlich unnötig, der Marginalglosse allzu viel Bedeutung beizumessen, doch um die Wirksamkeit des Musikstückes voll auszuschöpfen, durfte kein Hinweis ignoriert werden. Und schließlich gehörte die Randbemerkung ausgerechnet an den Namen des Instruments …

El Silbador zuckte zusammen, als ein Geräusch ihn aus seinem eingelullten Anstarren des Textes erweckte. Die Tür hatte sich geöffnet, und leise kam Alea herein. Sofort war Elsi hellwach.

Alea legte den Finger an die Lippen, schloss die Tür hinter sich und schlich zu ihm. »Heyho … Ich hab gesehen, dass in deinem Zimmer noch Licht brennt«, sagte er leise, in Rücksicht auf die nebenan Schlafenden. »Boris ist auch noch wach, aber den wollte ich nicht nerven … Er sagt, du sollst ruhig schlafen gehen.«

Elsi blinzelte ihn an. »Geht’s dir wieder gut?«, erkundigte er sich skeptisch. Eigentlich sah Alea putzmunter aus, aber man wusste ja nie.

Der Sänger zuckte die Schultern. »Naja … Ja … Ich hab halt vier Tage gepennt und hab eigentlich das Gefühl, ich hätte nur kurz die Augen zugemacht. Kann mich nicht erinnern, was eigentlich los war … Ich weiß nur noch, dass ich mit den anderen aus dem Vampirversteck abgehauen bin. Dann ist Ende. Bock meinte, jemand hätte mich umgehauen, um mich wieder ins Versteck zu schleppen. Vielleicht hab ich gerade versucht, einen Vampir zu töten, und den Angriff deshalb nicht kommen sehen. Tja … alles denkbar.« Er ließ die Schultern fallen und blieb sichtbar unbehaglich mitten im niedrigen Raum stehen. »Und … naja, ich hab hier ja gar kein Zimmer, aber in Bocks Loch wollte ich auch nicht bleiben …«

Elsi nickte zur anderen Zimmerwand. »Da steht ja noch ein Bett, bleib doch hier.«

»Hm, ja, mach ich wohl.« Alea trottete zum Bettrand, betastete ihn kurz und ließ sich dann seufzend darauf nieder. Das Gestell quietschte leise unter seinem Gewicht. »Nicht so der schönste Unterschlupf, den wir je hatten …«

»Notlösung«, antwortete El Silbador. »Wie immer.«

»Haha … Ja.« Alea versuchte zu grinsen, scheiterte aber kläglich daran. »Ach Mann, ich … ich werd das Gefühl nicht los …« Er unterbrach sich, schaute beiseite und befeuchtete sich die Lippen, ehe er noch leiser fortfuhr: »Ich weiß, das klingt total bescheuert, aber … ich hab das Gefühl, ein Vampir hat … mein … Blut getrunken.« Elsi hörte sich schlucken. »Weißt du, es ist nur so ein Gefühl. Aber ich hab keine Bisswunde … nicht am Hals, und auch nirgends sonst. Das muss bedeuten …«

»Da war kein Vampir an dir dran!«, behauptete El Silbador stürmisch, ehe er sich daran hindern konnte. »Das würden unsere … Leute nie zulassen!« Hoppla, das war fast eine Information zu viel gewesen. Alea schien diese Bemerkung jedoch so zu verstehen, dass das gesamte Team, das sich in Dresden befand, damit gemeint war. Verdammt, wieso wusste Alea bloß, dass von ihm getrunken worden war? Hatte er durch die Betäubung hindurch irgendwas mitbekommen? So was kam vor! Bewusstlose Leute konnten immer noch hören und erinnerten sich zuweilen an das, was um sie herum besprochen wurde! Elsi schlug das Herz bis zum Hals. Was sollte er ihm noch sagen, um ihn von diesem Gedanken abzubringen?

Aber Alea schüttelte schon selbst den Kopf. »Neee, ich weiß … Es ist auch nicht hier passiert, sondern … Also, als ich bei Fiacail Fhola Gefangener war, wurde mir Blut abgenommen – von Paul Frais persönlich! Mann, ich dachte, ich kipp um. Der hat mir ’ne Scheißangst gemacht! Ich hätte ihn umgelegt, wenn diese Schlaumeier nicht permanent mein Qi blockiert hätten, sobald ein Vampir im Zimmer war. Echt mal, er muss es getrunken haben. Er denkt, dass er unsterblich davon wird … Und jetzt – jetzt habe ich ständig das Gefühl, mit einer Bestie … was geteilt zu haben.« Sein Blick fing den von Elsi; Gott, Alea sah richtig verzweifelt aus, wie er so darüber sprach. »Ich – ich habe mit einem Vampir sozusagen Lebensenergie geteilt … und wenn ich darüber nachdenke … gefällt mir das nicht. Überhaupt nicht. Ich weiß nicht, irgendwie ist der Gedanke so … beängstigend!«

Unangenehm berührt schürzte Elsi die Lippen. Wie schon so oft, wenn es daran ging, Alea zu belügen, plagte ihn das schlechte Gewissen. Es war einfach nicht richtig. »Ach, weißt du … Es werden immer mal Leute von Vampiren gebissen, das hat eigentlich keine Folgen«, wich er aus und hoffte, Alea würde nicht auf die Idee kommen, ihn nach dem Schal zu fragen, den er um den Hals trug. Waren die Eisentabletten wenigstens außer Sichtweite? Mann, man musste immer so aufpassen, wenn Alea in der Nähe war …

»Ich weiß, das ist wieder so ’ne spirituelle Kiste …«, setzte Alea erneut an und schien sich nicht wohl zu fühlen.

»Ich, äh, versteh schon«, versicherte El Silbador im Bemühen, möglichst souverän aufzutreten, um dem eingeschüchterten Sänger so etwas wie Sicherheit zu vermitteln. Ja, genau, gerade ich, das Nesthäkchen, das gerade mal zwei frische Bisse hinter sich hat, die eigentlich als einer zählen und nicht mal von ’ner Bestie sind … Genau. »Komm, wir gehen pennen, ja? Morgen können wir mit den anderen drüber reden, wenn alle wieder wach sind. Dann kommt Oliver, und wir nehmen den Schlachtplan in Angriff.« Wobei die Hälfte des Teams noch draußen rumirrt … sehr überzeugend.

Alea wirkte nicht gerade beruhigt. »Gut«, lenkte er dennoch ein, »ich bin zwar nicht gerade müde, aber naja, ich hab ja auch vier Tage nichts anderes gemacht als Schlafen. Du siehst aus, als hättest du’s nötig. Bleib liegen, ich mach das Licht aus.«

Dankbar legte Elsi das Lockstück beiseite und rollte sich unter der Bettdecke zusammen. Er wusste, dass Alea noch lange wach liegen und in die völlig lichtlose Finsternis starren würde, doch dagegen konnte er jetzt nichts tun. Im Gegensatz zu dem Sänger war er hundemüde. Aleas zögerliches Statement »Ich weiß nicht, ob ich je wieder einen Vampir töten kann …« erreichte das Bewusstsein des Jüngeren schon nicht mehr im Detail. Träumend entglitt er in erholsame Dunkelheit und hörte nur das leise Rascheln, als auch Alea unter seine Decke kroch.

Feuer frei!

»Ach, Scheiße«, knurrte Micha, als er sah, wohin seine Sinne sie geführt hatten. »Das ist nicht die Elbe.«

Fritz sah ihm über die Schulter. Vor ihnen tat sich wie eine Querstraße ein träge fließender Kanal auf, ebenso überdacht wie der Rest des Tunnels, und verschwand zu beiden Seiten in die Dunkelheit. Keine Lampen leuchteten über dem Wasser, keine Balustrade führte daran entlang. Es war ein unterirdischer Wasserlauf, der die Haushalte über dem Erdboden speiste. »Naja, das ist ein Teil der Elbe.«

»Am Arsch.« Micha wischte sich über die Nase und wandte sich ab. »Schicht im Schacht, ich hab keinen Plan B. Hier kommen wir nie lebend raus.«

So etwas wollte Fritz nicht hören. Er starrte auf das dunkle Wasser, das in den finsteren, röhrenartigen Katakomben zu beiden Seiten langsam vor sich hin floss. »Meinst du, wir sollten dem Kanal folgen? Vielleicht mündet er irgendwo in einen überirdischen Wasserlauf.«

»Folgen? Du meinst mitschwimmen?« Micha lachte freudlos. »Jaja … Guck dir das mal an, da sind keine Geländer, nur glatte, schleimige Steinwände, und du weißt nicht, wie tief das ist. Vielleicht führt das nur in irgendein Speichersystem, wo man dann gar nicht mehr rauskommt. Vergiss es, da ersaufen wir nur.«

»Du kannst nicht ersaufen«, erinnerte ihn Fritz.

»Aber du kannst, Klugscheißer. Und ich kann sehr wohl bis ans Ende aller Tage gefreezt in irgendeinem Wasserloch unter der Erde rumschwimmen. Nee, danke.« Micha kehrte dem Wasser den Rücken und ging.

Nach einigem Zögern holte Fritz ihn ein. Er war nicht bereit aufzugeben. »Gut, wir sind jetzt die ganze Zeit dem Geruch von Wasser gefolgt – richtig? Dann suchen wir uns doch einfach eine andere Spur. Wonach riecht es hier noch?«

»Bestien«, murmelte Micha übellaunig. Und dann blieb er unerwartet stehen. Fritz wäre beinahe gegen ihn gelaufen. »Moment mal … Das ist eigentlich überhaupt der Plan …« Er kreuzte die Arme vor der Brust, fast so brüsk wie Eric Fish, und starrte zur erdigen Decke auf. »Die Bestien kennen doch ihre Anfluglöcher. Die arbeiten von verschiedenen Ausgängen aus, schleusen Menschen raus und rein … Wir müssen nur gucken, wo sie oft langgegangen sind.«

»Ich dachte, diese Fakten hättest du die ganze Zeit schon berücksichtigt«, ließ Fritz etwas enttäuscht verlauten.

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich in Krisensituationen nicht gerade einfallsreich bin … und ich bin immer noch nicht so warm, dass ich lange laufen könnte, ohne mich an der Wand festzuhalten. Mein ganzer Körper ist immer noch scheißekalt, meine Hirnwindungen sind eingefroren …«

»Jaah, sehr hilfreich. Erzähl das Bock, wenn wir wieder im HQ sind, vielleicht macht er dir ’ne Wärmflasche.« Fritz ging es selbst auch nicht besser. Nur mühsam konnte er überhaupt aufrecht stehen. »Also, stütz dich an der Wand ab und führ uns dahin, wo es doll nach Bestien riecht.«

Mit einem gedehnten Seufzen übernahm Micha erneut die Führung. Besonders hoffnungsvoll wirkte er nicht.

Minuten später hielten sie an einer der schmutzigen Türen an, die sie beim Vorbeigehen zuvor ignoriert hatten. Eher gelangweilt schob Micha die Tür auf und spähte ins Dunkel dahinter.

»Das wird nur ein Raum sein«, meinte Fritz. »Entweder mit Zellen oder mit …«

»… Bedürfnisanstalten«, endete Micha, ohne die Tür loszulassen.

»Wie … Toiletten?«

»Ja. Ist das so überraschend?« Micha entschloss sich, hineinzugehen, und hielt Fritz die Tür auf.

Fritz zögerte, da er drinnen nichts sehen konnte; er begnügte sich damit, die Tür offenzuhalten. »Schon wieder Toiletten«, murmelte er verdrossen. »Hier reingekommen sind wir auch durch eine Toilette.«

»Und wer ist draußen geblieben, um euch runterzuspülen?«

»Haa haa. Die hatten einfach eine Kabine mit dem Tunnel verbunden.«

»Ist ja spannend.« Micha, mitten in dem schlecht gekachelten Raum stehend, hob die Nase und schnupperte vorsichtig. »Hier waren vor ’ner Weile noch massenweise Bestien … aber jetzt sind keine da. Hmmm, hier ist die Spur am stärksten, da muss irgendwas in der Wand sein …« Er fing an, die verkrusteten Kacheln abzutasten. Fritz wollte gar nicht wissen, was für jahrhundertealter Dreck an ihnen klebte. Würden Fiacail Fhola wirklich einen Geheimgang in einem Waschraum anbringen?

Nervös begann er: »Äh, Micha … dumme Frage, aber … Müssen Vampire überhaupt aufs Klo? Eigentlich nicht, oder? Blut wird doch bestimmt direkt absorbiert?«

»Ja, sehr witzig«, murrte Micha. Seine Stimme hallte nach, als wären die Wände tatsächlich hohl. »Wie kommen bloß alle darauf? Unsere Verdauung ist ja noch mieser als eure, warum sollten wir gerade Blut absorbieren können … nee. Also, nee, Blut wird natürlich verdaut. Und Blut ist eine … wie heißt das … Suspension, also, da sind Feststoffe drin, und wie man ja aus der Schule weiß, kommen Feststoffe nicht durch die Darmwand, sondern nur Flüssigkeit mit allem, was drin gelöst ist. Von Blut bleibt also immer was übrig, aber viel, viel, viel weniger als von richtigem Essen. Naja, und …« Er ging in die Knie, um auch unten an die Fliesen heranzukommen und auf alle einzeln draufzudrücken. »… die Nieren filtern ja das Blut und scheiden die Gifte aus … also müssen wir auch pis– … oh, hey, ich hab was!« Mit dem Fingerknöchel klopfte er auf eine Kachel, hinter der sich offensichtlich ein Hohlraum befand. »Komm mal her, Fritz. Ich glaub, du musst mir helfen.«

Mit zittrigen Knien trat Fritz in den nach alter Seife riechenden Raum; die Tür fiel hinter ihm zu, und es war stockdunkel. Micha nahm seine Hand, zog ihn zu sich nach unten und drückte Fritz’ Finger auf die verdächtige Kachel. »Hier. Du ziehst an der einen Seite, ich an der anderen, dann verkeilt sie sich nicht. Los.«

Gemeinsam lösten sie die Fliese aus der Wand. Danach wartete Fritz, der nicht einmal die Hand vor Augen sah, auf Michas Befund. »Und? Ist da ein Durchgang?«

»Nee … Leider nicht.« Es klang, als würde Micha in das Loch greifen und Dinge hin und her schieben. »Fehlanzeige, hier sind nur Putzmittel. Putzmittel, ich werd bekloppt. Haben Eff Eff hier etwa Putzfrauen angestellt?«

»Oder Putzvampire?«, mutmaßte Fritz.

»Hmmm.« Micha nahm etwas aus dem Fach – der Geräuschkulisse nach zu urteilen –, schraubte es auf und roch daran. »Also … Dass das hier drin wirklich Glasreiniger ist, das bezweifle ich mal. Es riecht fast gar nicht … ist ein bisschen gelblich, ich kenn das Zeug nur in Blau …« Er stellte die Flasche zurück und nahm eine andere heraus. Der folgende Schnüffeltest entlockte ihm ein schwaches Aufstöhnen, das so auffällig verebbte und dem eine so dramatische Stille folgte, dass Fritz jäh panisch wurde.

»Micha? Micha!« Er streckte die Hand aus und versuchte, den anderen Mann zu ertasten. Er fand ihn auf dem Boden liegend, und das gefiel ihm gar nicht. »Oh Gott, Micha, was ist?!«

»Arrrr, Scheißdreck«, ächzte Micha vom Boden aus. »Nicht an der Flasche riechen, Fritz … Mach sie zu, mach sie zu …«

»Aber ich weiß ja nicht, wo sie ist!«

Noch während Fritz das sagte, hatten seine tastenden Finger die Plastikflasche gefunden. Als er sie hochhob, entströmte ihr ein stechender, süßlicher Geruch, und ihm wurde ganz schwindelig. Sterne blinkten in der Dunkelheit vor seinen Augen auf, und seine Muskeln kündigten an, ihre Tätigkeit demnächst einzustellen. Schnell drehte er mit zitternden Fingern den Deckel zu, ehe er platt gegen die Wand sank und dort erst mal halb liegen blieb.

Irgendwann ging die Benebelung vorüber. »Was war das?«, fragte Fritz schwach.

»Chloroform«, antwortete Micha und rappelte sich hörbar auf. »Nett … Wir haben Eff Effs Drogenschrank gefunden.«

»Wieso haben die das Zeug nicht mitgenommen?«

»Die holen das bestimmt noch. Aber vielleicht können wir ja was davon gebrauchen.«

Fritz wartete unruhig, während Micha wieder zu suchen anfing. Er hörte, wie der andere sagte: »Hm, jaah, hier ist ausnahmsweise mal das drin, was draufsteht … AHK Spiritus – Angenehm riechender, hochwertiger Bioalkohol.« Auf diese Feststellung folgte ein Geräusch, das Fritz entsetzte.

»Hast du gerade draus getrunken?!«, quietschte er. War der Mann noch zu retten?

»Keine Panik, ich vertrag das«, war Michas lapidare Antwort. »Es schmeckt nur scheiße.«

»Mann! Und was bringt uns das?«, fragte Fritz ungeduldig und verstummte jäh, als im Tunnel laute, schnelle Schritte ertönten. Schritte von mindestens drei Personen.

»Ei, ei, ei – wo seid ihr, Ausbrecherkönige? Wenn ihr denkt, ihr könnt mich noch mal verarschen, dann seid ihr auf dem Holzweg, ähähä!«, ertönte ein gehässiges Lachen hinter ihnen.

»Das ist dieser Ned!«, zischte Fritz und rückte instinktiv näher dorthin, wo Micha hockte. »Wieso ist der nicht verblutet?!«

»Weil man als Vampir nur schwer verbluten kann. Aber keine Angst, der Wichser wird uns nicht aufhalten.«

»Was machen wir?!«

»Ruhig bleiben.«

»Ned, hier sind sie nicht«, quäkte eine weibliche Stimme. »Mit deinem chronischen Schnupfen wirst du sie nie finden!«

»Halt’s Maul, fette Kuh!«, grunzte Ned zurück. Die Schritte kamen näher und verstummten schließlich direkt vor der Toilettentür. »Scheiße, sie haben sich ausgerechnet hier versteckt! Conall?«

Unmittelbar auf diese Aufforderung folgte ein lautes Krachen, und Licht brach in den Raum, als der vollbärtige, hulkähnliche Vampir namens Conall mit einem lauten Schrei die Tür eintrat. Micha packte Fritz und riss ihn hoch; sie sprangen an dem muskulösen Körper vorbei ins Freie, wobei ihre drei Widersacher nur lachten und Conall spöttisch fragte: »Was, ihr wollt schon gehen?«

Ein leises Pfeifen ertönte, ein Geräusch, das Fritz augenblicklich mit grausamer Angst erfüllte, passte es doch überhaupt nicht in diese hektische Situation. Etwas hinter ihnen zischte durch die Luft. Ehe Fritz sich umdrehen konnte, packte das Etwas sein Bein, etwas, das dort gleißend scharfe Schmerzen verursachte und ihn mit einem Ruck zu Boden riss.

»Neeeeeeein!«, schrie Fritz in kopfloser Panik. Seine Hände griffen nach vorn, tasteten hilflos über die glatten, kalten Fliesen. Schmerz!

Noch größeres Grauen überkam ihn, als er den Kopf drehte und sah, dass Conall ein Seil in der Hand hielt, an dessen Ende eine Art Anker mit metallischen Widerhaken prangte – und letztere steckten in Fritz’ Unterschenkel! Panisch schrie er erneut auf, zappelte wie ein Fisch an der Angel, kämpfte besessen und vergeblich.

»Na, zeig mir mal deine Fangzähne, falscher Vampir!«, höhnte Conall, während Ned und die speckige Frau ihn anfeuerten. »Glaubst du, du kannst uns ewig verarschen?«

Micha warf sich über Fritz und packte das Seil; als ein scharfer Ruck nicht genügte, es Conall aus der Hand zu ziehen, warf er aus und versuchte, den Strick durch einen mühsamen Biss und Reißen an den Enden zu kappen. Offensichtlich war das Seil absichtlich aus einer Faser gedreht, die nur schwer durchzubeißen war. Conall Cernach lachte und ruckte das Seil mühelos aus Michas klammernden Fängen.

In Fritz’ Bein kreischte immer noch der Schmerz. Er sah, wie Micha die Widerhaken packte und aus der Wunde zu winden versuchte, was Fritz aufschreien und die Feinde noch lauter lachen ließ.

»Jetzt gib ihnen schon den Rest, wir wollen nicht so viel Zeit mit den beiden verplempern«, sagte Ned. »Der eine redet nicht und der andere ist gar kein Vampir, also leg sie einfach beide um.«

»Mit Vergnügen«, dröhnte Conall und riss, zu Fritz’ Entsetzen, fest an dem Seilende.

Die Haken rissen sein Fleisch auf und kamen frei. Blut spritzte auf wie eine heiße Fontäne. Fritz spürte, wie sein rasanter Herzschlag es sprudeln machte. Er hatte kaum Kraft, so laut zu schreien, wie es eigentlich nötig wäre, und verlor vor Qualen beinahe das Bewusstsein; nur ganz am Rande seiner Aufmerksamkeit bekam er mit, wie Micha den blutigen Haken packte, erneut in das Seil biss – und es scheinbar aus dem Nichts entzündete.

Feuer?

Feuer!

Ned schrie auf, Conall fluchte und die dicke Frau quiekte wie eine Gummiente. Jetzt hatten sie Angst, und das wohl nicht zu knapp. Rasend schnell fraßen die Flammen die spröde Faser, sodass der Anker zu Boden schepperte. Und Micha war noch nicht fertig; er nutzte den Schreckmoment seiner Gegner, um einen weiteren Schluck Brennspiritus zu nehmen, dann griff er nach dem Haken und biss auf das Metall. Seine Kiefer schlugen zu, das Gift spritzte aus seinen Fangzähnen in die leere Luft, und sowie er einen kräftigen Atemstoß hinterher gab, verwandelte sich die scharfe Flüssigkeit jäh in einen gleißenden Feuerball. Fritz kauerte sich zusammen, als die Hitze über seinen liegenden Körper hinwegrollte. Im gleichen Moment ließ Micha sich so schnell er konnte zu Boden fallen, weil die Flammen zurückschlugen und ihn um ein Haar selbst erwischt hätten. Der Effekt war jedoch absolut lohnend: Die Entenfrau schrie gellend, und die beiden Vampire sprangen panisch aus dem Weg. Fritz wurde klar, dass nicht nur Menschen, sondern auch Blutsauger offenbar riesige Angst vor Feuer hatten.

Micha sah den Fliehenden nach, wischte sich wie geistesabwesend mit dem Handrücken Speichel und Spiritus vom Kinn und spuckte die Reste davon aus. »Die kommen garantiert wieder. Wir müssen uns beeilen.«

Fritz konnte sich nicht beeilen. Ihm fiel es schwer genug, einfach nur hyperventilierend auf dem Boden zu liegen. Schmerzen durchzuckten rhythmisch seinen rechten Unterschenkel. Er fühlte, wie Micha das verletzte Bein packte und festhielt.

»Eigentlich bin ich kein Wundenlecker, aber weil du eh schon knapp mit Blut bist, mach ich ’ne Ausnahme. Halt still.«

»Nein! Lass das! Das ist eklig!«, kreischte Fritz und strampelte; der Lohn war nur weitere Pein, und Micha ließ nicht los.

»Mann, der beschissene Haken hat eine Schlagader aufgerissen! Wenn du nicht stillhältst, verblutest du, also lass den Scheiß!« Sein Griff wurde noch unnachgiebiger.

Fritz schauderte, als er die raue, kalte Zunge spürte. Genauso eisig war der heilende Speichel, der tief in sein Fleisch zu dringen schien wie ein Frostbiss. Es fühlte sich an, als würde die Wunde mit gefrorenem Stickstoff vereist – eine Erfahrung, die Fritz als Kind einmal gemacht hatte. Scheiße, er hätte nicht gedacht, dass Micha durch das Hungern so drastisch unterkühlt war – immer noch. Fritz lief ein eisiger Schauer nach dem anderen über den Rücken, und er vermied es, bei der Behandlung zuzusehen. »Schmeckt es wenigstens?«, würgte er mühsam hervor.

Micha zögerte. »Naja, du hast Angst. Es ist herb, wie ein … Jever.«

Gott, auch noch ein Biervergleich! Das war ja nicht auszuhalten! Stöhnend wandte Fritz sich der weißen, reizlosen Wand zu und wartete ab.

Glücklicherweise stellte der Vampir kurze Zeit später das Lecken ein und warf Fritz einen kritischen Blick zu. Er sah so erschöpft aus wie Fritz sich fühlte. »Tut’s noch weh?«

»Nein …«

»Gut. Glaubst du, wir können uns jetzt verpissen? Du musst selber laufen, aber die Wunde wird erst mal zu bleiben.«

»Einen Versuch ist es wert«, räumte Fritz ein und stemmte sich auf die Unterarme. Ja, es ging. Der Schmerz war komplett betäubt. An seiner Stelle war nur Kälte, die jedoch langsam verflog. »Was sollte das gerade mit dem Feuer? Wieso haben die Angst davor … und du nicht?«

»Ich arbeite auf der Bühne mit Feuer und brennendem Zeugs, schon ewig. Ich darf keine Angst davor haben. Zwar machen Subway das auch seit ’ner Weile, das Feuerspucken – aber nicht die Vampire.«

»Aber wie … wie hast du es gerade gemacht?«

»Ist leicht … Man muss nur Schlummifix mit ’nem Brandbeschleuniger mischen und dann das Ganze stoßartig in Bewegung bringen. Eine schöne Spiritusfahne reicht sogar. Gibt viel, viel Feuer.« Warnend fügte er hinzu: »Aber nicht nachmachen, nicht mit Spiritus, echt nie, der Flammpunkt von dem Zeug ist viel zu niedrig. Damit Feuer spucken machen nur Vollpfosten, und danach machen sie’s nie wieder … Aber gut, ich bin ein Vampir, ich hab schnelle Reflexe.« Kurz erhellte so etwas wie Triumph seine fahlen Züge. »War doch gut, oder?«

Fritz konnte diese Begeisterung im Moment nicht teilen. Er spürte immer noch die Hitze auf der Haut. »Vielleicht solltest du damit vorsichtiger sein, sonst verbrennst du dich irgendwann noch«, sagte er übellaunig. »Verbrennungen sind übel, das sollen die schlimmsten Schmerzen der Welt sein!«

Über Michas Gesicht huschte augenblicklich ein Schatten. »Erzähl mir was Neues«, murrte er und wandte sich ab, um aufzustehen.

Fritz nahm die dargebotene Hand und zog sich daran hoch. Fragend suchte er Michas Blick. »Also, du … du hast dich schon mal verbrannt, oder?«

»Total schlimm sogar.«

»Aber du hast dich doch bestimmt sofort wieder erholt?«

»Nee. Eben nicht. Das hab ich gedacht. Ich bin da rausspaziert und dachte, okay, das ist jetzt schlimm, das ist scheiße, aber wird schon wieder, in ein paar Stunden ist das geheilt … Oh Mann, lag ich daneben. Dabei hätte ich es wissen müssen. Warum sonst sollte das eine sichere Methode sein, Vampire zu töten? Verbrennungen machen uns genauso kaputt wie euch, das sind keine normalen Wunden, das sind … die beschissensten Wunden der Welt. Will ich nie, nie wieder erleben. Aber deshalb haben Vampire eigentlich Angst vor Feuer. Ich auch … aber ich hab sie mir abtrainiert. Musste sein.« Er atmete tief durch und wandte sich erneut dem Fluchtweg zu. »Komm, wir hauen ab.«
 

Es war durchaus möglich, Dresden innerhalb weniger Stunden zu Fuß zu durchqueren. Des Nachts waren die Straßen hell erleuchtet, aber leer; die Straßenbahnen verkehrten durchgehend, wenn auch nur stündlich, was nicht gerade hilfreich war.

»Wo sind wir und wo haben wir die blöde Karre gelassen?«, fauchte Ingo ins Dunkel.

Basti und Marco, die mit genauso schnellen, aber möglichst unauffälligen Schritten weiter hinter ihm gingen, hielten den Mund. Hektik würde nur Aufmerksamkeit erregen. Ein schneidender Wind fegte am Elbufer entlang und kühlte den nur langsam trocknenden Schweiß in ihrer Kleidung gefühlt bis unter den Gefrierpunkt.

»Scheißen wir doch auf dit Auto und jehn zu Fuß. Wir sind doch eh fast da, oder nicht?«

»Ihr seid noch mindestens ’ne halbe Stunde entfernt«, belehrte ihn Boris durch den Ohrknopf postwendend, »und von der Stelle, wo ihr den Dark Knight habt stehen lassen, kaum weniger.« Seit die Verbindung außerhalb des unterirdischen Kanalsystems wieder zurückgekehrt war, schien er seinen Arbeitsplatz vor dem virtuellen Stadtplan kein einziges Mal verlassen zu haben und lotste die drei so direkt wie möglich zurück zum Uniklinikum. Dass alle anderen im HQ längst schliefen, schien ihm egal zu sein; er weigerte sich auch hartnäckig, seine Schicht an El Silbador abzutreten. Nein, das hier war jetzt sein Einsatz, und er wollte der Erste sein, der eine gute Neuigkeit verkünden würde. Der Erste, der wissen würde, dass es seinen Freunden gut ging. Nützlich zu sein war gerade schwer genug, niemand würde ihm jetzt diese Position streitig machen.

Eine halbe Stunde war viel, wenn man nicht wusste, wo überall Vampire durch die Schatten schlichen. Die Mitglieder des menschlichen Außenteams konnten nicht umhin, immer wieder forschend um sich zu blicken, um eventuelle Angreifer rechtzeitig auszumachen. Es versetzte sie in helle Aufruhr, als sich aus der nächtlichen Stille plötzlich Motorengeräusche näherten, deren Erzeuger auf sie zuhielt. Das Auto, ein silbernes, älteres Jeep-Modell, jagte um die Ecke und holte die Männer rasch ein. Wie es ihnen bereits in Fleisch und Blut übergegangen war, sprangen die drei auseinander, jeder in eine andere Richtung, und setzten zur Flucht an – das Fahrzeug jedoch bremste ab, schob sich mit den Vorderrädern über den Bordstein und blieb stehen. Die Tür wurde aufgestoßen.

»Hey, nicht weglaufen! Kommt her!«, rief ihnen eine männliche Stimme mit starkem englischem Akzent nach.

Lange drehte sich als erster um. »Is dit … Rea?«

»Ja, ich bin’s, jetzt kommt endlich! Springt alle hinten rein! Ich hab jemand dabei, die euch auch gerne sehen möchte!«

Die eigentlich Flüchtigen kehrten in tiefer Erleichterung zu dem silbernen Auto zurück. Rea Garvey winkte sie hektisch näher. Vom Beifahrersitz aus reckte jemand den Arm ebenfalls winkend über seine Schulter; die langen, schlanken Finger gehörten eindeutig einer Frau.

»Silke!«, rief Hampf sichtlich erfreut. »Tut verdammt gut, dich zu sehen!«

Der Jeep war geräumig genug, sodass sie auf der Rückbank alle Platz hatten. Noch während die Steckzungen der Gurte in den Schlössern einrasteten, lenkte Garvey das Fahrzeug wieder auf die Straße und gab Gas.

»Ich hab eure Frau Schmitt in die Südvorstadt aufgegabelt. Sie wollte zu euch, ich auch, also … da sind wir.«

Frau Schmitt wandte sich um und deutete sich vielsagend auf ein Ohr. »Seid ihr verwanzt?«

»Ja, und verpeilsendert«, gab ihr Ingo zur Antwort. »Olle Pfeiffer hört mit. Also, raus damit: Wo ist das neue Versteck?«

Silkes Miene verdüsterte sich. »Ich … ich weiß es nicht mehr. Ich wusste es, aber …« Sie hob hilflos die Schultern. »… Paul Frais hat mich erwischt, als ich nach Eric gesehen habe. Er hat mir lächelnd mitgeteilt, dass ich sowieso die ganze Zeit schon sein Blut getrunken hätte … Woran hätte ich das merken sollen? Mist! Er hat mir befohlen, zu vergessen, welchen Weg wir genommen haben. Einer seiner Lakaien hat mir die Augen verbunden und mich zum Hörsaalgebäude der Technischen Universität gebracht. Frais hat ein Spiel mit mir gespielt! Ich weiß nicht, wie viele Runden wir sinnlos durch die Stadt gefahren sind … Ich durfte die Augenbinde nicht abnehmen. Blutfessel ist … grauenhaft«, fügte sie erschauernd hinzu.

»Aber da muss an t-Uasal Mister Frais ja was für dich übrig haben, was? Er hätte dich einfach den Kopf abbeißen können«, murmelte Garvey.

»Echt mal, Silke«, bekundete Hampf ganz aufgelöst seine Anteilnahme, »da scheinst du ja noch mal mit ’nem blauen Auge davon gekommen zu sein.«

Frau Schmitt schnitt eine Grimasse und nickte. »Ich befürchte, dass er dadurch das Katz-und-Maus-Spiel mit uns für sich persönlich interessanter macht. Denn eins hat er mich nicht vergessen lassen: Er weiß, wo der MIU-Stützpunkt ist. Und zwar schon lange.« Sie holte tief Luft und sah ihren Bandkollegen hilflos an. »Ingo«, wisperte sie dann, »er wird angreifen.«

Sofort horchten alle im Fahrzeug auf. »Frais will ein Krankenhaus angreifen?«, echote Flex erschrocken.

»Oh ja.«

»Wann?«

»Sobald das neue Versteck gesichert ist. Er hat jetzt genug Menschen und Vampire, auch aus den Nachbarländern, um unser Team zehnmal zu überrennen.«

»Wat für ’ne Bestie!«, grollte Sebastian. »Wir sollen wir denn die janzen hilflosen Leute verteidijen? Kann der nicht auf neutralem Grund kämpfen wie’n Kerl? Muss der unbedingt ’nen verdammten Krieg anfangen?«

»Ich glaube, auf faires Kämpfen hat er schon lange keine Lust mehr. Er ist extrem frustriert, weil Eric immun gegen The Viking’s Blood ist.«

»Jegen wat?«

Frau Schmitt erklärte: »In der Zeit seit damals, während der er uns nicht unter die Nase geraten ist, hat Paul Frais an einem zweiteiligen Plan gearbeitet. Erstens: die Vampire von MIU, Fírinne und anderen ihn störenden Geheimdiensten unschädlich zu machen. Seine Wissenschaftler haben ein Blutgemisch so stark mit Stresshormonen versetzt, dass Vampire nach dem Trinken unberechenbar werden.«

»Wikingerblut. Wissen wir. Der Plan ist fehlgeschlagen«, sagte Flex.

Garvey murrte: »Zum Glück war sogar ich clever genug, den nicht anzurühren, als Mícheál es mir geschenkt hat … Er war misstrauisch. Rightly so

»Ich habe gehofft, dass unsere Leute es nicht bedenkenlos trinken würden«, atmete Silke auf, »und sie haben mich anscheinend nicht enttäuscht. Zweiter Teil des Plans war, auf subtile und undurchschaubare Art Terror unter die Menschen zu bringen. Frais hat eine Nachwuchsband aus Wuppertal an sich gebunden, damit sie ein Lied für ihn komponierten … und für die erste Testphase wurde das Stück mit Infraschall und anderen kritischen Tonfrequenzen unterlegt.«

»Sodass es innerhalb von Sekunden tödliche Panik auslöst«, folgerte Ingo.

»Richtig. Das Stück ist ein Hidden Track auf dem Album der Band, das man online über einen versteckten Link auf der Fachschaftsseite der Uni runterladen kann. Konnte«, korrigierte sie sich.

»Ja, Pfeiffer hat es weggehackt. Scheint aber auch ein Fail gewesen zu sein, dieser Teil des Plans, denn es sterben ja nicht alle Opfer an dem Dreckslied – oder?«

Frau Schmitt schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Vor allem einer stirbt partout nicht an dem Lied«, sagte sie, »und das ist Eric.«

Wieder verstummten alle im Auto; bestürztes Schweigen breitete sich aus.

»W-Wie jetzt«, stotterte Marco bestürzt, »Frais hat nichts Besseres zu tun, als Eric permanent mit den tödlichen Frequenzen zu beschallen?«

»Ich kann euch beruhigen, es geht Eric gut«, beeilte sich Silke. »In den ersten Testphasen haben sie die Frequenzen ein paar Mal modifiziert, aber die Möglichkeiten erschöpfen sich langsam. Und im Moment haben sie keine Zeit, sich darum zu kümmern. Paul Frais glaubt – weil Alea, als sie mit ihm die gleichen Tests gemacht haben, auch keine Reaktion gezeigt hat –, dass Eric auch diese besondere Fähigkeit besitzt, die nur nicht trainiert ist.«

»Och nee … Der Idiot?«, grunzte Basti.

Ingo schnaubte. »Was für’n Schrott. Alea hatte ’n durchgekautes Pfefferminzkaugummi in den Ohren.«

»Oh ja.« Silke lachte nervös. »Jedenfalls glaubt Frais, dass, wenn er die richtige Frequenzkombination knackt, sodass Eric daran stirbt, er auch jeden anderen Menschen – auch Vexecutors, seine Todfeinde – mit dem Lied aus dem Weg räumen kann. Ein Lied ist eine nicht zu unterschätzende Waffe, Jungs.«

Dies war nicht zu bezweifeln. Niemand – schon gar kein argloser Konsument – rechnete damit, dass ein Musikstück töten konnte. Nur wenige Menschen kannten sich überhaupt mit der Wirkung niedrigfrequenten Schalls aus.

»Also stimmt es, was wir vermuten«, brummte Ingo. »Er will mit dem Lied selektiv Leute ausschalten. Leute, die ihm im Weg sind. Mit dem Wikingerblut hetzt er das Volk gegen friedliche Vampire auf, vor allem gegen diejenigen, die ihm das Handwerk legen können: Polizei, Geheimdienste. Er setzt zwei Waffen simultan ein. Seine eigenen Leute kann er verstecken, die sind nicht auf bluthaltige Getränke angewiesen … und mit dem verfickten Lied wird er ziemlich schnell alles im Griff haben. Er kann damit drohen, es heimlich in Schulen abzuspielen … in Regierungshäusern … ach, egal wo! Wo Leute sind, die hören können, verleiht es ihm eine Scheiß-Macht!«

»Ja«, seufzte Frau Schmitt und starrte beiseite. »Genauso ist es.«

»Fragt Silke, ob sie wenigstens so was wie einen … Schlachtplan hat«, forderte Boris Pfeiffer die Wanzenträger auf. »Weiß sie, zu welcher Tageszeit und auf welche Art Frais die Uniklinik angreifen wird?«

Marco gab die Frage weiter.

Frau Schmitt verneinte seufzend. »Frais hat mich nur genau das wissen lassen, was er auch euch wissen lassen will. Er gibt uns … eine Chance. Das macht es für ihn … attraktiver. Er genießt das Ringen um die Oberhand.«

»Jaah, weil wir es nicht tun«, grunzte Ingo und zog die Nase hoch. »Mann, ich hasse diesen blöden Sack!«

Auf die Scheiben des Autos begann Regen zu trommeln; erst wenige Tropfen, dann ein immer dichter werdendes Stakkato aus Wasser. Garvey fuhr jetzt ruhiger. Die Fetscherstraße war fast erreicht.

»Hört mal«, begann der irische Sänger, »ich bringe euch nur hin, aber ich kann nicht bleiben. Ich … hab es erst vor kurz geschafft, Fío meine Tochter wegzunehmen. Jetzt bin ich feckin’ paranoid, versteht ihr? Ich … kann sie nicht lange alleine lassen. Ich … bin raus aus die Nummer.« Keiner kommentierte dieses Geständnis. »Aber die Präsidentin ist noch da, und sie hat Leute um sich. Mein Teil von das Abmachung mit Frais war, alle Iren aus Deutschland zu entfernen … Aber nur weil Frais keine Iren sieht, heißt das ja noch lange nicht, dass keine da sind …« Er brachte so etwas wie ein triumphierendes Lächeln zustande, zumindest die vage Ahnung davon. »Ich gebe euch die Nummer von Niklas Löhse, damit ihr Fírinne anfordern könnt, wenn Frais angreift.«

Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen im Innenraum des Jeeps.

»Haick dit jetzt richtig verstanden? Frais hat dich erpresst, indem er deine Tochter entführt hat?«, fasste Sebastian das Desaster zusammen. Seine Miene spiegelte Fassungslosigkeit, wie auch die der anderen.

Rea schluckte. »Ja.«

»Das … das ist ja …!« Marco ballte wütend beide Fäuste. »Was für ein Scheißkerl ist dieser Typ bloß?!«

»Ein verdammt alter Vampir«, seufzte Ingo. »Ihr wisst so gut wie ich, dass denen irgendwann alles egal ist.«

»Ich habe versucht, alles irgendwie zu retten«, beeilte sich Garvey fortzufahren. »Wie gesagt, ihr holt euch Fírinne, die sind nur abgetaucht, aber die stehen sozusagen zu eure Verfügung. Wenn Frais also angreift … tja, dann zöger nicht.«

Die Männer auf der Rückbank sagten nichts mehr; sie tauschten nur noch entschlossene Blicke, die erkennen ließen, dass sie es ein weiteres Mal mit Fiacail Fholas Bedrohung aufnehmen würden.

Jetzt mehr denn je.

Heimkunft

Ned, Conall Cernach und das menschliche, schwammige Etwas, das Fritz im Geiste Entendicki getauft hatte, schienen die einzigen Handlanger Frais’ zu sein, die zum Unschädlichmachen der nutzlos gewordenen Ausgebrochenen abkommandiert worden waren. Unerwartet schnell hatten sie sich von dem Schrecken erholt, den Micha ihnen mit dem Bioethanol eingejagt hatte, und erneut die Verfolgung aufgenommen. Fritz fühlte sich einigermaßen imstande, den langen Weg bis zum HQ durchzuhalten; zwar hatte er kaum Gefühl in seinem Bein, doch immerhin tat es nicht mehr weh und blutete auch nicht. Die ständige Angst erhielt zudem seinen Kreislauf so weit aufrecht, dass er ohne Hilfe gehen konnte, lediglich beeinträchtigt durch einen dunklen, pulsierenden Fleck im Sichtfeld. Ja, sein Körper ließ alle Warnlampen blinken – seine Brust fühlte sich beengt an, als lägen eiserne Fesseln um die Rippen, und er hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen – doch im Moment war er noch nicht ganz bei Null, er würde sich weiterquälen, solange es sein musste. Es war zudem völlig unbedeutend, in welchem Zustand er und Micha die Sicherheit des MIU-Unterschlupfes erreichen würden; sie mussten nur dort ankommen. Im Stützpunkt war Sicherheit. Dort waren Kollegen, Kampfgefährten … und vor allem: Ärzte.

Durchhalten, dachte er verbissen.

Micha hielt die halbleere Spiritusflasche noch immer in der Hand, jederzeit bereit, sie einzusetzen. Sein erschöpfter Blick glitt ständig von einer Seite zur anderen. Andauernd leckte er sich die Lippen, und Fritz sah seine Fangzähne blitzen. Wieso bloß hatte er die Dinger ausgefahren? Was bedeutete das?

Hinter ihnen erklangen in großzügigem Abstand die raschen Schritte und das leise Tuscheln der Verfolger. Als Fritz seinen Blick wieder geradeaus richtete, durchflutete ihn jäh Erleichterung: Der ungeflieste, erdige Tunnel endete, und über ihnen tauchte der schwarze Nachthimmel auf. Fritz hätte nicht geglaubt, je wieder Sterne zu sehen.

»Micha! Die Baugrube! Das ist sie! Wir – wir sind in der Albertstadt, in der Marienallee! Ich glaube, ich kann uns den Weg nach Hause suchen!« Als Micha ihn nur fragend ansah, erklärte er: »Als Falk und die anderen Alea und mich gerettet haben, sind wir hier auch rausgekommen!«

»Aaah! Geil, Fritz. Wir schaffen’s. Wirst schon sehen, wir kommen hier raus!« Micha drehte sich um; im Tunnel war es dunkel, aber anders als Fritz konnte der Vampir vermutlich sehen, wie Ned, Conall und Entendicki sich leise fluchend in schnellere Bewegung brachten. Drohend streckte er den Brennspiritus von sich. »Kommt doch, ihr Pisser! Ich hab keine Angst vor Feuer!«

Lügner, dachte Fritz. Nachdem er jetzt wusste, dass Micha bereits seine Erfahrungen mit dem heißen Element gemacht hatte, war ihm vollkommen klar, dass der Vampir sich sehr wohl vor Feuer fürchtete, vielleicht sogar noch viel mehr als die anderen. Allerdings vermochte er diese Angst zu kontrollieren.

»Ihr seid erledigt!«, hallte Neds Antwort herüber. Sie klang näher, als Fritz gehofft hatte. »In deinem Zustand schaffst du’s nie, deinen Menschen aus der Grube zu schleppen, alter Köter!«

Der triumphierende Ausdruck in Michas Miene wich Zweifel, wie es schien; genau erkennen konnte Fritz seine Züge nicht, nur die blau leuchtenden Augen spendeten ein kaltes Licht, das sein Gesicht einigermaßen lesbar machte. »Okay, Fritz, wir versuchen’s mal.« Er duckte sich und zog schnell seine Schuhe aus, ohne die sich Nähernden im Tunnel aus den Augen zu lassen. »Ich werd die Wand hochgehen und dich tragen … aber das kennst du ja schon.«

Fritz nickte abwesend. Sein Herz schlug bis zum Hals. Micha packte ihn und versuchte, ihn sich bäuchlings über die Schulter zu werfen, wie er es zu einem früheren Zeitpunkt mühelos vermocht hätte. Jetzt jedoch gaben seine Knie unter dem Gewicht nach, und mit einem überraschten Aufkeuchen zwang er sich wieder hoch und setzte probeweise einen Fuß auf die unebene, lehmige Wand. Die ganze Welt kippte um neunzig Grad – jedoch nur kurzzeitig. »Oooouh, Scheiße … Das wird nix.« Micha stolperte zurück. Mit den Zähnen knirschend ließ er Fritz wieder auf den Boden herunter und lehnte sich dann schwer atmend mit dem Rücken an die feuchte Erde. »Scheiße!«, fluchte er weiter. »Wir sind am Arsch!«

Aus dem Tunnel ertönte Entendickis keckerndes Lachen: »Naaaa, ihr Ausbrecher? Habt ihr wirklich gedacht, ihr entkommt uns? Ähihihihi!«

»Wir haben nichts zum Kämpfen!«, hörte Fritz sich piepsen.

Micha schüttelte probeweise die leere Spiritusflasche und warf sie dann einfach über die Schulter. »Stimmt.« Dann reckte er hektisch den Hals zum hohen Rand der Baugrube auf. »Vielleicht doch.« Schon holte er tief Luft und zwang sich mit einem Satz in die rechtwinklige Position, um die Wand hochzuspringen. Es kostete ihn so viel Kraft, dass er es kaum über den Rand schaffte.

Fritz war entsetzt, als das Lachen der Angreifer lauter wurde. »Du kannst mich nicht schon wieder einfach alleine lassen!!«, brüllte er Micha panisch nach. Das war doch nicht sein Ernst! Das konnte er doch nicht ernst meinen! Fritz hatte geglaubt, dass ihre gemeinsame Notlage zumindest etwas in dem gestörten Verhältnis zwischen ihnen verändert hatte, doch für Micha war er offenbar immer noch nur Mittel zum Zweck, und das würde für ihn nun den Tod bedeuten! In seinem Kopf begann alles zu rasen. Was jetzt, was jetzt?!

»Na los, Ned«, grölte Conall, »das halbe Hähnchen kannst du nun wirklich ohne meine Hilfe platt machen.«

»Ähähä, ja!« Der rotnäsige, schniefende Vampir duckte sich und sprang vor.

In dem Moment, als er sich mit vorgestreckten Armen auf Fritz stürzte, ließ Fritz sich passiv nach rückwärts fallen und trat mit beiden Beinen aus. Der Tritt traf Ned in den Magen, bewirkte jedoch nichts außer einem kurzen Ächzen und verblüfften Innehalten. »So«, schnaufte der Vampir, »du hast also noch Power, was? Gleich nicht mehr!« Er ließ seine Zähne vorschnappen und griff erneut an – auf Fritz’ Hals zielend, wo bereits zwei mehr oder minder frische Einstichlöcher prangten. Diesmal warf das Gewicht des dürren Angreifers Fritz auf den Rücken, und er kam nicht wieder hoch. Neds Gewicht drückte ihn auf die Erde, Fritz glaubte, die Spitzen seiner langen, scharfen Zähne bereits auf der Haut zu spüren. Großer Gott, nicht schon wieder ein Biss! Das würde er niemals überleben! Fritz holte rasselnd Atem, hielt mühsam die Fänge von seinem Hals fern. Es kostete ihn alle verfügbare Kraft. Der Puls hämmerte in seinen Schläfen. Immer näher kamen die Spitzen der weichen Haut seiner Kehle. Neds Hände waren überall, kratzten ihn, tasteten an ihm herum, versuchten Halt zu finden, irgendetwas zuzudrücken. Nicht mehr lange und er würde auf die glorreiche Idee kommen, ihm den Hals zu zerquetschen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die auf ein schwarzes Ende zuging.

Dann, wie aus dem Nichts, traf Ned ein mächtiger Schlag auf den Kopf. Er stöhnte auf und fiel zurück. Sein Griff lockerte sich. Micha, der hinter ihm stand, fixierte ihn drohend, die metallene Leitbake mit der zerbrochenen gelben Lampe bereits zum erneuten Zuschlagen erhoben. Doch Ned war bereits außer Gefecht gesetzt: Blicklos starrten seine halbgeöffneten Augen ins Leere.

Fritz wimmerte. »Oh Gott … Seine Zähne gucken immer noch raus …«

»Muss nicht heißen, dass er tot ist. Wenn man K.O. ist, kommen die auch manchmal raus. Vampire durch einen Schlag auf den Kopf zu töten ist so ziemlich unmöglich.« Micha drehte sich nach Conall und Entendicki um, die ihn verblüfft angestarrt hatten und jetzt sogar jeder einen Schritt zurückwichen. »Na? Wollt ihr auch noch?«

Conall Cernach verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du und ich, du ausgehungerter Hänfling?« Er setzte sich gemächlich in Bewegung.

Rasch wandte Micha sich an Fritz. »Du reißt dich jetzt hammermäßig zusammen und benutzt den Vollidioten als Sprungbrett! Kapiert?«

Fritz nickte.

»Na dann! Vive la résistance!« Es klang wie Restdistanz.

Conall röhrte und rannte los; Micha hob die Bake und sprang auf, um ihm zu begegnen. Er hatte sich unerwartet gut überlegt, was Fritz zu tun hatte: Als Conall und Micha sich ineinander verkeilten wie zwei Hirschgeweihe, beschränkten die Wände des Baulochs ihre Bewegungen so sehr, dass Fritz einigermaßen koordiniert auf den gebeugten, breiten Rücken des bulligen irischen Vampirs aufsteigen und sich von dort aus kräftig abstoßen konnte. Mit aller Kraft griff er mitten in die Lehmbrocken, aus denen die Wände bestanden. Es ging! Sie hielten ihn! Fritz keuchte. Hochziehen! Seine Muskeln zitterten unter seinem Gewicht. Seine Füße fanden Halt. Noch einen Meter kämpfte er sich empor. Nur noch ein kleines Stückchen! Abstoßen, mit beiden Füßen, und dann – !

Nur knapp bekam er den mit wenig Gras bewachsenen Rand zu packen und krallte sich daran fest, als hinge sein Leben davon ab. Was bei näherer Überlegung wohl auch der Fall war. Strampelnd schaffte er es, sich aus der Grube zu ziehen, während Conall und Micha immer noch miteinander rangen. Fritz hörte ihr angestrengtes Keuchen, unterdrückte Wut- und Schmerzschreie. Das natürliche Ende dieses Kampfes war abzusehen und würde nicht lange auf sich warten lassen, so viel war ihm klar. Was sollte er jetzt tun? Die Leitbake taugte nicht langfristig als Waffe. Sobald Conall Raum gewann, würde er Micha in der Faust zerquetschen wie ein lästiges Insekt. Alter hin und her – es war Conall, der gerade mehr Energie hatte.

Fritz sammelte seine Gliedmaßen zusammen und reckte den Kopf. Über ihm pfiff der Wind. Lichter beschienen Fritz und eine Stille senkte sich über ihn herab, welche die Kampfgeräusche, die aus dem tiefen Loch heraufdrangen, nebensächlich wirken ließ. Da war die Straße, auf der kein Auto fuhr, links und rechts von ihr in schummriger Düsternis liegende Häuser. In der Ferne kläffte ein Hund.

Ich darf mich nicht ablenken lassen, ich hab keine Zeit zu verlieren!, dachte Fritz verbissen. Ich muss – !

»A Fhiail!«, durchzuckte jäh ein hoher Ruf die Nachtluft. »Keine Angst! Beidh mé ag cabhrú leat láithreach bonn!« Was auch immer Ríona gerade gebrüllt hatte: Es klang ungemein erleichternd. Instinktiv wusste Fritz, dass die Vampirin dabei war, zu seiner Hilfe zu eilen. Wie ein geölter Blitz kam sie angehuscht, die Zähne ausgefahren. Bei Fritz angekommen, hielt sie jedoch nicht an – sondern sprang geradewegs an ihm vorbei in die Baugrube.

Von allen Beteiligten kam ein überraschter Aufschrei, der simultan in einem Laut des Entsetzens endete; keiner der beiden Kontrahenten wusste zunächst, auf wessen Seite die neue Spielerin war. Fritz starrte hinunter ins Dunkel, sah die schattenhaften Bewegungen. Dann, nur Sekunden später, kam Micha aus dem Loch gestürzt. Er blutete – wieder einmal. Seine Hand umklammerte Entendickis speckiges linkes Handgelenk, das rechte hielt Ríona, die auf dem Fuße folgte. Kurzzeitig fragte sich Fritz, weshalb sie die Fiacail-Fhola-Sympathisantin wohl retten wollten – wie unter Blutfessel hatte sie eindeutig nicht gewirkt –, dann wurde ihm klar, was wirklich der Sinn dieser vermeintlichen Hilfsaktion war: Direkt neben dem Loch warf Micha die benebelte Frau auf die Seite und biss sie in den Hals, um hungrig ihr Blut zu trinken.

Fritz zuckte zusammen und wandte sich ab, die Augen zusammenkneifend und beide Hände auf die Ohren pressend, um die leisen, aber dennoch schauerlichen Geräusche der vampirischen Nahrungsaufnahme von sich abzuschirmen. Dieses Festsaugen und Schlürfen, es bereitete ihm stets aufs Neue eine Gänsehaut. Ríona, das hatte er gerade noch gesehen, saß ruhig neben dem Bauzaun und sah Micha ungerührt bei seiner Mahlzeit zu.

Minutenlang blendete Fritz alles aus; er befürchtete, dass Micha an Entendicki genauso lange herumnuckeln würde wie an ihm. Im Nachhinein konnte Fritz sich gar nicht mehr erklären, wie er das hatte zulassen können – sediert und mit glasigem Blick am Boden zu liegen, während lange Zähne seine Halsvene offenhielten, damit möglichst viel Blut herausfloss, das eine kalte Zunge und noch kältere Lippen aufschlürfen konnten. Es war das Ausgeliefertsein an ein parasitäres Monster, das vom Leben anderer zehrte – das musste man sich immer wieder vor Augen führen. Vampirismus war etwas hochgradig Widerliches.

Irgendwann tastete sich eine schlanke Hand seine Schulter hinauf und streichelte ihn dort zögerlich und beinahe versöhnlich. Ein Auge öffnend erkannte er Ríonas mitleidiges Gesicht dicht neben seinem eigenen. »Ich war auch mal ein Mensch«, sagte sie, als wäre das ein Trost, und knetete weiter seinen Oberarm. »Ich musste mich auch erst an Blut gewöhnen. Es ist lange her, fadó, fadó … Aber man vergisst das Menschsein nie ganz.« Fritz wusste, dass ihn die Worte beruhigen und befrieden sollten.

Kurz danach gab Micha auf. »Zu anstrengend«, keuchte er, »und zu wenig Zeit. Immerhin … ’n bisschen.« Er leckte die Bisswunde und erhob sich auf die Füße, gleichwohl sicherer und kräftiger als zuvor. Sein Blick fiel auf Ríona, die mit großen Augen zu ihm aufsah. »Sach ma … Wer bist ’n du eigentlich?«

»Eine Bekannte von Fial!«, antwortete die Vampirin stolz. »Und du bist sein Besitzer.«

Micha korrigierte diesen Irrtum nicht. Im Gegenteil. »Schon«, bestätigte er und deutete ein Lächeln an; seine Zähne und Lippen waren rot vom Blut. »Also, wickel ihn nicht so um den Finger. Ich teile keine Beute, verstehst du?« Mit dem Finger zeigte er vielsagend auf Fritz’ Hals. Als er daraufhin Fritz’ entsetztem Blick begegnete, begann er plötzlich laut zu lachen. »Ahaha! Weißt du, Fritz war mal voll der Schisser … und ich hab mal versprochen, ihn nicht zu lochen … und guck ihn dir jetzt an … was der in der kurzen Zeit alles mitmachen musste! Mit Vampiren um sein Leben kämpfen, unter der Erde gefangen gehalten werden, gebissen werden, schwer verletzt werden, abgeleckt werden … Er ist noch keinen Monat bei uns und schon ist er ’n Vampirveteran!« Er lachte noch lauter und stützte sich auf den Knien ab. »Geil, ey … nur geil!«

»Find ich nicht witzig«, knurrte Fritz und rieb sich unbehaglich über die Einstichlöcher. Ihm war klar gewesen, dass er seine Heldentat noch bedauern würde. Aber das war eine Ausnahme gewesen – ein zweites Mal würde er sicherlich keinen Vampir an sich heranlassen!

Micha beruhigte sich und streckte Fritz eine Hand hin. »Na komm, du Held. Zeig uns den Weg, bevor diese Nervensägen wieder zu sich kommen. Wir schaffen es bis zum HQ, Fritz, und zwar vor Sonnenaufgang … was wir auch müssen, denn ich hatte jetzt schon ’ne Weile kein Azathioprin. Und guck dir den sternenklaren Himmel an. Morgen scheint die Sonne, jede Wette.«

Fritz rappelte sich hoch, orientierte sich und fragte sich wieder einmal, warum er dies alles tat; dann setzte er sich zielstrebig in Bewegung.
 

Yellow Pfeiffer ertappte sich dabei, angesichts des herrschenden Schweigens und nur auf die leisen Motorengeräusche aus dem Headset lauschend etwas eingenickt zu sein. Er schreckte hoch, als sich Schritte auf der Treppe in den Keller näherten. Die Uhr sagte ihm, dass es schon kurz vor sechs war. Heilige Scheiße, wie schnell die Nacht vergangen war!

Still wartete er, ob der Lärm sich weiterhin nähern würde – und das tat er. Keine halbe Minute später streckten seine Bandkollegen Marco und Sebastian gleichzeitig die Köpfe zur Tür herein.

»Wir sind wieder da«, raunte Sebastian. »Boris, jeh schlafen. Wir wecken den Rest und machen die Mitteilungen.«

»Geh selber schlafen«, gab Boris zurück und rieb sich die Augen. Inzwischen hatte er es aufgegeben, seine Müdigkeit verbergen zu wollen. »Ist Frau Schmitt auch da?«

»Ja, aber der Rea ist wieder abjezischt. Immerhin können wir jetzt Fírinne holen. Ick hoffe, Frais wartet noch ’n bisschen mit dem Großansturm.«

»Würde ich mich nicht drauf verlassen.« Pfeiffer fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, jetzt, wo alles wieder völlig ungewiss war, ins Bett zu gehen – doch er brauchte Schlaf, sonst würde er zu nichts zu gebrauchen sein. Dasselbe galt für seine beiden Kollegen. Die Aktion, um Micha und Eric in Fiacail Fholas Versteck zumindest aufzuspüren, war fehlgeschlagen; zwar hatten sie neue Informationen gewonnen, allerdings nur durchweg beunruhigende, und schlimmer noch, sie hatten einen weiteren Mann verloren, von dem sie nicht wussten, ob er noch lebte. Fritz könnte tot sein oder auf Frais’ Folterbank liegen – eins von beidem war sehr wahrscheinlich. Und wenn Micha wirklich verhungert war – was Boris nicht glauben wollte –, dann trennte vielleicht auch Eric nicht mehr viel vom Tod und Frau Schmitt waren nur weitere verwirrende Fehlinformationen eingepflanzt worden. Wie auch immer es um die drei Vermissten stand: Dass Fiacail Fhola schon wieder ein neues Versteck bezogen und zudem einen Angriff auf das MIU-HQ planten, bedeutete eine ganze Flut neuer Herausforderungen. »Ich gehe Elsi wecken, der soll übernehmen«, murmelte er.

»Nee, dit mach ick, du jehst pennen, wir kommen auch gleich dazu. Wenn wir Glück haben, haben die anderen schon ’nen tollen Plan ausjearbeitet, wenn wir in ’n paar Stunden uffwachen.«
 

Ríona begleitete ihr langsames Vorankommen bis zum Morgengrauen. Fritz hatte völlig unterschätzt, wie quälend lange der Weg durch Dresden dauern würde; bisher hatte er sich nur bei guter körperlicher Verfassung durch die sächsische Stadt bewegt.

»Ihr werdet es schaffen, a Fhiail, es ist ganz nah. Aber ich muss gehen, weil bald die Wolken aufbrechen werden. Tabhair aire dhuit féin! Slán go fóill!« Die rothaarige Vampirin verschwand lautlos in einer Seitengasse, ehe Fritz ihr ein paar Worte des Dankes zunuscheln konnte. Seltsam, dass sie für ihre Hilfe nichts von ihm verlangt hatte. Er vermutete, dass sie das nachholen würde, sobald es ihm wieder besser ging. Falls sie allerdings Blut wollte … Nun …

Schweigend schleppten sie sich zu zweit weiter. Am schlimmsten war der weite Umweg über die Albertbrücke, denn die Elbe trennte sie von ihrem Ziel. Fritz hinkte; die tiefe Fleischwunde fühlte sich inzwischen an, als rissen die Widerhaken erneut darin herum. Bei jedem Schritt glühte der Schmerz auf wie Nadelstiche, und diese Nadeln schienen ständig größer zu werden und tiefer einzudringen.

Durchhalten, sagte Fritz sich einmal mehr.

Tapfer schluckte er jedes Wehklagen hinunter. Micha beklagte sich schließlich auch nicht. Bei ihm wusste Fritz nicht, ob er neben der Kälte, die ihn fast zu lähmen schien, auch Schmerzen hatte. Fakt war jedenfalls, dass all die Anstrengung sie beide an den Rand der totalen Erschöpfung getrieben hatte. Vor Fritz’ Augen tanzten pulsierende, flackernde Lichtblitze, und sein Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Er wollte schlafen … nur noch schlafen.

Der Tag war bereits angebrochen, als sie taumelnd in die Fiedlerstraße abbogen. Noch hielt eine dicke Wolkenschicht die Sonnenstrahlen ab, doch am Horizont kündigte sich bereits eine deutliche Aufklarung an. Rund um das Klinikgelände waren längst Menschen unterwegs und warfen den sich mühsam vorankämpfenden Männern fragende Blicke zu. Geht’s den beiden wohl gut?, sagten diese Blicke, dieses Stirnrunzeln. Die kippen ja gleich um … Sollte man vielleicht einen Arzt holen? Doch die meisten schienen zu wissen, dass das Krankenhaus ganz in der Nähe war und sich sicher schon bald andere Leute um die beiden Verwundeten kümmern würden. Fritz ignorierte das Starren, setzte nur wie betäubt einen Schritt vor den anderen und hoffte, nicht im nächsten Moment mitten auf dem Bürgersteig zusammenzubrechen. Obwohl, schoss es ihm kurz durch den Kopf, eine schnelle Lösung wäre das schon; die Klinik war um die Ecke, man würde sie schnell dorthin bringen können … Allerdings wäre das unfair gegenüber Micha. Wenn nicht zufällig ein eingeweihter Arzt erkannte, was ihm fehlte, würden sie ihn nur auf eine Art behandeln, die ihm nicht half, sondern ihn womöglich noch weiter schwächte.

Durchhalten!, dachte Fritz zum wiederholten Male. Wie oft hatte er dieses Wort jetzt schon im Geiste wiederholt? Es war wie zu einem Mantra geworden, hielt sich tapfer an der Oberfläche seines langsam schwindenden Bewusstseins.

Das Herz sprang ihm fast schmerzhaft gegen die Rippen, als der Haupteingang in Sicht geriet. Jetzt war es nicht mehr weit! Schneller! Er musste schneller gehen!

Die Leute auf der Straße verstummten, als er zielstrebiger zu humpeln begann. Die verglaste Flügeltür der Carl-Gustav-Carus-Klinik erschien ihm jetzt wie die goldene Pforte zum Paradies.

Da rein!

Nur noch ein kurzer Weg, dann wäre es geschafft! Fünfzig Meter … neunundvierzig Meter …!

Auf einmal jedoch gab Micha ein leises gepeinigtes Stöhnen von sich, verließ den Bürgersteig und versuchte hastig, in den Schatten des Klinikgebäudes zu gelangen. Fritz sah, warum: Über ihnen glitt die Wolkendecke beiseite. Eine Flut aus Licht schwappte heran.

Oh, Scheiße!! Warum jetzt?, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen. Es ist doch nur noch ein kurzes Stück!!

Micha schaffte es nur knapp, sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Er schleppte sich hinter die Hausecke, wo der Schatten auf ihn fiel und wo er außerdem außer Sicht der Passanten war, als die Sonne über Dresden aufging. Dort, wo er ankam, brach er einfach zusammen und blieb liegen.

Fritz wandte sich von ihm ab und setzte seinen Weg fort. Er musste das letzte Stück allein bewältigen, um Hilfe zu holen. Seine Stirn pochte, die Stufen waren eine endlose Mühsal und die durchsichtigen Türen, die sich glücklicherweise von selbst öffneten, als er auf den daneben angebrachten Metallknopf drückte, verschwammen in Graustufen vor seinen Augen. Drinnen kam man ihm sofort entgegen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erklang eine sanfte, weibliche Stimme, und zwei Arme stützten ihn. »Kommen Sie mal mit. Ist gar nicht mehr weit. Haben Sie Ihre Krankenkassenkarte dabei? Sagen Sie uns einfach, wo – …«

»Nnnein, nnnein«, unterbrach Fritz anstrengt den fürsorglichen Redefluss. »Ich muss in den Keller … in das Versteck …«

»Na, das sehe ich aber nicht so. Sie scheinen ziemlich viel Blut verloren zu haben. Wie ist das mit Ihrem Bein passiert?«

»Muss … runter!«, insistierte Fritz und wehrte sich gegen die drängenden Arme, die ihn zur Notaufnahme bugsieren wollten.

»Aber hören Sie doch, Ihr Bein muss versorgt werden! Einigen wir uns darauf, dass Sie uns sagen, wen wir für Sie holen sollen, und wir machen es, okay? Aber jetzt kommen Sie erst mal mit.«

»MIU!«, schnaufte Fritz. »Holen Sie einen von der MIU … Irgendeinen!« Er hatte keine Ahnung, ob die Frau wusste, wovon er sprach; er wusste es fast selbst nicht, so sehr purzelten seine Gedanken inzwischen durcheinander. Er hatte MIU gesagt, oder? War das gut? Wussten die, was er meinte, oder war hier keiner eingeweiht? War da was mit Geheimhaltung gewesen? Er konnte sich kaum noch gerade halten. Am Arm der Frau taumelte er wie eine schlaffe Marionette.

Einen Moment später hörte er, wie die Ärztin – oder Schwester, oder wer auch immer ihn stützte – im Vorbeigehen einem weißgekleideten Mann etwas zuflüsterte, der daraufhin nickte und sich in Bewegung setzte. Kurz wurde Fritz von Angst durchzuckt. Über den Peilsender hatte Boris berichtet, Eff Eff hätten das Klinikpersonal unterwandert, um Alea erneut zu kidnappen. Was, wenn sie jetzt, da er die MIU erwähnt hatte … und sie wussten ja, wo sie sich versteckten …

Derartige Überlegungen gaben ihm den Rest. Dunkelheit waberte über ihn herein. Er hörte noch, wie seine weibliche Stütze an seinem schlaffen Gewicht verzweifelte und energisch Hilfe herbeizitierte; dann wurde alles sehr, seeeehr verwaschen, und Gedanken wie Geräusche drifteten in eine warme und weiche Dunkelheit davon …
 

Als Fritz wieder zu sich kam, lag er in einem Bett. Sein Bein pochte; es fühlte sich an, als läge es in Watte. Eine vorsichtige, prüfende Bewegung bestätigte den Verdacht, dass es dick verbunden war. Gott sei Dank, dachte Fritz erleichtert, ich habe die ganze Behandlung verpennt! Puuuh!

Er sah sich in dem Zimmer um; rechts neben ihm stand ein weiteres Bett, jedoch leer. Von der anderen Seite kam Licht. Als Fritz den Kopf dorthin drehte, sah er im Vordergrund des Fensters Falk sitzen und ihn kritisch ansehen.

»Na, du siehst ja noch ein bisschen schlapp aus. Fühlst du dich besser?«

Fritz schluckte; seine Kehle war ganz trocken, rau wie Sandpapier. Die Kopfschmerzen waren auch nicht besser. Schaudernd bemerkte er eine Kanüle in seinem Handrücken, über welche eine klare Flüssigkeit aus einem Infusionsbeutel in seine Blutbahn tropfte. »Oh, mein Gott«, murmelte er. »Ich muss hier weg.«

»Darfst du. Ich kann dich mitnehmen, wenn der Tropf durch ist.« Falk zeigte auf den fast leeren Beutel. »Das ist eine Flüssigkeitssubstitution, weil du viel Blut verloren hast.«

»So viel war es gar nicht.« Oder doch? Fritz versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber es tat weh. Hinter seiner Stirn schienen schwere, knirschende Räder zu arbeiten. Am Körper, das erkannte er jetzt, trug er nicht mehr seine Kleidung, sondern eines dieser albernen Krankenhausnachthemden. »Wo … Wo sind meine Sachen?«

»Unten. Alles da. Wir haben schon einen Ausruh-Platz für dich vorbereitet, Bock hat schöne, flauschige Kissen aus dem Lager zusammengeklaut.« Falk lächelte ihn an, doch das Lächeln verschwand fast sofort wieder und wich erneut einer ernsten Miene. »Du musst uns erzählen, was du im Eff-Eff-Versteck gesehen hast und wie du da rausgekommen bist. Das grenzt an ein Wunder, wenn man Ingo und dem Rest des Teams glauben darf.«

»Ich …«, murmelte Fritz und massierte sich die Schläfen. »Ich, jaah, ich …« Und dann durchzuckte ihn plötzlich die Erinnerung. Ruckartig fuhr er im Bett auf. »Micha! Falk, schnell, ihr müsst Micha holen! Die Sonne wandert!«

Falk starrte ihn verblüfft an. »Micha ist auch da? Ganz sicher?«

»Ja, ja!«, versicherte Fritz und beschrieb genau, wo Micha zurückgeblieben war. Die Detailliertheit seiner Ausführungen schien Falk zu überzeugen.

»Okay, Fritz. Ich sage jetzt der Schwester bescheid, dass ich dich mit runter nehme, und bringe dich zu Bock. Dann holen wir Micha.«
 

Bock warf nur einen ganz kurzen Blick auf den Verband um Fritz’ Bein. »Dem habe ich nichts hinzuzufügen«, sagte er, »also runter mit dir vom Tisch, damit der nächste drauf kann. Guck mal – du kannst hier bleiben.« Und er wies auf den hinteren, bisher ungenutzten Teil des schmucklosen Behandlungsraumes direkt neben dem Heizkörper, wo merklich liebevoll ein Bett bereitet worden war, das der Arzt auch beim Versorgen eines anderen Patienten ständig im Auge behalten konnte. »Eine echt praktische Sache, wir hätten schon früher darauf kommen sollen, so eine kleine … Station anzulegen. Falk?«

Der Angesprochene hob Fritz vom Tisch und trug ihn die zwei Schritte zum Krankenlager.

»Jetzt holt Micha!«, drängte Fritz, als er die Decke über sich zog. »Er ist kalt, und die Sonne …!« Sich hektisch umsehend bemerkte er Lasterbalk, der gerade den Bockshof betrat und dafür, wie immer, den Kopf einziehen musste.

»Ist ja gut, Fritz, wir können net zaubern«, sagte er und wechselte einen Blick mit seinem Kollegen. »Außerdem brauchen wir was zum Drüberlegen.«

»Stimmt.« Falk wandte sich an Bock. »Hast du irgendwas da?«

»Natürlich!«, bejahte der Arzt, der bereits den Kopf in einen der wenigen großen Schränke zur rechten Wand steckte. »Nierenschalen, Abdecktücher … Ah!« Mit beiden Händen zerrte er eine leicht staubige graue Decke aus dem untersten Fach. »Die sollte zuverlässig abdunkeln.«

»Dann sind wir jetzt kurz weg. Bis gleich.« Falk nahm die Decke entgegen und verließ mit seinem Vampirkollegen im Schlepptau das Zimmer.
 

»Schnuckeliges Wetter«, kommentierte Lasterbalk, als sie auf das sonnenüberflutete Außengelände hinaustraten.

»Jaah, allerdings. Ich hoffe, es bleibt so. Dann kann uns Frais nicht angreifen.«

»Der wird nachts kommen. Wenn schön alle schlafen und nur wenige Leute Nachtdienst haben. Ich seh’s kommen.«

An der von Fritz beschriebenen Stelle warf die Sonne noch immer einen schrägen, schmalen Schlagschatten neben die Hauswand. Die beiden Männer sahen sich kurz um und vergewisserten sich, dass niemand sie beobachtete; dann huschten sie hinter das Gebäude und fanden dort Michael zusammengekauert liegen. Er war fahlblass, sein Haar blutverschmiert, und er öffnete nur matt ein Auge, als er die bekannten Stimmen hörte.

»Er sieht furchtbar aus«, murmelte Lasterbalk. »So in etwa hab ich mir des vorgestellt.«

»Alles in Ordnung, Micha, du bist in Sicherheit«, sagte ihm Falk und breitete vorsichtig die Decke über seinem Körper aus.

»Er hat keine Schuhe an«, stellte Lasterbalk fest. »Ich ahne, wo die zwei rausgekommen sind.«

Zu zweit hoben sie den Sänger mitsamt der Decke, die ihn vor der Sonne schützte, auf und trugen ihn zügig Richtung Haupteingang. Natürlich gafften die Leute. Was tragen die da? Eine Leiche? Ein totes Tier? Oder lebt das noch? Ist das ein Mensch? Einige Schaulustige folgten ihnen sogar bis zur automatischen Tür.

Falk, der Michas Oberkörper hielt und voranging, tat so, als bemerkte er die Starrerei nicht. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet, sodass er Lasterbalk dirigieren konnte, der aufpassen musste, mit Michas Beinen nirgends anzuecken. Einen Knochenbruch brauchte der arme Mann nicht auch noch.

»Vorsicht, Stufe«, brummte Falk, dann tauchten sie wieder in den Schatten des Klinikgebäudes, und mit dem selbstständigen Schließen der Tür verstummte auch das aufgeregte Tuscheln der Menschen, die draußen zurückblieben.
 

Als Falk und Lasterbalk zurückkamen, hatte Fritz gerade Bock, Asp und Klaus-Peter Schievenhöfel erzählt, was passiert war. Kaum jedoch hatten die beiden Vampire mit dem halb bewusstlosen Micha auf den Armen den Raum betreten, scheuchte der Arzt alle Gesunden augenblicklich hinaus.

»Hier, legt ihn auf den Tisch!« ordnete er sogleich an. »Ja, genau. Falk, nimm mal die Decke … Danke. Okay, Schätzchen, lass dich mal ansehen …«

Micha schien immerhin zu wissen, wo er war. Besser ging es ihm dadurch aber nicht; er wand sich auf dem Tisch und würgte trocken, seine Finger krallten sich in den Kunstlederbezug des Polsters. Energisch drehte Bock ihn wieder auf den Rücken.

»Falk, Balki, haltet ihn mal fest. Ich kann so nichts abtasten.«

Die beiden gesunden Vampire leisteten sofort Gehorsam. Falk fixierte Michas verkrampfte Arme, Lasterbalk ergriff seine Fußgelenke. Micha stöhnte.

Erst vorsichtig, dann etwas beherzter drückte Bock Finger und Handballen in den weichen Bauch des Vampirs. »Hm. Der Magen ist jedenfalls leer.«

»Er hat vor ein paar Stunden Blut getrunken«, erklärte Fritz, »und nicht wenig, wie ich finde.«

»Mag sein, aber Aushungerung ist nicht so schnell reversibel. Er hat einen stark erhöhten Energiebedarf, weil sein Körper enorme Regenerationsarbeit leisten muss. Wir sagen nicht umsonst ›Fünf Tage runter, fünf Tage rauf‹ … So lange, wie ein Vampir gehungert hat, muss er auch deutlich mehr essen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

»Oh.« Fritz verstand endlich; allerdings war diese Erkenntnis nicht gerade ermutigend. »Also wird Micha noch fünf Tage krank sein?«

»Nein, das wohl nicht«, beruhigte ihn der Arzt, »wir können die Rekonvaleszenz natürlich unterstützen, also wird es schon etwas schneller gehen. Ich kümmere mich darum.« Er nickte Falk und Lasterbalk zu. »Ihr könnt euch jetzt trollen. Aber bleibt in Bereitschaft, vielleicht brauche ich euch gleich noch mal.«

»Ruf dann einfach«, erwiderte Lasterbalk, und damit gingen die beiden hinaus.

Bock wandte sich dem Brutschrank zu, den er so sehr schätzte und dessen Digitalanzeige über der Tür 37°C anzeigte, und nahm eine Schüssel heraus, in welcher er mit einem Schneebesen zu rühren begann.

Fritz glaubte, die Schüssel wiederzuerkennen, und verzog das Gesicht. »Du willst ihn mit Buck-Up füttern?«

»Wenn du keine bessere Idee hast, ja.«

»Mit wasss?«, nuschelte Micha und blinzelte kraftlos.

Bock rührte weiter, während er wieder an den Tisch trat. »Ersatzvampirnahrung, die ich selber zusammengemischt habe. Die Vampire nennen sie Bockmist und denken, ich merke das nicht. Ich gebe zu, geschmacklich gibt es noch einiges zu verbessern, aber ich hab in den letzten Tagen intensiv daran gearbeitet. Seitdem ich Fructose – ha! – zugefügt habe, wird es ganz gut angenommen. Zumal wir jetzt kein Blut mehr haben. Keinen Tropfen.«

Micha murrte ein bisschen über diese Mitteilung, aber als Bock ihm einen Becher der körperwarmen, hellrötlichen Flüssigkeit anbot, nahm er ihn sofort und trank gierig. Fritz beobachtete, dass er deutlich mehr als die normale Tagesmenge von einem halben Liter schluckte. Erst, als er satt war, begann der Arzt, ihn genauer zu untersuchen. Am Handgelenk den Puls fühlend, stellte er fest: »Na, der galoppiert ja ordentlich. Ein gutes Zeichen.« Die gemessene Temperatur hingegen entlockte ihm nur eine schiefe Grimasse und Stirnrunzeln. »Das freut mich weniger. Da müssen wir nachhelfen. Ist es in Ordnung, wenn ich dir eine warme Infusion gebe? Das hilft schnell.«

»Och, nee«, stöhnte Micha, »bei so viel Wasser muss ich nur dauernd pissen … Ich will einfach … ’ne Wärmflasche … oder so.«

»Hmmm.« Bock überlegte. »Ich weiß was Besseres.« Er öffnete die Tür und hielt den Kopf in den Korridor. »Falk! Ich brauche dich doch noch mal!«

»Jaah?«, kam die Antwort ganz aus der Nähe.

»Bitte greif dir einen der Aufsichtsärzte. Ich brauche eine Wärmelampe!«

»Wärmelampe? Na, wenn du die angeschlossen kriegst … Gut, ich sehe mal, was wir kriegen können. Einen Moment.«

Kaum zehn Minuten später brachte ihnen der Saltatio-Mortis-Musiker tatsächlich einen Rotlichtstrahler zum Aufhängen, wie Fritz ihn bisher nur in Fernsehreportagen über Aufzuchtstationen gesehen hatte.

»Das Kabel ist ziemlich kurz«, befand Falk, als er es mit wenigen Handgriffen entheddert hatte. »Langt nicht bis zur Steckdose.«

»Im Schrank sind Verlängerungskabel!«, strahlte Bock. »Man hat uns nicht ganz im Stich gelassen, wie man sieht. So, steck’s mal rein.«

Die Lampe sprang an. Dem intensiven roten Licht ausgesetzt, kniff Micha die Augen zusammen. »Scheiße, das ist viel zu hell …«

»Das bleibt nicht lange an«, versicherte ihm der Arzt. »Mach es dir einfach so bequem wie möglich.« Dann wandte er sich wieder Fritz zu. »Na, wie fühlst du dich jetzt?«

Fritz horchte in sich hinein. »Immer noch irgendwie schwindelig. Kopfschmerzen … müde. Ist das immer noch das Vampirgift?«

»Nein, das ist der Blutverlust. Du leidest unter Volumen- und Eisenmangel. Als Micha dich gebissen hat, war er kurz vor dem Verhungern. Er hat mehr als einen halben Liter getrunken, vielleicht fast einen ganzen. Sei ihm nicht böse.«

»Bin ich nicht«, erwiderte Fritz großzügig.

»Du kriegst Eisentabletten und Vitamine zum Einnehmen. Davon haben wir immer was vorrätig. Bald geht’s dir besser.«

Fritz nickte und rang sich ein Lächeln ab. Dann wanderten ihre Blicke wieder zu Micha. Der Vampir lag ruhig; er war, sobald er die Augen zugemacht hatte, unter dem Rotlicht erschöpft eingeschlafen. »Sieh an … Jetzt pennt der einfach.«

»Er hat es wohl bitter nötig«, folgerte Bock. »Ihr habt da draußen einiges mitgemacht, wie mir scheint.«

»Du machst dir ja keine Vorstellungen.« Fritz’ Zunge war noch immer trocken und ihn überkam Übelkeit, wenn er an das zurückdachte, was ihm auf der Flucht durch das unterirdische Versteck widerfahren war. Niemals wollte er wieder etwas Derartiges erleben. Dass er und Micha überhaupt entkommen waren, erschien ihm im Nachhinein wie ein Wunder. Sie hatten so unverschämtes Glück gehabt … »Micha, wir sollten den anderen erzählen, was passiert ist. Du kannst später schlafen. Hast du gehört? He, Micha!« Der Vampir beachtete ihn nicht, sondern reckte nur ein wenig das Kinn hoch, damit das wärmende Licht seinen Hals besser bescheinen konnte. »Micha!«, versuchte Fritz es in strengerem Ton.

Bock brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Lass ihn, Fritz. Die Berichterstattung kann warten. Er soll ruhig unter der Lampe schlafen, wenn er das mag, die Wärme tut ihm gut. Ich denke, ich gehe jetzt mal zu den anderen und höre mir an, was die jüngste Besprechung ergeben hat. Du solltest auch ein bisschen schlafen.«

»Schlafen«, wiederholte Fritz irritiert. »Nach all der Aufregung soll ich wirklich schlafen?« Ruhe? Wirklich, endlich Ruhe? Das war irgendwie fast zu schön, um wahr zu sein. »Und Micha lassen wir da einfach liegen?«

»Ja, das schadet ihm nicht. Vampire haben eine Vorliebe für Wärme. Wenn sie aushungern, sinkt ihre Körpertemperatur, wir nennen das …«

Fritz unterbrach ihn murmelnd: »Kalt werden.« Ihn schauderte, als er an die eisige Berührung des Bisses zurückdachte. Kalte Finger, die seinen Kopf packten, kalte Zähne, die in seinen Hals fuhren … Alles so verdammt kalt! Kein Wunder, dass Vampire in Geschichten immer eiskalte Haut hatten. All diese sagenumwobenen Berichte beruhten auf Begegnungen mit sehr, sehr hungrigen Vampiren. Vor Hunger kalt geworden, hatten sie vermutlich sämtliche Sicherheitsgewohnheiten abgelegt, hatten bezirzt, verführt, bedroht und gejagt, um sich endlich, endlich zu nähren. Um der Kälte zu entkommen, die normalerweise ganz und gar nicht Teil ihres Körpers war …

Bock indes nickte. »Ja. Kalt werden. Dank Azathioprin habe ich herausgefunden, dass die meisten Vampire es genießen, in der prallen Sonne zu liegen. Sie empfinden die Wärme als angenehm. Viele mögen es auch, in der Sonne zu schlafen, was ja ihrem Nacht-Wach-Rhythmus entsprechen würde … aber ihre Allergie gegen UV-Strahlung hält sie davon ab. Das muss ein Fehler der Natur sein, Fritz … Das ergibt einfach keinen Sinn.« Er zuckte die Schultern; dann wandte er sich der Tür zu. »Also, wir sind um die Ecke. Wenn was ist, einfach rufen. Ruht euch schön aus, ihr zwei.« Dann ging der Arzt zusammen mit Falk leise hinaus und überließ seine Patienten der Stille.

Fritz brauchte einige Zeit, ehe er sich entspannen konnte. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem Vampir, der auf dem Behandlungstisch und halb unter der grauen Decke friedlich schlummerte. Es musste viele Tage her sein, dass Micha ohne Angst und Schmerzen und vor allem satt hatte schlafen dürfen. Mit innerlichem Seufzen musste Fritz sich eingestehen: Er hatte Micha unterschätzt. Und zwar gewaltig.

Aber nicht nur ihn. Auch sich selbst. Was er jüngst durchgestanden hatte, hätte er sich in seinem früheren feigen Agentenleben niemals zugetraut. Nur die sichersten, harmlosesten Einsätze waren seine gewesen. Eine Geiselnahme? Undenkbar! Folter? Wunden? Wilde Fluchten? Nicht mal in seinen kühnsten Alpträumen!

Und trotzdem war er wieder hier. Wieder in Sicherheit. Nicht gesund und auch nicht munter, zugegeben, aber er hatte überlebt, war aus den Fängen des Feindes geflohen und hatte – ja! – so nebenbei seinen Partner gerettet. Das war ohne Zweifel mutig gewesen. Fritz hatte Tapferkeit bewiesen. Er war kein Feigling.

Jedenfalls nicht mehr so wie früher.

Micha regte sich im Schlaf. Kurz zuckten seine Lippen, als wollte er zum Drohen die Zähne entblößen. Dann jedoch atmete er tief und entspannte sich wieder.

Fritz kuschelte sich samt seiner dicken Decke an die warme Heizung und beobachtete den Vampir, während ihm langsam ebenfalls die Augen zufielen.

Tach, ihr Säcke!

Allmählich wurde es eng im MIU-Hauptquartier unter der DINZ-Baustelle. Das grau betonierte Zimmer, das einen Tisch, Stühle und sonst nichts enthielt und als Besprechungszimmer diente, war kaum groß genug für das Einsatzteam.

Versammelt waren alle, die gerade keinen Schlaf nachholten; dies beinhaltete fast sämtliche Anwesenden von Saltatio Mortis und Subway To Sally sowie Asp. In Extremo fielen aufgrund akuten Schlafmangels komplett aus. Außerdem am Tisch saßen Dr. Jan Saltz, ein munterer Klaus-Peter Schievenhöfel und erstmals nach langer Zeit wieder ein gequält dreinschauender, sehr müde wirkender Klaus Buschfeldt. In einer Zimmerecke lag Amboss auf einer staubigen Decke und kaute selig auf einem Stück Rindsleder.

»Na gut«, sagte Lasterbalk und sah auf die Uhr. »Es ist jetzt … neun Uhr siebzehn und wir wissen gerade mal, dass wir, auf gut Deutsch, völlig am Arsch sind.«

»Übertreiben wir mal nicht«, relativierte Falk sofort. »Das Wetter soll gut bleiben, Paul Frais kann frühestens heute Abend losstürmen. Wenn wir gut sind, finden wir währenddessen raus, von wo sie angreifen. Und wenn sie das machen, haben wir Locksänger … und ein omnipotentes Lockstück.«

Buschfeldt sah sich mürrisch um. »Ich sehe keins von beidem. Für das Lockstück fehlt das Instrument, für das Instrument fehlt der Musiker. Oder wollt ihr mir was anderes erzählen?«

»Ähm … tja«, fuhr Lasterbalk achselzuckend fort. »Polly sagte ›morgen früh‹, deshalb denke ich, dass er jetzt bald hier sein müsste. Und der Rest von Faun dann ja auch bald.«

»Was ist, wenn er abgefangen wurde?«, mutmaßte Alea und suchte in den Blicken der anderen nach Beruhigung. »Ich meine, kann denn hier irgendjemand mit Sicherheit sagen, dass Paul Frais nicht weiß, wer Faun sind? Vielleicht kennt er sie vom MPS.«

»Wär schon möglich«, stimmte El Silbador zu. »So viele Spione, wie es wahrscheinlich auf jedem MPS gibt, können wir ja gar nicht aussieben.«

»Aber wenn Oliver kommt«, hielt Falk hartnäckig dagegen, »dann weiß er auch, wo wir ein Taragot herkriegen und wer das spielen kann. Das ist sein Beruf.«

»Ja, aber darf ich dich an die Fußnote erinnern? Da könnte ein wichtiger Hinweis stehen, eine Information über das Instrument oder wie es gespielt werden muss, die uns nicht entgehen darf.«

Wieder hielten alle ratlos inne. Alea seufzte theatralisch und stand auf. »Ich bin mal kurz weg.«

»Wo gehst du hin?«, fragte Lasterbalk.

»Aufs Klo. Soll ich dir was mitbringen?«

»Mach bitte die Tür zu, damit die Schlafenden net von unserem Geschwätz geweckt werden.«

»Jo.« Alea zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Sobald seine Schritte verklungen waren, raunte Simon: »Birgits Mitteilung, dass unsere Helden von Schandmaul in Landau das nicht abgeholte Hyperborea eingesammelt haben und jetzt dabei sind, das ganze Zeug zu uns nach DD zu karren, finde ich sehr erleichternd. Wollte ich nur mal erwähnt haben.«

»Da bist du net alleine, Schmittchen. Nix gegen Bockm– … ääh, Buck-Up, aber ein guter Wein ist doch was viel Besseres!«

Die Vampire lächelten einander zu. Krisensituationen schweißten zusammen, wie immer.

Als Alea zurückkam, wurde das Gespräch – nunmehr zensiert um vampirische Themen – wieder aufgenommen. Alea wandte sich zum wiederholten Male an Frau Schmitt wegen Eric; die beiden Sänger waren gut befreundet und Alea konnte nicht oft genug versichert bekommen, dass Eric vermutlich noch eine ganze Weile lang in der Gefangenschaft von Fiacail Fhola durchhalten würde – auch ohne Kaugummi.

Eine Viertelstunde später schaute Lasterbalk erneut auf die Uhr und sagte stirnrunzelnd: »Tja, Polly, jetzt könntest du aber mal vorbeischneien.«

Simon hob alarmiert den Kopf. »Es kommt wirklich jemand!«, meldete er.

Keine drei Sekunden später klopfte es an die Tür des Besprechungsraums. Die Tür war dick, und nur undeutlich klang eine vage als männlich zu erkennende Stimme herein: »Äh, hallo? MIU-Leute?«

Die Versammelten tauschten einen verwirrten Blick. »Polly? Ääh, ich meine – Olli?«, fragte Simon hoffnungsvoll.

»Na, nicht ganz. Ein anderer Konsonant vorne.« Als alle perplex schwiegen, verkündete die Stimme: »Mann, ich bin’s … Holly!«

»Holly!«, echoten alle um den Tisch. Sugar Ray, der der Tür am nächsten saß, stand auf.

»Welcher Holly ist das denn?«, fragte Elsi.

»Kann nur Holger sein, der andere Holly wohnt ja nicht in Dresden«, antwortete Silvio, ehe er die Tür aufzog, um den Letzte-Instanz-Musiker hereinzulassen.

»Ja, stimmt schon. Holly mit D.« Holly D. lächelte lässig in die Runde. »Guten Morgen! Ich stör doch nicht, oder?«

»Nein, nein!«, versicherte man ihm, und Simon bot ihm prompt einen Stuhl an.

Nur Buschfeldt musterte den Ankömmling düster. »Herr Lieberenz, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie kein Mitglied der MIU sind und deshalb eigentlich keinen Zutritt zu den Stützpunkten haben.«

»Ja, ich weiß, Herr Buschfeldt«, antwortete Holly D., wobei sein leichter Dialekt zutage trat, und lächelte weiterhin verschmitzt. »Aber darf ich Sie daran erinnern, dass wir die MIU schon oft genug mit Informationen versorgt haben, ohne vom BfV dafür bezahlt zu werden wie Sie?«

Das wirkte. Buschfeldt starrte den Dresdener an, als hätte dieser gerade ein Glas Wasser über seinem Kopf ausgekippt.

»Ja, dachte ich’s mir doch.« Holly D. grinste.

Doch Buschfeldt ließ sich nicht beirren. »Was, bitteschön, machen Sie überhaupt in Dresden?«, hakte er misstrauisch nach.

»Also, erstens wohne ich in Dresden, und zweitens haben wir am vierzehnten Oktober ein Konzert im Alten Schlachthof gespielt. Erst im Dezember geht die Tour weiter, bis dahin bin ich hier. So, und jetzt zum Thema, wieso ich euch besuchen komme. Ich hab gestern Abend mit Specki telefoniert – also, Florian, für alle, die’s nicht wissen.« Die anderen hörten aufmerksam zu. Florian Speckardt alias Specki T.D. war vor gut einem Jahr bei Letzte Instanz ausgestiegen, um als Schlagzeuger bei In Extremo Reiner Morgenroth zu ersetzen. Seinen Platz bei Letzte Instanz hatte David Pätsch eingenommen, der früher bei Subway To Sally gespielt hatte und von Simon Schmitt ersetzt worden war. Es war ein gutes Beispiel dafür, wie positiv sich unter Geheimdienstlern und befreundeten Bands der Austausch von Musikern auswirkte. »Specki hat mir was erzählt, was ihm vorher Py – also André – von InEx erzählt hat«, fuhr Holly fort. »Das Beste kommt aber noch: Der gute André hat von Coppelius eine Mitteilung bekommen, mit der er so überhaupt nichts anfangen konnte. Die mit ihrer Geheimniskrämerei, natürlich wurde wieder keiner schlau draus. Der Text war auf – Ohren spitzen! – Rumänisch. Dakorumänisch.«

»Ach!«, rief Elsi aus. »Da bin ich aber ganz Ohr!«

»Specki und Py wollten natürlich unbedingt wissen, was Coppelius geschrieben haben. Die sind ja schließlich nicht ganz ungefährlich, das Völkchen, wie wir wissen. Specki hat mich dann gefragt, ob ich nicht jemanden kenne, der jemanden kennt, ihr wisst schon. Ich hab da schließlich jemanden auftreiben können aus der Romanistik an der TU Dresden. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hab die Übersetzung bekommen und sie Specki mitgeteilt. Specki sagte, ihr wärt hier und ihr bräuchtet das für weitere Arbeiten. Das ist eigentlich alles«, meinte Holger und hob lächelnd die Schultern. »Und da ihr gerade hier seid und ich euch ja sowieso längst mal wieder treffen wollte, dachte ich, ich bringe euch das Textstück vorbei. Hoffe, es hilft euch weiter.«

»Ja, macht es!«, pflichtete El Silbador ihm ganz aufgeregt bei. »Holly, darf ich die Übersetzung mal sehen? Wenn Coppelius den Text geschickt haben, wollen die uns vielleicht was damit sagen!«

»Oh, ja, klar. Warte.« Der Letzte-Instanz-Musiker griff in die linke Tasche seiner Jeans und fischte einen zusammengefalteten Zettel hervor. »Sie haben es hier drauf gekritzelt. Typisch Linguisten, man kann’s kaum lesen. Das Rumänische steht oben und das Deutsche unten, falls das was nützt.« Er lachte und sah Elsi zu, wie dieser das Papier entfaltete, die Zunge angespannt zwischen den Lippen.

Der junge Mann überflog den Text. »Ha! Das ist er. Der gleiche Text wie in der Fußnote! Ich hab die Buchstaben so lange angestarrt, das sind hundertprozentig die gleichen! Typisch Coppelius. Sie wollen es uns auf keinen Fall zu einfach machen.« Stumm las er die Übersetzung und nickte dann gewichtig. »Jap. Interessant.«

»Was denn?«, fragte Alea ungeduldig. »Was steht denn da zum Thema Taragot?«

»Hollys Übersetzung hier sagt: Wirkt noch besser, wenn stattdessen leicht abgewandelt mit Cimpoi gespielt

»Das ist natürlich eine sinngemäße Übersetzung«, räumte Holger ein, »keine wörtliche.«

»Und wieso ist das Wort cimpoi nicht übersetzt?«

»Hab ich auch gefragt. Das ist ein Eigenname, wurde mir erklärt. Ein Musikinstrument.«

Prompt erhob sich am ganzen Tisch ein Choral bühnengerechten Stöhnens.

»Statt das Lockstück mit dem einen Instrument zu spielen, das wir nicht kennen, sollen wir es jetzt mit einem anderen Instrument spielen, das wir nicht kennen!«, seufzte Falk. »Wieso gibt es überhaupt so wichtige Lockinstrumente in Rumänien, ohne dass wir es wissen?«

»Ohne dass du es weißt«, neckte ihn Elsi und zog sich am langen Arm Boris’ Laptop heran. »Wartet, ich geb das mal ein. Also, C-I-M-P-O-I …« Er drückte die Entertaste und starrte auf den Bildschirm.

Holly D. saß noch immer mit hinter dem Nacken gekreuzten Armen am Tisch und sah entspannt aus.

»Ah! Es ist ein Sack!«, rief El Silbador aus. »Der Sack, viel genauer. Die rumänische Spielart der Sackpfeife, mehr nicht. Hätten wir vielleicht wissen sollen, aber ich kann leider kein Rumänisch.«

»Wir sollen das Stück auf einem Sack spielen?« Lasterbalk blickte kritisch drein. »Ah je, auch das noch. Glaub net, dass das geht, da sind Folgetönte drin und so.«

»Also geht es um ein Musikstück, ja?«, erkundigte Holly D. sich neugierig. »Gut, dann deuten wir doch einfach mal das ›leicht abgewandelt‹. Ihr müsst …« Er hob den Finger. »… das Lied umschreiben. Für Dudelsack. Also, das würde ich da jedenfalls reininterpretieren.«

»Guter Gedanke«, pflichtete Falk ihm bei. »Elsi, Säcke sind dein Métier. Du übernimmst das.«

»Geht klar.« El Silbador war keinesfalls überrascht. »Aber ich würde das lieber mit ’nem anderen Sackprofi zusammen machen.« Er wandte sich an den fortwährend grinsenden Gast. »Holly, die Kollegen von In Extremo schlafen alle. Ich kann Dr. Pymonte privat nicht erreichen, aber kannst du’s über Specki versuchen?«

»Ja, sicher«, nickte Holger Lieberenz. »Ich krieg’s hin, dass André sich noch vor dem Mittag mal bei dir meldet, versprochen.«

»Versprich lieber nix«, bat ihn Lasterbalk mit schiefem Grinsen. »In letzter Zeit haben uns viele Leute versprochen, sich zu melden oder irgendwann irgendwo zu sein … und dann hören wir doch nix von ihnen.«

»Verstehe. Auf wen wartet ihr denn?«

»Oliver Sa Tyr von Faun.«

»Ah.« Holly zählte Eins und Eins zusammen. »Soso. Olli … Polly …. Ahahahahaha

Die Umsitzenden lächelten nervös und trauten sich nicht ganz, in das von großem Amüsement zeugende Gelächter mit einzufallen.
 

Nachdem Holly D. nach überschwänglichen Dankesbekundungen und einer Tasse Kaffee mit besten Wünschen verabschiedet worden war, brachte Dr. Saltz aus der Oberwelt eine neue frohe Botschaft mit. Diese verbreitete sich von Ohr zu Ohr wie ein Lauffeuer im Kellerversteck, wobei sie genau einen nicht erreichte, und das war Alea.

»Euch sage ich es auch noch«, grinste Bock, als er ein paar Stunden später wieder zu Fritz und Micha ins Lazarett kam. »Wir kriegen Blut

»Hurra«, murmelte Micha, der nun wieder wach war, aber trotzdem noch müde aussah, in eher mattem Ton. »Und woher, so aus dem Nichts?«

»Anonymer Selbstausschuss einer gut besuchten Blutspendeaktion im Mensagebäude. Jaja, alle paar Monate wieder.«

»Wie, das war gar kein Witz?« Micha machte große Augen.

»Nein!«, frohlockte der Arzt und hob Michas nackten, schlaffen Arm, um ihm das Fieberthermometer in die Achselhöhle zu klemmen. »Wir kriegen es heute Nachmittag, wenn alles sortiert ist.«

»Das ist so ziemlich das Geilste, was ich in letzter Zeit gehört habe.«

»Ja, nicht wahr?« Bock summte weiter gut gelaunt vor sich hin, als er sich zu Fritz ans Bett setzte. »Und du fühlst dich besser?«

»Denke schon«, erwiderte Fritz zögernd. »Ich hatte … komische Träume. Lauter Farben … als wär mein Kopf ein Kaleidoskop … und …« Er wurde rot. »… merkwürdige Gefühle …«

»Oh ja, ganz klar Nachwirkungen des Vampirgifts«, beruhigte ihn der Arzt mit vielsagendem Grinsen.

»Ah, gut … ich wurde ja vorgewarnt.«

Bock stand noch einmal auf und kehrte dann zurück, wobei er Fritz nebst einem Glas Wasser eine Vielzahl von Tabletten auf der Hand hinhielt. »So – Paracetamol gegen die Schmerzen, ein Eisenpräparat, Vitamin C, Vitamin B12 … oh, äh, die mit der Bruchstelle bitte nicht schlucken, das ist Azathioprin, die ist für Micha.«

Fritz nahm die vier Pillen ein, während der Arzt Micha das Thermometer unter dem Arm hervorzog und großzügig bekundete: »Du hast noch unter fünfunddreißig Grad, aber dafür, dass du vor kurzem fast Zimmertemperatur hattest, ist das schon ganz gut. Mit dem Spenderblut und Heilkräutern werden wir dich schnell wieder aufpäppeln.« Damit nahm er ein kleines braunes Papiertütchen aus einem der Schränke und griff hinein, um ein paar der getrockneten Kräuter hochzuhalten. »Andorn und Gelber Enzian! Die bewährte Mischung nach Aushungerungsphasen. Regt den Appetit an und hilft, den Nahrungsrhythmus wiederherzustellen. Also, dreimal täglich einen Teelöffel mit einer Tasse kochendem Wasser übergießen, zehn Minuten ziehen lassen und den Tee trinken. Alles klar, Schätzchen?«

»Ich bin nicht blöd«, gab Micha genervt zurück; dann machte er sogleich Anstalten, aufzuspringen und sich davon zu machen.

Dr. Saltz hatte das kommen sehen und reagierte präventiv. »Nichts da, du bleibst hier, bis die Hungersymptome weg sind, hast du gehört?«, befahl er sofort und schob seinen Patienten zurück in eine vertikale Position. »Fritz, du bleibst, bis du ohne Tabletten schmerzfrei bist.«

»Ja, ja.« Fritz war das ziemlich egal. Das MIU-Versteck glich so oder so einem Kerker.

Nachdem Bock Micha erneut mit aufgewärmtem Buck-Up gefüttert hatte, ging er wieder, und augenblicklich stürmte der muntere Rest von In Extremo den Bockshof. Die drei hatten erst jetzt erfahren, dass ihr Sänger wieder wohlbehalten zum Team gestoßen war, und verliehen ihrer Erleichterung darüber geradezu ungestüm Ausdruck. Das Gewusel heiterte Micha sichtbar auf, er grinste seine Freunde breit an und erklärte, alles sei halb so wild gewesen. Anschließend verlangte er zu wissen, was es Neues gab, und so standen Basti, Boris und Marco weiterhin plaudernd um die Liege herum und erzählten abwechselnd, was sich während der Abwesenheit der beiden zugetragen hatte.

Schließlich scheuchte Bock sie alle aus dem Zimmer. »Beim Verbändewechseln müsst ihr hier nicht alle rumstehen. Bis später!« Als er sich jedoch zu Micha umdrehte, hatte der bereits wieder beide Beine über den Rand der Liege geschwungen.

»Bock, jetzt mal ehrlich: Ich werd’ so oder so abhauen, wenn du mal nicht hinguckst.«

»Ich ahne es«, knirschte der Arzt.

»Ich bin ganz vorsichtig, okay? Guck mal. Ich bewege mich … nur … in Zeitlupe.« Der Sänger platzierte beide Füße auf dem Boden und stand kerzengerade. »Alles geht. Ich trinke den Tee und bin ganz brav. Komm schon. Jetzt entlass mich!«

Bock seufzte wieder. »Hach, dann verschwinde halt. Irgendjemand wird dich schon wieder herschleppen, falls du umfällst.«

»Wenn ich mich bewege, werde ich schneller warm«, insistierte Micha. »Außerdem will ich duschen und mich rasieren. Ich seh ja aus wie’n Gangster.«

»Da muss ich dir allerdings Recht geben. Also bitte.« Bock machte eine Geste zur Tür. »Dann kann ich mich ja jetzt ganz deinem Partner widmen.«
 

Als Micha aus der Tür spaziert war, beugte Bock sich über Fritz’ Bein, um den Verband zu wechseln. Fritz warf nur einen ganz vorsichtigen, widerstrebenden Blick auf die freigelegte Wunde – doch was er sah, war überraschenderweise gar nicht so schlimm. Die Wundränder waren ordentlich vernäht und nicht einmal gerötet.

»Da staunst du«, sagte der Arzt, während er frische Wundauflagen mit einer klaren, gelblichen Salbe bekleckste. »Micha hat dich gut erstversorgt … was er sonst eigentlich nicht macht. Die meisten Vampire fühlen sich zu blutenden Wunden natürlich hingezogen und haben alles andere als ein Problem damit, sie auszulecken – eigentlich haben damit viel eher die betroffenen Menschen ein Problem –, aber Micha lässt sich nur höchst ungern auf seine Hämatophilie reduzieren. Bei seinen Freunden würde er’s wohl machen, aber ganz bestimmt nicht bei jemand anderem.«

»Er hat es gemacht, weil mein Bein so stark geblutet hat«, berichtete Fritz nachdenklich. »Vorher habe ich mich von ihm beißen lassen … Das war mir mindestens genauso zuwider wie ihm das Lecken, und das weiß er. Ich habe ihn gerettet … dann hat er mich gerettet, und jetzt … sind wir im Prinzip quitt.«

Bock zuckte die Schultern. »Klingt nach dem Best Case Scenario. So, ich bin auch schon fertig.« Gerade als er damit begann, seine Sachen wieder in den Schränken unterzubringen, klopfte jemand zögerlich an die geschlossene Tür. »Ja, bitte? Die Praxis hat wieder geöffnet!«

»Wir sind’s nur«, sagte Alea und trat ein, wobei er mehr gedrängt und geschoben wurde, und zwar von Lasterbalk und Falk. »Also, wen’s interessiert: Oliver ist jetzt da. Vor etwa fünf Minuten ziemlich genervt eingetroffen.«

»Oh, ich muss ihn begrüßen!«, frohlockte der Arzt, und seine Miene erhellte sich sichtlich.

»Ähm – jetzt net, Bock«, wehrte Lasterbalk ihn zwar lächelnd, aber mit Nachdruck in der Stimme ab. »Das hat ja Zeit bis nachher, oder? Eigentlich wollten wir, dass du mal mit Alea redest.«

»Jaah, genau«, pflichtete ihm Falk bei.

Alea wandte sich unbehaglich nach den beiden um. »Ich weiß wirklich nicht, was mir ein Gespräch mit Bock bringen soll. Ich ändere meine Meinung nicht, ganz bestimmt nicht.«

»Abwarten«, hielt Lasterbalk dagegen. »Sprich dich einfach genauso schön aus wie bei mir gerade, lasst euch Zeit, und so …«

Fritz war klar, dass es hier in Wirklichkeit nur sehr marginal um ein Problem Aleas ging; tatsächlich wollten die Vampire ihn nur außer Sicht haben, um etwas vermutlich sehr Vampirisches zu tun. Dabei musste es um mehr als das Trinken von Buck-Up gehen, denn gerade erst hatte Flex grinsend erzählt, dass Alea die rötliche Suppe erfolgreich als Bio-Erdbeer-Shake verkauft worden war; demnach konnten die Vampire das Getränk einnehmen, ohne sich vor ihm verstecken zu müssen. Was also hatten sie vor?

Bock hatte den Faden jedenfalls ergriffen. »Ich hab Zeit für dich, Mäuschen. Und Fritz langweilt sich auch zu Tode. Worum geht es denn?«

Fritz befürchtete, dass Alea in seiner Anwesenheit vielleicht eine Antwort verweigern würde, doch der Sänger schloss ihn offenbar in den Kreis vertrauenswürdiger Personen mit ein, denn er sagte unumwunden: »Ich hab einfach das blöde Gefühl … dass mich ein Vampir gebissen hat.« Forschend suchte er den Blick des Arztes.

Bock lächelte ihn breit an. »Du hast keine Löcher, reicht dir das nicht?«

»Ist mir klar. Ich bin mir aber absolut sicher, dass ein Vampir mein Blut getrunken hat. Vielleicht sogar mehrere«, hielt Alea an seiner Behauptung fest. »Ich hab’s Elsi schon erzählt, und der hat auch versucht, es mir auszureden. Es ist aber ganz egal, wie sehr ich mir einrede, dass es keinen Unterschied macht. Paul Frais hat auf jeden Fall mein Blut getrunken, und wer weiß, wer noch … und wenn das so ist, dann … kann ich keine Vampire mehr töten. Weil ich … sozusagen zu einem Teil von ihnen geworden bin. Als wäre ein Teil von mir jetzt selber … untot. Ja, das klingt doof, ich weiß, ist aber so. Ende der Geschichte.« Er machte eine Geste, die diese finalen Worte unterstrich.

Fasziniert beobachtete Fritz die Mienen der anderen; sie sahen ernsthaft besorgt aus, Bock jetzt ebenfalls.

»Seitdem«, fuhr Alea unsicher fort, »frag ich mich dauernd, ob … Vampire nicht doch so was wie eine Seele haben.«

Sofort sagten Falk und Lasterbalk unisono: »Nein!«

»Und warum nicht?«

»Weil es Monster sind«, antwortete Falk behutsam. »Sprich darüber mit Bock und Fritz. Wir beratschlagen uns mit Polly und … räumen ein bisschen auf.«

»Lasst euch Zeit«, betonte Lasterbalk noch einmal und schloss dann hinter sich und Falk leise die Tür zum Bockshof.

Alea schielte ihnen nach, und seine Körperhaltung verriet Widerwillen. »Keine Ahnung, was das soll«, murrte er.

Bock bedeutete ihm, sich auf den Tisch zu setzen. »Alea, Schätzchen. Du weißt, dass dir die psychotrope Wirkung des Ketamins vielleicht Gedanken in den Kopf gesetzt hat, die du jetzt für, naja, wirkliche Erinnerungen hältst. Vielleicht hast du etwas gehört oder gesehen, das gar nicht real war.«

»Ich weiß«, seufzte Alea, mit hängenden Schultern auf dem Tisch sitzend. »Diese Albträume waren schlimm, die werde ich wohl nie vergessen. Und ich hab was ziemlich Beunruhigendes geträumt, das mir irgendwie keine Ruhe lässt.«

»Erzähl«, forderte Bock ihn auf. Offensichtlich hatte auch er kein gutes Gefühl. Hatte Alea womöglich doch bis in die Ketamin-Narkose hinein irgendetwas gemerkt? Es gab schließlich einen Grund dafür, warum man auch in der Gegenwart Bewusstloser darauf achten sollte, was man sagte …

»Ich hab geträumt«, begann Alea und sah beiseite, »dass … naja, dass … Falk und Lasterbalk Vampire wären … und Buschfeldt hätte mich dazu aufgefordert, beide hinzurichten.«

»Oh. Das … nun.«

»Ich sollte sie nicht deshalb töten, weil sie was Böses getan hätten«, fuhr Alea gefasst fort, »sondern einfach nur, weil sie Vampire waren. Und zwar schon die ganze Zeit, ohne dass ich das wusste. Diese beiden Typen, mit denen ich seit über zehn Jahren Musik mache und die mir noch nie ein Haar gekrümmt haben, sollten auf einmal blutrünstige Mörder sein. Das hat mich ziemlich geplättet.« Alea befeuchtete sich die trockenen Lippen, ohne aufzusehen. »Der Chef sagte, ich soll mir aussuchen, mit wem ich anfange. Und ich … guck mir die zwei an … und sie gucken zurück … ganz bestürzt …« Er wurde leiser. »… und mir war völlig klar, dass ich das nicht konnte. Ich weiß nicht, es … geht einfach nicht mehr.«

Bock beobachtete ihn aufmerksam. »Und jetzt willst du keine Vampire mehr töten.«

»Mann, Bock! Jaah, haltet mich doch für ’nen Waschlappen, aber man kann doch niemanden für das töten, was er ist!«, stöhnte Alea gequält.

Oder was er isst!, fügte Fritz im Geiste zynisch hinzu. Er fand, dass der Sänger maßlos übertrieb. Würde sich jemand endlich die Mühe machen, ihm den Unterschied zwischen kultiviertem Vampir und Bestie zu erklären, müsste Alea jetzt nicht derart an sich selbst verzweifeln. Der ganze Aufwand der Geheimhaltung … nur, weil alle befürchteten, Alea würde, wenn er die Wahrheit kannte, überhaupt keine Vampire mehr töten wollen. Dabei passierte genau das jetzt offenbar von ganz allein! Was also sollte der Schwachsinn noch?

»Hm.« Bock verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. »Nein, eigentlich kann man das nicht.«

»Ich kann’s einfach nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, ein lebendes Herz anzuhalten. Eins, das genauso schlagen will wie meins.«

»Alea …«, begann Bock, doch der Sänger unterbrach ihn.

»Nein, ich will gar nichts mehr davon hören! Ich weiß, dass ihr denkt, dass ich emotional und weinerlich bin und was nicht noch alles. Aber ihr wisst nicht, wie es ist, nur mit Gedanken ein schlagendes Herz zu zerdrücken. Für mich ist das Thema durch.« Alea machte dicht – und zeigte das auch, indem er eine abwehrende Haltung einnahm und sich abwandte. Überhaupt hatte er, wie Fritz fand, eine starke Körpersprache; es reichte, ihn gut zu beobachten, um ungefähr zu wissen, was ihm gerade durch den Kopf ging.

Erst nach mehreren Minuten des Schweigens wandte Alea sich mit dem Bemühen um bessere Stimmung an Fritz. »Lass uns mal über das reden, was du erlebt hast. Ich hab die Geschichte bisher nur in Fetzen aus dritter Hand gehört. Magst du sie mir noch mal erzählen?«

»Ich …? Oh, ähm – ja!«, antwortete Fritz, etwas überrumpelt, aber tapfer lächelnd. Er stand nun vor der großen Herausforderung, eine vampirfreie Version seiner Erlebnisse zu entwerfen, die sich mit dem, was Alea schon aus den Berichten der anderen wusste, möglichst deckte. Zum Glück würde er dabei auf den Stille-Post-Effekt verweisen oder behaupten können, der Stress habe sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt. Die gut verheilende Bisswunde an seinem Hals war schließlich auch für Alea sichtbar, also würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um sie glaubhaft zu erklären. Auf das Beste hoffend, machte er sich ans Werk – und nicht nur Alea, sondern auch Bock lauschte mit nachsichtigem Lächeln.
 

Asp hatte für die gierige Hektik der anderen Vampire kaum mehr als ein spöttisches Stirnrunzeln übrig. Ihm bereitete das von Fiacail Fhola verfälschte Wikingerblut bisher keinerlei Probleme. Nicht nur, dass es seinen Blutdurst befriedigte und ihn auf emotionaler Ebene gänzlich in Ruhe ließ; man musste dem roten Trank sogar einräumen, dass er vorzüglich schmeckte. Darüber, worauf dieser Umstand zurückzuführen war, konnte Asp nur mutmaßen: gute Verarbeitung, feinfühlige Würzung und besonders erlesenes Blut rangierten ganz oben auf der Liste der Denkbarkeiten. Vielleicht lag es auch an den Hormonen, wer konnte das schon sagen? Jedenfalls war der Sänger froh, weder Buck-Up trinken noch so ungeniert hungrig auf Spenderblut warten zu müssen. Alea, so schien es, war wieder einmal von der Bildfläche geschafft worden, damit nun endlich wieder reines, vollwertiges Blut auf den Speiseplan durfte.

»Es ist ja so frisch!«, schnurrte Falk, als er, Lasterbalk und Sugar Ray sich in der primitiven Küche, die ja ohnehin nur aus einem Paar Kochplatten, einem Wasseranschluss und einem Tischchen bestand, daran gemacht hatten, einige der erst jüngst versiegelten 500-Milliliter-Beutel wieder zu öffnen und das duftende, dunkelrote Blut in einen großen Suppentopf zu schütten. Den größten Teil des Ausschusses hatte die Blutbank der Klinik freundlicherweise in ihren Kühlfächern untergebracht, da das MIU-Versteck diese Möglichkeit nicht bot.

Simon rührte mit einem Schneebesen in der roten Flüssigkeit, welche sich auf der Kochplatte nur langsam erwärmte, und sah ungemein zufrieden aus. Micha stand an der Wand, die Hände in den Taschen, und bemühte sich offensichtlich nach Kräften, nicht zu sabbern – wenig erfolgreich. Seinetwegen hatten sie mehr Blut in den Topf geschüttet, als fünf Vampire eigentlich sättigen würde.

Als Sebastian, Marco und Ingo – ein Teil des Teams, das sich kurz zuvor mit Oliver Sa Tyr und den rumänischen Instrumenten beschäftigt hatte – neugierig hinzukamen, fand ein fliegender Wechsel stand.

»Ihr übernehmt? Gut, dann tauschen wir jetzt auch schnell ein Wörtchen mit Polly, damit’s net komisch aussieht«, ordnete Lasterbalk an. »Alea ist noch im Bockshof und bleibt da hoffentlich noch ’n bisschen. Also – …«

»Wieso macht ihr dit Blut warm?«, fragte Basti argwöhnisch. »Schmeckt dit dann besser?«

»Ja, das ist ja wohl logisch.«

»Suppe schmeckt warm ja auch besser«, erinnerte Micha seinen alten Freund nachsichtig.

»Ja, hast ja Recht«, lenkte Basti sofort ein. »Lass mich ma rühren, Schmittchen.«

Simon reichte ihm den Schneebesen und ging dann zu Falk und Lasterbalk, die wiederum Micha mit einem unsicheren Blick bedachten, doch der ältere Vampir machte keine Anstalten, sie zu begleiten. »Also, wir sind dann weg. Bis später.«

Mit diesen Worten überließen die drei den Menschen das Feld und gingen einer nach dem anderen hinaus. Amüsiert beobachtete nur noch Micha, wie die drei mit einer Mischung aus Faszination und Unsicherheit die warm werdende Flüssigkeit in Bewegung hielten.

»Sie vertragen es besser, wenn es warm ist«, erklärte Ingo in die aufkommende Stille hinein. »Auf Körpertemperatur ist es am bekömmlichsten. Viel wärmer darf es auch nicht werden, sonst flocken die Eiweiße aus. Lange, du musst ständig rühren, sonst gerinnt’s! Das ist Frischblut, da sind keine Dispergatoren oder EDTA drin wie in Hyperborea. Auf den Stabilisator haben sie auch verzichtet.«

Basti und Marco tauschten einen Blick. »Irgendwie schon komisch … Wir rühren in einem Topf auf dem Herd, der voller Blut ist …«

»Jo … ’n bisschen eklig is dit schon, wa?«

»Aber wirklich.«

Hampf widersprach sofort: »Blut ist nicht eklig. Man sagt nicht eklig zu was, das ’n anderer isst.« Auf die verlegenen Blicke hin fügte er leiser hinzu: »Sagt doch so was nicht, Mann. Das tut den Vampiren weh. Die Schmähungen vom Boss haben schon genug Wunden gerissen, findet ihr nicht?«

Basti seufzte und sah entschuldigend zu seinem Sänger. »Der olle Streithammel hat ma wieder Recht.«

Micha schaute nur belustigt drein; ihm war herzlich egal, was andere von seinen Essgewohnheiten hielten. Ungeniert leckte er sich die Lippen. »Ist das jetzt bald mal fertig?«

»Micha, dit sind drei Liter. Wie schnell soll’n dit warm werden? Jeh zu Polly und hör dir dit Jelaber über die Säcke an.«

»Das interessiert mich überhaupt nicht. Hat mich noch nie interessiert. Ich hab Hunger. Und sowieso müssen die mit dem Umschreiben auf André warten, weil der Saltatio-Junior ja nichts alleine kann.« Oha, Micha war offenbar doch angefressen, wenn er an seinen MIU-Kollegen herumätzte. Hunger konnte Menschen und Vampire gleichermaßen unausstehlich werden lassen.

»Sei nicht so biestig, Rhein«, verwies Ingo ihn mürrisch.

»Sonst was?«

»Sonst kriegst du nüscht zu essen.« Hampf wollte sich nicht streiten, das war offensichtlich.

Doch Micha ließ nicht locker: »Sonnenscheinchen würde bestimmt nett gucken, wenn er mich hungrig sieht.«

»Boah! Prima, Schachmatt. Jetzt halt die Klappe!« Mit einem ärgerlichen Blick machte Ingo Michas Versuch, ihn zu provozieren, erneut zunichte.

Als Micha merkte, dass kein neuer Disput ihn von seinem Hunger ablenken würde, trat er endlich stoisch den Rückzug an. »Sagt mir bescheid, wenn’s warm ist«, murrte er und ging.

... Und dann kam Polly

Am Abend nach Fritz’ und Michas Rückkehr ins HQ harrten Menschen und Vampire in zitternder Anspannung eines erwarteten Angriffs auf das Carl-Gustav-Carus-Klinikum. Frau Schmitts Vorschlag, das Krankenhaus zu verlassen, um es zu schützen, war auf begründete Ablehnung gestoßen: »Eff Eff werden den Laden sowieso angreifen, und wenn wir nicht da sind, wird es für die Leute noch viel schlimmer enden!«

Als die Dunkelheit sich über Dresden senkte, teilten Falk, Lasterbalk, Simon, Asp und Sugar Ray einander in Wachschichten ein, um feindliche Vampire rechtzeitig zu erspähen. Wieder begründeten sie diese Fähigkeit für Alea mithilfe der ›besonderen Kontaktlinsen‹, die sie angeblich einsetzten und nicht etwa herausnahmen, um nachtsichtig zu sein. Obgleich der Vexecutor sich nach wie vor weigerte, seine tödliche Fähigkeit zur Anwendung zu bringen, trat er doch zu später Stunde noch hinaus in die Herbstkälte, um mit den Wächtern ein Wort zu wechseln und selbst mit seinen empfindlichen Sinnen nach Vampiren zu spüren.

Micha fiel bei der Wache aus; er musste im Bockshof bleiben. Sein Körper kämpfte sich hartnäckig durch die Regenerationsphase, um seine alte Stärke wiederherzustellen. Angeregt durch die Kräuter bekam er alle paar Stunden heftigen Blutdurst, den Bock ihn stets sofort zu stillen animierte. Unproblematisch war das nicht: Nicht nur der Vorrat an Spenderblut, sondern auch der an Buck-Up – das ja zum Teil aus Blutprodukten bestand – war begrenzt.

»Es klingt gemein«, sagte Simon, als Fritz ihn spät abends danach fragte, »aber Micha ist ein echter Störfaktor im Diätplan. Er muss verdammt viel Blut trinken, um sich von der Aushungerung zu erholen, und kann kein FDH durchhalten wie wir.«

»FDH?«, wiederholte Fritz fragend.

»Friss die Hälfte. Wir müssen vorübergehend weniger Blut trinken, als wir eigentlich brauchen.«

»Und das ist nicht problematisch?«

»Blöde Frage, natürlich ist das problematisch. Das ist, als würdest du zu jeder Mahlzeit zu wenig essen, dann wird dein Energiebedarf auch nicht gedeckt. Eine Zeitlang kann man das ganz gut verkraften, aber dann wird man langsam immer schwächer und verliert Gewicht. Wir nennen das untertourig laufen.« Daraufhin musste Fritz lachen; Simon lachte allerdings nicht mit. »Das ist wie Aushungern in langsam, also überhaupt nicht witzig. Vampire halten einfach nicht so lange durch, wir sind wie Vögel, die bei zu wenig Futter gleich von der Stange fallen. Schneller Stoffwechsel, miese Hungertoleranz. Vor allem muss man, um wieder gesund zu werden, viel, viel mehr Blut trinken als normal. Du siehst ja jetzt bei Micha, was der wegsaufen muss. Also, das wird scheiße, Fritz … voll scheiße.«
 

Fritz langweilte sich in seinem Bett im Bockshof. Nur am Rande bekam er mit, wann die Vampire ihre Schichten wechselten. Schlafen konnte er bei all der Unruhe, die in der Luft hing, sowieso nicht; er stellte sich vor, wie der Mond am schwarzen Himmel schwebte und sein kaltes Licht auf Falk oder Asp warf, die sich versteckt auf dem Klinikgelände postiert hatten und mit ihren hell leuchtenden Augen aufmerksam in die Nacht spähten.

Schließlich, als Bock gerade nicht zugegen war, griff Fritz nach dem Heizkörper neben seinem Bett, um sich daran hochzuziehen. Es ging sogar. Dass er einigermaßen schmerzfrei auftreten konnte, lag vermutlich am Analgetikum, doch das musste reichen. Er konnte nicht untätig auf seinem Krankenlager warten, bis Paul Frais mit einem Heer von Blutsaugern das ungeliebte, aber notwendige Refugium überrannte.

Fritz hinkte in den Korridor und fand diesen leer und beachtlich still vor. Vorsichtig spähte er in verschiedene Zimmer, unter anderem in die Küche, wo er auch niemanden antraf, bis er schließlich den großen, kahlen Raum betrat, welcher als Besprechungszimmer diente. Dort saß ein schmaler Mann mit dünnem Bart und glatten, blonden Haaren, die eher nachlässig zu einem Pferdeschwanz vereint waren, über das so vielgepriesene Lockstück gebeugt und studierte es in aller Einsamkeit aufmerksam – vermutlich nicht zum ersten Mal. Da Fritz’ unbeholfenes Auftreten alles andere als leise war, sah er sofort auf und widmete Fritz einen fragenden Blick. Er hatte auffällig helle Augen, die in diesem Moment aber nicht allzu erfreut aussahen. »Ja?«

»Oh, äh«, begann Fritz, der völlig vergessen hatte, dass die MIU immer noch Besuch hatte. »Du musst Pol– … äh, Olli sein.«

»Oliver Pade. Dann sind Sie wahrscheinlich Friedrich Wunderbaum, der Neue. Man hört, dass Sie seit Monatsanfang schon mehr erlebt haben als mancher Kollege während seiner ganzen Laufbahn.« Der Musiker sprach sehr deutlich, und endlich schaute er Fritz aufmerksam an.

»Ach, bisher bin ich eigentlich allen nur ein Klotz am Bein«, lachte Fritz verlegen. »Äh, naja. Wie geht es denn voran mit dem … hmm?« Fritz nickte vage zu dem Papier hin, das vor dem Blonden lag.

»Oh, ja«, antwortete Oliver, »das ist … nicht so einfach. Sackpfeifen sind nicht mein Spezialgebiet, ich verstehe mich besser auf Saiteninstrumente.« Kurz huschte so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln über sein Gesicht. »Wenn in den nächsten Stunden wirklich Vampire angreifen, muss ich mir wohl schnell was einfallen lassen. Der Rest von Faun kommt wahrscheinlich morgen, frühestens.«

Diese Mitteilung fand Fritz nicht gerade trostreich; das hätte Polly sich sparen können, fand er. »Kannst du … kannst du die Vampire denn auch alleine besingen? Zur Not?«

Oliver nickte etwas widerstrebend. »Ja, schon. Mit diesem Lockstück hier zwar nicht –« Er tippte mit dem Finger auf das vergilbte Papier. »– aber mit einem, das ich kenne und spielen kann, ja. Allerdings … Sie haben wahrscheinlich von dem Abnutzungseffekt gehört. Gegen einen Vampir, der so alt ist wie Paul Frais, kann ich nicht viel ausrichten. Deshalb hoffen wir ja, dass dieses Lockstück hier älter ist als er.«

»Und ihn hypnotisiert.«

»Ja. Das ist der Plan.«

»Hast du Erfahrungen mit Vampiren, die so alt sind?«

Oliver zögerte. »Naja … Man weiß oft nicht, wie alt Vampire sind, wenn man ihr Geburtsdatum nicht kennt. Anhand der erlernten Fähigkeiten lässt sich das Alter nur sehr grob ableiten. Bei Frais wissen wir, dass er alle Fähigkeiten hat, die wir bisher kennen: Wände Hochgehen. Abkömmlinge Erschaffen. Der Schrei. Eine gewisse Pfählungsresistenz. Zähigkeit gegenüber den Einwirkungen eines Vexecutors. Alea ist sehr effizient, wenn man seine Erfolgsquote mit der früherer Vexecutors vergleicht, aber Frais lebt immer noch. Außerdem hat er eine simple Methode entdeckt, Alea vom Töten abzuhalten.«

Fritz dachte: Wenn Frais wüsste, dass es jetzt gar nicht mehr nötig ist, Alea die Stirn zu bedecken … »Aber – aber Frais ist im Moment relativ unschädlich, glaube ich … Das Lied, mit dem er Menschen durch Schallwellen tötet, ist der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich, und über das Wikingerblut wissen alle Geheimdienst-Vampire bescheid. Für Vampirgräuel scheint er jetzt auch keine Zeit zu haben, uns wurden seit Tagen keine gemeldet.«

»Hoffen wir, dass das so bleibt«, sagte Oliver bedeutsam. Dann, ganz unvermittelt, fragte er offen: »Herr Wunderbaum, glauben Sie an Zauber?«

Fritz schluckte. »Äh – ich? Also … nein, eigentlich nicht. Du?« Er kam sich reichlich dumm dabei vor, dem Locksänger immer wieder das Du anzubieten, während dieser partout nicht darauf einging.

»Ich weiß es oft nicht. Wissen Sie, ich bin Mediävist, ich habe viel über das gelesen, was die Leute früher für selbstverständlich hielten. Heute sehe ich, was meine Musik mit Vampiren macht. Ich weiß nicht, ob ich das mit Frequenzen erklären kann. Was ganz bestimmt niemand erklären kann, sind die Dinge, die Vampire tun können: Sich verjüngen. Wiedergeboren werden. Kein anderes Wesen der Welt kann sein Zellwachstum derart beeinflussen. Und wenn man das begreift … also, dass man so vieles, das es auf der Erde gibt, gar nicht erklären kann … dann kann man irgendwie nicht anders, als die ganze Welt und das Phänomen des Lebens für ein einziges großes Wunder zu halten. Vielleicht ist Leben ja dasselbe wie Magie … Ich frage mich das schon lange.«
 

»So, du bist also Polly begegnet«, schmunzelte Lasterbalk, als Fritz ihn wachend am Haupteingang des Krankenhauses mit Sicht auf die dunkle, stille Fetscherstraße vorfand. »Toller Typ, hm?«

»Er hat ’nen Dachschaden«, murmelte Fritz.

»Oh nein, des kannst net sagen. Polly ist ein kluger Mann. Sehr korrekt und vernünftig. Na gut, auch ziemlich ernst, manchmal ein bisschen kapriziös. Polly eben. Als Locksänger hat er uns aber noch nie enttäuscht.«

»Er weigert sich hartnäckig, mich zu duzen. Ich bin der Ältere, also hab ich’s ihm ein paar Mal angeboten, aber er nimmt es nicht an.«

»Er beklagt sich aber auch net, wenn du ihn duzt.«

»Nein, das stimmt.«

Lasterbalk lächelte ihn an. »Polly ist wertvoll für uns, Fritz, fast so wertvoll wie Alea. Also solltest du ihn net ärgern. Vor allem solltest du ihn niemals Polly nennen, wenn er dabei ist.«

»Woher eigentlich dieser blöde Spitzname? Irgendwie kriegt bei euch jeder einen verpasst, oder?«

»Lässt sich net vermeiden. Damals, als wir ihn kennen lernten, wurde er uns vorgestellt als Oliver Sa Tyr, aber die Dame sprach so undeutlich, dass wir ›Polly, der Satyr‹ verstanden haben. Vielleicht wollte sie seinen Nachnamen zuerst nennen, weiß net. Naja, seitdem ist er eben Polly, der Satyr.«

Fritz seufzte. »Tja. Ich bin jedenfalls froh, dass er nicht genauso dumm gehalten werden muss wie Alea.«

»Hmmm.« Lasterbalk sah beiseite. Seine Hände hatte er über der Brust gekreuzt und unter die Achseln geklemmt, als würde er frieren, aber er zitterte nicht in der kalten Luft. »Also, was Alea betrifft … Der hat ja nun leider Verdacht geschöpft. Aber auch wenn er eines Tages rauskriegt, was wir sind, darf er nie, nie erfahren, was wir gemacht haben – nämlich, dass wir ihn wie ’ne Kuh gemolken und sein Blut quasi verkauft haben. Am besten erfährt das überhaupt niemand.“

»Aber … Weiß denn irgendjemand in Aleas Umfeld, dass ihr Vampire seid? Weiß seine Frau das?«

Lasterbalk wirkte konsterniert. »Seine Frau? Um Gottes Willen! Na hör mal, die Zeit, für die eine Frau ein Geheimnis bewahren kann, liegt bei durchschnittlich achtundvierzig Stunden! Wir sind doch net lebensmüde!«

Fritz musste laut lachen. Er kannte ja Lasterbalks Frau nicht, falls der denn verheiratet war, aber er kannte Kitty, seine eigene, und die konnte schweigen wie ein Grab. Bevor er sie kennen gelernt hatte, war auch Fritz wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Frauen als Geheimnishüter nichts taugten. Viele Männer schienen davon auszugehen. Nun wusste er es besser und war dankbar dafür.
 

Die Nacht verlief völlig ereignislos. Weder griffen feindliche Vampire an noch verirrte sich ein streunender Hund auf das Gelände. Das einzige Ergebnis war eine allgemeine Müdigkeit am nächsten Tagesanbruch, den alle – vor allem die übernächtigten Vampire – erleichtert zum Anlass nahmen, in sorglosen Schlaf zu fallen. Frais musste nachts angreifen, es gab für ihn keine andere Möglichkeit. Offensichtlich war er mit der Organisation seines Schlages noch nicht zurande gekommen, und die MIU gewann einen weiteren Tag für die Ausarbeitung des Abwehrplans.

Fritz ging regelmäßig kleinere Strecken auf und ab, um sein heilendes Bein wieder an normale Belastung zu gewöhnen. Wenn es zur Schlacht kam, wollte er niemandem unnötig zur Last fallen.

Auch Micha war einsichtig ob des dräuenden Unheils und trank artig dreimal am Tag seinen Andorn-Enzian-Tee, obwohl er ihn überhaupt nicht mochte. »Bitter wie Arsch«, beklagte er sich.

Schievenhöfel schenkte ihm schließlich das letzte der begehrten Nussplätzchen, die seine Frau gebacken hatte, was Bock mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte: »Micha, du sollst keine unverdaulichen Kekse essen, sondern Blut trinken! Wie oft denn noch?«

»Bock, in meinem Magen ist rund um die Uhr so viel Blut, dass ein paar Kekskrümel da gar nicht auffallen, und jetzt lass mich.«

Fritz hätte nie gedacht, dass ein Team geschulter Geheimdienstler sich innerhalb einer Krisenzeit so intensiv mit dem Thema Essen auseinandersetzen würde. Doch damit ging es weiter, als sich am frühen Vormittag abzeichnete, dass nicht nur der vierköpfige Rest von Faun, sondern auch André Strugala alias Dr. Pymonte sich dem ohnehin überbevölkerten Stützpunkt zugesellen und außerdem die Sackpfeifen In Extremos mitbringen würde.

»Wir sollten die paar Stunden nutzen, solange wir noch was zu lachen haben«, fand Falk und schlug deshalb vor: »Werter Lasterbalk, du darfst uns allen was kochen, sozusagen als allgemeinen Willkommensgruß.«

»Ha! Endlich!«, frohlockte der Genannte. »Mal was anderes als diese eintönige Patientenküche wird uns ganz sicher net schaden!«

Fritz fand leidenschaftlich gern kochende Vampire mehr als seltsam. Während er selbst mit dem Essen wohl erst in Berührung kommen würde, wenn es auf den Tisch kam – Bock hatte ihn zwar von der Bettruhe entbunden, ihm jedoch strenges Nichtstun verordnet –, beteiligten andere sich aktiv am Entstehungsprozess; so etwa bot Alea sich zum Gemüseschneiden an.

»Kann ich dir ein scharfes Messer geben? Sollte ich das wohl riskieren?«, fragte Lasterbalk eher sich selbst als Alea, der mit schiefgelegtem Kopf den skeptischen Blick erwiderte.

»Klaaar. Mit Klingen kann ich umgehen, weißt du doch.«

Fritz, untätig in der Küche sitzend, lauschte abwechselnd Aleas schweigendem Geschnippel und El Silbador, Silke Volland und Oliver Sa Tyr bei ihrem leisen, ernsten Gespräch über rumänische, speziell transsylvanische Volksmusik. Das Besingen von Vampiren schien eine jahrhundertelange Tradition zu haben. Oftmals hatten die Texte – wie etwa Ai Vis Lo Lop – gar keinen thematischen Bezug zu Vampiren; die Worte, so erklärte Oliver, seien nur das Medium, um die Kraft der Sängerstimme zu übertragen, und hätten darüber hinaus nur die Funktion, das Lockstück als harmloses Volkslied zu tarnen. Eine entsprechend wirksame Instrumentierung konnte Gesang auch völlig überflüssig machen.

Irgendwann kam gut gelaunt Simon, der draußen Ausschau gehalten hatte, hinzu und wurde von Lasterbalk mit einem bedeutsamen »Da ist noch ein Messer, Schmittchen« zum Mithelfen aufgefordert. Kaum hatten Alea und der junge Vampir eine Zeitlang nebeneinander Zucchini und Paprika geschnitten, als Alea auch schon leise fluchend das Messer beiseite legte und seinen Daumen in den Mund steckte; sowie er ihn wieder hervorzog und kritisch beäugte, quoll rasch ein dunkelroter Tropfen aus dem Schnitt in der Kuppe.

Es klickte leise.

»Hä, was war das?«, fragte Alea verblüfft und sah sich irritiert um.

»Nischtsch«, nuschelte Simon, der sich die Hand auf den Mund presste und krampfhaft seine Zähne verbarg.

»Ähm … Alles okay?«, wollte der Sänger wissen und beugte sich noch näher zu Simon.

»Ja!«, beeilte dieser sich nickend zu bestätigen. »Hab mir nur auf die Lippe gebischen.«

»Hm.« Alea musterte ihn kurzzeitig verwirrt, lenkte dann jedoch ein: »Na, wenn du meinst.« Erneut leckte er das Blut ab – wobei Simon ihn ganz betroffen anstarrte –, doch es half nichts, sofort kam neues. »Ach, Mist.«

Alarmiert blickte nun auch Fritz hoch zu Lasterbalk, der ihm aufgrund der Enge sehr nahe war, und sah, wie sich dieser rasch vom Herd abwandte und hinter sich blickte, wobei seine Nasenflügel sich kaum merklich blähten. Vexecutor-Blut, dachte Fritz. Das Zeug muss duften wie heiße Schokolade! Er hielt den Atem an, als Lasterbalk mit zwei großen Schritten auf Alea zuging und dessen blutende Hand packte. »Das hat mir gerade noch gefehlt!« Dann allerdings inspizierte er Aleas Arbeitsplatz und stellte lediglich fest: »Ah, okay, ich dachte schon, du hättest mir mein Gemüse vollgeblutet.« Er lachte und hielt Aleas verletztes Köperteil hoch. »Ja, guckt euch das an! Mit solchen Händen kann das ja nix werden!«

»Das ist die Hand Gottes, ja? Lámh Dé!«, protestierte Alea mit halbem Grinsen und entwand seine Hand dem Griff des Älteren, um wieder den Daumen in den Mund zu stecken und erneut das Resultat zu betrachten. »Mmpf, ich brauch ’n Taschentuch, das hört nicht auf.«

»Hier hast eins. Und net die Zwiebeln kontaminieren! Die sind nämlich als nächstes dran. Hätte mir ja denken können, dass du dich schneidest. Da gibt man dir einmal ’n scharfes Messer. Tsss.«

Lasterbalk lenkte Alea erfolgreich von Simon ab, der sich kurz darauf wieder voll im Griff hatte. Für ihn als jüngsten Vampir der MIU war es immer wieder aufs Neue eine harte Probe, wenn Alea blutete. Bei allen anderen Menschen war das nicht so schlimm – schließlich sprach nichts dagegen, einen Vampir das Blut auflecken und damit die Wunde reinigen zu lassen – doch der Vexecutor durfte keine Fangzähne sehen, nicht das Zittern der Finger und die Gier in den Augen des Vampirs bemerken. Doch Simon wurde besser. Wieder einmal war es gut gegangen.

Den Daumen in ein Taschentuch gewickelt fuhr Alea vorsichtig und augenscheinlich arglos mit dem Schneiden fort. Fritz hätte um Kitty gewettet, dass keiner der beiden anwesenden Vampire wirklich etwas dagegen gehabt hätte, wenn Aleas Blut dem Gemüse als besondere Würzung beigefügt worden wäre.
 

Als nahezu alle Anwesenden zum Essen versammelt waren, wollte Alea als erstes wissen: »Was ist eigentlich mit Micha? Das hab ich immer noch nicht kapiert.«

»Er … hat sich total überanstrengt«, sagte Bock, was ja nicht einmal wirklich eine Lüge war. »Morgen oder übermorgen wird das vorbei sein. Er bekommt Heilkräuter … Das hilft ihm, mehr zu essen.«

»Achso.« Alea musterte zweifelnd seinen Teller. »Und wieso isst er jetzt nichts?«

»Naja …« Der Arzt zögerte und sah sich hilfesuchend um, sobald Alea beiseite blickte.

»Weil er schläft«, griff Asp ein. »Wir heben ihm was auf. Ist ja nicht das erste Mal.«

»Ah, okay.« Alea gab sich zufrieden und aß ohne neugierige Fragen weiter.

Fritz glaubte, das erleichterte Seufzen, das allen in den Kehlen steckte, hören zu können. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Sänger von Saltatio Mortis sich nicht länger für dumm verkaufen lassen würde, da war er sicher. Natürlich war dies wahrscheinlich eine Standardsituation, wie sie schon oft mit Alea vorgefallen war, doch nun schienen sich solche Zwischenfälle zu häufen.

Nach dem Essen wurde Fritz den übrigen Locksängern Niel, Fiona, Rüdiger und Margarete alias Rairda von Faun vorgestellt. Mit den vielen neuen Gesichtern und Namen war er überfordert, doch sie begegneten ihm sämtlich höflich. Energisch machten sie sich ohne weiteren Zeitverlust an die Arbeit, auf den mitgebrachten Instrumenten ein paar Lockstücke abzustimmen. Einen Cimpoi hatten sie nicht dabei; ohnehin dauerte die Arbeit an dem Stück, das eigentlich für Taragot gedacht war, weiter an. Mit ›Py‹ war ein weiteres Mitglied In Extremos hinzugestoßen, und Fritz fand den molligen, etwas raubeinigen, aber sichtbar gutherzigen Mann überaus sympathisch. Zusammen mit El Silbador fiel André die Aufgabe zu, Coppelius’ hoffnungstragendes Geschenk ›sacktauglich‹ zu machen.

»Es ist eigentlich komisch«, stellte Dr. Pymonte fest, »dass kaum ein Locksänger bisher nur ’ne Sackpfeife zum Bezirzen benutzt, obwohl Vampire das Gedudel unwiderstehlich finden. Da sollten wir uns mal Gedanken machen, das könnte zukunftsweisend sein.«

»Da geb ich dir Recht«, bekundete Elsi.

Er und Py, die sich unter anderem auf das Bauen von Dudelsäcken verstanden, versuchten die nächsten Stunden lang, an der Melodie zu schrauben und sie zunächst einmal dem Marktsack anzupassen, ohne sie dabei grundlegend zu verfälschen. Die ersten Ergebnisse wurden von Oliver Pade, der ihnen als Lockstück-Experte rege zuarbeitete, eher skeptisch aufgenommen.

»Es wird schwierig, das Stück zu testen. Keiner eurer Vampire ist auch nur annähernd so alt, wie Paul Frais vermutlich ist.«

»Ich hab da ’nen Vorschlag für dich«, teilte André ihm mit. »Was hältst du davon, wenn wir versuchen, den Effekt –« Er ahmte Olivers wohlsortierte Sprechweise nach. »– durch Quantität zu maximieren?« Vielsagend grinste er den Locksänger an.

Dieser verstand sofort und hob die Brauen. »Du meinst, mehr als ein Musikant?«

»Elsi und ich dachten an so was wie … eine Armee.«

»Eine Armee … aus Dudelsäcken?«

»Ja«, antwortete Py nickend, »eine Armee aus Dudelsäcken.«

Oliver blieb skeptisch. »Diese Idee ist mir noch nicht gekommen.«

»Naja, die Rechnung ist einfach: Viel Sack, viel laut. Viel Druck aufs vampirische Trommelfell. Wir drücken ihnen die hypnotische Melodie einfach mit noch mehr Kraft ins Hirn. Wenn mehr Instrumente gleichzeitig spielen, müsste sich doch die Wirkung um denselben Faktor vergrößern. Es wäre ja, als wenn man einen Zauber sozusagen mehrmals spricht. Als würde man nicht nur einen Stein ins Wasser werfen, sondern viele gleichzeitig – dann läuft’s viel schneller über.«

»Klingt plausibel«, räumte der Locksänger ein. »Einen Versuch ist es wert. Aber von uns kann nur Fiona eine Sackpfeife gut genug spielen. Die Melodieführung ist recht schwierig.«

»Ja, gebe ich zu, aber wir haben hier noch mehr Leute am Start, die Säcke spielen. Und wir können noch mehr holen.«

»Du darfst die Vampire, die es können, nicht mitzählen. Die würden sich selbst in Trance spielen. Nur Menschen können in diese … Armee, wenn wir es mal spaßeshalber so nennen wollen.«

»Naja«, lächelte Py, »einigen wir uns mal darauf, dass ›Armee‹ ’n ziemlicher Euphemismus ist.«

El Silbador, der mit Py und Polly zusammen saß, hatte genau zugehört und mehrmals den Wunsch, etwas ins Gespräch einzuwerfen, unterdrückt. Irgendwie klärte sich gerade schon alles von selbst, sodass er zu seinem Leidwesen rein gar nichts beisteuern konnte.

Fritz indes verfolgte die ruhige und sachliche Diskussion zwischen den Musikern aufmerksam. Je näher der nächste Sonnenuntergang rückte, desto nervöser wurde er; die Vampire hatten über den Tag ein wenig Schlaf nachgeholt, doch ihre Munterkeit war nicht dieselbe wie in der Nacht zuvor. Außerdem liefen sie, wie sie es nannten, ›untertourig‹. Blut war ein ständiges Problem, sogar im Keller eines Krankenhauses. Fritz hasste es, derart viel über Blut nachdenken zu müssen, aber ständig brachte es jemand aufs Tapet oder erinnerte die anderen daran.

»Es ist einfach Mist, dass Vampire so große Mengen Nahrung brauchen!«, beschwerte er sich während des alltäglichen Verbandswechsels bei Bock.

Nicht bereit, ihm zuzustimmen, schüttelte der Arzt den Kopf. »Große Mengen? Das stimmt nicht, Fritz. Blut hat etwa achtzig Kalorien pro hundert Gramm, so ähnlich wie Rotwein, das ja in Hyperborea reingemischt wird. Also enthält ein halber Liter Blut oder Hyperborea so etwa fünfhundert Kalorien, und der Tagesbedarf eines normal ernährten, also nicht ausgehungerten Vampirs ist mit allerhöchstens sechshundertzwanzig Kalorien am Tag gedeckt. Bei Menschen dagegen geht man von einem Grundumsatz von zweitausend Kalorien aus. Zweitausend, Fritz. Das ist mehr als das Dreifache. Verglichen damit sind Vampire äußerst genügsam. Sie machen viel Kraft aus wenig Nahrung, weil sie alle Energie rausholen können, die drin ist. Keiner weiß, wie das funktioniert.« Bock tätschelte das frisch verbundene Bein. »Ich weiß, es ist leicht, den Bluttrinkern für alles die Schuld zu geben, aber das ist völlig unangebracht. Du wirst schon noch verstehen, was ich meine.«

Wieder einmal fragte sich Fritz, wann auch er zu einem derart verständnisvollen Vampirfan mutieren würde, wie beispielsweise Bock, Ingo Hampf oder Eric Fish es offensichtlich waren.
 

»Gib mir die Hand«, forderte Paul Frais lächelnd.

Eric gehorchte; er musste sowieso gehorchen. Seit ununterbrochen das Blut des alten Vampirs durch seine Eingeweide sickerte, hatte seine Fähigkeit zu eigenmächtigem Handeln sich schockierend reduziert. Ungemein dankbar dafür, nur von Handlangern gehandhabt und ständig in schwere Ketten gelegt zu sein, statt willenlos Befehle auszuführen, hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass Paul Frais ihn nur zur Sicherheit unter der Blutfessel hielt. Nun jedoch stieg in ihm die Angst auf.

Leise summend löste Frais die schweren Eisenreifen mit Leichtigkeit von Erics Handgelenken. Einen nach dem anderen. »Nicht bewegen«, befahl er ruhig.

»Was willst du von mir?«

»Und nicht reden.« Die Ketten rasselten lärmend, als Frais sie achtlos beiseite warf. Eric stand nun völlig frei in dem fensterlosen, unheimlich stillen Raum, der seit unbestimmter Zeit sein jüngstes Gefängnis gewesen war. Der Vampir kreuzte die langen, sehnigen Arme vor der Brust und musterte den Sänger prüfend. »Nun ja, ich kann mich im Grunde nicht beschweren: Meine Leute haben ihre Sache gut gemacht und dich bei Kräften gehalten. Aus deinem Werdegang weiß ich, dass du nicht nur ein passabler Musiker, sondern auch – ganz im Geheimen – ein recht talentierter Vampirkämpfer bist.« Frais’ Zähne blitzten, als erneut ein breites Lächeln sie entblößte. Er war charismatisch, ohne Zweifel, und das Vergnügen in seinen Augen war echt – wäre da nicht der grausame Zug um seinen Mund, den die Jahrhunderte als Bestie, die Menschen auflauerte und sie gnadenlos zu Tode hetzte, dort hineingefräst hatten.

Eric bekam die Lippen nicht auseinander. Also gab er auf. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die Blutfessel aufzulehnen, also versuchte er stattdessen, Fassung und Ruhe zu bewahren. Ähnliche Situationen hatte er in seinen früheren Missionen als Vampirjäger bereits erlebt, deshalb wusste er, worauf es ankam – doch Blutfessel, so selten es vorkam, war stets aufs Neue eine furchterregende Erfahrung. Nie konnte er ahnen, wozu er gezwungen werden würde. Da zählte letztlich nur noch das Wesentliche. Wenn er eins nicht wollte, dann vor Paul Frais den Kopf und die Würde verlieren. Sein Feind hatte Recht: Er war ein Vampirkämpfer. Kein Vexecutor wie Alea, kein Pfähler wie Ingo, kein Armbrustschütze wie Flex der Biegsame – aber immerhin so wehrhaft, dass ihn noch nie ein Vampir gebissen hatte, dem er es nicht ausdrücklich gestattet hatte.

Jetzt endlich hatte Frais Lust, ihn zu quälen. Das sadistische Funkeln in seinen Augen zeugte von wilder Erregung, Lust darauf, Beute zu misshandeln. Er würde es tun. Mit Genuss.

»Hier, a chara. Nimm doch einen guten Schluck, es ist ein wirklich edler Tropfen.« Frais hielt ihm einen Weinkelch an die Lippen und kippte ihn. Er enthielt Wein, einen kräftigen roten, den das prickelnde Vampirblut noch zusätzlich scharf aromatisierte. »Gut. Noch einen. Ich kann nicht sagen, wann wir wieder Zeit dazu haben werden, ein Gläschen zu teilen.« Er plauderte mit Eric wie mit einem guten alten Freund. Ein irritierendes, verunsicherndes Verhalten. Das Glas immer noch in der Hand, betrachtete Frais seinen Gefangenen erneut eingehend und rieb sich mit der freien Hand unschlüssig das glattrasierte Kinn. »Hmmm. Ich habe überlegt, ob ich dich beiße. Einfach so, um zu kosten. Aber irgendwie ist das reizlos, wenn du dich nicht wehren kannst. Wie bei Lámh Dé. Mit dem hatte ich noch viel mehr vor. Aber gut, das holen wir alles nach.« Die schlanke Hand des Vampirs fuhr in seine weite Manteltasche und zog etwas daraus hervor. »Kennst du das?«

Eric nickte. Den Revolver mit dem vergoldeten Griff hatte er seit seiner Installation bei der MIU jeden Tag am Gürtel getragen – auch auf der Bühne. Sonnenauge war so etwas wie sein persönlicher Bodyguard.

»Ah, na dann – bitte schön.«

Eric nahm die ihm hingehaltene Waffe mit zitternden Fingern entgegen. Sie lag schwerer in seiner Hand als gewöhnlich, ein kaltes Gewicht, das er am liebsten fallen gelassen hätte.

Paul Frais ließ nunmehr von allen Umschweifen ab. »Wir greifen das lächerliche Rattenloch an, in dem deine MIU-Freunde sitzen. Du begleitest uns. Tu nichts, was du später bereust. Ich werde dich genau instruieren. Jetzt komm … Ich will sehen, was du kannst, außer Vampire mit Natron zu blenden. Vielleicht bist du noch nützlicher, als ich es mir ausmale. Wer weiß?«

Zitternd folgte Eric dem noch immer lächelnden, spöttisch kichernden Vampir, der ihm voran aus dem Raum schlenderte. Als körperlich freier Mann trat er an den herumliegenden Ketten vorbei, die ihn bis jetzt kontrolliert hatten. Nun lag nur noch sein Geist in Ketten. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller, raste mehr Hitze durch seine Muskeln. Er wusste nur zu genau, welche Rolle Frais ihm zugedacht hatte.

Kleine Nachtmusik

»Wir sind fertig!«, rief El Silbador mit aller Kraft in den grauen Korridor hinein. »Alle Vvvvv– … ich meine, alle Lockstück-Experten bitte zum Testhören antreten!« Leise die Luft ausstoßend fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das war mal wieder knapp gut gegangen.

Die Vampire kamen bereitwillig aus ihren Zimmern. Alea wurde sofort, als er einen Fuß in den Gang setzte, von Klaus-Peter Schievenhöfel gebremst. »Ich brauche mal schnell deinen fachkundigen Rat«, sagte der kleine, runde Mann mit der dicken Brille so liebenswürdig, dass es schwer war, ihm die Bitte abzuschlagen. Für Alea war es, wie schon so oft, nachteilig, dass er ein gutmütiger Mensch war; diese Eigenschaft machte ihn kontrollierbar. Wenn ihn jemand um einen Gefallen bat, war er problemlos von verdächtigen Situationen fernzuhalten.

»Na gut«, lenkte er widerwillig ein. »Aber danach würde ich auch gerne mal das Stück hören.« Einsichtig ging er hinaus, und nur wenige Augenblicke später fiel hinter ihm leise die Tür ins Schloss.

Damit war die brenzlige Situation entschärft. Falk, Lasterbalk, Simon, Sugar Ray, Asp und auch Micha versammelten sich im Besprechungsraum, wo Elsi, Dr. Pymonte, Frau Schmitt und Oliver Sa Tyr nebst dem Rest von Faun bis zuletzt eifrig gearbeitet hatten.

»Schön, dass ihr da seid«, begrüßte Oliver die Vampire, »aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass wir das Stück an euch testen. Fiona? Bitte sehr.«

»Aber gerne.« Die blonde Frau deutete einen Knicks an, schenkte den Vampiren ein Lächeln und setzte das Mundstück ihres Dudelsacks zwischen die Lippen.

Zunächst setzte ein langer Ton ein. Die sechs Vampire beobachteten die Spielerin abwartend, während sie selbst gleichermaßen von den übrigen Menschen aufmerksam im Auge behalten wurden.

»Merkt ihr schon was?«, fragte Py vorsichtig, als die Melodie allmählich Fahrt aufnahm. Töne stiegen auf und ab und bildeten eine Weise, die bizarr und verwirrend auch in den menschlichen Ohren nachhallte. »Schmittchen, bist du noch da …?«

Aber Simon war augenblicklich hypnotisiert worden: Er stand ganz ruhig, der Blick glasig, die Lippen leicht geöffnet. Auf Pymontes Fingerschnippen vor seiner Nase reagierte er nicht. Die Farbe seiner Augen hatte sich verdunkelt, sodass sie nun beinahe menschlich wirkten.

»Sieht schon mal gut aus«, bekundete Niel Mitra leise.

»Noch nicht«, wisperte Oliver zurück. »Simon ist ein ganz junger Vampir. Kein guter Maßstab.«

Kurz nachdem er das gesagt hatte, fielen auch Silvio und dann Falk in den tranceartigen Zustand. Die Menschen tauschten einen uneinigen Blick, während Fiona munter weiterspielte. Lasterbalk war der nächste; er machte einen unsicheren Schritt auf die Musikerin zu, dann entspannte er sich und verharrte ruhig. Alsdann richteten sich alle Augen auf Micha und Asp. Die beiden deutlich älteren Vampire kämpften sichtlich angestrengt um die Kontrolle über ihren Geist. Asp verlor zuerst.

»Ha, yay«, frohlockte Elsi leise.

»Das Ding ist der Hammer«, stöhnte Micha und kniff die Augen zusammen; dann, als er sie wieder öffnete, wurden sie schwarz und seine Gegenwehr erstarb.

Erst jetzt brach unter den Menschen ein triumphierender Jubel aus.

»Whooohooo!«, rief André, während Oliver triumphierend lächelte und Fiona mit dem Spielen wieder von vorn begann, mühsam ein Grinsen unterdrückend. »Wenn die Mucke auch bei anderen Vampiren so prima wirkt, werden wir nicht mal Gesang brauchen, sondern nur Gedudel. Geil!«

»Das Stück kann jedenfalls noch nicht verbraucht sein«, mutmaßte El Silbador. »Micha ist fast fünfhundert Jahre alt, und es hat nicht mal ’ne Minute gedauert, bis wir ihn hatten.«

Grinsend stimmte ihm Py mit einem Nicken zu und trat zu Micha, um die Hand vor seinen starren Augen auf und ab zu bewegen. »Einfach klasse. So tief in Trance hab ich ihn noch nie gesehen.«

»Na, dann kann ich wohl aufhören.« Fiona ließ den Sack los und deutete einen flotten Knicks an.

Augenblicklich, als der Ton abbrach, erwachten die Vampire aus ihrer Hypnose. Sie blinzelten und sahen sich verwirrt im Zimmer um.

»Ich sehe, es hat geklappt«, stellte Lasterbalk fest und rieb sich die Schläfe.

»Wie fühlt sich das an?«, erkundigte sich Oliver und sah fragend zu ihm auf.

»Als ob man in ’ner langweiligen Vorlesung einschläft und erst danach merkt, dass man kurz weg war.«

»Ah.« Er nickte. »Verstehe.«

Elsi lenkte mit einem tiefen Atemzug die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. »Ich finde, wir sollten das Heer zusammentrommeln«, befand er. »Wen wollen wir anfordern?«

»Auf keinen Fall Anfänger«, mahnte Asp. »Alle müssen wissen, was sie tun.«

Micha nickte. »Lex hat Recht. Wenn ein Loser dabei ist und ’nen Ton verkackt, kann der Zauber unterbrochen oder geschwächt werden. Wär scheiße.«

»Na gut. Wen haben wir denn schon hier?« André zählte an den Fingern ab: »Ich bin mal so frech und nenne mich zuerst. Dann Boris. Marco. Elsi …«

»Und Alea«, sagte El Silbador prompt. »Und Luzi.«

»Gut, Luzi soll eure Säcke mitbringen. Wer noch? Fiona, du?«

Die blonde Frau nickte. »Ich bin natürlich dabei.«

Dr. Pymonte, der die Finger hochhielt, zögerte. »War’s das schon? Wir sind bei … sieben.«

»Überraschung«, murmelte Elsi.

»Was ist mit Schandmaul?«, fragte Simon.

»Birgit spielt Schäferpfeife. Aber sie ist eine von uns.«

»Können die Vampire sich nicht was in die Ohren stopfen?«, fragte Rüdiger. »Werden doch sowieso alle machen, die das Stück nicht hören dürfen.«

»Dann hören wir aber auch nicht, was wir spielen«, erinnerte ihn Falk.

»Ah, okay. Mein Denkfehler.«

»Also müssen sieben reichen«, entschied Py.

Elsi schüttelte den Kopf. »Müssen nicht. Wir kennen doch noch mehr Bands, die in das Vampirthema eingeweiht sind.«

»Genau zwei mit Sackspielern«, knurrte Micha, »nämlich Schelmish … und Corvus Corax.«

»Ja, mein Gott, dann müssen wir private Abneigungen eben mal beiseite lassen!«

»Stimme ihm zu«, sagte André. »Ich denke, ich kann auch ruhig noch Cultus Ferox anhauen. Offiziell sind die zwar nicht eingeweiht, aber inoffiziell hat Brandan wahrscheinlich längst über ’nem Bier alles ausgeplaudert … und ich hab sowieso noch was gut bei ihm. Ich seh mal, was er sagt. Oder hat jemand was dagegen?«

»Nö, mach ma«, ermunterte ihn Micha. »Holt alle her, die’s drauf haben. Hauptsache, wir treten Frais in die Eier. Und zwar so doll, dass er kein zweites Mal wiederkommt!«

Oliver, der die unverblümte Ausdrucksweise bekanntermaßen nicht schätzte, rang sich unerwarteter Weise dennoch ein Lächeln ab. »Ich sehe, wir kommen langsam auf einen grünen Zweig, alle miteinander. El Silbador … Ich denke, du kannst die Einladung zum gemeinsamen Musizieren rausschicken. Wenn wir Glück haben, steht das Heer, wenn wir es so nennen können, schon bald.«

»Und wenn wir richtig Glück haben«, ergänzte Falk, »greift Frais heute Nacht wieder nicht an – und wir können ihm, wenn wir morgen vor Nachteinbruch zuschlagen, sogar zuvorkommen!«

Alle lächelten zurückhaltend. Der Gedanke war zu schön, um wahr zu werden.
 

Fritz war sehr zufrieden mit dem Verlauf seiner Heilung. Er fühlte sich schon beinahe kuriert. Vitamine, Eisen, viel Flüssigkeit und die nahrhafte Kost hatten dazu beigetragen, dass er sich rasch von der Schwächung, die dem Blutverlust zuzuschreiben war, erholt hatte. Auch sein Bein tat jetzt kaum noch weh, obwohl die Wunde tief gewesen war. Nicht mal der Hauch einer Infektion hatte sich eingestellt. Kein Rumoren, kein Pochen, kein Nässen. Es fehlte zwar noch einiges, bis er wieder völlig ungehindert würde laufen können, doch damit konnte er leben. Als die Haken in sein Wadenfleisch eingedrungen waren, hatte er sich im Geiste schon von seinem Bein verabschiedet – fest überzeugt, dass es unterhalb des Knies amputiert werden würde. Und nun, ein paar Tage später, war es fast wieder völlig in Ordnung! Gut, dass er Kitty noch keinen Panikfloh ins Ohr gesetzt, sondern sich zum Abwarten gezwungen hatte.
 

Zum Einbruch der Nacht hin wurde im Universitätsklinikum, auch oberhalb des MIU-Verstecks, eine rege Betriebsamkeit aufrechterhalten. Das Personal und die Verwaltung waren erneut über die Möglichkeit eines Angriffs unterrichtet worden und hatten Schievenhöfel, der seit Buschfelds Abdankung den Einsatz zumindest inoffiziell leitete, in scharfem Ton dazu angehalten, im Falle einer Attacke das Gefecht möglichst fern der Patienten auszutragen. Klaus Buschfeldt selbst befand sich nach vor in einer Art Arrest im Kellerversteck.

»Wir beschützen das Krankenhaus«, hatte KP fest versichert, »aber wenn wir weggehen, wird es noch viel gefährlicher. Wir werden alles tun, was wir können, damit Unbeteiligte nicht zu Schaden kommen.« Was nicht leicht werden würde – denn genau das würden Fiacail Fhola zu erreichen versuchen.

Das Wetter war nicht schön gewesen, und die Dunkelheit kam rasch herangeflutet. Wer konnte, hatte noch etwas Schlaf nachgeholt. Mittlerweile waren auch die Wachen eingeteilt. Als auch Alea seine warme Kleidung anzog und nach draußen auf das Gelände verschwand, konnten Bock und Frau Schmitt sich daran machen, den MIU-Vampiren eine letzte Mahlzeit aufzuwärmen.

»Wir haben ein Attentat auf dich vor, Fritz«, teilte der Arzt seinem Patienten mit unheilsschwangerer Miene mit.

Fritz ahnte etwas. »Oh, nein. Bitte sagt nicht, dass ich es ihnen bringen soll!«

»Doch, genau das. Deine Toleranz gegen Blut ist doch schon besser geworden, oder? Wir kriegen dich kuriert, Herzchen. Glaub mir. Vermeidungsverhalten führt hier nicht zum Erfolg, nur radikale Konfrontationstherapie!« Mit diesen Worten tunkte Bock den Schöpflöffel in die trübe, weinrote Suppe, welche menschlichen Venen entstammte, und füllte sie in große Metalltassen, die von außen isoliert waren – Thermobecher. »Ich hab Stabilisator zugefügt und Fruchtzucker, damit es mehr Kraft gibt. Hier, geh den Zaubertrank verteilen.«

Fritz zögerte. Nicht nur Bock, auch Silke Volland schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Also nahm er drei der Becher, wobei er einen gegen die Brust drücken musste, wo die Wärme durch seinen Pullover drang, und wandte sich vorsichtigen Schrittes der Tür zu. So direkt unter seiner Nase tat Blut keinen guten Dienst, besonders kein warmes. Der starke, metallische Geruch ließ ihn genau drei Schritte weit kommen; dann reichte es nicht mehr, die Nase hochzurecken, er musste würgen und beeilte sich, die Becher wieder hinzustellen.

»Igitt! Nein, Leute. Das geht einfach nicht!«

»Ja, ich seh schon«, sagte Bock traurig.

»Wieso kann man Vampire nicht einfach mit was anderem ernähren als Blut? Wenn es nur um die Nährstoffe geht, kann man es doch bestimmt ersetzen – wie bei Buck-Up, nur eben ganz ohne Blut!«

»Nein«, seufzte Bock, »das geht nicht. Man hat es mal versucht. Ein Experiment, das schlimm ausgegangen ist.«

»Ach ja?«

»Ja … Das war 1973. Das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, das zu dem Zeitpunkt gerade erst zwei Jahre alt war, hat versucht, vollwertige Nahrung für Vampire zu entwickeln, ohne dafür Blutbestandteile zu verwenden. Es gab vier freiwillige Vampire unterschiedlichen Alters, die sich dem Experiment unterzogen haben. Und was ist passiert? Ausgehungert sind sie nicht, es waren ja genug Nährstoffe da … Aber sie sind kalt geworden. Man hat an der Rezeptur gefeilt, um doch noch dahinter zu kommen, wo der Fehler lag, aber ohne Erfolg. Schließlich sind die Vampire alle gestorben. Ein rätselhaftes Kaltwerden ohne Nährstoffentzug.«

»Oh …« Fritz überkam ein Gruseln. »Das ist … unheimlich.«

»Seither geht man davon aus, dass das menschliche Blut irgendeinen Stoff enthält, etwas, das unsichtbar und wissenschaftlich nicht nachweisbar ist, das aber die Vampire dringend brauchen und mit der Nahrung aufnehmen müssen, um gesund zu bleiben. Man weiß inzwischen, dass es sich in den roten Blutzellen befindet, den Erythrozyten. Alle anderen Blutbestandteile kann man also ersetzen, wie ich es bei Buck-Up gemacht habe, aber die Erythrozyten sind ganz wichtig und unverzichtbar für die vampirische Ernährung.« Der Arzt sah Fritz fest an, und sein Bestreben, für Toleranz gegenüber Vampiren einzutreten, schien in diesem Blick konzentriert zu sein; dann nickte er noch einmal zu den mit warmem Blut gefüllten Bechern.

Fritz seufzte und riss sich zusammen. »Ich nehme einen, okay? Einen

»Fein. Das ist schon mal besser als nichts.«
 

Am Eingang zum Innenhof erkannte Fritz zwei entspannt im Schein der Außenbeleuchtung stehende Gestalten, die ihm den Rücken zugekehrt hatten. Blauer Dunst stieg in feinen Kringeln von ihren Silhouetten auf. Es waren Sebastian und Marco, die in der späten Dämmerung eine letzte Zigarette rauchten. Die beiden Männer unterbrachen ihre leise Unterhaltung, als Fritz durch die Glastür neben sie trat.

»Oh, hey, Fritz«, begrüßte ihn Basti. »Wat hast’n du da?«

Fritz hielt eine Hand über den Becher, damit die Wärme des Inhaltes nicht so schnell verflog, und spürte das Schwitzwasser auf der Haut. »Naja, Blut. Was sonst?« Er sah sich etwas ratlos um. »Äh … Micha hat doch Wachschicht, oder?«

Lange blies den Rauch aus und nickte. »Guck ma da hinten irgendwo.« Er deutete vage in die Ferne. »Wird sich freuen, wenn du ihm was Leckeres bringst.«

»Ja, das … dachte ich mir auch.« Unentschlossen blieb Fritz bei den beiden Musikern stehen. Niemand hörte ihnen zu, wie günstig. Wann erwischte man In Extremo schon mal getrennt vom Rest der MIU? »Was Micha betrifft …«, begann er zögernd, und sofort sahen Basti und Flex ihn höchst aufmerksam an. »Die Flucht mit ihm war …«

»Verstörend?«, schlug Marco vor. »Traumatisierend?«

»Das ja, aber nein. Ich meine Micha. Sein Verhalten.«

Die Männer wechselten einen besorgten Blick. »Falls du’s ihm übel nimmst, dass er dich jebissen hat …«, setzte Basti an, aber Fritz unterbrach ihn: »Nein. Das war okay. Das wollte ich. Er hat alles richtig gemacht. Ich hab mich wie ein Idiot benommen, seit ich ihm damals zugeteilt worden bin.« Fritz schürzte die Lippen, ließ einen Seufzer heraus und fuhr fort: »Ich … ich glaub, ich hab ihn unterschätzt. Ich hab nur gesehen, dass er mich schlecht behandelt, und ihn sofort verurteilt. Es war mir, als ich mit Eric geredet habe, sogar fast egal, dass Micha in irgendeiner Zelle liegt und stirbt. Ich wäre nicht freiwillig zurückgekommen, um ihn zu retten. Ich hab nur so getan.« Beschämt über dieses Bekenntnis starrte er in den Becher und übersah sogar das Blut darin. »Dabei hat er das nicht verdient.«

Zu seiner Erleichterung lächelten die beiden Musiker nachsichtig. Marco erklärte: »Micha ist ein Held, Fritz. Darauf kannst du dich verlassen. Keiner von diesen strahlenden Aragorn-Typen, sondern ein ganz heimlicher Held. Er kann ein Arsch sein, weiß ich selber. Wenn er was zu sagen hat, reißt er das Maul auf und beschönigt nichts. Aber er ist immer aufrichtig. Und er mag Menschen, obwohl die ihn oft gar nicht mögen. Er tut viel für sie, ohne darüber zu reden, einfach für sich selbst. Dabei hätte er kaum Grund dazu. Alles, was er jetzt hat, musste er sich geradezu unverhältnismäßig hart erarbeiten. Wenn ich bedenke, was er allein in diesem Leben schon alles erlebt hat, was er alles aushalten musste … Dir würde schlecht werden, wenn du hörst, was der alles erlitten hat. Aber Micha kennt eben nur eine Antwort auf herbe Schläge: Aufstehen und weiterkämpfen. Aufgeben ist nicht sein Ding.« Flex nickte in die Richtung, in der sich Michas Posten befand. »Guck ihn dir jetzt an: Er hat gerade so ziemlich das Schlimmste hinter sich, was einem Vampir überhaupt passieren kann. Aushungern. Viele Vampire, die das überleben, erholen sich psychisch nie richtig davon, sind danach zeitlebens angstgestört oder aggressiv. Aber siehst du Micha in eine Ecke kriechen und seine Wunden lecken? Nein. Der steht schon wieder an vorderster Front. Und um ehrlich zu sein habe ich nichts anderes erwartet. Ich kenne es nur so von ihm.«

Natürlich, dachte Fritz und presste die Lippen zusammen. Oh Mann. Ich hab Micha einfach nur für einen arroganten Trottel gehalten, der zufällig berühmt ist und sich keinen Deut um andere schert. Voll daneben. Gegen den bin ich echt ein Witz. Kein Wunder, dass er meine Feigheit und meinen egoistischen Selbstschutz zum Kotzen findet … Er holte tief Luft. Der Kerl hat einfach richtig … »Eier.« Es überraschte ihn nicht, dass er das Wort unwillkürlich laut ausgesprochen hatte.

Basti kicherte. »Oh jaah. Die hatta. Viel mehr als die meisten dieser Affen, die tagtäglich in den Medien rumspringen und auf der Welt den Ton anjeben. Hätten wir mehr echte Männer, würde die Welt janz anders aussehen.«

Vermutlich. Fritz wandte sich ab. »Ich geh ihm das Blut bringen, bevor es kalt wird.«

»Mach dit ma«, nickte Sebastian. »Aber nicht verlaufen!«
 

Micha stand an der Südseite des Klinikgeländes, die leuchtenden Augen fest auf die nachtschwarze Umgebung gerichtet. Die nahe Straße sah aus wie ein dünner, schwach beleuchteter Streifen. Als Fritz näher kam, zuckte der glühende Blick des Vampirs sofort hinüber und heftete sich auf ihn.

»Was bringst’n du da Feines?«

»Jedenfalls keinen Kaffee«, antwortete Fritz.

»Nee, dass das kein Kaffee ist, rieche ich bis hier. Hat Sonnenscheinchen auch nichts mitgekriegt?«

»Nein. Der ist bei Falk und mault, dass er auch im Dunkeln sehen will.«

Micha lachte leise und nahm Fritz den dampfenden Becher ab, um genüsslich daraus zu trinken. Zum Glück war im Dunkeln nicht zu sehen, wie das Blut seine Lippen rot färbte.

»Wie geht’s dir?«, fragte Fritz zögerlich.

Micha wirkte überrascht über die Frage. »Mir? Gut. Hatte heute keine Blutdurst-Attacke. Ich glaub, ich bin durch mit dem Mist. Normale Temperatur, keine Hungersymptome mehr. Endlich.« Er nahm einen weiteren tiefen Zug und sah dann wieder Fritz an. »Und dir?«

»Oh, mir auch. Ich heile nicht so schnell wie du, aber bald wird alles halbwegs okay sein.«

»Dann ist ja gut. Ich hoffe, Frais kriegt auch heute Nacht den Arsch nicht hoch, dann machen wir ihn morgen platt. Ein bisschen Glück, wir brauchen nur ein ganz kleines Bisschen davon.«

»Können Vampire es verhindern, von anderen Vampiren … gewittert zu werden?«, erkundigte Fritz sich nachdenklich.

»Hmm, ja. Zum Teil. Nicht alle. Man muss alt sein und den Dreh raus haben. Ich kann’s nicht. Lex schon, aber der hat ja auch das lautlose Anschleichen perfektioniert. Könnte seine Opfer prima von hinten überfallen … eigentlich schade, dass er das nicht nutzt. Die Fírinne-Vampire – das ist mir aufgefallen, als wir mit denen geredet haben – nebeln sich neuerdings in so komische, menschenartige Gerüche, die ihre eigenen überdecken.«

Fritz sah zu Boden. Unter seinen Füßen war das Gras so schwarz wie der Rest der Welt. Gerne hätte er jetzt die vampirische Nachtsicht geteilt – doch ihm graute davor, je wieder unter der Blutfessel zu stehen. Er würde nie, nie wieder um Vampirblut bitten, das wusste er.

Plötzlich erstarrte Micha. Eben noch hatte er sichtlich zufrieden den Becher geleert – nun stand er wie eine Salzsäule. Als Fritz den Blick hob, sah er warum.

Und er erschrak fürchterlich.

Hunderte leuchtender Augenpaare waren auf sie gerichtet. Ein Meer aus starren, glühenden Punkten, zwischen denen die Dunkelheit nur noch undurchdringlicher wirkte. Sie mussten schon die ganze Zeit da gewesen sein, doch auf ein geheimes Zeichen hin hatten sie sich alle geöffnet und starrten die beiden Nachtwächter nun unverwandt an.

Fritz hörte seinen Atem mit einem hohen Wimmern entweichen. Seine Hände waren eiskalt, als er sich von einer Seite zur anderen umsah, vorsichtig, als hätten diese glotzenden Irrlichter nicht sowieso schon ihn und Micha im Visier. Nirgends eine leere Fläche zwischen ihnen, kein einziger schwarzer Fleck. Sie waren überall.

Michas Hand ergriff seine Schulter. »Fritz, verpiss dich. Sofort!«, zischte er.

Diesmal gehorchte Fritz augenblicklich. Er drehte sich um und rannte los. Kalte Panik ergriff sein Herz. Er hörte das Klicken hinter sich. Nicht umdrehen. Es ist alles gut. Sie kommen nicht weit. Es ist alles voller Vampire, aber wir … wir haben Locksänger!!, sagte er sich mit aller Überzeugung. Die singen diese blutleeren Sauger weg! Alle!!
 

Fritz humpelte über das leere Gelände, so schnell, wie der Schmerz und der steife Widerstand in seinem verletzten Unterschenkel es zuließen. Seine Erleichterung war unermesslich, als er sah, dass auch die anderen Vampire längst Alarm geschlagen hatten. Einige Menschen von der Nachtaufsicht des Krankenhauses eilten gerade durch die Eingänge wieder ins Gebäude, um die Nachricht gefasst weiterzuleiten und Türen sowie Fenster zu verschließen. Im Innenhof sah Fritz im blassen Mondlicht die Gestalten der Locksänger, die ruhig, aber ohne Verzögerung ihre Instrumente stimmten.

»Fritz!«, rief jemand und packte ihn nachdrücklich am Arm, um ihn aufzuhalten. Fritz fuhr herum und erblickte Asps blasses Gesicht, aus welchem ihm die unnatürlich weißen Augen erregt entgegensahen. »Paul Frais ist höchstpersönlich hier. Siehst du diese kleine Metalltür da hinten?«

Fritz nickte, obwohl er die Tür im Dunkeln kaum ausmachen konnte.

»Die wird ständig offen bleiben. Wir bewachen sie. Hol die Vampirjäger. Wir brauchen Pfähler, Armbrustschützen – alles, was wir haben.«

»Okay«, versprach Fritz und lief los. Gleichzeitig dachte er: Alles, was wir haben? Soll das ein Witz sein? Ingo und Flex? Basti, der daneben schießt? Ich, der mit der Natron-Kanone blindlings in die Gegend ballert? Das kann doch hoffentlich nicht ernst gemeint sein! Kopfschüttelnd stürmte er voran.

Eine Flötenmelodie erhob sich, ringelte sich wie eine dünne Rauchfahne durch die kalte Luft; kurz darauf setzten zu sanften Trommelklängen die Stimmen von Fiona und Rairda ein, einander umschlingend wie zwei Kletterranken. Was sie sangen, klang in Fritz’ Ohren vor allem fremd, aber auch hypnotisch.

Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa …

Was würden sie machen, wenn die Vampire zu alt waren? Wenn sie sich etwas in die Ohren gesteckt hatten – etwa Kaugummi?

Ilubatai, ilubatai, ilue iye ilubatai,

Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa …

Die Trommeln wurden schneller, und noch mehr Klänge kamen hinzu. Oliver hielt hochkonzentriert ein Instrument umfasst, das Fritz noch nie in seinem Leben gesehen hatte. In beschwörendem Ton sangen die beiden Frauen weiter, laut und fordernd.

Ilubatai, ilubatai, ilue iye ilubatai,

Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa!

Iyansa! Iyansa! Iyan – iyan – iyansa!

Iyansa! Iyansa! Iyan – iyansaaaaa!

Endlich riss Fritz die kleine Tür auf und schlug sie hinter sich zu, die unheimliche Lockmusik aussperrend.

»Hier«, sagte Hampf, als Fritz ihn im Flur fast umgerannt hatte – wohlgemerkt nur fast, denn um Ingo umzurennen brauchte es mehr als Fritz’ klägliches Gewicht –, und hielt Fritz einen Pflock hin. »Weiß nicht, ob das deiner ist.«

»Ich auch nicht, ich hab ihn nicht beschriftet!«, gab Fritz gereizt zurück. »Wie kannst du bloß so ruhig sein? Wo ist meine Natron-Kanone?!« Er wusste, dass er hysterisch klang; sein schriller Tonfall spiegelte sich in der Miene des Pfählers, der ihn verwirrt musterte.

»An deinem Gürtel, du Heini. Brauchst keinen Stress zu machen, wir kennen unsere Aufgaben. Das InEx-Team ist schon ausgerüstet. Py ist gut mit der Kanone. Boris hat zur Armbrust gegriffen, Elsi bewacht den Zugang. Und du, hmmm …« Ingo musterte Fritz abschätzend. »Hätte zwar nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber such am besten Alea und klammer dich an seinen Rockzipfel. Ich weiß, er hat gerade eine zickige Phase, aber ich verlasse mich mal drauf, dass er im Notfall killen wird, was das Zeug hält.« Damit nickte er Fritz noch einmal ermunternd zu – sein Mund war eine gerade, schmale Linie – und stapfte in großen Schritten zum einzigen verbliebenen Ausgang.

Fritz blieb wortlos stehen. Was war denn das für ein Lösungsvorschlag? Alea suchen? Mitten in der Schlacht? War das wirklich das sicherste?

Wahrscheinlich nicht. Aber er hatte keine Wahl.

Mit zusammengebissenen Zähnen hinkte er los.
 

Scharf wehte der Wind über das Flachdach des Hauptkomplexes. Marco, Sebastian und Boris hatten dort mit den Armbrüsten Stellung bezogen und kauerten dicht an der Dachkante, um von unten nicht gleich gesehen zu werden. Noch waren die Lichtverhältnisse gut, das völlig buschlose Parkgelände rund um das Klinikum bot Gegnern keine Gelegenheit zum Abtauchen. Jeder, der die Sicherheit des umliegenden Gebüschs verließ, würde von ihnen rechtzeitig gesehen und niedergestreckt werden.

»Kalt hier«, murrte Van Lange und ließ sich auf ein Knie nieder, um das andere Bein enger an den Bauch zu ziehen. Gerade prüfte er, ob der kleine Schalter am Griffstück der Armbrust, der einen hellen, gebündelten Lichtstrahl auf das Ziel werfen würde, seine Arbeit tat.

»Noch nicht anmachen, Basti. Wir müssen so lange unentdeckt bleiben wie möglich.«

»Ist mir klar.«

Pfeiffer reckte den Hals, um sein Ohr besser der Musik zuzuwenden, welche verzerrt von unten heraufdrang. Gerade spielten Faun ein Lied, das den Dudelsack einbezog. »Meint ihr, sie setzen das neue Lockstück ein?«

»Nicht, wenn sie es vermeiden können«, vermutete Flex. »Sie dürfen das Stück nicht dem Abnutzungseffekt aussetzen, bevor es unter optimalen Bedingungen zum Einsatz kommen kann.«

»Richtig, dit ist wie mit Penicillin. ’ne dicke Keule, aber einmal überdosiert, und dit war’s.«

Boris unterdrückte ein Frösteln, als die nächste Bö kam. »Ich hoffe, die Musik wirkt. Ich hoffe, Frais traut sich nicht näher ran. Und ich hoffe verdammt noch mal, dass wir’s bald überstanden haben!«
 

Faun hüllten das ganze Gelände in ihren betäubenden Gesang. Derartig kontrolliert hatten sich einige der starrenden Augenpaare tatsächlich in Bewegung gesetzt, waren hervorgetreten und aus der Distanz mit einem Armbrustbolzen abgeschossen worden. Keiner der Übrigen hatte sie aufgehalten. Das war beunruhigend: Frais hatte diesen Verlust nicht nur in Kauf genommen – er hatte ihn regelrecht eingeplant.

»Zu wenige«, murmelte Sugar Ray leise in Simons Richtung, während sie den gegenüber liegenden Straßenrand nicht aus den Augen ließen. »Iyansa und Rhiannon waren bisher immer viel wirksamer. Abnutzungseffekt kann nur minimal sein. Irgendwas stimmt da nicht.« Der schwarzhaarige Vampir drehte sich zu Ingo um, der als einziger Mensch bei den beiden stand und sich für den drohenden Nahkampf bereithielt. »Faun sollen was anderes versuchen. Eins vom neuen Album.«

»Ich sag’s ihnen. Bin gleich wieder da.« Ingo machte kehrt.

Kaum war er außer Hörweite, als sich etwas veränderte. Jäh kam Leben in die unzähligen Vampire, die aus der Entfernung auf das Klinikum gestarrt hatten. Die Augen kamen plötzlich in rasantem Tempo näher, schneller, als ein Mensch laufen konnte.

Silvio keuchte auf. »Die überrennen uns!«

Vor Schreck ließ Simon Schmitt unwillkürlich die Fangzähne herausspringen. »Ach du Scheiße, was machen wir jetzt?« Schon zischten drei Pfeilbolzen aus dem schwarzen Himmel herab. Einer traf präzise die Brust einer Frau, der zweite durchschlug einen Hals, aus dem eine Blutfontäne schoss wie aus einem Vulkan; der dritte blieb lediglich in einem Bein stecken, brachte dessen Besitzer aber zuverlässig zu Fall. Die nächste Salve würde in Kürze folgen. Schließlich waren In Extremo rasant im Nachladen.

Simon und Sugar Ray zogen ihre Natron-Kanonen und nahmen die vordersten Vampire ins Visier. Einer war ein langhaariger Mann, dessen Fangzähne ausgefahren und gebleckt waren, der zweite eine schlanke Frau mit wildem Blick. Sie stürmten voran, ungeachtet der fallenden Opfer neben ihnen, über die weite, ungeschützte Wiesenfläche auf das Gebäude zu. Die Sterbenden schienen sie nicht zu interessieren. Sie schienen die Bedrohung noch nicht einmal wahrzunehmen. Ihre Augen waren glanzlos, starr und gehetzt.

»Irgendwie komme ich mir vor wie in ›300‹«, murmelte Simon so leise, dass nur er selbst es hören konnte. Schon die schiere Masse an Angreifern jagte ihm Respekt ein.

Mit einem tiefen Atemzug legte er auf den vordersten Angreifer an. Doch in dem Moment, als er den Mann gut in der Kimme hatte, überfielen ihn plötzlich starke Zweifel. Trotz Nachtsicht musste er ganz genau hinsehen, um diese Merkwürdigkeit zu bemerken. Konnte es sein, dass diesen Vampiren das Natron völlig egal war?

»Silvio!«, zischte er angespannt, ohne die Waffe sinken zu lassen. »Irgendwas stimmt da überhaupt nicht! Die sehen nicht aus wie Vampire! Und riechen nicht so! Die – Die – …!«

Doch im gleichen Moment erkannte auch Sugar Ray das Ausmaß der Katastrophe. »Heilige Scheiße!«, stieß er hervor. »Keine Blutsauger! Das sind getarnte Menschen – Fakefangs

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!

Schwungvoll wurde die Dachluke von unten aufgestoßen. »Hört auf zu feuern!«, brüllte Ingo, noch ehe er seine Nase nach draußen befördert hatte. »Ihr schießt auf Menschen!«

»Menschen?«, wiederholte Marco schaudernd und ließ beinahe die Armbrust fallen. Er hatte mit vielem gerechnet – doch nicht mit einer solchen Finte.

»Jaah! Ätzend viele Menschen unter Blutfessel! Guckt mal genau hin! Die gehorchen nur, die denken nicht!«

»Aber die Augen –«, protestierte Basti schwach.

»Linsen, du Trottel! Falsche Zähne! Wer sagt, dass nur wir so was haben? Das erklärt, wieso die Rattenfänger nichts nützen! Wieso wir erfolglos mit Natron draufballern! Da sind Kinder bei und alte Säcke! Daa, seht ihr? Ihr habt schon zwei von den Vogelkundlern umgenietet, mit denen wir bei der Semperoper waren!«

Marco gab ein Geräusch von sich, das nach Würgen klang, und geriet ins Taumeln. Pfeiffer zog ihn vom Dachrand weg und wandte sich fassungslos wieder dem sich bietenden Anblick zu. »Aber … Aber was erhofft Frais sich von so was …?«

»Das gleiche wie sonst auch!«, fuhr Ingo ihn an, schäumend wie eine Speikobra. »Red ich denn hier mit Idioten? Wir sollen die Bösen sein

Marco stöhnte leise und Boris packte ihn noch fester. »Okay, okay, wir werden auf nichts mehr schießen! Aber wie sollen wir eine Armee kopfloser Menschen unter Blutfessel abwehren? Die werden sich nicht aufhalten lassen!«

»Das lassen wir die Vampire und ihr Gift lösen. Falls es euch tröstet: Ich hätte eben fast ’n kleines Mädchen gepfählt.« Ingo spuckte aus und rieb sich Schweißperlen von der blassen Stirn. Bei keinem Konzertauftritt hatte er je so angestrengt ausgesehen. »Mann, unglaublich – alles Menschen! Dass Frais, der Drecksack, überhaupt noch Blut im Körper hat!« Er atmete einmal tief durch, was wie ein Blasebalg klang, tauchte wieder ab und ließ die Dachluke über sich zufallen.

Nunmehr allein versuchten die drei Männer von In Extremo, ihrem Entsetzen Herr zu werden.

»Scheiße«, murmelte Lange und konnte den Blick nicht von dem ungebremsten Ansturm abwenden. Die Toten und Verwundeten wurden von den verbliebenen Angreifern einfach überrannt. Ihre Körper blieben mit offenen Wunden liegen, ihre gequetschten Gliedmaßen waren fest in den Grasboden getreten, die Hälse verdreht. »Scheißescheißescheiße

Boris saß über Marco gebeugt, der sich schlaff auf dem Dach ausgestreckt hatte und offensichtlich einem Kreislaufkollaps nahe war. »Basti, wir müssen hier runter. Wir können sowieso nichts machen, nur mit Armbrüsten.« Tapfer schluckte er das Zähneklappern hinunter. Diese Situation war neu, obwohl sie sich nach all den Jahren der Vampirjagd nicht mehr so anfühlen sollte. Er konnte das Schaudern nicht vollends abschütteln. Die Waffe, die neben ihm lag, schien plötzlich Kälte auszustrahlen. »Oh Mann, ich … komm echt nicht drauf klar … Scheiße!«

»Na so was«, säuselte plötzlich eine süffisante Stimme hinter ihnen. Die drei fuhren herum, um sich Paul Frais gegenüber zu sehen, der barfuß, jedoch wie immer gut gekleidet vor ihnen stand und in aller Ruhe seinen langen Mantel glättete. »Dann wisst ihr Herren ja nun, wie ich mich fühle, wenn ich meinesgleichen ständig auf so demütigende Art und Weise sterben sehe. Wie erfreulich.«

Für die nächsten Sekundenbruchteile standen alle wie erstarrt. Dann machten Basti und Boris eine einzige, völlig synchrone Bewegung: Sie packten die Pflöcke an ihren Gürteln.

»Vergesst es«, sagte Frais gelangweilt. »Ich bin nicht hier, um zu sterben … sondern eigentlich nur, um eure totale Konfusion zu genießen. Ihr wart auf vieles vorbereitet, nicht wahr? … Aber darauf nicht. Ihr habt geglaubt, nur ihr würdet qualitativ hochwertige Tarnmittel besitzen. Dabei wisst ihr doch genau, dass ich reich bin und meine eigenen Hersteller bezahlen kann.«

»Aber du hast et nie jemacht«, stellte Basti etwas lahm fest. »Hast jesacht, dit wär dir zu … einfach.« Es war keine sehr hilfreiche Bemerkung.

»Ihr habt früher auch gesagt, eure Musik würde nie etwas für die breite Masse sein. Einmal kommt immer das große Umdenken.« Frais lächelte genüsslich – und warf klickend aus. Sein langer Zeigefinger wies auf den kreidebleichen Flex. »Der sieht sowieso nicht aus, als ob er die Nacht übersteht. Euch beide lasse ich in Ruhe, wenn ihr mich unbehelligt dinieren lasst.«

»Such dir was anderes zu fressen!«, fauchte Boris und stieg schützend über Marco. »Du weißt genau, was das hier ist!« Mühsam beherrscht gelang es ihm, seine zitternde Hand wieder um den Griff der Armbrust zu legen.

Frais lachte, ein hartes, abgehacktes Geräusch. »Als ob du nach dem, was du gerade getan hast, noch anständig zielen könntest! Selbst wenn der Bolzen direkt auf meinen Bauchnabel gerichtet wäre, würdest du mich nicht treffen, Yellow Pfeiffer – nicht mal du, der, soweit ich mich erinnere, immer die Fassung behält. Seltsam, hm? Bestien niederzumetzeln, damit habt ihr schon lange kein Problem mehr. Obwohl sie genauso schreien wie Menschen und genauso blutig sterben. Sie durchlöchert und verätzt ihr gnadenlos. Aber wenn ihr wisst, dass ihr Menschen vor euch habt, wird euch plötzlich ganz übel, nicht wahr? Ja, ich bin ein guter Kenner der menschlichen Psyche. Die Armbrust taugt jetzt nichts in deiner Hand, mein Guter.«

»Willste’t druff ankommen lassen?«, knurrte Sebastian, der Boris sofort beisprang.

»Oh, ja … Sehr gerne sogar.« Frais machte einen langsamen Schritt, ohne seinen selbstsicheren Blick von den Augen der beiden Schützen zu lösen. »Ein Schritt. Zwei Schritte. Drei Schritte …«

»Du Hurensohn!!«, brüllte eine raue Stimme, und plötzlich wurde Frais brutal in den Rücken gestoßen. Er kippte vornüber, fiel hart auf das Gesicht. Micha warf ihn auf den Rücken, stierte ihn wütend an und fauchte: »Das sind meine, du Wichser, meinemeinemeine!!« Damit sprang der blonde Mann wieder auf die Füße und stellte sich vor die drei Menschen, die sich dankbar hinter ihn duckten.

»Micha –«, setzte Boris an, doch der Sänger drehte sich nur ganz kurz nach ihm um. Sein wutverzerrtes Gesicht zeigte gefletschte Zähne und einen so eisigen Blick, dass es selbst seinem Bandkollegen einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sofort schloss Boris wieder den Mund. So hatte er seinen Sänger noch nie gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er das jemals wieder wollte.

Frais indes rollte sich gemächlich auf den Bauch und stand in aller Ruhe wieder auf, wobei er viel Zeit darauf verwandte, Dreck, Moos und Flechten von seiner Kleidung zu wischen. »Wie oft«, seufzte er in entnervtem Ton, »muss ich dich eigentlich noch töten lassen, du Nervensäge? Dich und diese …« Er rümpfte die Nase in Richtung Marco, der immer noch am Boden lag. »… schießwütigen Zirkustiger? Hab ich euch sieben nicht inzwischen oft genug zur Hölle geschickt? Ich meine, ich habe euch damals unter anderem …« Er fächerte die Finger und zählte gelangweilt auf: »… durch die Innenstadt von Dublin jagen lassen, bis ihr fast im River Liffey ertrunken wärt … euch am Giant’s Causeway mitten in der Nacht in einer Steinhöhle eingeschlossen … Wie ihr da rausgekommen seid, weiß ich bis heute nicht.« Frais zuckte unbehelligt die Schultern. »Ich weiß nur, dass ich es ermüdend finde, euch immer und immer wieder auf möglichst originelle Weise ins Jenseits zu befördern.«

Zur Verblüffung seiner aufgestachelten Bandmitglieder warf Micha den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Neeeeee, du hast uns nicht oft genug um die Ecke gebracht, du alter Pisser! Und wirst du auch nicht! Wir kommen immer aus der Hölle zurück – und vorher reißen wir dem Teufel seine drei goldenen Haare vom Sack!« Nun lachte der Blonde noch lauter, und seinen Bandmitgliedern kroch Gänsehaut die Arme hinauf. Dies war jenes nichtmenschliche Lachen, das man nur in Extremsituationen von Micha hörte und das so sehr nach jahrhundertealtem Wahnsinn klang, dass es Menschen in seiner Umgebung schlichtweg erstarren ließ. »Bei dir werden wir das auch noch machen, denn du landest garantiert in der Hölle!« Dann verschwand sein Grinsen schlagartig. Er machte einen Satz aus dem Stand und stieß Frais hart gegen die Brust. »Und jetzt kriegst du einen Freiflug geschenkt!« Wieder stieß er ihn, noch härter, aggressiver. Doch sein Versuch, den alten Vampir über die Dachkante zu befördern, misslang: Frais wich nach rückwärts aus in die Senkrechte und machte zwei Schritte an der Gebäudewand hinab.

Er wirkte alles andere als amüsiert. »Das hier wird mir zu dumm. Für einen guten Kampf ist mir das Niveau zu unterirdisch. Ihr entschuldigt mich? Gute Nacht. Viel Vergnügen wünsche ich noch.« Dann stieß er sich von der Wand ab, breitete seinen Mantel aus und ließ sich fallen.
 

Inzwischen war die erste Welle der angreifenden Menschen, willenlos durch Vampirblut, buchstäblich an den Klippen zerschellt. Falk, Lasterbalk, Simon und Sugar Ray hatten einen nach dem anderen kurz vor den Mauern der Klinik abgefangen und an dem nächstbesten Körperteil, das sie zu fassen kriegten, einen ruhigstellenden Biss platziert. Ingo, Elsi, Frau Schmitt, Dr. Pymonte, Bock und sogar ein paar beherzte Männer und Frauen aus der krankenhäuslichen Nachtschicht nahmen die sedierten und kaum noch wehrhaften Opfer in Empfang, um sie durch Fesseln, Einsperren oder sogar Medikamente dauerhaft unschädlich zu machen. Keiner wusste, wie viel Blut sie aufgenommen hatten und wie lange die Blutfessel vorhalten würde. Niemand war bereit, ein Risiko einzugehen.

Grimmig entfernte Dr. Saltz ein paar falsche Fangzähne aus dem Gebiss einer älteren Frau und betrachtete sie im schlechten Licht, das eine rasch aufgestellte Akkulampe spendete. »Pfff … Einfach über die Canini gestülpt wie zu ’ner Halloween-Party«, brummte er. »Und wir sind drauf reingefallen!« Ärgerlich warf er die Silikon-Imitate beiseite. »Dabei sind die Dinger auch noch teuer. Wir Idioten haben gedacht, er hätte so was Hochwertiges nicht. Blöd gelaufen!«

Plötzlich näherte sich etwas vom Gebäude her. Der Arzt drehte sich um und sah Micha von der Hauswand abspringen und im feuchten Gras landen. Auf den Armen trug er Flex. Bock lief ihm besorgt entgegen; Micha sah hektisch aus, und das wohl nicht ohne Grund. Marco war blass wie ein Laken. Schlaff hing er in Michas Armen, die Augen weit offen, aber seltsam blicklos. Bock verfiel die letzten Meter ins Rennen.

Atemlos fragte er: »Was ist mit ihm?«

»Weiß nicht, er hat das mit den Fakefangs gehört und sich dann einfach hingepackt. Du bist Arzt, bring ihn gefälligst in Ordnung!«

»Sieht nach einer heftigen Belastungsreaktion aus. Leg ihn hin«, forderte der Arzt. Micha gehorchte und legte Marco vorsichtig im Gras ab. Bock prüfte Puls und Bewusstsein. »Wäre nicht verkehrt gewesen, ihn zu beißen.«

»Fick dich. Ich beiße meine Freunde nicht.«

»Na, dann eben nicht. Hol mal zwei von den Pflegern her, die werden ihn rein und zu einem Arzt bringen. Wie schon viele andere vorher«, fügte er düster hinzu. »So einen Patientenzulauf hatten die bestimmt lange nicht.«

Micha konnte darauf nichts Hilfreiches erwidern; entschuldigend erklärte er: »Weißt du, ich dachte, wir kennen den Hurensohn. So was hat der echt noch nie gebracht. Früher hat er gesagt, Hinterhältigkeiten hätten keinen Stil. Wir haben ihn einfach so was von total unterschätzt. Dass wir jetzt so am Arsch sind, ist echt unsere eigene Schuld.«

Bock schnaubte nur zur Antwort.

Nachdem sie Flex an Fachpersonal übergeben hatten und der Arzt wieder an die Arbeit gegangen war, blieb Micha unschlüssig bei den sorgsam arbeitenden Menschen stehen. Es gefiel ihm zwar nicht, Marco allein zu lassen, doch ihm war klar, dass er nichts für seinen Freund tun konnte und zudem wichtigere Arbeit auf ihn wartete. »Frais drückt sich hier irgendwo rum. Ich muss ihn erwischen. Habt ihr Lex gesehen?«

»Nein, und wir suchen ihn jetzt auch nicht«, erwiderte Ingo, der neben ihm stand, entschieden. »Entweder hilfst du uns hier, oder du gehst an die Beißfront. Den anderen wird bestimmt langsam der Mund trocken. Weiß der Geier, warum Frais eine Schar Menschen nach der anderen auf uns zurennen lässt. Was soll der Blödsinn?«

Micha grunzte unwillig und schickte sich an, sich den übrigen Vampiren, die mit gebleckten Fangzähnen willenlose Menschen aufhielten, zuzugesellen. »Wenigstens gibt’s heute Nacht ordentlich was zu beißen«, knurrte er.
 

Trotz der vorwinterlichen Kälte waren die Locksänger, die allein gelassen im Innenhof des Parks musizierten, schweißgebadet. Vor knapp drei Minuten hatten sie zuletzt die Instrumente gewechselt; nun intonierten Oliver und seine Sängerinnen das gefühlvolle Hymn To Pan, wobei sie sichtlich gegen ihre eigene wachsende Panik ansingen und darum kämpfen mussten, die Melodie ruhig und tragend zu halten. Es war das wirksamste Stück, das sie momentan zur Verfügung hatten, doch diese Gewissheit half nicht. Ihre Stimmen zitterten, und sie kniffen die Augen zusammen, als könnte dies sie von den verstörenden Umweltreizen, dem Lärm und dem beunruhigenden Panorama abschirmen. Es war Rüdiger, der Trommler, der als Erster die Schlägel beiseite warf und starke Worte fand: »Scheiß auf den Abnutzungseffekt! Wir müssen das neue Lockstück spielen!«

Verunsichert brach Fiona den Gesang ab. »Wirklich? Soll ich …« Sie suchte Olivers Blick.

Der Sänger verstummte ebenfalls. »Ich fürchte … angesichts der Tatsache, dass unsere anderen Stücke offensichtlich keinerlei Wirkung haben … müssen wir zu drastischeren Mitteln greifen.«

Als Fiona den Dudelsack zur Hand nahm, protestierte niemand. Obwohl sie weit hinter der Front positioniert waren, lagen selbst hier Angst und Verzweiflung in der Luft, sodass es immer schwieriger wurde, sauber und konzentriert ein Instrument zu spielen. Die Schlacht war dort vorne, doch gleichzeitig war sie auch überall.

Gegen ihr heftig pochendes Herz anatmend füllte Fiona das Instrument mit Luft und versuchte, sich auf die Noten zu konzentrieren, die von El Silbador tadellos lesbar auf sauberes Papier geschrieben worden waren. Ehe jedoch der erste Ton seinen Weg aus den Bordunen nach draußen fand, trat jemand wie aus dem Nichts hinzu.

»Guten Abend, schöne Dame. Darf ich das kurz halten?« Mit einem freundlichen Nicken legte Paul Frais eine Hand um das Anblasrohr.

Fiona war so verblüfft, dass sie den Sack losließ. Der Vampir nahm ihn ihr aus der Hand und betrachtete ihn eingehend. »Hm, ein schönes Instrument«, kommentierte er. »Ich denke, ich werde es einbehalten. Danke.«

»Moment mal …«, protestierte Oliver schwach, der restlos verwirrt aussah und den imposanten Fremden offenbar nicht sofort erkannte.

Daraufhin wandte Frais ihm seine weiß leuchtenden Augen zu und entblößte ausgeworfene Fangzähne. »Sssssssss!«, zischte er grinsend, und der schmale Sänger wich perplex vor ihm zurück. »Wer wird denn so vorlaut sein, Herr Sa Tyr? Darf ich fragen, ob Sie schon einmal die Ehre hatten, von einem Vampir zur Ader gelassen zu werden?« Trotz des gelassenen Tonfalls wirkte der Vampir unheimlich und bedrohlich. An seiner Identität bestand jetzt kein Zweifel mehr. »Na?«, sagte er kalt lächelnd.

Die Kapelle schwieg. Alle starrten Frais an.

»Nun gut, ich will niemanden belästigen. Für mich bitte ich mir dasselbe Recht aus. Also Schluss mit dem Gedudel. Wir sehen uns bald wieder. Schönen Abend noch.« Mit einem letzten bösartig amüsierten Blick in die Runde machte Frais kehrt. Den Sack hielt er lässig in der Hand. Dann, nur einen Sekundenbruchteil später, war er in die Dunkelheit verschwunden, als wäre er nie da gewesen.

Oliver ließ zuerst den angehaltenen Atem ausströmen. »Oh je«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar.

Niel Mitra fügte unerwartet direkt hinzu: »Also, ich hätte mich gerade fast nass gemacht. Ihr auch?«
 

Fritz hatte Alea bei der Tagesklinik der KJP, was für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie stand, doch noch gefunden. Die alte Jugendstilvilla, weit ab vom Hauptkomplex, duckte sich am Rande des Waldparks in die Ecke zwischen Schubertstraße und Goetheallee, und genau dort hatte sich der Vexecutor postiert und beobachtete, wie die Schein-Vampire angriffen – wobei sie das halb versteckte Haus glücklicherweise völlig ignorierten.

»Sind da wirklich Kinder drin?«, keuchte Fritz, als er Alea endlich dicht bei dem selbst im Dunkeln freundlich aussehenden Bauwerk stehen sah.

»Nein, da ist keiner da. Ich hab mich das auch gefragt, aber auf der Info-Tafel steht, dass die Patienten nur bis zum Nachmittag, bis fünf Uhr oder so, da in der Tagesklinik sind. Deshalb Tagesklinik. Die drei Stationen haben sie evakuiert. Hmja, clever von ihnen.« Alea wirkte aufgeregt und irgendwie verwirrt. Seine Augen waren weit offen, und sein Blick huschte unruhig von einer Seite zur anderen. »Ist dir jemand gefolgt?«

»Ähm, nein. Ingo hat gesagt, ich soll dich suchen. Weil’s bei dir sicher wäre.« Fritz stolperte heran und duckte sich neben Alea in den Schatten.

»Hö … Sicher? Na, ich glaub nicht, dass es bei mir gerade besonders sicher ist.« Schon schielte der Sänger wieder zur Straße, wo ein leuchtendes Augenpaar nach dem anderen aus den Büschen hervorstieß. »Ich weiß gerade nicht mal, wem ich glauben soll: Meinem Bauchgefühl oder meinen Augen …«

»Wieso?«

»Weil die beiden sich nicht einig sind. Ich sehe Vampire – du hoffentlich auch –, aber wenn sie an uns vorbeirennen, wird das Gefühl nicht stärker. Verstehst du?«

»Versuch doch, einen zu vexekutieren.«

»Ooooh nein!«, schnaubte Alea. »Ich hab doch gesagt, dass damit Schluss ist. Jedenfalls vorläufig. Ich muss mich erst wieder orientieren, was das betrifft.«

»Damit könntest du dich angesichts dieser Scharen, die sich da auf ein Krankenhaus stürzen, mal ein bisschen beeilen!«, fand Fritz und warf Alea einen möglichst schneidenden Blick zu.

Der kleinere Mann wich dem Blickkontakt aus. »So einfach ist das nicht«, war sein schwacher Erklärungsversuch.

Fritz rümpfte die Nase. »Und jetzt versteckst du dich wie ein Feigling?«

»Musst wirklich du das gerade sagen?«

»Wenigstens habe ich einen Pflock im Gürtel und werde ihn benutzen, wenn uns eine Bestie anspringt!« Im Schutz der Dunkelheit machte Fritz sich bereit, seine eigene und notfalls auch Aleas Verteidigung zu übernehmen. Eigentlich hatte er sich das so nicht vorgestellt, und das ärgerte ihn. Alea sollte doch ihn beschützen! Ihn, der verletzt war und nicht gut kämpfen konnte! Aber nein, die Geheimwaffe der MIU musste ausgerechnet jetzt in einer Identitätskrise stecken. Fritz schäumte innerlich über so viel Weichheit. Beinahe konnte er nachempfinden, was Micha gegen ihn, Fritz, immer so aufgebracht hatte. Buuhuuhuu, ich könnte ja was Falsches machen! Bwääähääähäää, dann hab ich womöglich für IMMER ein schlechtes Gewissen! Was war mit diesem Typen nur los?!

Als Alea die ganze Zeit nicht mehr antwortete, wandte Fritz sich schließlich wieder nach ihm um. »Was ist, fällt dir dazu nichts mehr ein?« Er stutzte, als er das Entsetzen im Gesicht des anderen sah. »Alea, was – ?«

»Pscht!« Der Sänger brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und deutete verhalten auf eine Gestalt im Halbdunkel.

Fritz folgte dem Fingerzeig und war baff. »A-aber«, stotterte er verblüfft, »w-was macht er hier? Wie ist er …? Sollten wir ihn nicht auf uns aufmerksam – ?«

»Nein.« Aleas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Nicht zu laut. Wer weiß, was die Vampire mit ihm gemacht haben. Ich trau denen alles zu.« Er nahm Fritz am Ärmel und zog ihn näher zum Haus zurück. »Besser, wir beobachten ihn erst mal.«

Fritz gehorchte ratlos. Er wusste nicht, was er hiervon halten sollte; er wusste nur, dass er diesen Bekannten zuallerletzt auf dem Schlachtfeld erwartet hatte.
 

Grenzenlose Erleichterung durchflutete Silvio Runge, und alle Vorsicht war schlagartig vergessen.

»Eric!«, rief er der auffälligen Gestalt zu, die sich unter die Angreifer gemischt hatte. »Hier! Schnell, bring dich in Sicherheit!« Simon neben ihm fiel in die Rufe mit ein. Als Eric Fish zwar irritiert innehielt, sich aber nicht von der Stelle rührte, verließ Sugar Ray ohne zu zögern die Deckung, schubste zwei halbherzig angreifende junge Männer einfach beiseite und biss auf dem Weg noch eine fuchtelnde Alte in den Arm, um auf den Sänger zuzustreben. »Eric, bist du taub? Geh weg da!« Es war schon seltsam: Keiner der falschen Vampire schien Eric zu beachten. Vielleicht wähnten sie ihn auf ihrer Seite oder hatten gar nicht bemerkt, dass er ein entkommener Gefangener war. »Hier, wir sind hier drü–«

Im gleichen Moment sah Eric Sugar Ray, fixierte ihn für den Bruchteil einer Sekunde und hob dann so schnell den Arm, dass der Vampir keine Chance zum Ausweichen hatte. Die Schüsse trafen ihn direkt in die Augen, erst ins linke, dann ins rechte, zack, zack, zwei ganz leise, schnappende Geräusche. Sugar Ray schrie heiser auf und sackte auf die Knie, beide Hände auf das Gesicht gepresst.

Simon neben ihm fiel schaudernd zurück. »Hast du ’nen Dachschaden?«, rief er anklagend in Richtung des Sängers. »Wir sind’s!« Doch seine Muskeln waren jetzt auf Abwehr programmiert, und als Eric Sonnenauge hochriss und den nächsten Schuss abgab, war der schlanke junge Mann schon beiseite gesprungen. Dreimal im Abstand von Sekunden spürte er das in Natron gehüllte Reiskorn dicht an einer Wange vorbeizischen. Dann löste Eric ruckartig den Blick von ihm und stürmte weiter vor. Seine Gestalt tauchte ins Dunkel ab und er schlug sich seitwärts aus der voran strebenden Menschenmasse hinaus.

»Unglaublich«, murmelte Simon, völlig fassungslos, und machte sich dann daran, zwei Angreifer von Sugar Ray zu vertreiben, der vornüber gebeugt im Gras hockte und immer noch beide Hände auf seine verwundeten Augen presste. Seine beiden Wangen waren blutüberströmt, und immer wieder schüttelte es ihn. In sein schnaufendes Atmen war leises Wimmern gemischt. Er schaffte es offenbar nicht, der Schmerzen Herr zu werden. »Silvio … Lass mal sehen …«

»Nein, weg! Ich bin blind, scheiße …« Seine Miene verzerrte sich, seine Finger krampften. »Natron … muss das Scheißzeug abwaschen! Hilf mir!«

Simon tat, was er konnte, und schlotterte dabei. Um nichts in der Welt wollte er jetzt mit Silvio tauschen. Schon immer hatte er sich Natron in den Augen grauenhaft vorgestellt, und jetzt, wo er Sugar Rays haltloses Beben und den hellroten Schaum auf seinen Wagen sah, wurde ihm zum Speien übel. Wahrscheinlich hatten auch Falk und Lasterbalk, die nicht weit weg positioniert waren, schon gesehen, was passiert war. Vorsichtig führte der gesunde Vampir den verletzten hinter das, was man wohl als die Frontlinie bezeichnen konnte. Obwohl die versammelten Ärzte mit den sich wehrenden Attackierern zweifellos ausgelastet waren, machte Bock sich sofort los und behandelte Sugar Rays Augen. Das Natron hatte seine Wirkung längst getan: Die Pupillen waren lichtstarr und milchig weiß.

»Die Retina ist hin, aber die Bindehäute sind, wie immer, völlig unbeeindruckt«, murmelte der Arzt, während er vorsichtig Blut und Tränenflüssigkeit aus den Augen des Vampirs wischte. Erst dort, wo die Schleimhäute in die härtere Epidermis übergingen, hatte das Natriumhydrogencarbonat Verätzungen verursacht. »Okay, das wird wieder. Silvio, ich mach dir erst mal neutralisierende Tropfen rein und leg dir eine kühlende Wundabdeckung drauf. Du versuchst bitte, die Augen geschlossen zu halten und möglichst nicht zu bewegen. Guck einfach geradeaus, du siehst ja sowieso nichts.«

Ingo Hampf trat hinzu. »Ist das erste Mal, dass einer von uns ’nen Blindschuss kassiert hat«, knurrte er und kniete sich zu Sugar Ray, dem Bock gerade feuchte Tücher auf die beschädigten Augen legte. »Habt ihr gesehen, wo Eric hin ist?«

»Ich jedenfalls nicht«, schniefte Silvio, der immerhin seinen Humor noch nicht ganz verloren zu haben schien.

»Ich geh ihn suchen«, meldete Simon sich sofort freiwillig.

»Herrje, das hab ich befürchtet«, seufzte Ingo. »Pass auf, dass er dich nicht auch blind schießt. Er steht wahrscheinlich unter Blutfessel. Okay, eher sicher

»Ich beiße ihn einfach und bringe ihn her. Wenn Frais denkt, er könnte uns mit so blöden Tricks aus dem Konzept bringen, schneidet er sich aber!« Simon leckte sich die Zähne und tauchte wieder ins Getümmel ab.
 

Nach einem kurzen Run auf alle Mauern des Krankenhauses war nur noch die Nordseite bestürmt worden, und das nicht einmal mit besonders viel Begeisterung. Die zahlreichen Männer und Frauen, mit reflektierenden Kontaktlinsen und falschen Fangzähnen als Vampire getarnt, hatten von Paul Frais offensichtlich keine klareren Anweisungen erhalten als die, alle Verteidiger mit ihrer schieren Masse in Beschlag zu nehmen. Als Simon sich mühelos durch die vorwärts taumelnden Menschen wand und nur halbherzig aufgehalten wurde, war ihm klar, dass der Plan hinter alldem ein anderer sein musste. Eine beunruhigende Entdeckung – aber vermutlich hatten seine Kollegen sie auch schon gemacht.

Der junge Mann fand Eric an der Ecke zwischen Pfotenhauer- und Fetscherstraße, mitten auf dem Gehweg, komischerweise in einem Handgemenge mit Asp, den kurz nach Einsetzen des ersten Angriffs niemand mehr gesehen hatte. Mensch und Vampir lieferten sich ein eher lahmes Gefecht: Eric versuchte, auf Asp zu schießen, während letzterer einfach immer wieder seinen Arm mit dem erhobenen Revolver beiseite schob und dabei auf ihn einredete, etwa davon, dass die Blutfessel schon nachlassen würde, dass Frais doch keine Macht über ihn hätte.

Noch im Laufen rief Simon: »Alex, draufquatschen bringt nichts!«

Derart abgelenkt wandte Asp sich nach ihm um, eine Bewegung, die Eric Zeit zum Feuern verschaffte. Überraschend trat jedoch wie aus dem Nichts Paul Frais auf den Plan und bremste Eric mit einem ruhigen: »Nicht.« Eric ließ die Waffe sinken. Er sah aus, als wäre er gleichzeitig entsetzt und völlig durcheinander. Seine Hand mit dem Colt zitterte, als könnte er mit ihr unmöglich zielen, und sein Blick zuckte gehetzt von einer Seite zur anderen. »Jaja, ich weiß«, fuhr Frais gespielt teilnahmsvoll fort, »es kann nicht schön sein, wenn der Körper etwas tut, das der Geist nicht gutheißt.«

Asp schaute zu Simon, der bei Frais’ Auftreten wie angefroren stehen geblieben war. »Und was habt ihr jetzt vor?« Asp wirkte nicht verängstigt – bestenfalls verunsichert. Simon konnte mit seiner Reaktion rein gar nichts anfangen und rührte sich nicht.

Frais lächelte und beantwortete Asps Frage sogar, indem er Richtung Simon nickte und befahl: »Schreite zur Tat, lieber Eric.«

Sofort reagierte Eric, schneller als ein Mensch es gewöhnlich konnte. Simon musste sich beiseite werfen wie bei einer drohenden Explosion, um dem Schuss zu entgehen. Wieder hielt Asp Eric auf, umklammerte seinen Arm und versuchte mit der freien Hand erfolglos, ihm die Waffe zu entwinden. Amüsiert sah Paul Frais seinen Bemühungen zu.

»Also, ihr seid schon ein putziges Grüppchen, ihr vorsichtigen, kleinen MIU-Vampire«, stellte er schmunzelnd und in unüberhörbar herablassendem Ton fest. »Bloß keinen töten. Bloß keinen verletzen. Nur immer mit allen Kanonen auf die Bestien. Alle anderen Konflikte kann man durch Reden lösen.« Besonders bedauernd musterte er Asp. »Und du bist so ziemlich der Schlimmste, mein Guter.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Asp einigermaßen gefasst, immer noch Erics Hand unten haltend. »Einigen wir uns darauf, dass du diesen albernen Angriff jetzt abbrichst?«

»Albern?«, wiederholte der alte Vampir. »Abbrechen? Aber nicht doch – jetzt, wo es lustig wird!« Und er wies die leere Pfotenhauerstraße hinunter, von wo aus seine Armee aus Menschen angestürmt war. Jetzt standen dort nur noch vereinzelte von ihnen, ohne zu rennen; sie warteten auf den nächsten Befehl. Diese trugen keine Leuchtlinsen und keine Fangzähne. Das Ablenkungsmanöver war vorüber.

»Was wird das?«, fragte Simon alarmiert. Er kauerte noch immer halb auf dem Asphalt.

»Das wirst du gleich sehen, Frischling.« Und Frais holte Luft, die Menschen fixierend, um weithin hörbar einen Befehl zu erteilen.

Simon hatte keine Lust, diesen abzuwarten. Was auch immer Frais jetzt vorhatte, man tat gut daran, es zu verhindern. Aus der Hocke schnellte er hoch wie auf Sprungfedern und warf sich dem hochgewachsenen Mann direkt an den Hals, die Zähne zum Kämpfen vorgestreckt.

Frais sah die plötzliche Attacke nicht kommen. Er konnte nicht schnell genug reagieren. Umso verblüffter war Simon, als die Abwehr jemand anders übernahm – und zwar nicht Eric, der völlig hölzern stehen blieb. Es war Asp, der Simon an der Schulter erwischte und von Frais fortstieß.

Nach ein paar gestolperten Schritten fing sich Simon und sah entgeistert zurück. »Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?«, fragte er Asp anklagend, doch vor Verblüffung klang seine Stimme weit weniger wütend als beabsichtigt.

Asp erwiderte den Blick unsicher. »Ich – …«

»Das reicht!«, fauchte Paul Frais dazwischen. »Du wirst schon noch Gelegenheit bekommen, dich deinen zahnlosen Freunden zu erklären. Jetzt kommt erst mal der zweite Akt meines fulminanten Großwerks!« Und er wandte sich schrill an die Menschen: »Jetzt Plan B! Los, holt sie euch!«

Dann brach die zweite Angriffswelle los.

Simon fluchte leise. Erst fuhr er zu den losstürmenden Menschen herum, die sich alle nahezu gleichzeitig jeder einen langen Metallpflock aus dem Gürtel zogen, dann wieder zu Frais, der im gleichen Moment mit zwei großen Schritten aus dem Licht der Straßenlaterne verschwand. Eric befreite mit einem Ruck seinen Arm aus Asps gelockertem Griff und folgte dem Herrn über seinen Willen unerwartet flink.

Asp und Simon tauschten einen schnellen, durchdringenden Blick. »Ich folge ihnen«, entschied der ältere Vampir dann und setzte sich lautlos in Bewegung.

»Warte!«, knurrte Simon ärgerlich. »Was zum Teufel sollte das eben? Alex, ich rede mit dir!« Als der junge Mann merkte, dass er allein zurückgeblieben war und nur noch der Nachtwind seinem Zornausbruch lauschte, drehte er auf dem Absatz um und rannte in die entgegengesetzte Richtung los, direkt auf die hypnotisierten Menschen zu. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun, als Frais zu folgen. Auf die MIU-Vampire war eine Horde von Pfählern losgelassen worden. Wenn sie sie nicht aufhalten konnten – …

Er wurde schneller. Noch beachteten die Feinde ihn nicht, die wild entschlossen auf die Klinik zuhielten. Simon erreichte mit weit ausholenden Sprüngen ihre hinterste Reihe, fuhr die Zähne aus und warf sich dem nächsten der Angreifer schwungvoll von hinten um den Hals.

Wahre Freunde

»Scheiße! Pflöcke!«, entfuhr es Lasterbalk, als ein überraschend kräftiges Mädchen mit der blinkenden Spitze nach seiner Brust hackte.

Sie lachte keckernd. »Da staunt ihr, was?«

»Und reden können die auch! Die sind net unter Blutf–«

»Weißt du, was ich noch kann?«, säuselte das Mädchen, seine fassungslose Feststellung unterbrechend, und streckte ihm ihre gepiercte Zunge entgegen. Noch immer rang sie für einen Menschen höchst erfolgreich mit ihm, der zwei Köpfe größer war als sie. »Das!« Sie öffnete den Mund, und ein Paar perlweißer Fänge fuhr aus dem Zahnfleisch hervor. Als sie Lasterbalks entsetztes Gesicht sah, lachte sie laut auf.

»Das sind Vampire

»Dann pfähl doch zurück!«, kam es weit beherrschter von Falk, der nicht weit weg kämpfte. »Ich weiß, die riechen wie Menschen, aber … arrrghhh –« Gerade wehrte er erfolgreich die Pfählattacke eines älteren Vampirs ab. »– es gibt Möglichkeiten, den Bestiengeruch zu überdecken …«

»Ach, Surprise!« Lasterbalk warf aus und brachte dem Mädchen einen Biss bei, der die Schulter klaffend auseinander riss. Endlich konnte er sie beiseite stoßen. »Jetzt wär ein bisschen Wikingerblut net schlecht!«

»Ich glaube, die haben das Wikingerblut gebechert!«, gab Falk keuchend zurück. »Das sind zu viele, wir werden die niemals alle – …«

»Macht Platz!«, grollte jemand, und Ingo Hampf stieß mit gezückter Waffe hinzu. »Jetzt geht’s Pflock gegen Pflock!«

»Und du glaubst, da hast du auch nur den Hauch einer Chance, a mhuirnín?«, keifte eine Vampirin, die sofort auf ihn losging. »Dich trinken wir leer wie eine Flasche Tullamore Dew

Die Drohung prallte so gründlich an Ingo ab wie besagte Flasche Tullamore Dew von der Wand einer Gummizelle. Er packte die Frau, riss sie zu sich und pfählte sie mit der Linken, ohne eine einzige unnötige Anstrengung zu unternehmen. Eine zweite, die glaubte, den kurzen Moment seiner Unachtsamkeit nutzen zu können, folgte ihr genauso abrupt in den Tod, als Ingo herumwirbelte und sie noch im Flug abfing. Falk, der sich einen Spritzer Blut aus den Augen wischte und ebenfalls wieder in die Offensive ging, konnte insgeheim nur staunen, was Subway To Sallys schweißüberströmter Gitarrist nach den bereits durchfochtenen, sich wie eine Ewigkeit anfühlenden Nachtstunden immer noch aus sich herausholte.

Lasterbalk wusste, dass die Aussichten dennoch nicht gut standen. Frais’ scheinbar sinnloser Fake-Vampir-Angriff hatte seine Wirkung nicht verfehlt: Die zuvor so ambitionierten Armbrust-Schützen würden ihre Waffen aus Angst, einen Menschen zu töten, nicht so bald wieder einsetzen; Erics Auftreten hatte zwar nicht alle MIU-Vampire, aber zumindest Sugar Ray und damit einen wertvollen Verteidiger aus dem Verkehr gezogen; Simon und Asp waren ebenfalls von der Bildfläche verschwunden, und zu allem Übel drückte sich auch noch irgendwo ein gut amüsierter Paul Frais herum. Die Locksänger hatten aufgehört zu spielen; Fionas Dudelsack war von Frais persönlich beschlagnahmt worden, das neue Lockstück somit nicht spielbar. Alea, wo auch immer er war, weigerte sich, seine gefürchtete Fähigkeit einzusetzen. Es war so ziemlich alles im Eimer. Hinzu kam, dass die wenigen Verteidiger der schieren Überzahl von Angreifern auf Dauer nicht gewachsen waren. Eben gesellten sich Michael und Dr. Pymonte mit Natron-Kanonen und Pflöcken hinzu. Machte fünf Kämpfer an der Front.

Fünf, dachte Lasterbalk und fühlte sich in dem Moment, als die Erkenntnis ihrer Unterlegenheit ihn mit voller Wucht traf, unendlich ausgelaugt und müde. Seine Muskeln zitterten von der Anstrengung, und zu gerne hätte er das Schlachtfeld jetzt weit hinter sich gelassen, um an einem weichen, warmen Ort einfach umzufallen und nie wieder zu erwachen. Als er stattdessen den vielen munteren Fiacail-Fhola-Vampiren entgegensah, die jetzt ihre tarnenden Linsen aus den Augen rissen und nachtsichtig wurden, stöhnte alles in seinem Kopf gequält auf: Wir sind am Arsch!

Doch er irrte sich.

Und wie.

Gerade als er dachte, dass die MIU dem Angriff auf die Klinik keine fünf Minuten länger Stand halten würde, brachen plötzlich noch ein gutes Dutzend weiterer Gestalten aus der Dunkelheit hervor. Instinktiv raffte Lasterbalk alle noch verbliebenen Kräfte zusammen, die in irgendwelchen verborgenen Winkeln noch vorhanden waren. Angesichts dieser Übermacht glaubte er, sein Herz müsse jeden Moment vor Verzweiflung aussetzen. Panik riss an seinem Willen, als er den Pflock umklammerte, um auch dieser schrecklichen Bedrohung noch irgendwie zu begegnen, egal wie.

Doch dann kam es anders. Wild stürzten diese neuen Akteure sich auf die feindlichen Angreifer, rammten ihnen von hinten Pfähle durch die Brust oder Zähne in die weichen Kehlen, bis sie gurgelnd fielen. Als sie näher kamen, erkannte der keuchende und verwirrte Lasterbalk dank der Beleuchtung des Geländes das kleine Abzeichen, das die unbekannten Helfer auf den Brusttaschen ihrer ausnahmslos weißen Hemden und Blusen trugen: ein dreiblättriges Kleeblatt in sattem Grün. Plötzlich waren die vielen Unbekannten gar nicht mehr unbekannt.

»Fírinne!«, hörte er Falk erfreut ausrufen. »Endlich kommen die sich mal revanchieren!«

Über alle Maßen erleichtert nickte Lasterbalk ihm und den Ankömmlingen zu, ohne dass ihm ein zusammenhängender Satz eingefallen wäre. Er war selten um Worte verlegen.

Verbissen ging der Kampf weiter, und obwohl es den Iren nicht leicht fiel, die Reihen der gegnerischen Vampire aufzubrechen, zeichnete sich schon bald ab, dass es Fírinne gelang, seitlich einen Keil zischen Paul Frais’ Leute und die ansonsten wohl verloren gewesene MIU zu treiben. Dies verschaffte den beiden älteren Vampiren überraschend einen größeren Abstand zur Front, sodass sie – unverhofft, aber willkommener Weise – verschnaufen konnten.

Jemand trat hinter Lasterbalk und hüstelte. Der große Vampir fuhr herum und sah einen kurzhaarigen jungen Mann. »Wunderschönen Abend, Niklas Löhse mein Name. Ich hoffe, wir stören nicht?«

Auf das triumphierende Lächeln hin stieß Lasterbalk nur begeistert hervor: »Himmel, nein, wir geben euch einen aus, wenn das vorbei ist! Mann! Wieso seid ihr net früher gekommen?«

»Tja, das hätten wir wohl, wenn uns mal jemand genauer informiert hätte. Aber erst diese Frau musste kommen und uns an unsere Schuld erinnern.« Löhse wies auf eine rothaarige Vampirin im blauen Wickelkleid. »Gestatten, Ríona Nic Mhathúna. Unsere Doppelagentin bei Fiacail Fhola

Lasterbalk zog die Brauen hoch. Die kleine Vampirin reckte stolz das Kinn. »Ah, na dann … willkommen an Bord, ne? Ich will euch gar net vom Kämpfen abhalten. Lasst uns diesen hirnlosen Lochern ’nen Satz warme Ohren verpassen!«

Und dann nahmen Fírinne und die MIU wieder Seite an Seite den Kampf auf, erstmals seit fast sechs Jahren.
 

Fritz duckte sich zitternd hinter Alea.

»Endlich ergibt alles Sinn!«, machte der Vexecutor seinem Zorn Luft. »Frais hat uns alle verarscht!«

»Meinst du nicht, dass das ein Grund wäre, ihn zu vexekutieren?«, schlug Fritz versuchshalber vor.

Alea ignorierte ihn; er sah nur wütend, aber dennoch fasziniert zu, wie sich Angreifer und Verteidiger rund um den Klinikkomplex erbitterte Kämpfe lieferten. »Ich glaub’s nicht, die Eff-Eff-Freaks gehen mit Pflöcken gegen unsere Leute vor! Was verdammt noch mal soll das?«

»Um sie spüren zu lassen, wie sich das anfühlt?«, sagte Fritz vorsichtig. »Ich meine, auch ein Mensch stirbt, wenn man ihm eine Spitze in die Brust rammt.«

»Ja, du hast Recht. Komm, Fritz, wir müssen zurück.« Unversehens machte Alea kehrt.

»Was, durch die ganzen Vampire?« Fritz traute seinen Ohren nicht.

»Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, welche Wahl haben wir schon? Immerhin, ich bin Lámh Dé, also sollten die eigentlich rennen wie die Blöden!«, gab Alea gereizt zurück. »Dass ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin! Los, es sind gerade nicht so viele! Jetzt

Sie stürzten los. Mitten in das Getümmel aus Feinden und Freunden hinein. Als das Licht auf Aleas Haar und Bart fiel, wandten sich ihm tatsächlich alle Augen zu; nicht nur die Fiacail-Fhola-Vampire, auch die Leute von Fírinne wichen augenblicklich zurück.

»Lámh Dé!«, wisperten die zahllosen Münder in Terror.

Alea achtete auf niemanden, ging nur stur geradeaus, wobei sich vor ihm eine Schneise bildete, und zog dabei Fritz am Ärmel hinter sich her. Letzterer setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Sein verletztes Bein stach empfindlich bei der unerwarteten Belastung.

Und dann, sehr schnell, hatten sie das Schlachtfeld hinter sich. Hier, dicht an der Hauswand, rückte der Kampflärm plötzlich in die Ferne. »Ich suche die Locksänger«, sagte Alea. »Sie müssen spielen, und ich will wissen, wieso sie’s nicht machen!« Und er huschte ins Dunkel davon.

Fritz stützte sich an der kalten Mauer ab. Ihm war fast egal, wohin Alea jetzt wieder verschwand. Er brauchte eine Pause. Jedes Geräusch in der Nähe ließ ihn zusammenzucken; er konnte gar nicht richtig verfolgen, was um ihn herum passierte, so sehr hatte die geringe Anstrengung ihn bereits wieder überfordert. Alles schien durch den Schleier der Dunkelheit unwirklich, der Kampflärm so nahe und doch so endlos weit weg, als könnte keine Gefahr sie erreichen – und doch konnte sie es, und nicht nur die ziehenden Schmerzen in Fritz’ Bein taten davon kund. Er bemüht sich, ruhiger zu atmen, und schloss einen Moment lang die Augen.

Plötzlich sagte eine warme Stimme dicht neben ihm: »Du brauchst ihn ja gerade nicht, Fritz. Ich leihe ihn mir mal. Danke.« Etwas zupfte an seinem Gürtel. Fritz fuhr herum und sah niemanden; er versuchte, seinen pochenden Herzschlag zu beruhigen, doch schon lenkte wieder ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit ab. In einiger Entfernung sah er Falk und Ingo Hampf über ein wild um sich schlagendes Vampirpaar triumphieren. Dann eilte jemand ganz in seiner Nähe quer über die Bildfläche: schlanker Körper, lange blonde Haare. Simon Schmitt. Der junge Mann sah sich suchend um, erblickte Fritz und kam dann rasch auf ihn zu, einen besorgten Blick auf den jungen Zügen.

»Fritz! Hast du Alex gesehen?« Seine Stimme klang gehetzt und zutiefst verunsichert.

»Äääh … wie, was? Nein, ich …« Fritz ließ die Hauswand schwankend los, und noch während er verneinte, Asp gesehen zu haben, sah er ihn doch: Er spurtete soeben senkrecht an der Wand hinauf, schnell und leise wie ein Schatten, und rannte, oben angekommen, weit ausgreifend über das Dach davon. Fritz’ Hand flog zu der leeren Gürtelschlaufe, in der sein Pflock gesteckt hatte. »Da – da oben ist er!«

»Was?«

»Simon, schnell, wir müssen ihm folgen!«, insistierte Fritz. »Alle anderen sind zu abgelenkt!«

Simon schaute grimmig drein. »Das vergiss mal besser! Erstens verfolgt er Paul Frais, zweitens spinnt er –« Sein Ton spiegelte eine verständnislose, ohnmächtige Wut wider. »– und drittens holen wir ihn nie ein! Ich kann noch keine Wände hochlaufen, schon vergessen?«

»Aber er will ihn töten!«, insistierte Fritz, da ihm in diesem Moment alles klar wurde. »Also, Asp will Frais töten!«

»Pah, töten!«, entgegnete Simon augenrollend. »Das ist doch Quatsch. Alex tötet niemanden, er hat ja nicht mal einen Pflock!«

»Jetzt schon!« Fritz senkte die Stimme. »Er hat meinen.« Vielsagend hielt er die leere Gürtelschlaufe hoch.

»Oh …«, kam es überrascht aus Simons Mund.

»Also, gehen wir ihm jetzt nach oder nicht?«

»Doch …« Simon zögerte, und man sah es hinter seiner Stirn blitzschnell arbeiten. »… doch, aber wir – wir müssen um das ganze Gebäude rum. Ja, das geht am schnellsten. Komm, ich trag dich … und dann folge ich seiner Spur, so gut ich kann.«

Damit war Fritz durchaus einverstanden. Er hatte zwar keine Ahnung, woher sein Mut plötzlich rührte, zumal Frais hochgefährlich und Simon ein Chaosmagnet war – doch jetzt war er plötzlich voller Tatendrang und wollte zu etwas nutze sein. »Holen wir uns Frais!«, rief er, als Simon ihn hochgehoben hatte und trotz seiner Last leichtfüßig losrannte.
 

Die eigentliche Schlacht war kurz. Keine Stunde, nachdem Fírinne auf den Plan getreten waren, ergriffen die übrigen Fiacail-Fhola-Vampire laut fluchend die Flucht. Kaum einer ihrer eisernen Pflöcke hatte ein Vampirherz durchbohrt; die hölzernen Pendants der MIU jedoch hatten nicht wenige Opfer gefordert.

»Pfählen muss man jahrelang üben!«, kläffte Ingo, dessen allerletzter Atem dafür gerade noch auszureichen schien, einem davon stürmenden Gegner nach, ehe er vor Erschöpfung auf die Knie sank. »Das muss man perfektionieren, wie ein Musikinstrument!« Er stützte sich ab und japste nach Luft. Den fliehenden Vampir, der im Duell gegen ihn soeben das Handtuch geworfen hatte, interessierte dieser Hinweis wenig.

Fírinne hatten zwei Verluste zu beklagen. Es handelte sich um ein frisch verwandeltes und ebenso frisch verliebtes junges Paar, das seinen ersten Kampf bestritten hatte – nun waren sie im Tode vereint. Ebenso benötigten einige Verletzte Aufmerksamkeit, doch glücklicherweise ließen sich Wunden, die falsch gestoßene Pflöcke und Klingen zugefügt hatten, mit Vampirspeichel notdürftig versorgen.

Falk und Micha verfolgten ein paar der langsameren Flüchtigen noch bis zum Ende der Fetscherstraße; dann war plötzlich alles ruhig. Nur das hinterbliebene Chaos zeugte davon, dass auf dem Gelände vor kurzem ein Kampf stattgefunden hatte.

»Nicht dass die uns wirklich hätten töten können«, stellte Falk fest, »wie man schon damals in Irland gesehen hat. Die sind so blöd, die rammen den Pflock rein und wundern sich, dass der Gegner nicht tot umfällt. Dass man den Pflock auch rausziehen muss, damit das Herz ausblutet, darauf kommen die gar nicht. Ha!«

Das siegreiche Lächeln verging den fünf Kämpfern, als sie hinter ihre Linien zurücktraten und mit der Klinikleitung konfrontiert wurden.

»Sie können gleich aufhören zu grinsen!«, keifte eine Frau in schmutziger Kleidung, der tiefe Spuren von Angst und Sorge in den übermüdeten Augen standen. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, welcher Gefahr Sie die Patienten ausgesetzt haben? Und gucken Sie sich das mal an!« Sie deutete auf das Feldlazarett unmittelbar vor der kleinen Metalltür, dem einzigen Zugang ins Krankenhaus, wo das Ärzteteam die falschen Vampire nach ihrer Ausschaltung in Empfang genommen hatte. Die unzähligen Patienten starrten dumpf vor sich hin. Viele von ihnen waren noch immer an den unterschiedlichsten Körperstellen blutüberströmt, weil die Vampire sie zwar gebissen, die Bisswunden in der Eile aber nicht eingespeichelt hatten. »Das sind alles Menschen, die manipuliert worden sind und die Sie trotzdem meinten, beißen zu müssen! Natürlich können Sie als Vampir jetzt behaupten: Jaah, genau dafür gibt es doch Ärzte!, aber ich sag Ihnen, nicht mal die Ärzte ohne Grenzen versorgen mit so wenig Personal so viele Verletzte!« Sie holte tief Luft.

Lasterbalk fühlte sich, mit so blankem und – seiner eigenen Meinung nach – unberechtigtem Zorn konfrontiert, etwas überfordert; von hinten kamen nun auch die vielen Vampirjäger von Fírinne angetrottet und hofften wohl auf so etwas wie ein alkoholisches Getränk. »Also …«, begann er langsam, und seine Fähigkeit, eine unschöne Situation in euphemistische Worte zu kleiden, erfuhr einen jähen Aussetzer. »… ich finde, wir haben nach Kräften …«

»Lasterbalk!!«, kreischte Bock plötzlich in allerhöchsten Tönen und deutete auf eine Gestalt, die sich gerade vom Rande des Schlachtfelds aus auf die wachsende Gruppe zuschleppte.

Augenblicklich verbannte Lasterbalk das Gezänk der Ärztin von der Liste Aufmerksamkeit verdienender Dinge. »Elsi! Was hast du gemacht, verdammt?!«

Als El Silbador die vertrauten Gesichter sah, sank er auf Hände und Knie und kippte wie in Zeitlupe zur Seite. Erst jetzt war die stark blutende Wunde knapp über seiner Hüfte zu sehen.

Ein paar ausgreifende Schritte brachten Lasterbalk an die Seite des Jüngeren, und er hob ihn auf, jedoch nicht ohne weiterhin seiner Erregung Luft zu machen. »Was an ›Bleib drinnen und halt den Zugang für Verletzte offen‹ hast du net kapiert, sag mal?« Einen Moment später war Falk neben ihm, und sie schleppten Elsi eilig zu Bock und den anderen.

»Ja, war ’ne blöde Idee, ich weiß«, ächzte Elsi, offenbar mühsam ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrückend, und hing schlaff im Griff der beiden. »Ich dachte, ›Offenhalten‹ würde auch ›Verteidigen‹ beinhalten, aber kaum bin ich draußen und geb ein paar Schüsse ab, jagt mir so’n Amateur seinen Pflock in die Seite … Zack, lieg ich unten, sofort fällt jemand über mich, ein anderer tritt mir auf die Schulter …« Er zog die Nase hoch. »Hab ich verkackt, ist klar …«

Die Ärztin, die den MIU-Vampiren kurz zuvor den Anranzer verpasst hatte, wollte ihnen sofort den Verletzten abnehmen, aber Lasterbalk hielt sie unsanft mit der freien Hand zurück. »Sie lassen schön erst mich da ran!«, verlangte er und bleckte die Zähne, und sofort sprangen auch die zwei Pfleger beiseite, die gerade unverfroren zupacken wollten.

»Was?«, protestierte die Ärztin. »Der junge Mann verblutet und Sie denken nur daran, aus ihm zu trinken?!« Sie schien es gar nicht fassen zu können.

Als Elsi auf dem Boden lag, inspizierte Bock die Wunde ganz kurz, dann machte er Lasterbalk sofort Platz; schlimmer noch, er zog sogar die Kleidung des Patienten beiseite, damit der Vampir sich über die Wunde beugen und die Lippen darauf drücken konnte.

»Ich glaub, mich tritt ein Pferd!!«, kiekste die Ärztin.

Ein Pfleger widersprach in ruhigem Ton: »Lassen Sie diese Leute ihre Probleme selbst lösen, Frau Doktor.«

Lasterbalk saugte nur ganz kurz an der Wunde, der Verunreinigung wegen, dann fing er an, sie zu lecken; das machte er so lange, bis sie ganz sauber war und – zum sichtlichen Erstaunen der kapriziösen Medizinerin – auch nicht mehr blutete. Dann hob er den Kopf und fragte den Patienten: »Besser?«

»Hundertmal«, antwortete El Silbador matt. Er war kreideblass, wirkte aber schon entspannter, da die Schmerzen aufgehört hatten.

Zufrieden stellte Bock fest: »Gut, dann können wir jetzt nähen.« An die Ärztin gewandt fügte er hinzu: »Vampirspeichel ist hoch gerinnungsfördernd, eine Art Wundkleber. Wäre das nicht so, würden die Opfer nach dem Biss verbluten, weil die innere Drosselvene so viel Blut führt … wie Sie ja heute oft genug gesehen haben.« Die Ärztin starrte nur perplex zurück. »Übrigens, ich hätte liebend gerne eine Studie über vampirischen Speichel bewilligt … Okay, nein, lassen wir das, jetzt haben wir andere Sachen zu tun«, fügte er entschuldigend hinzu.

Die Ärztin war nunmehr so verblüfft darüber, von allen Seiten belehrt zu werden, dass sie den Mund zuklappte und nicht mehr öffnete. Lediglich ihre Miene sprach Bände.

Der Vampirarzt wurde unterbrochen, als Micha zu ihm trat und ungeduldig an seiner Schulter rüttelte. »Bock? Komm mal mit. Hier sind genug Ärzte. Ich kann Schmittchen, Lex und Fritz nirgends finden.« Er sagte das nicht nur zu Dr. Saltz, sondern auch zu Lasterbalk und den Umstehenden, erkennbar daran, dass er ihnen einen nachdrücklichen Blick widmete.

»Wo ist Alea?«, fragte Falk scharf.

»Bei den Rattenfängern. Allen geht’s gut. Paul Frais hat den Sack geklaut, keiner traut sich, ’nen Muskel zu bewegen … aber verletzt ist keiner.«

»Frais, soso«, kommentierte Lasterbalk. »Okay, dann haut ihr mal ab und sucht die Vermissten wieder zusammen. Falk, gehst du auch mit?«

»Wenn ich hier nicht gebraucht werde, ja«, antwortete Falk und hob die Schultern.

»Jaah, dann los, ab mit uns!«, zischte Micha ungeduldig. »Frais springt da noch irgendwo durch die Gegend, Fritz ist nicht gesund, Lex ist kein Killer und Schmittchen kein Aufpasser. Also kommt endlich!«

Seufzend sah Lasterbalk den dreien nach, wie sie sich – Micha mit gereckter Nase voran – vom Gelände entfernten; dann schaute er wieder zu Elsi, den nun das Ärzteteam behandelte. Er und die Zurückgebliebenen würden die Aufgabe haben, das hinterlassene Chaos bestmöglich zu beseitigen.
 

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …«, zählte Simon Schmitt zum wiederholten Male die parkenden Autos am Straßenrand. Er wirkte schrecklich nervös. »Ach Mann, immer wenn ich aufgeregt bin, fange ich an, sinnlos Sachen zu zählen!«

»Mach dir keinen Stress, das stört mich nicht«, beruhigte ihn Fritz, der nun auf eigenen Füßen ging, aber im Moment ganz gut Schritt halten konnte. »Jedes Kind weiß, dass Vampire gerne zählen. Ich denke immer an Graf Zahl aus der Sesamstraße …«

»Das ist übertrieben, aber ich hab vor meiner Verwandlung definitiv nicht so viel gezählt«, murmelte Simon, »obwohl ich als Lehrer gearbeitet hab. In der Musik muss man sowieso ziemlich viel zählen. Es fällt also nicht mal wirklich auf. Aber seit ich ein Vampir bin, zähle ich auch Kuchenstücke, Sockenknäuel und Wäscheklammern … meistens bis sieben, dann fange ich wieder von vorne an …«

»Solange du keine Erbsen zählst«, sagte Fritz. Was als Aufmunterung gedacht war, verfehlte seine Wirkung, denn Simon lächelte nicht zurück.

Stattdessen wandte er sich von den Autos ab und schnupperte. »Alex ist Frais wirklich geradewegs gefolgt. Ihre Spuren überlagern sich mit einem Abstand von … ein paar Minuten, bestenfalls. Ich fürchte, wir werden noch ein ganzes Stück laufen müssen. Ich weiß nicht mal, wo wir sind.«

»Ähm … Ich glaube, wir sind auf der Marienallee. Mal wieder. Du weißt schon, hier irgendwo ist die Albertstadt-Kaserne … und der Eingang ins Eff-Eff-Versteck.«

»Aha! Aber … das Versteck ist doch verlassen, oder nicht? Hab keine Ahnung, wieso Frais sich da verstecken will. Er weiß doch bestimmt, dass wir eine Karte davon haben.«

Fritz wusste keine Antwort darauf. Die einsame Straße mit ihrer nächtlichen Ruhe löste ein trügerisches Gefühl der Sicherheit in ihm aus, doch er wusste, dass diesem ganz und gar nicht zu trauen war. Er hoffte nur, dass sie Asp und Paul Frais finden würden, bevor der Kampf der beiden zu einem Ende kam. »Simon«, begann er, um die Stille, die vermutlich noch eine ganze Weile dauern würde, mit etwas zu füllen, »wie fühlt es sich an, wenn man ein … ein Vampir wird?« Bisher hatte sich keine einzige Gelegenheit ergeben, einen Vampir danach zu fragen. Ständig waren sie irgendetwas hinterher gejagt oder hatten in großer Runde Diskussionen geführt. Nun aber folgten sie zu zweit der Spur zweier Vampire, die nicht nur sehr viel schneller waren, sondern auch in kurzer Zeit große Distanzen überwinden konnten – und dies sicherlich auch getan hatten. Fritz und Simon waren jetzt vollkommen allein.

»Du meinst die … Transformation?« Simon zögerte unbehaglich. »Das solltest du lieber jemanden fragen, der’s bei vollem Bewusstsein durchmachen musste. Ich war ja schon bei der MIU, und bei mir hat man natürlich erkannt, was passierte. Bock und Eric haben mich sofort nach Treuenbrietzen ins Johanniter-Krankenhaus gebracht … du weißt schon, das uns das Azathioprin liefert. Da wissen alle bescheid. Die haben mich einfach in künstliches Koma versetzt und die Transformation auf der Intensivstation überwacht, bis alles vorbei war. Du weißt vielleicht, dass mehr als zwanzig Prozent aller Abkömmlinge beim Verwandeln sterben.«

»Ja … aber im Krankenhaus mit medizinischer Versorgung ist das wohl kein Problem«, folgerte Fritz nachdenklich.

»Ich glaube nicht. Die behandeln dich wie einen Schwerkranken, schließen dich an zig Geräte an, die alles für dich machen, sogar atmen. Ich bin noch in der Notaufnahme eingepennt, und als ich wieder wach war, waren plötzlich sieben ganze Tage vergangen … und ich war ein Vampir. Ich hatte plötzlich Fangzähne. Und die Power von zehn Tigern. Erinnere mich dunkel, nach dem Wachwerden jemanden gebissen zu haben, aber alle meinten, das wäre okay.« Simon atmete tief durch, als beengte etwas seine Brust. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für’n Mist das ist. Du weißt einfach gar nicht, wie dir geschieht. Zum Glück war Silvio da … und Asp.«

»Er hat dir auch geholfen?«

»Oh ja. Er hat mir die heiklen Sachen beigebracht, die Silvio zu unangenehm waren … zum Beispiel Beißen. Das ist echt, als würdest du mit deinen Eltern über Sex reden.« Simon schaute verlegen beiseite.

»Und ausgerechnet Alex hat das mit dir besprochen?«, hakte Fritz ungläubig nach. »Der beißt doch gar nicht.«

»Nein. Aber er hat vollstes Verständnis dafür, wenn andere das machen. Wir benutzen die Hauer ja auch als Waffen, und Alex sieht sich eben als Ausnahme. Er ist der Letzte, der anderen was vorschreibt – Micha übrigens auch, dem ist ja vieles schnurzegal, aber er hatte keinen Bock, ein Baby zu unterrichten.«

Fritz kam ein anderer Gedanke. »Und was war mit deinem … Erschaffer?«

»Hm.« Simon zuckte die Achseln. »Ich kenne ihn kaum.« Plötzlich musste er lachen. »Klingt, als wäre ich ein Kind ohne Vater, ne? Aber es war fast das gleiche: Er hat mich verwandelt, ohne dass ich richtig wusste, was eigentlich passierte. Hat mir meinen Wahrnamen gegeben und mich dann im Stich gelassen. Als er sich ins Krankenhaus geschlichen hat, um zu gucken, ob ich überlebt habe, hat Ingo ihn gepfählt.« Wieder hob er die Schultern. »Tja, eigentlich haben Erschaffer und Abkömmling ja eine besondere Verbindung zueinander, aber so … Mir war’s eigentlich egal, dass er getötet wurde.«

»Aber er war doch sicher keine Bestie?«

Daraufhin zögerte der Jüngere einen Moment. »Naja«, räumte er ein, »doch. Der war schon das, was wir Bestie nennen würden. Hat Menschen aufgelauert und sie zum Vergnügen gequält. Deswegen haben wir ihn verfolgt. Aber auch Bestien wollen Abkömmlinge haben, und manchmal hat’s ihnen dann ein Mensch angetan, den sie für immer behalten wollen … Ich weiß nicht, ob das bei meinem Erschaffer auch so war, oder ob er uns nur eins auswischen wollte, indem er mich verwandelt hat … Jedenfalls war ich ihm am Ende nicht besonders wichtig.«

»Von einer Bestie kann man wohl nicht viel erwarten«, vermutete Fritz.

»Er hätte sich trotzdem um mich kümmern müssen. Als Baby-Vampir ist man so was von beschissen hilflos!«

»Hat irgendein MIU-Vampir Abkömmlinge?«

»Nein. Asp und Micha könnten welche machen, wollen aber nicht.«

»Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, andere … naja … Mitarbeiter in Vampire zu verwandeln.«

»Vielleicht. Das ist ein Thema, das in der MIU schon lang und breit diskutiert wurde. Es gibt jedenfalls kein Verbot gegen das Erschaffen.« Simon verlangsamte seinen Schritt und war plötzlich ganz aufmerksam. »Oooh, Fritz, ich glaube, wir haben die beiden gefunden …«

Vor ihren Nasen ging die Marienallee gerade in eine lange Rechtskurve über und entfernte sich von der Parallelstraße zugunsten eines bebauten Geländes mit Wiesenflächen, das sie nun vorsichtig betraten. Ein hell gestrichenes Haus war das Ziel von Simons eingehender Untersuchung.

»Sportpension Dresden«, las Fritz, was in weißer Schrift auf dem braunen Schild über der Tür stand, und furchte die Stirn. »Das ist ein … Hotel, oder so.«

»Nee, hier sind wir auch falsch«, murmelte der junge Vampir. »Die Herberge interessiert Frais nicht. Dahinter wird’s interessant … da.« Er deutete vage auf ein höher aufragendes, schlecht beleuchtetes Gebäude. Keine Menschenseele war dort zu sehen, obwohl in der Herberge in einem der oberen Fenster hinter den Vorhängen noch Licht brannte.

»Das sieht wie eine Sporthalle aus«, stellte Fritz fest. »Meinst du, Lex wird Frais zu ’ner Partie Volleyball rausfordern?«

Simon schluckte hart. »Ich hab was anderes im Verdacht. Komm, wir müssen uns beeilen!«, wisperte er und hastete dann auf das Gebäude zu.

Die Tür zur Turnhalle war tatsächlich nicht verschlossen. Simon hielt sie auf, damit Fritz sich hindurch winden konnte. Allmählich wurde sein verbundenes Bein unangenehm steif.

Ein Blick in die leere, unbeleuchtete Halle ließ beide erleichtert aufseufzen.

»Hier sind sie nicht«, wisperte Fritz. Sein Blick glitt langsam durch den Raum; die Wand mit den Zugängen war mit roten Ziegeln verkleidet, die gegenüberliegende hatte große Fenster, durch die blasses Mondlicht hereinfiel. Nichts regte sich.

Simon fasste ihn am Ärmel und zog ihn wieder in den Korridor. Diesmal hielten sie auf die Umkleidekabinen zu; es gab vier Türen mit je einem großen Raum dahinter, und alle waren durch Waschräume miteinander verbunden. Sobald Fritz hineinsah, erblickte er sich selbst in dutzendfacher Ausführung.

»Wusste ich’s doch«, zischte Simon. »Spiegel. Alles voller Spiegel!«

»Das sehe ich«, flüsterte Fritz und bekam eine Gänsehaut. »Aber was soll das? Nutzen die das hier als Ballett-Übungsraum? Warum so viele davon?«

»Frag mich nicht. Klar ist nur, dass Frais sich was dabei gedacht hat.«

Diese Mitteilung beunruhigte Fritz auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte. »Was meinst du damit?«

Simon senkte die Stimme noch mehr: »Hat Micha dir nicht gesagt, dass Asp einen Teil seiner Seele abgespalten hat, weil er ihn nicht ertragen konnte?«

»Doch … aber er hat mir nie gesagt, was das eigentlich bedeu–«

»Psst!«, brachte Simon ihn jäh zum Schweigen und drückte auch noch, als wäre das nötig, eine schweißfeuchte Handfläche auf Fritz’ Mund. »Hörst du das?«

Fritz lauschte. Und ja, er hörte etwas. Leise Stimmen erhoben sich, gleich nebenan. Zwei Männer, die ruhig miteinander sprachen – doch der Ton, der dabei mitschwang, war alles andere als freundschaftlich. Asps Stimme war leicht zu erkennen, die andere hatte einen seltsam emotionslosen, herablassenden Klang.

Fritz ignorierte Simons Hand auf seinem Mund und versuchte, sich so still wie möglich zu verhalten.
 

Durch Vampiraugen leuchtete die Dunkelheit in verwaschenen Grüntönen. Ein Licht anzuschalten war nicht nötig, nicht für zwei, die sich nur in der Nacht wirklich geborgen fühlten.

Allerdings waren dort Spiegel. Links und rechts und auch hinter der Ecke, wo Kleiderhaken und Bänke sich neben den riesigen Waschbecken drängten. In jede Richtung starrten sie zurück.

Umringt von Reflexionen seiner selbst fühlte Asp sich mehr als unwohl. Er versuchte, seine Unsicherheit zu ignorieren; alle seine Sinne waren auf Paul Frais gerichtet, der ihm unbehelligt den Rücken zuwandte. Das Holz des Pflocks in seiner Hand schien den kalten Schweiß aufzusaugen.

»Wie könnt ihr euch nur als Vampire bezeichnen?«, seufzte Frais, ohne sich umzudrehen. Sein Blick war unbeirrt geradeaus gerichtet. Die vielen Spiegel würden ihm jederzeit verraten, wenn der andere seine Position veränderte. »Ihr tötet euresgleichen … trinkt verdünntes, gezuckertes Blut aus kalten Gläsern … und wollt trotzdem Vampire sein? Schoßhunde seid ihr. Weiter nichts. An die Leine gelegt und kastriert.«

»Man muss beide Seiten der Medaille sehen«, erwiderte Asp. Eine günstige Gelegenheit … er brauchte nur eine günstige Gelegenheit! Sein Magen verkrampfte sich. Er wusste, dass er von seinen ärgsten Feinden umringt war. Die Spiegel reflektierten jenen Teil von ihm, den er verabscheute. Frais wusste das auch.

Aber Frais tat, als würde er den Pflock nicht sehen, und seufzte erneut theatralisch. »Ach, Asparagus, wann hörst du bloß endlich damit auf?«

Asp zuckte innerlich zusammen, als er seinen Wahrnamen hörte. Dieses viersilbige Wort hatte eine Macht über ihn, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Zugegeben, es war ein Spottname und auch als solcher intendiert gewesen: Er bedeutete nichts anderes als Spargel. Bei seiner Verwandlung durch Frais – es war 1635 passiert – war Asp sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, heimatlos, krank und kaum mehr als Haut und Knochen. Es war nicht absehbar gewesen, ob er die Transformation überhaupt überleben würde. Doch aus irgendeinem Grund hatte sein Körper die Qualen durchgestanden, und Frais hatte dies zum Anlass genommen, seinem ersten Abkömmling einen bezeichnenden Wahrnamen zu verleihen. Ironischerweise auf Latein, der Sprache kultivierter, philanthropischer Vampire. Spott in jeder Hinsicht. Und dennoch, fand Asp, war es ein klangvolles Wort, ein Wort, das … ihm gehörte.

»Wir«, fuhr Frais nun mit leisem Seufzen fort, ihm durch den Spiegel fest in die Augen sehend, »sind Jäger.« Seit einer schieren Ewigkeit diskutierten sie nun bereits, und allmählich schien den alten Vampir die Geduld zu verlassen. »Wir werden es immer sein. Wir können unsere Beute nicht wie Gleichgestellte behandeln, das ist wider die Natur.«

»Ach, wirklich?«, gab Asp zurück, um einen spöttischen Ton bemüht, der seine Beklommenheit kaschieren sollte. »Dann erklär mir mal die völlig natürlichen Dinge, die du mir nie erklären konntest: Warum gibt es das Gift, um die Beute zu beruhigen? Warum gibt es den Bissgriff, damit die Beute nicht verletzt wird? Warum gibt es den Wundkleber in unserem Speichel, der Schmerzen stillt und Infektionen verhindert? Warum, alter Herr, gibt es die Beißhemmung, die unsere menschlichen Freunde vor unseren Hungerattacken schützt? Sieh es endlich ein: Wider die Natur ist es nur, eine Bestie zu sein.« Frais hatte diese Tatsache seit jeher ignoriert. Asp war nie eine Bestie gewesen und wollte niemals eine werden. Auch jetzt versuchte er, seine Besonnenheit als großen Trumpf gegen Frais’ Launenhaftigkeit auszuspielen. Eine Gelegenheit …

Frais lachte. Er war vollkommen entspannt. »Dieses grenzenlose Verständnis! Sag mir, gibt es eigentlich auch irgendwas, das du … nicht magst?«

»Bestien«, antwortete Asp sofort. »Oh, und Plattenfirmen, die mir vorschreiben wollen, wie ich meine Musik zu machen habe. Ich weiß gerade gar nicht, was schlimmer ist«, setzte er noch trocken hinzu.

Endlich drehte Frais sich zu ihm um. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, seine Augen kalt. »Du glaubst wohl, ich wüsste nicht, wie du es machst, nicht wahr? Kein Vampir würde es aushalten, niemals zu beißen. Niemals pures Blut zu trinken. Niemals die Zähne auszufahren. Das musstest du schon in deinem ersten Leben lernen! Eine gewisse Zeit lang können wir unsere Natur im Zaum halten, aber sie wird sich immer wieder Bahn brechen. Wir sind, was wir sind. Aber du … du kannst dich nur deshalb nahezu menschlich verhalten, weil du einen Teil von dir losgemacht hast … und du hast schon oft genug erfahren, wie gefährlich das ist, Asparagus.« Frais lächelte eisig und überlegen. »Ein Tier, das man in Ketten legt, wird nicht zahmer … sondern nur wilder.«

»Ich hab keine Angst vor ihm, falls du das denkst«, beeilte Asp sich klarzustellen. »Im Gegenteil, ich liebe den alten Knaben! Eine Quelle steter Inspiration. Immer da, wo ich bin, um mir ins Ohr zu pöbeln, wenn ich lieber allein wäre. Ich kenne ihn gut. Wenn das nicht so wäre, hätte ich ihn nicht von mir isolieren können, oder? Ach, und übrigens: Rein künstlerisch sind wir ein tolles Team. Hocherfolgreich. Also, spar dir das pathetische Geschwätz und lass uns endlich einen doppelten Schlussstrich ziehen.« Er war selbst erstaunt, dass seine Stimme noch immer so ruhig und gefasst klang. Tatsächlich hatte sich während der ganzen Unterhaltung eine klamme Furcht in ihm breit gemacht, die er kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Das Gefühl des Pflocks in seiner Faust, das ihm Sicherheit hatte geben sollen, half jetzt nicht mehr.

Frais legte den Kopf schief. Noch immer beanspruchte er keinen Muskel mehr als nötig. »Mein Lieber, meinst du nicht … dass du dein Alter Ego in letzter Zeit ein bisschen … vernachlässigt hast? Hast du ihn vielleicht … zu gut gefüttert?«

»Ist das eine Anspielung auf dein falsches Wikingerblut?«

»Natürlich. Ich kenne dich, ich wusste, dass frisch Gezapftes keine Alternative für dich ist«, lächelte Frais. »Mir war klar, dass du es trinken würdest. All die Angst, die Aggression und die widersprüchlichen Gefühle, die in dem Trank schwimmen … Meinst du nicht, dass ihm das hervorragend geschmeckt hat?«

»Oooh, ja. Wieso auch nicht?«, heuchelte Asp weiterhin tapfer Gelassenheit. »Geschmacklich war der Hormon-Eintopf einwandfrei, da kann man nicht meckern. Chapeau

Jetzt lachte der alte Vampir laut auf. »Ah! Auch nach so vielen Dekaden weiß ich noch genau, was mir an dir so gefallen hat, Asparagus: Egal was man dir antut, du hast immer diesen … Witz. Und diese stoische Abgeklärtheit.« Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. »Aber wenn du glaubst, dass du mich töten kannst, irrst du dich. Er irrt sich. Frag ihn. Du hast bis jetzt seine Verwandlungen immer genau verfolgt, aber diesmal wird er dich überraschen.« Mit dünnem Lächeln wies Frais auf die vielen Reflexionen, die ihn und Asp umgaben. »Schau in den Spiegel, Spross, und erkenne dich selbst. Er wird wissen wollen, ob du ihn vermisst hast. Wie immer. Sag es ihm.«

In die Tiefe

»Oh-oh«, murmelte Simon nahezu tonlos. »Sie sind gleich um die Ecke. Asp und Frais. Die Spiegel sind nicht unsere Freunde, wir sollten uns lieber in der Nähe bereithalten.« Damit umfasste er fest Fritz’ Schultern und versuchte, ihn möglichst geräuschfrei zur Tür zu ziehen. Fritz sträubte sich nicht. Die vielen Spiegel wirkten plötzlich bedrohlich, ihre Reflexionen finster und verzerrt.

»S-Simon … Sollten wir nicht … irgendwas tun?« Ein Teil von Fritz war unzufrieden mit der Passivität, in die er sofort verfallen war. »Ich meine, vielleicht … Wir könnten …«

»Nein, besser nicht«, unterbrach Simon rasch und unterband mit beiden Armen Fritz’ halbherzige Gegenwehr. »Er hat den Kampf schon verloren.«

Im Griff des jungen Vampirs wandte Fritz sich noch einmal der unheimlichen Szenerie zu, die sich im Nebenraum, gleich hinter der Ecke und jenseits der Bankreihen, ereignete und die sie nur über die Spiegel hatten verfolgen können. Noch immer stand Paul Frais breitbeinig mitten im Waschraum und schwieg, entspannt die Arme herabhängen lassend, während Asp seine Nervosität nun kaum noch verbergen konnte. Sein Bestreben, vor Frais innere Ruhe zu heucheln, verlor an Bedeutung; immer wieder sah er sich nach den Spiegeln um, schaute in einen nach dem anderen, als suche er wild nach etwas, während er Fritz’ Pflock fest umklammerte, als könnte er sich damit einen unsichtbaren Feind vom Leib halten. Sein keuchender Atem drang in der Stille überdeutlich an die Ohren der beiden Lauscher.

Doch es war nicht der einzige Laut.

Ein flüsterndes, zunächst undefinierbares Geräusch war zu hören. Es war erst so leise, dass Fritz es gar nicht bemerkt hatte, wurde nun aber lauter, drängte sich in den Gehörgang und somit ins Bewusstsein, zog alle Aufmerksamkeit auf sich, bis es plötzlich so laut war, dass der Fußboden vibrierte. Ein Flattern, das die Luft teilte, wehte über die Köpfe der Männer hinweg und verursachte ein dumpfes, dröhnendes Beben, das bedrohlich an- und abschwoll. Flügel?, fragte sich Fritz, als Simon ihn fast schon zum Ausgang geschleift hatte. Aber dafür ist es doch zu langsam … oder? Es klingt wie … eine riesige Fledermaus … oder …

Indes hatte Simon die Tür beinahe erreicht und wollte Fritz als erstes hindurch schieben, als es jäh einen leichten Windhauch und dann einen rollenden Donner gab und alle Türen gleichzeitig wie von Geisterhand zufielen. Die beiden Männer zuckten zurück wie scheuende Pferde, so sehr durchfuhr sie der Schreck. Dann griff Simon beherzt nach der Klinke und riss an ihr, erfolglos. Fritz hörte ihn ein entsetztes Japsen ausstoßen und drehte sich blitzschnell um.

Dann blieb ihm fast das Herz stehen.

Auf dem Spiegel direkt neben ihm kroch ein schwarzer Fetzen heran, wie Rohöl auf einer Wasseroberfläche. Ein fransiger schwarzer Finger, der langsam wabernd seine Form veränderte, sich streckte und weiter schwamm, bis er den nächsten Spiegel erreichte, den nur ein schmaler Abstand vom vorherigen trennte. Das Schwarz wand sich von Spiegelfläche zu Spiegelfläche, ohne sie wirklich zu verlassen.

»Ganz ruhig«, hauchte Simon an seinem Ohr. »Wir können ihm hier nicht helfen. Es ist ein Problem, das er schon lange hat und bei dem wir nichts ausrichten können.« Mit diesen unsicheren Äußerungen schien er eher sich selbst beruhigen zu wollen. »Das geht uns nichts an, okay? Ganz ruhig, Fritz.«

Aber Fritz war nicht ruhig. Alles in ihm strebte danach, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen, doch eine sonderbare Macht hielt ihn davon ab. Schaudernd betrachtete er die sich ausbreitenden schwarzen Seen auf den Spiegelflächen. Sie glänzten geisterhaft und hypnotisch. Er machte einen Schritt geradeaus, wobei er Simons zitternden Griff abstreifte, hin zu der Ecke, hinter welcher Asp und Frais standen. Er musste sie einfach sehen. Schon trat er in den Nebenraum, und Simon, die Hand auf seiner Schulter, folgte ihm widerstrebend.

Fritz’ Blick zuckte zu Asp; er war jetzt in direkter Sichtweite, hatte eine Hand über die Augen gelegt und kämpfte sichtbar um innere Ruhe. Seine Kiefer waren verkrampft aufeinander gepresst, und zwischen ihnen stieß in schnellem Rhythmus der Atem hervor.

Paul Frais, der sich gar nicht von der Stelle gerührt hatte, schickte sich nun an zu gehen. »Also, mein Lieber«, sagte er sanft, »ich hoffe, dass du nie wieder etwas derart Dummes versuchst.« Damit deutete er vage auf den Pflock in Asps zitternder Hand. »Deinen Erschaffer zu pfählen ist das letzte, was du dir selbst zumuten solltest. Ich denke, unsere kleine Unterhaltung ist hiermit beendet. Bis zum nächsten Mal.«

Erst jetzt durchzuckte Fritz und auch Simon wieder der Fluchttrieb. Als Frais sich in Bewegung setzte, machten sie auf dem Absatz kehrt und rannten die paar Schritte zurück zum Ausgang. Simon zog mit aller Kraft an der Klinke, doch immer noch war die Tür in die Freiheit verschlossen. Fritz spürte die Panik über sich hereinfluten.

Doch Frais ignorierte sie. Er ging in gemächlichem Schritt durch den angrenzenden Umkleideraum, wo Fritz und Simon wie erstarrt vor der verschlossenen Tür standen, vorüber an der kriechenden schwarzen Brühe, die sich wie ein tödlicher Ölteppich lautlos ausbreitete, unbeeindruckt von dem dröhnenden Flügelschlag, der ihre Gehörgänge in tiefe Vibration versetzte, vorbei an den beiden Männern, die er nicht eines Blickes würdigte – und dann trat er einfach durch die Tür hindurch, als wäre sie gar nicht da.

Wieder sah Fritz, wie Simon zitternd Luft holte. Der junge Vampir drückte sich mit der Schulter gegen die Tür, doch für ihn blieb sie verschlossen. Fritz hingegen war es gerade vollkommen egal, dass Paul Frais offensichtlich durch Wände gehen konnte wie ein Geist. Sein Blick klebte an der Spiegelfläche neben sich. Es gelang ihm einfach nicht, den Blick von dem Schwarz zu lösen, das jetzt alle Spiegeloberflächen im Raum lautlos eingenommen hatte. In dem einen Spiegel, der sich Asp genau gegenüber befand, begann sich die Oberfläche sanft zu kräuseln.

»Fritz, wir kommen nicht raus«, flüsterte Simon heiser neben ihm, doch seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Es tut mir Leid, dass ich dich gedrängt habe mitzukommen! Ich wusste nicht, dass … dass das passieren würde!«

Fritz achtete nicht auf ihn; das Gehörte erreichte nicht einmal sein Hirn. Alle seine Sinne waren auf die Umgebung fixiert. Abrupt endete der flatternde Lärm und wich völliger Stille. Asp, dessen Gestalt Fritz jetzt in den Spiegeln kaum noch erkennen konnte, nahm vorsichtig die Hand von den Augen. Als er die schwarzen Spiegel sah, durchfuhr ihn ein heftiges Zucken.

Aus dem erdrückenden, unerbittlichen Schweigen, das die Seele erstickte und die Ohren taub werden ließ, schälte sich eine weiche, schwere Stimme, wie in Sirup getaucht und im ganzen Raum sacht nachhallend: »Du wirst doch nicht wieder wegschauen?«

Asp, erst verkrampft und stocksteif, ließ plötzlich die bebende Hand und beide Schultern fallen, holte tief Atem und erklärte trotzig: »Nein, warum sollte ich?« Obwohl seine Haltung Ruhe ausstrahlte, konnte er das leichte, kaum wahrnehmbare Zittern seiner Stimme nicht unterdrücken.

Auf dem schimmernden mannshohen Spiegel schälte sich eine Gestalt aus den dunklen Fäden. Fritz spürte den Drang, den Blick abzuwenden, konnte ihm jedoch widerstehen und glaubte schließlich, eine Statur zu erkennen, die Asps eigenen Umrissen vage entsprach. Er hielt sie für das Spiegelbild des Sängers und wollte sich von dieser Erkenntnis schon fast beruhigen lassen – dann jedoch bemerkte er den sich nach unten verjüngenden Körper und die großen, schwarzen Flügel, die über die angrenzenden Spiegelflächen hinauswuchsen. Das Wesen im Spiegel war nicht Asp, sondern ein … Schmetterling.

»Es gibt wirklich keinen Grund, es so zu übertreiben«, belehrte Asp sein Alter Ego, aber in seiner Stimme schwang mittlerweile unverkennbar Furcht mit. »Du erschreckst meine Freunde zu Tode. Ein bisschen mehr Rücksicht wäre nett.«

Fritz duckte sich unwillkürlich hinter Simon. Ihm war nicht klar gewesen, dass Asp sie beide im Raum bemerkt hatte. Gleichzeitig wusste er, dass sie hier nicht nur etwas Gefährlichem, sondern auch etwas höchst Intimem beiwohnten – wie Eindringlinge.

Der Schmetterling gab ein Geräusch von sich, das wie ein Schmatzen klang. »So viel Hass«, sagte er, nunmehr mit gänzlich tonloser Stimme, Asps Hinweis nicht beachtend.

»Ja, ist ja gut. Komm, bitte geh jetzt, alter Junge.« Fritz fragte sich, was Asp damit bezweckte, derart unberührt mit dem riesigen Insekt zu sprechen. Glaubte er, dieses Monster damit irgendwie zu beeindrucken?

»Oh nein«, grinste der Schmetterling, »diesmal sicher nicht. Vielleicht hättest du mich nicht wochenlang mit all diesem emotionalen Dreck füttern sollen. Wie hieß das Gesöff doch gleich? ›Blut‹ im Namen macht noch lange keine bekömmliche Nahrung für mich daraus, das weißt du. Allerdings ist das jetzt auch nicht mehr von Belang, denn jetzt bin ich da. Schön, dich zu sehen. Hast du mich vermisst?«

»Gegenfrage«, knirschte Asp und erwiderte den eindringlichen Blick tapfer. »Hatten wir diesen Teil nicht hinter uns?«

»Diesen … Teil Das schwarze Wesen lachte über die Bemerkung; es klang weich, fast zärtlich. »So bezeichnest du doch nicht etwa unsere jahrhundertealte, innige Freundschaft, die dich zu einem Meister der Schauerpoesie gemacht hat? Ich bin enttäuscht. Sehr sogar.«

»Wir waren in unserer Beziehung doch schon viel weiter«, fuhr Asp inständig fort. »Willst du das jetzt wirklich alles hinschmeißen?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde, unsere Beziehung braucht ein bisschen … frischen Wind.«

Und plötzlich fegte ein Luftstoß durch den Raum, der rasant zu einer mächtigen Bö heranwuchs und das Gemäuer erzittern ließ. Nicht wenige Spiegel wurden von den Wänden gerissen und zerbarsten laut scheppernd in Tausende von Scherben, die sofort durch die Luft wirbelten. Instinktiv versuchte Fritz, dem Hagel aus fliegendem Glas zu entkommen, indem er beide Hände vor das Gesicht schlug. Augenblicklich spürte er das Stechen der Splitter auf und in seiner Haut.

»Hör auf!«, schrie Asp erschrocken sein Spiegelbild an. Auch er hatte die Hände vor das Gesicht gehoben, um den messerscharfen Scherben zu entgehen. »Woher nimmst du bloß diese – !«

»Kraft? Oder … Boshaftigkeit? Negative Energie? Schlechtes Karma? Gibt es noch mehr irdische Wörter für das, was du die ganze Zeit auf mich abgewälzt hast, du lausiger, Blut meidender Vampir?«, gab der Schmetterling in drohendem Ton zurück. Dann wurde seine wutverzerrte Stimme plötzlich weich. Ein leises Seufzen, oder wenigstens die Ahnung davon, drang aus dem Spiegel. »Ich fürchte, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir uns fragen sollten, wie es weitergeht.« Die Stimme des Wesens klang fast schon betrübt, bis sie auf einmal in Wut und Gereiztheit umschlug. »Ich halte es nicht mehr aus, wie ein Tier in Ketten zu liegen – oder sagen wir, DU hältst es nicht mehr aus!«

Asp wich einen Schritt zurück und schwieg. Erst eine ganze Weile später atmete er hörbar ein, schloss die Augen und sammelte sich, bevor er dem Schmetterling fest ins Gesicht sah und erklärte: »Ich finde, ich halte das gut aus.«

»WEIL DU MICH HAST!«, schrie ihn jäh der Schmetterling an, so schrill, dass es wie ein Donnergrollen und gleichzeitig wie ein viel zu hoher Ton klang. Sein Zorn flackerte durch den Raum, ließ weiteres Glas zerspringen, wirbelte Scherben vom Boden auf. »WEIL ICH DEIN VERLANGEN, DEINE ANGST, DEINE WUT ERTRAGEN MUSS UND DAFÜR NICHTS ANDERES ALS DEIN FADES, DRECKIGES, SCHWARZES BLUT ZU TRINKEN KRIEGE!«

Fritz, immer noch zusammengekrümmt an die Wand gedrückt stehend, hoffte inständig, der wilde Zorn der Kreatur möge abebben; doch vergebens. Diesmal nahm das Toben kein Ende. Fritz konnte sich gerade so überwinden, die Finger ein wenig zu spreizen, um zwischen diese hindurch einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Was er sah, ließ sein Herz vor Schreck aussetzen: Ein wilder Tanz aus glänzenden Splittern und Bruchstücken fegte durch den Raum, direkt auf ihn und Simon zu. Beide waren augenblicklich wie gelähmt vor Angst.

Wie im Traum nahm Fritz wahr, dass Asp sich in Bewegung setzte und mit nur wenigen schnellen, lautlosen Schritten bei ihm und Simon war, wo er die beiden beiseite stieß und sich mit aller Gewalt gegen die Tür warf, die sofort schwungvoll aufschwang und den Weg in die Freiheit öffnete. Mit je einer Hand packte Asp Fritz und Simon und schubste sie grob nach draußen. »Lauft!«, knurrte er.

Fritz drehte sich um, um ihm ins Gesicht zu sehen, und erschrak. Trotz seiner wilden Entschlossenheit spiegelte sich in Asps Miene ein so blankes Entsetzen, wie Fritz es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Angesichts dessen taumelten Fritz und Simon nach rückwärts und ergriffen dann wortlos die Flucht.
 

»Hör auf!«, brüllte Asp und wusste im selben Moment instinktiv, dass er die Kontrolle längst verloren hatte – oder sie nie gehabt hatte. Panik flutete durch sein Blut. Die Mauern ringsumher zitterten und ächzten unter der brachialen Gewalt des Sturmes, der auf sie einwirkte. Asp war wie betäubt. Der verhasste, verleugnete Teil seiner Seele war zum Amokläufer geworden. Erbarmungslos und entsetzlich real. Zorn und Gier schwappten von einer Wand zur anderen und brachen ständig als neue Flutwellen über ihn herein. Der kalte Griff, in dem er sich wand, wurde fester. Die Zeit wurde knapp. Er musste es beenden.

Doch das Vorankommen war schwer, zäh wie in einem Glas voll schwarzem Leim. Als er den Spiegel, in welchem der Schmetterling stand, endlich wieder erreicht hatte, wurde auch der Rest seines Albtraums Wirklichkeit: Der verzerrte Körper verwandelte sich, änderte seine schwammigen Umrisse, bis er wieder zu einem detailgetreuen Abbild wurde, einem Spiegelbild, das ihm selbst bis aufs Haar glich – nur nicht im Gesicht, nicht im Detail.

Nicht auch das noch!

Mit der geballten Faust zerschlug er den Spiegel. Trümmer flogen. Es tat weh und schuf keine Abhilfe. Die scharfen Kanten der Scherben schnitten ihm tief in die weiche Haut über den Fingerknöcheln, doch die verhasste Reflexion floss nur mit sonorem Gelächter in den nächsten Spiegel, um dann wieder jeder seiner Bewegungen zu folgen. Als Asp den aussichtslosen Versuch unternahm, in die entgegen gesetzte Richtung davonzulaufen, um mit wenigen ausgreifenden Schritten das Raumende zu erreichen, lief sie neben ihm her, von einer schwarzen Fläche in die nächste. Verzweifelt blieb Asp wieder stehen, und obwohl er nicht wollte, drehte er den Kopf nach dem Spiegel, und sein finsteres Ebenbild tat dasselbe, zog ihn mit ungeheuerlicher Macht ganz dicht an sich, sodass er in die weißen, pupillenlosen Augen der Fratze sehen musste. Dort fand er nichts außer dem umgebenden Raum – auf dem Kopf stehend.

Grauenerfüllt riss er den Blick los.

Gerade noch rechtzeitig erkannte er, dass er das Ende des vordersten Raumes erreicht hatte, und bremste scharf vor der Tür ab. Nein, Weglaufen war sinnlos. Es würde ihm folgen – und Fritz und Simon, vielleicht noch viel mehr Menschen würden die jahrhundertelang aufgestaute Gewalt zu spüren bekommen.

Asp drehte sich einmal im Kreis, und sein Ebenbild huschte von Spiegel zu Spiegel, um ständig seinem Blick zu begegnen. Dann, plötzlich, machte es eine erste eigenständige Bewegung: Es streckte die Hand vor. Instinktiv wich Asp zurück. Erst einen Schritt, dann noch einen, bis er mit dem Rücken gegen einen anderen, bereits vom Windstoß eingeschlagenen Spiegel stieß. Die Hand, mit überlangen, knochigen Fingern nach ihm ausgestreckt, trat aus der sich kräuselnden Spiegelfläche hervor. Der Arm folgte. Sein böses Ich wollte sein Gefängnis verlassen.

Asp sammelte sich. Er durfte nicht zulassen, dass das passierte. Er musste es tun – jetzt.

Mit einer entschlossenen Bewegung wischte er sich den Schweiß von der Stirn, bevor er ihm in die vom Glasstaub brennenden Augen rinnen konnte, und umfasste mit der anderen Hand den Pflock. Nicht zittern. Bloß nicht zittern. Gerade zustoßen. Zwischen zwei Rippen. Am besten links in den vierten Zwischenraum. Direkt ins Herz.

Er hatte noch nie jemanden gepfählt. Es war leicht gewesen, diese Aufgabe anderen zu überlassen. Der Schwarze Schmetterling war seine Ausrede dafür gewesen, möglichst keinem anderen Wesen etwas antun zu müssen. Jetzt war die Stunde gekommen, mit dieser Regel zu brechen. Aus demselben Grund.

»Komm her, du vorlautes Insekt!«, stieß er mit dem Wahnsinn der Verzweiflung hervor. »Trau dich! Diesmal spieße ich dich auf – ich spieß dich auf und nagel dich an meine Wand!!«

Damit packte er die weiße Hand seines Gegenüber – des Schmetterlings, des Spiegelbilds, was auch immer es gerade sein wollte –, riss es mit einem kräftigen Ruck aus der Glasfläche in den Raum und hob zugleich den anderen Arm, die feuchten Finger um das gepolsterte Holz gepresst. Tapfer raffte er alle verbliebenen Kräfte zusammen, öffnete unwillkürlich die Lippen, um einen grimmigen Schrei herauszulassen –

– und stieß zu.

Der Pflock drang ein wie in weichen, schwarzen Lehm. Kein Knochen, kein Widerstand bremste die tödliche Spitze auf ihrem Weg tief in den Körper. Schmerz explodierte in seiner Brust, entsetzlich, rot und heiß. Wärme breitete sich aus. Asp spürte mit einem Mal alle Kraft aus sich herausströmen. Sein eigener Herzschlag hallte plötzlich in seinen Ohren nach.

Kurz darauf sank er auf die Knie. Mühsam hob er den Kopf, sah die schwarze Verwehung, wo die Gestalt zu seinem Opfer geworden war, sich rasch verflüchtigen.

Es war fort. Nichts war mehr zu spüren von der hässlichen, bösartigen Aura. Völlige Stille umgab ihn.

Asp verspürte tiefe Erleichterung. Er nahm einen langen Atemzug und löste seine verkrampften Muskeln. Alles war gut. Er würde jetzt aufstehen und ruhig hinausgehen.

Doch der Schmerz ließ nicht nach. Immer noch pulsierte er glühend und unbeirrt. Asp merkte, dass ihm das Atmen schwer wurde. Voller Angst schaute er an sich herab.

Und mit einem Mal war die Erleichterung fort, kehrte kalte Verzweiflung zurück und machte seinen Triumph über das Böse zunichte. Seine zitternde Hand lag auf seiner Brust, und dort war es warm und kalt zugleich.

Nein!, dachte er und schluckte gegen den Klumpen in seiner Kehle an, als er sein Herzblut fließen sah. Bitte nicht …

Erst jetzt erkannte er, was er wirklich getan hatte.
 

Fritz und Simon standen wie versteinert, als der Lärm der Zerstörung abrupt endete. Sie waren allein in der kalten Nacht mitten auf dem Gelände der Sportpension und zitterten; der Schweiß, der ihnen die Kleidung auf die Haut leimte, fühlte sich an wie gefroren.

»Im Haupthaus sind Lichter angegangen«, stellte Fritz fest und schlang beide Arme um seinen Körper.

»Ist ja auch schwierig, von dem Geschepper nicht wach zu werden«, gab Simon mit dünner Stimme zurück. Fahrig griff er in die Hosentasche und holte den kleinen Plastikbehälter hervor, in welchem seine Tarnlinsen in Kochsalzlösung schwammen. Mit bebenden Fingern setzte er sie ein, erst rechts, dann links, und blinzelte mehrmals, damit sie auf seinen Hornhäuten an ihren Platz glitten. Derart abgedunkelt sahen seine Augen wieder harmlos menschlich aus. »Okay, wir sollten versuchen, den Eigentümern die Sache zu erklären … und sie davon abhalten, in die Turnhalle zu gehen …«

»Falls sie total ausrasten, kannst du sie ja beißen«, schlug Fritz vor und lachte nervös.

»Du brauchst gar nicht zu lachen, das mache ich dann auch!«

Bevor die beiden das nun hell erleuchtete Haupthaus erreichten, näherten sich drei paar schnelle Schritte von der Straße her. Die Ankömmlinge hielten quer über das Gelände direkt auf Fritz und Simon zu.

»Na toll, wir stehen hier, als würden wir für ’nen Einbruch Schmiere stehen«, stöhnte Simon mit plötzlicher Erkenntnis. »Komm ein bisschen aus dem Licht, Fritz … Vielleicht – …«

»Oh!«, rief Fritz, der die drei im hellen Schein, der aus den Fenstern fiel, erkannt hatte. »Es sind Falk und Bock … und Micha!« Er hob beide Arme und winkte den vertrauten Gestalten.

Der Arzt ging hinter den beiden Vampiren, die mit geblähten Nasenflügeln der Spur gefolgt waren. Alle drei verlangsamten augenblicklich ihren Schritt, als sie Simon und Fritz im Halbdunkel stehen sahen.

»Was is’n hier bitte los?«, rief Micha, so leise wie möglich, zu den beiden hinüber und beschleunigte seinen Schritt, bis er fast rannte. »Was macht ihr hier? Und wo ist Lex?«

»Drinnen«, antwortete Simon deutlich leiser, noch immer sichtlich verstört, und machte eine vorsichtige Kopfbewegung zur Turnhalle. »Ihr … Ihr ahnt nicht, was passiert ist …«

»Paul Frais«, warf nun auch Fritz ein und musste kurz darauf erst mal nach Worten suchen. »Also, Lex ist … ihm gefolgt, und wir sind ihm gefolgt, und … sie haben … Wir wollten …«

Falk hob beschwichtigend beide Hände. »Langsam, langsam«, sagte er nachdrücklich. »Wollt ihr uns sagen, dass Frais auch da drin ist?« Er warf Micha einen alarmierten Blick zu.

»Nein, nein«, beeilte sich Simon, »Frais ist weg, er –«

»Er kann durch Wände gehen!«, ergänzte Fritz mit schreckgeweiteten Augen.

»Ja, genau, und der Schatten, der hatte Flügel! Scheiße, und wir –«

»Wir konnten nicht raus, die Tür ging nicht auf, und Frais ist durch die Wand gegangen …« Fritz stoppte ratlos, den Mund auf- und zuklappend, als er selbst bemerkte, dass ihr Bericht mehr als verworren klingen musste.

Micha schnitt eine zweifelnde Grimasse. »Ihr beiden solltet euch erst mal irgendwo hinsetzen und uns die Sache regeln lassen. Ihr seht aus, als hättet ihr ’n Gespenst gesehen. Falk, gehen wir rein?«

Sofort hielt Simon dagegen: »Nein, macht das nicht! Lasst uns warten, bis Alex von alleine rauskommt. Er, er … kämpft gegen sich selbst.«

Falk, Micha und Bock fingen den durchdringenden Blick auf und verstanden.

»Na toll«, sagte Micha dumpf.

Dann öffnete sich in einiger Entfernung leise quietschend eine Tür. Alle fünf fuhren herum. Aus dem Haupthaus traten ein dürrer Mann und eine kleine, rundliche Frau mit buschigem Schal, und beide eilten mit großen Schritten direkt auf das Grüppchen zu.

»He!«, rief der Mann. »Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«

Falk wandte sich ruhig an Simon: »Schmittchen, ich hab eine gute Aufgabe für dich, da kommst du ein bisschen auf andere Gedanken. Husch runter zur Semperoper und hol den Dark Knight. Kannst du das machen?«

Simon nickte hastig. »Jaah, mach ich. Ich hab ihn ja auch nach Wuppertal gefahren, das geht schon.«

»Ich weiß, deshalb frag ich dich ja. Wir brauchen ihn bestimmt, um später hier wegzukommen. Ich wette, das Pärchen hat schon die Polizei verständigt.«

»Ich hab keinen Bock auf diplomatische Gespräche«, knurrte Micha übellaunig. »Dein Vorschlag?«

»Ich rede mit den beiden«, erwiderte Falk. »Ihr drei geht Alexander suchen, in Ordnung? Vorsichtig. Wenn die Polizei kommt, fange ich sie ab, sodass ihr Zeit habt, mit dem Auto wegzufahren. Wenn alles geklärt ist, komme ich nach. Vielleicht sind die Ordnungshüter ja auch so freundlich, mich mitzunehmen«, erklärte er seinen Plan eilig. Für nähere Ausführungen hatten sie jetzt wahrlich keine Zeit.

Die Aufgabenverteilung wurde von allen mit einem Nicken akzeptiert. Falk drehte sich daraufhin mit einem entspannten, freundlichen Ausdruck nach dem verärgerten Pärchen um, das ihm schon mit einem Anflug von Drohgebärden entgegentrat, und rief ihnen ein entwaffnendes »Guten Abend, entschuldigen Sie die Störung!« zu. Simon war zu diesem Zeitpunkt bereits davongehuscht. Micha und Bock wandten sich nun der Turnhalle zu, ebenfalls betont ruhig, um nicht flüchtig zu wirken, und warteten, bis Fritz sich endlich überwunden hatte, ihnen zu folgen.

Schon die ersten Schritte in Richtung des hohen, schweigenden Gebäudes ließen in Fritz’ Hals einen Kloß anschwellen. Vor seinen Augen breitete sich noch einmal aus, was er, umgeben von Spiegeln, im Inneren der Waschräume gesehen hatte. Eigentlich wehrte sich alles in ihm dagegen, auch nur eine Zehenspitze über die Schwelle zu befördern. Nun jedoch war es still. Gespenstisch still.

»War es so schlimm?«, fragte Micha mitleidig.

Fritz ahnte, was Micha damit meinte und weshalb er fragte, und nickte schwach. Micha kannte Asp am längsten, und außerdem hatte er immer noch ein schlechtes Gewissen.

»Okay, ich geh vor. Ihr bleibt hinter mir.«

Dann ging Micha langsam in den dunklen Flur hinein. Er tastete an der Wand nach einem Schalter, woraufhin ein Teil der Beleuchtung flackernd ansprang – zumindest diejenigen Leuchtstoffröhren, die noch intakt waren. Seine Nase führte ihn zur ersten der vier Türen, hinter denen sich, wie Fritz wusste, die Umkleideräume befanden. Vorsichtig drückte er die Klinke und spähte in den Raum hinein, aus dem ihm Dunkelheit entgegenschlug.

Bock und Fritz blieben angespannt im Korridor stehen. Noch immer war es still.

»Oh«, sagte Micha in einem Ton, der Ehrfurcht und Sorge vereinte. »Hier sieht’s ja aus …« Er schnupperte und ging dann ganz hinein. »Lex? Lex, bist du hier? Wir sind’s. Alles in Ordnung?«

Als keine Antwort kam, ging er weiter. Fritz hörte, wie seine Schritte sich hinter der halb offenen Tür entfernten. Unter Michas Sohlen knirschten die großen und kleinen Glasfragmente schrill und unangenehm über die Fliesen, wie unzählige winzige Schreie.

Fritz starrte zu Bock, dessen Blick so ängstlich war, wie er selbst sich fühlte. Er konnte sich nicht erinnern, den furchtlosen Arzt je so nervös gesehen zu haben. »Eigentlich, weißt du … eigentlich hat Alex diese Sache gut im Griff«, brachte Bock stockend heraus. »Fritz, wieso hab ich das Gefühl, dass hier was gründlich schief gegangen ist?«

»Schief gegangen? Du hast es nicht gesehen«, versetzte Fritz und sah beiseite.

Michas Schritte hatten, immer leiser werdend, schließlich angehalten.
 

Simon fand den Dark Knight nahe der Semperoper. Wie alle MIU-Mitglieder, die mit dem Automatik-Wagen gut zurechtkamen, hatte er einen eigenen Schlüssel für das Einsatzfahrzeug. Noch im Näherkommen streckte er die Hand aus und drückte auf den kleinen Knopf am Zündschlüssel, woraufhin die Lichter des Fahrzeugs aufblinkten.

Den Weg zur Albertstadt kannte er jetzt: Erst über die Augustusbrücke, dann der Albertstraße folgen …

Simon hoffte, dass sich in seiner Abwesenheit nichts Großartiges ereignet hatte, doch er wurde enttäuscht: An der der Marienallee zugewandten Straßenseite parkten bereits zwei Funkwagen, und mindestens fünf Menschen standen zwischen ihnen herum. Falk war auch da und vermittelte, so gut er konnte. Immerhin sah niemand wütend aus. Alle schienen einer Einigung bereits sehr nahe.

Klar, dachte Simon, die Polizei weiß genau: eine X-Akte des BfV. Finger weg!

In weiser Voraussicht bog er nicht in die Seitenstraße ab, um dem Pulk zu begegnen, sondern fuhr daran vorbei, mit der Absicht, von hinten unbemerkt auf das Gelände zu gelangen. Glücklicherweise waren ja alle, die sich vorne an der Straße befanden, hinreichend abgelenkt.

Im Vorbeifahren fing er Falks Blick auf. Es war nur ein ganz kurzer Augenkontakt, der ihm versicherte, dass der andere ihn bemerkt hatte.

Simon stellte das Fahrzeug ein ganzes Stück entfernt am dunklen Straßenrand ab und machte sich dann – so leise, wie es einem Jungvampir eben möglich war – auf den Weg zum Sportgelände.
 

Inmitten von Scherben beugte sich Micha über Asp, der schwer atmend in einer langsam wachsenden Lache seines eigenen Blutes lag und mit einer bleichen Hand das Ende des Pflocks umklammerte, der in seiner Brust steckte. Er zog die Luft rasselnd durch den Mund ein und entblößte dabei mit hellrotem Blut befleckte Lippen und Zähne. Trüb richtete sich sein Blick auf Micha.

»Lex … Was hast du bloß gemacht?«, zischte Micha ihn an, ohne dass wirklich ein Ton herauskam. »Warum um Himmels Willen hast du … dich selbst gepfählt

»Wollte ich nicht«, antwortete Asp. Seine Stimme war leise, aber noch einigermaßen kräftig. »War ein … Unfall.«

»Leute wie du sollten keine spitzen Sachen anfassen, du Pfosten!« Micha wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er hasste es, seine Freunde leiden zu sehen und nichts für sie tun zu können. Hier sah er nun etwas vor sich, das er normalerweise selbst anderen Vampiren zufügte – mit der Absicht, sie zu töten. Lex war nicht tot, doch er würde es bald sein. Der Pflock steckte genau dort, wo Micha als einigermaßen erfahrener Vampirtöter ihn auch hinbefördert hätte. Bei diesem Anblick wurde sein Magen zu einem kalten Klumpen. Er kannte Asp aus seinem vorherigen Leben, sie waren alte Freunde, und das letzte, was Micha wollte, war, einen Freund sterben zu sehen.

»Da staunst du, dass ich so ein guter Pfähler bin, was?«, sagte Asp schwach und verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Langsam, aber sicher wichen die Kräfte aus seinem Körper. Was er fühlte, war vor allem Kälte, die den Schmerz wie Eis betäubte. »Und dabei hatte ich nie vorher … einen Pflock in der Hand …«

»Toll«, antwortete Micha kaum hörbar. Auf seiner Zunge war ein bitterer Geschmack. Dann hob er den Kopf, ohne von der Seite des verletzten Freundes zu weichen, und rief laut nach den anderen: »Bock! Fritz! Kommt rein! Und kommt … schnell!« Machte es eigentlich einen Unterschied, wie schnell sie kamen? Ja, sagte er sich. Du bist kein Arzt, Michael Rhein, du kannst keine Verletzungen beurteilen. Also halt die Fresse.

Die beiden Menschen, die furchtsam im Bereich des Eingangs ausgeharrt hatten, gehorchten auf der Stelle. Bock vorneweg, Fritz hinterdrein. Sie stoppten, als sie an den Garderobenbänken vorbei um die Ecke bogen und mit Entsetzen sahen, was passiert war.

»Heilige Scheiße!«, stieß Bock hervor. Fritz presste eine Hand auf den Mund.

Langsam den Blick von der entsetzten Miene des Arztes abwendend, fasste Micha nach dem Pflockende. »Bock, kann ich … Soll ich …?«

»Nicht!«, kreischte Bock sofort und fuchtelte mit den Armen. »Um Gottes Willen, lass den Pflock drin!« Hektisch überbrückte er die letzte Distanz zwischen ihnen, um sich neben Micha zu knien, und legte vorsichtig eine Hand auf die blutdurchtränkte Brust des Patienten. Dass Fritz sich keinen Meter näher heranwagen würde, war abzusehen. »Es … es tritt nur venöses Blut aus«, bekundete der Arzt, wenn auch kaum weniger aufgelöst. »Seht ihr, es ist … ganz dunkel. Da ist kein helles.«

»Doch, in seinem Mund«, knurrte Micha.

»Die linke Lunge wird ein wenig angekratzt sein. Mehr nicht, er hat kein Blut gehustet. Also … vielleicht hat die Spitze ein großes Herzgefäß verletzt, die Vena mammaria interna oder eine der Venae intercostales, aber …«

»Bock!«, fuhr Micha ihn aufgebracht an. »Lass den lateinischen Scheiß und sag mir sofort, was Sache ist!«

»Ich – ja …« Bock schluckte. »Also, so, wie es aussieht … ich glaube, der Pflock steckt mitten in der rechten Herzkammer!« Nun wurde auch er merklich panisch. Zeit war etwas, das sie nicht hatten. Eindringlich fuhr er fort: »Wenn wir ihn rausziehen, wird Luft in das Herz eindringen, absolut tödlich, und Alex wird innerlich verbluten, was wahrscheinlich noch schneller geht … Wenn wir ihn drin lassen, wird es langsamer passieren, aber es wird trotzdem passieren …!«

Micha schluckte trocken. »Bock«, sagte er fest, »du musst Lex retten.«

»Aber wie soll ich das machen, Micha? Wie

Unerwartet meldete sich Fritz zu Wort: »Kannst du sein Herz nicht reparieren?«

»Um Himmels Willen, Fritz!«, rief der Arzt schrill. »Ein Herz kann man nicht reparieren wie einen … einen Toaster!« Er raufte sich die Haare. »Ich – ich bin kein Zauberer! Man kann das nicht überleben!«

Micha wurde wütend über so viel Hilflosigkeit im Angesicht der Katastrophe. »Verdammte Scheiße, wir kampieren in einer Klinik! Wir haben das Dresdener Herzzentrum gleich nebenan, falls du das vergessen hast! Du musst es versuchen

Asp war ruhig; zu ruhig, wie Fritz fürchtete. Er fing Bocks Blick auf und sagte mit einem mühsamen, schiefen Grinsen zu ihm: »Bock, du weißt, ich hab nie wegen irgendwas über dich hergezogen … Mich stören deine albernen Kosenamen für uns alle nicht mal … Aber jetzt willst du mich abschreiben, bevor ich sauber tot bin? Bei aller Liebe, das werde ich dir auch post mortem noch sehr übel nehmen …« Sein Grinsen hielt sich noch immer, als kurz darauf ein verräterischer, klarer Tropfen über seine Wange rollte.

Daraufhin riss sich der Arzt endlich am Riemen. Mit zusammengebissenen Zähnen erwiderte er: »Du hast völlig Recht, Alex. Tut mir Leid. Ich bin Arzt – ich werde alles tun, um dich zu retten!«

»Das will ich hoffen … Ich will nicht sterben, weißt du … Jetzt noch nicht.« Und dann, zum Entsetzen aller, stützte Asp beide Hände auf den scherbenübersäten Boden und kämpfte sich auf die Füße. Scherben schnitten in sein Fleisch, als er sich hochstemmte. Sobald er halbwegs stand, setzte er sich taumelnd, doch zielstrebig in Bewegung, eine Hand um den Pflock geklammert. Micha eilte sofort an seine Seite, packte ihn bei der Schulter und stützte ihn.

»Haltet nach der Karre Ausschau! Ich hoffe, Schmittchen ist langsam mal wieder da!«

Dankbar erkannte Fritz eine Möglichkeit, dem Blut und dem Elend vorübergehend zu entkommen. Prompt setzte er sich als erster in Bewegung. »Ich geh nachgucken!«, rief er und eilte voraus.

Mit Bock und Micha an je einer Seite schleppte Asp sich mühsam auf den Ausgang ins Freie zu. »Ich will nicht sterben«, wiederholte er mühsam. »Jetzt noch nicht!«

Morgenrot

Micha hob die Nase und zog geräuschvoll die schneidend kalte Luft ein. »Schmittchen hat den Dark Knight an die andere Straße gestellt. Gut gemacht. Ich würde den Kleinen wirklich mögen, wenn er nicht in der falschen Band spielen würde«, fügte er in leicht ätzendem Ton hinzu. »Jedenfalls werden wir nicht der Polizei über den Weg laufen und aufgehalten werden. Wer von uns hat einen Schlüssel?«

»Ich«, sagte Bock und sah beunruhigt in die Runde. »… Außer mir etwa keiner? Soll das etwa heißen, nur ich bin an Automatik gewöhnt? Das ist nicht euer Ernst!«

»Sorry«, sagte Micha, »ich mach immer ’ne Vollbremsung, wenn ich kuppeln will.«

Überflüssigerweise sagte Asp keuchend: »Ich kann ihn fahren … aber bei meiner Verfassung befürchte ich, wir würden nicht heil ankommen …«

»Dein Galgenhumor ist für’n Arsch«, verwies ihn Micha sofort. »Bock fährt. Fritz navigiert. Du und ich gehen nach hinten. Alle einverstanden?«

Niemand widersprach. Von Simon fehlte jede Spur, und Micha äußerte die Vermutung, dass er direkt zu Falk und den Polizisten gegangen war, um dem anderen Vampir mit seinem jugendlichen Charme beizustehen. Auf Bocks Anweisung hin setzte Micha sich nach hinten, und gemeinsam legten sie Asp quer über die Rückbank, damit er mit dem Oberkörper erhöht liegen konnte, was ihm das Atmen erleichtern und den Blutverlust minimieren sollte.

Der Arzt setzte sich ans Lenkrad und wischte die schweißfeuchten Hände an der Hose ab. »Ich hoffe, ich kann mich überhaupt auf den Verkehr konzentrieren«, schnaufte er.

»Es ist nicht viel los«, sagte Fritz, der soeben nervös auf dem Beifahrersitz Platz nahm, weil er fand, dass er zumindest irgendetwas beitragen musste.

»Na hoffentlich. Eine Herznaht des rechten Ventrikels wurde schon 1896 erfolgreich durchgeführt, theoretisch können wir es noch schaffen – wir müssen nur schnell sein!« Bock drehte sich nach hinten um. »Wie sieht’s aus?«

Micha, der Asp halb auf dem Schoß liegen hatte, nahm einen letzten Check vor. »Sein Puls ist ganz gut. Viel besser, als ich dachte.«

»Okay. Alex? Du musst tief und ruhig atmen. Halt durch. Ich fahre jetzt los.«

Dann machten sie sich auf den Weg. Die Straßen waren, wie erwartet, ziemlich leer. Immer wieder wandte Fritz, der sich mit verantwortlich fühlte, sich nach hinten um. Asp hatte die Augen weit offen. Sein Atem kam in flachen, kurzen Stößen und sehr hastig. Michas Jeans war mit seinem Blut schon nach einer kurzen Strecke völlig durchtränkt, doch ihr Besitzer achtete gar nicht darauf, sondern behielt den Patienten aufmerksam im Auge und sprach die ganze Zeit über leise und beruhigend mit ihm. Auch Fritz merkte, dass er selbst jetzt zu abgelenkt war, um durch das Blut nervös zu werden. Wer hätte das gedacht …

Ein hartnäckiges Schweigen herrschte im Fahrzeug. Erst als sie die Albertbrücke erreichten, fragte Micha behutsam: »Lex, wie geht’s dir?«

»Ich hatte schon mal mehr Spaß …« Asp hustete schwach.

»Bock, er kriegt schlecht Luft.«

»Ich weiß«, antwortete der Arzt eisig. »Wir haben’s gleich geschafft.«

Doch noch war gar nichts geschafft, und danach schien es schnell bergab zu gehen. Fritz konnte nicht davon ablassen, sich alle paar Sekunden nach hinten umzudrehen. Immer noch redete Micha auf den schwer atmenden Asp ein und wischte ihm mit einem Taschentuch den Schweiß von der blassen Stirn. Fritz hörte ihn von früheren Einsätzen sprechen, von lange zurückliegenden Ereignissen und gemeinsamen Unternehmungen, um den anderen bei Bewusstsein zu halten und von seinem Elend abzulenken. Als Asp schließlich doch die Augen zumachte, forderte Micha ihn energisch auf, sie offen zu lassen. »Ich muss doch sehen, ob du noch on Tour bist!«, argumentierte er. Mit einer Hand hielt er den Pflock ruhig. Die Straße schien unter den Rädern immer länger zu werden.

In der Mitte des Käthe-Kollwitz-Ufers sagte Micha plötzlich »Bock!« in einem Ton, der einen Hinweis auf Dringlichkeit überflüssig machte und den Arzt veranlasste, sofort die Straße zu verlassen und anzuhalten. Fritz reckte sich im Sicherheitsgurt, um alles mitzubekommen.

Bock rannte um das Auto herum zu Michas Seite und untersuchte den Patienten knapp. Sogar für Fritz als Laien war jetzt zweifelsfrei ersichtlich, dass Asp nicht mehr ansprechbar war.

»Gerade war er noch wach!«, sagte Micha alarmiert und rüttelte an Asps Schulter. »Aber jetzt atmet er nicht mehr! Siehst du? Er bewegt sich gar nicht!«

»Ich seh’s ja!« Bock sog pfeifend die kalte Luft ein und legte die Hände um Asps Hals, dann umfasste er sein Kinn und zog es hoch, woraufhin die Atmung schleppend wieder einsetzte. »Gott sei Dank!«, stöhnte der Arzt. »Okay, wir sind wieder im Rennen. Halt ihn so fest«, wies er Micha an, »genau so. Das hebt den Zungengrund an und hält die Luftwege offen. Er muss atmen, sonst fällt er in Thanatose, und das können wir uns jetzt nicht leisten!«

Micha nickte und übernahm. »Nicht gefreezt werden, Lex«, sagte er sanft. »Immer schön Luft holen.«

Bock sprang wieder hinter das Lenkrad. »Thanatose wäre für ihn jetzt tödlich, denn dann verkrampfen die Muskeln im Thorax und alles ist vorbei. Behalte ständig die Vitalfunktionen im Auge!«

Sobald der Motor erneut lief, kam Asp langsam wieder zu sich. »Oh, Mist«, röchelte er. »Ich dachte, wenn ich aufwache, ist alles vorbei.«

»Muss dich enttäuschen, wir sind noch nicht mal angekommen«, schnarrte Micha über ihm. »Reiß dich zusammen!«

Die nächsten paar Meter blieb es dann ruhig, und sie bogen gerade in das Halbrondell ab, das zur Fetscherstraße führte, als Micha wieder Meldung machte: »Bock, du musst ein bisschen schneller fahren. Es geht jetzt langsam bergab mit dem Vitalzeug.«

Diesmal brauchte Fritz sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er die hastigen, ziehenden und rasselnden Atemgeräusche richtig gedeutet hatte. Noch hatte Asp die Augen zu einem guten Teil geöffnet, doch er sah aus, als würde alle Farbe ihn allmählich verlassen – wie ein zuvor buntes Foto, das sich langsam in einen Monochrom-Abzug verwandelte.

Nur noch ein paar Meter, dachte Fritz bangend und starrte aus dem Fenster ins gelbe Licht. Es sind nur noch ein paar Meter, dann haben wir’s geschafft!
 

Das Herzzentrum Dresden war gleich der erste Bereich des Universitätsklinikums, das dem schwarzen Opel Astra hinter der Pfotenhauerstraße begegnete. Ohne sich große Gedanken über einen erlaubten Parkbereich zu machen, fuhr Dr. Saltz den Wagen so dicht wie möglich an den nächsten Eingang. Alles wirkte beunruhigend still und unbelebt.

»Na, hoffentlich haben die ’ne engagierte Nachtschicht«, kommentierte Micha, als er ausstieg.

»Ich würde jetzt gerne längerfristig ohnmächtig werden«, krächzte Asp. Er konnte inzwischen kaum noch den Kopf heben, geschweige denn selbst gehen. Zu dritt trugen sie ihn. Michas vampirische Kraft trug nicht unwesentlich dazu bei, dass sie mit ihrer Bürde schnell vorankamen.

»Bock, es wird schlimmer!«, wimmerte Fritz, der mit Schaudern die Spur aus Blutstropfen zur Kenntnis nahm, die sie hinter sich herzogen. Wie eine rote Straße zeigte sie an, welchen Weg die vier genommen hatten. Asp wand sich in ihrem Griff, sodass sie ihn kaum festhalten konnten, und rang hörbar nach Atem.

»Akute Herzinsuffizienz«, diagnostizierte Bock nach nur einem Blick und sah dann wieder wild entschlossen geradeaus. »Beeilung!«

Sie schleppten den blutenden Vampir durch einen langen, weißen Korridor, ohne dabei auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Glücklicherweise schien Bock zu wissen, wohin er wollte, hielt auf den ersten der vier herzchirurgischen Operationssäle zu und versuchte, ihn mit dem Fuß aufzustoßen – was funktionierte. Sofort legten sie Asp auf die erste der zwei Bahren hinter der Tür. »Ist hier auch nur irgendeine Sau am Start?«, rief Bock schrill nach draußen. Fassungslos sah er sich nach allen Seiten um, drehte sich einmal um sich selbst und sah immer noch niemanden.

Kurz darauf jedoch kam eine hoch erregte Schwester um die Kurve geeilt. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier machen?«, keifte sie und schnappte, als ein Blick in den OP ihr die Frage beantwortete, entsetzt nach Luft. »Mein Gott, was –«

»Das frage ich mich auch!«, fauchte Bock zurück. »Hier muss doch rund um die Uhr ein Notfall-Team sein!«

»A-Aber doch nicht, wenn wir von nichts wissen! Der Rettungsdienst meldet uns das rechtzeitig, sodass wir alles vorbereiten können!« Vor Bestürzung schlug sie die Hand vor den Mund. »Ich hole jemanden!«, rief sie und verschwand wieder.

Bock stieß ein Knurren aus. »Die beeilt sich besser.«

Fritz schluckte und schaute auf den Boden. »Wir sauen hier alles ein.«

»Interessiert mich nicht«, gab Bock mühsam beherrscht zurück. Seine ärztliche Fassung hatte er zumindest oberflächlich wiedergefunden, doch unter der Fassade brodelte es ganz genauso wie bei Micha und Fritz selbst, das war nicht zu bezweifeln.

Asp sagte nichts. Jetzt, da er auf ebenem Untergrund lag, hatte sich seine Atmung gebessert, aber das weinrote Blut lief und lief. An dem Pflock schien er sich regelrecht festzuklammern.

Endlich kam ein überarbeitet aussehender Arzt um die Ecke, der in eine Kaffeetasse schaute. »Nanu, ich wollte gerade gehen«, sagte er verwundert, ein Gähnen unterdrückend.

Bock sprang ihm in den Weg. »Sind Sie Herzchirurg?«

»Nein, Gefäßchirurg … Aber warum diese F– ?«

»Das muss reichen. Holen Sie, was Sie brauchen!«

Der Arzt hob die Brauen. Der arme Mann sah aus, als wäre er drauf und dran, im Stehen einzuschlafen. »Um diese Zeit? Ich fürchte, alle anstehenden Operationen sind auf den frühen Morgen verschoben worden.« Er rang sich ein müdes Lächeln ab und schob sich an Bock vorbei, wobei er einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm – dann hob er endlich den Blick. Letzterer fiel auf Asp mit dem Pflock in der Brust. Mit einem lauten Prusten spuckte der Mann seinen Kaffee quer durch den Raum. »Was in aller Welt ist denn das?!«, krächzte er, hustete und wischte sich die heißen Tropfen vom Kinn, während sein zitternder Finger auf Asp zeigte.

»Ein Notfallpatient!«, schrie ihn Bock an. »Perforation des rechten Ventrikels im vierten linken Intercostalraum, Hämothorax, drohender kardiogener Schock! Also lassen Sie das Gewäsch und helfen Sie mir!«

Von einer Sekunde auf die andere war der Arzt in Alarmbereitschaft. »Ich – oh je! Aber – aber wir haben im Moment außer mir kein Personal!«, stotterte er, hektisch mit der Tasse fuchtelnd. »Es liegt keine Meldung vor! Ich werde sofort alle Helfer zusammentrommeln, aber ich weiß nicht, ob – !«

»Ich habe fast vier Jahre in der Anästhesie gearbeitet, ich kann die Narkose einleiten!« Bock fixierte ihn eindringlich. »Wir müssen sofort anfangen!«

»Richtig, Sie haben Recht.« Der Arzt fing sich und war plötzlich wach. »Gut, ich … ich hole meine Ausrüstung. Sie nehmen derweil eine Rapid Sequence Induction vor. Wenn Sie das alleine hinkriegen, haben wir schon mal viel gewonnen.« Dann drehte er sich um hastete davon.

Micha legte den Kopf schief. »Nanu, Bock, ich wusste gar nicht, dass du Narkosearzt warst.«

»Darüber reden wir später«, blockte Dr. Saltz. »Ich wollte das nie wieder machen, aber jetzt hab ich wohl keine Wahl. Macht euch keine Sorgen. Ich kann es noch. Hoffe ich. Mal sehen.« Und dann fing Bock damit an, den Operationssaal alleine vorzubereiten. Er schaffte sich das benötigte Werkzeug heran, wobei er offenbar genau wusste, wo er es suchen musste. OP-Säle waren vermutlich alle gleich aufgebaut, um die Arbeitsschritte zu vereinheitlichen. Das emsige, akribische Arbeiten schien ihn zu beruhigen.

Asp nahm derweil immer weniger Teil an dem, was um ihn herum passierte. Sein Blick war trüb, seine Haut schiefergrau – seine Hand, die den Pflock umfasste, war sogar richtig bläulich, wie Fritz erschrocken bemerkte, und seine halb geöffneten Lippen ebenfalls. Sicherlich rührte die Zynose nicht nur von der Atemnot her, sondern auch daher, dass sein durchbohrtes Herz immer weniger Blut befördern konnte. Fritz berührte tröstend die blassviolette Hand, die schlaff herunterhing, fühlte eiskalten Schweiß und einen schwachen, heftig flatternden Puls. Würde er diese winzige Bewegung unter der Haut nicht spüren, er hätte schwören können, bereits einen Leichnam zu berühren.

Sobald Bock in Windeseile alles bereitgelegt hatte, hakte Micha nach: »Was hat der gesagt, was du jetzt machen sollst?«

»Eine RSI«, antwortete der Arzt, nun ganz routiniert. »Eine beschleunigte Narkoseinduktion, weil man normalerweise vor einer OP einen leeren Magen haben muss.«

»Hat Lex vielleicht.«

»Ja, vielleicht nützt uns gar nichts, Micha. Wir machen eine Blitzeinleitung. Du hilfst mir.«

Micha zuckte sichtbar zusammen. »Wie, ich – helfe dir?«

»Ich brauche einen Assistenten«, erläuterte Bock ungeduldig. »Jetzt diskutier nicht, sondern fass mit an!«

Micha gehorchte. Zu zweit packten sie Asp und legten ihn so, wie er war, auf den OP-Tisch. Wieder sorgte Bock dafür, dass sein Oberkörper erhöht lag, und deckte ihn von der Hüfte abwärts mit einer Decke warm zu. Als die grellen Lichter angingen, begann Asp zu zittern wie im Fieber.

»Er sieht platt aus und ist saukalt«, stellte Micha fest. »Bevor du irgendwas machst, musst du ihm Sauerstoff geben, sonst wird er gleich gefreezt.«

Bock nickte. »Machen wir. Vor der Intubation müssen wir sowieso die Lungen mit reinem Sauerstoff sättigen. Hier, Micha, eine gute Aufgabe für dich. Derweil mische ich den Narkosecocktail. Wir schaffen das schon.«

»Du schmeißt schon wieder mit Wörtern um dich, die ich nicht kenne, aber gut«, murrte Micha, nicht wirklich willens zu bocken, da er seinem Freund unbedingt beistehen wollte.

Fritz hatte geglaubt, Asp wäre bereits halbbewusstlos, da seine Augen bis eben blicklos in die Ferne gestarrt hatten, doch nun wurden sie überraschend wieder ziemlich klar. Kaum hörbar drückte er ihnen sein Vertrauen aus: »Ich zähl auf euch …« Es klang noch mehr nach Angst, als Fritz erwartet hätte, und wieder gab es ihm einen Stich und machte ihn schwindelig, wenn er an das dachte, was dem Sänger jetzt bevorstand. Entweder überlebte er diese Blitzoperation irgendwie, oder …

»Lex«, verlangte Micha nach Asps Aufmerksamkeit, »du hältst jetzt die Klappe und atmest einfach nur brav den Sauerstoff, in Ordnung?« Und er drückte ihm die Maske auf Mund und Nase, sobald Bock das Sauerstoffventil aufgedreht hatte.

Fritz blieb einfach nur stehen. Er schlotterte vor unkontrollierter Nervosität. Verdammt, es ging hier nicht um ihn! Warum also fühlte es sich an, als ob er gleich sterben musste?

Micha nahm die Aufgabe, den Patienten bei der Präoxygenierung – denn so nannte sich wohl die Sättigung des Blutes mit reinem Sauerstoff – zu beobachten und ihm gut zuzureden, gewissenhaft wahr, während Bock einen venösen Zugang legte. Asp schien den Einstich nicht einmal mehr zu spüren. Fritz, der sich davon natürlich abwenden musste, kam sich indes wie ein Idiot vor, weil er nicht mehr tun konnte als herumzustehen und konsequent das viele Blut zu ignorieren.

Bock mixte Medikamente zusammen: ein Hypnotikum und ein Analgetikum, außerdem ein Muskelrelaxans. »Ich mische ein bisschen Ketamin dazu, damit der Blutdruck nicht noch weiter abstürzt. Aber nicht zu viel, sonst beschleunigt es den Herzschlag, und dann …«

Micha unterbrach ihn ärgerlich: »Danke für die Info, Bock. Scheiße, mach einfach.« Er tauschte einen Blick mit Asp; dieser konnte so beunruhigende Mitteilungen sicherlich nicht gebrauchen. Inzwischen zitterte er so heftig, dass die Vibrationen am OP-Tisch fühlbar waren.

Seufzend drückte der gescholtene Arzt Luftbläschen aus zwei bis zum Anschlag aufgezogenen Ampullen. »Okay, fertig … Ich hab auf die Schnelle eine Dosis berechnet, die selbst einen so alten Vampir wie Frais abschießen würde. Alex, für dich ist der Spaß gleich vorbei, du kriegst das Mittel direkt ins Blut und wirst sofort ganz tief schlafen. Für uns dagegen geht’s dann erst richtig los … Sind alle so weit? Dann starten wir.« Mit diesen Worten verabreichte Bock das Gemisch aus Schmerz- und Schlafmitteln langsam durch die im Handrücken platzierte Kanüle in die Vene. Der Cocktail wirkte nach knapp zehn Sekunden, noch bevor er restlos injiziert war. Asp schluckte ein paar Mal, als würde ihm übel werden, dann verdrehte er die Augen und schloss langsam seine zuckenden Lider.

»Sieht aus, als wäre er weg«, befand Micha vorsichtig.

Bock überprüfte das durch einen Blick in die starren Pupillen und nickte. »Gut, dann gebe ich ihm jetzt das Muskelrelaxans. Danach müssen wir ein gutes Timing haben, er darf nicht in Thanatose fallen, wenn die Atmung aussetzt.«

»Aber wieso eigentlich nicht?«, warf Fritz ein. »Wenn du ihm jetzt ein Mittel gibst, das seinen ganzen Körper lähmt, dann kann er doch nicht verkrampfen.«

»Richtig, Fritz, und wenn wir sicher sein könnten, dass er in diesem Zustand bleibt, dann wäre Thanatose das Beste, was wir machen könnten – die Körperfunktionen auf ein Minimum runterschrauben. Leider wäre praktisch alles, was wir danach mit ihm vorhaben, so traumatisch, dass es ihn wieder wecken würde. Diesen Dauerstress würde er nie überstehen.« Bock zog sich ein kleines rollbares Tablett heran, auf dem die benötigten Utensilien lagen. Konzentriert kündigte er an: »Gleich kommt das Schwierigste: die Atemwegssicherung. Haltet mir die Daumen.« Fritz und Micha mussten daraufhin mehr als unglücklich ausgesehen haben, denn er fügte sofort hinzu: »Ihr seid gleich entlassen, wenn die Spezialisten da sind! Ich muss jetzt nur noch das da –« Er deutete auf einen etwa fingerdicken PVC-Schlauch. »– in seine Luftröhre stecken, damit ich ihn beatmen kann. Vorher müssen die Muskeln gelähmt sein, weil das Einführen sonst durch Reflexe wie Würgen oder Husten unmöglich gemacht werden würde. Den richtigen Moment abzupassen ist nicht so leicht. Wenn der Tubus beim dritten Versuch nicht drin ist, muss ich mir was anderes einfallen lassen.« Er wandte sich an Micha: »Wenn ich es sage, drückst du mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger fest auf den Kehlkopf.«

»Oh, Scheiße«, murmelte Micha.

Bock applizierte die zweite Ampulle, welche das Lähmungsmittel enthielt; daraufhin setzte ein kurzes Zucken ein, und das Zittern verebbte völlig. Die angestrengte Atmung wurde schwächer und kam dann ebenfalls zum Erliegen. Stumm die Lippen bewegend, zählte Bock von sechzig abwärts.

Micha furchte die Stirn und nahm die nun überflüssige Sauerstoffmaske weg. »Bock, seine Hauer sind rausgekommen. Also müsste er jetzt völlig schlapp sein.«

Der Arzt holte tief Luft. »Okay, dann wage ich jetzt einen Versuch. Mit ein bisschen Glück klappt’s. Finger drauf.«

Micha gehorchte tapfer. Bock stellte sich hinter Asps Kopf, öffnete ihm den Mund und schob mit der Linken einen spiegelnden Spatel vorsichtig bis zum Kehlkopf vor; das Werkzeug drückte die Zunge beiseite und den Kehldeckel hoch. Kein Schluck- oder Würgreflex behinderte dies. »Gott sei Dank, ich sehe die Stimmritze.« Mit der Rechten griff Bock nach dem Schlauch und führte ihn zügig in die Luftröhre ein. »Na prima, das war’s schon.« Er wischte sich den Schweiß ab. »Alles wird gut!«

Micha, blass und schweigend, sah beiseite.

Nach dem Sichern und Befestigen gab Bock ein paar manuelle Beatmungen und horchte die Brust ab. »Hat alles geklappt. Der Tubus liegt intratracheal und beide Lungen werden gut belüftet.«

»Bock, leck mich mit deinem Fachgelaber. Du weißt genau, dass wir kein Ärztisch sprechen und ’nen Scheiß davon haben, wenn du uns das erzählst!«

»Und du sollst endlich aufhören zu fluchen, Micha. Davon haben wir auch ’nen Scheiß.«

Umgehend fuhr er mit den Vorbereitungen fort. Das Narkosegerät stellte er auf fünfzehn Atemhübe pro Minute ein, was eine relativ hohe Frequenz war, und als auch alle anderen Geräte ihre Arbeit aufgenommen hatten und die Monitore verwirrende Kurven und Zahlen anzeigten, ließ Micha vorsichtig verlauten: »Bisher läuft es doch ganz gut … oder?«

Bock war weniger euphorisch. »Ich werde das alles überwachen müssen, Micha, das komplette Monitoring, und wenn wir an das Herz rangehen, müssen wir möglicherweise die Beatmung und den Herzschlag vollständig ausschalten und das Blut maschinell mit Sauerstoff sättigen – kannst du dir das eigentlich vorstellen?«

»Naja … Nee.«

Gemeinsam legten sie den Pflock und die tiefe Wunde vorsichtig frei. Dabei gaben sie sich nicht allzu viel Mühe, schoben einfach nur den Mantel über der Brust beiseite und kratzen die übrige Kleidung aus dem Weg.

Schließlich kam der Chirurg zurück, und sobald er durch die Tür getreten war, verfiel er in eiligen Trab. »Ich bin soweit!«, verkündete er. Offensichtlich hatte er alles mitgebracht, dessen Gebrauch er in Erwägung zog; er blieb bei den drei stehen und fragte vorsichtig: »Und? Lebt der Mann noch?«

»Ja«, bestätigte Bock. »RSI erfolgreich.«

»Da muss ich zugeben: Alle Achtung.« Mit so etwas wie Galgenhumor fügte er hinzu: »Ich bin kein Herzchirurg, Sie sind kein Kardiotechniker … Viel schlimmer kann es doch gar nicht mehr kommen, was meinen Sie?« Er begutachtete den narkotisierten und beatmeten Patienten, dann die Monitore. »Die Werte sind extrem pathologisch, der Puls ist geradezu elend. Wir können nicht noch mehr Zeit verlieren. Ein Herzchirurg ist unterwegs, ein Assistenzarzt auch, aber wir müssen wohl oder übel den Anfang machen, sonst stirbt der Mann mit Sicherheit. Wir decken jetzt die Wunde ein und lassen alles andere, wie es ist.« Als er von Bock die grünen Abdecktücher entgegennahm, fiel sein Blick erstmals auf die unter Asps Oberlippe leicht sichtbaren Spitzen der Fangzähne. »Seien Sie ehrlich«, bat er. »Ist das … ein Vampir?«

Dr. Saltz nickte vorsichtig.

»Gut … Ich hatte schon ein paar von denen unter dem Messer. Die sind zäh. Wir kriegen das hin. Auf geht’s.«

Fritz hatte die ganze Zeit, wie angewurzelt stehend, mit wachsender Beklemmung zugesehen. Jetzt wurde er von Micha am Arm gepackt und zur noch offenen, zweiflügligen Tür des OPs gezerrt. »Komm, Fritz. Ich muss hier raus … und ich glaube, du auch.« Fritz taumelte lahm hinterdrein, um nicht umzufallen, und hörte nur noch das leiser werdende Gemurmel der beiden Ärzte. Eben sagte der Chirurg: »Nein, decken Sie nicht alles zu, ich glaube nicht, dass der vierte Intercostalraum als Zugang ausreicht, wir werden Rippen resezieren müssen, vielleicht auch um eine Sternotomie nicht herumkommen, wenn wir den Ventriculus cordis nähen und das Blut aus dem Thoraxraum absaugen wollen, das Perikard wird auch voller Blut sein …«

Micha rollte die Augen. »Bla, bla, bla … Scheiß Ärzte, versteht keine Sau.«

»Micha …«, begann Fritz, »mir fällt gerade ein … wie kommt man denn an das Herz überhaupt ran, wenn es unter den Rippen ist?«

»Was weiß ich … Stichsäge?« Micha kannte Fritz mittlerweile gut genug; er streckte beide Arme nach hinten aus, um den prompt umfallenden Kollegen anstellig aufzufangen.
 

Fritz kam in einer Art Wartezimmer, lang über drei gepolsterten Stühlen liegend, wieder zu sich. Um ihn herum saßen außer Micha auch Falk, Simon, Ingo und Lasterbalk.

»Wo ist der Rest?«, fragte er schwach.

»Beschäftigt oder verletzt«, antwortete Falk. »Die Sache mit der Sportpension haben wir geregelt. Kein Grund zur Sorge.«

Fritz fühlte sich elend. Immer, sobald andere bluteten, machte er sich selbst zum Patienten. Das negative Bild, das längst alle von ihm hatten, konnte dadurch einfach nicht besser werden, das war ihm bewusst. Seufzend richtete er sich auf und versuchte, die tadelnden Blicke zu ignorieren. »Was ist mit Alex?«, fragte er und hatte Angst vor der Antwort. Den Gesichtern der Umsitzenden nach zu urteilen gab es bisher zumindest keine freudige Nachricht, und das Gegenteil einer freudigen Nachricht wollte er sich nicht einmal vorstellen.

Micha zuckte nur die Achseln. »Keine Ahnung. Sie arbeiten noch. Weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.«

Die Notfalleinleitung fiel Fritz in allen Details wieder ein. »Ich lasse mich nie wieder operieren«, jammerte er. »Ich dachte, in Narkose liegt man einfach nur rum … Ich wusste nicht, dass einem so viel Zeug in den Körper gesteckt wird!«

»Boah, Alter, du kannst aber auch nix als jammern, was?« Micha betrachtete ihn angewidert. »Das machen die immer so! Ich hab selber keine Ahnung, warum Bock so panisch ist. Er hat’s doch hingekriegt. Ich glaub mal fest dran, dass der andere Kerl das Herz wieder zusammenflickt.«

Fritz hatte sich, von Micha derart angefahren, instinktiv etwas kleiner gemacht und befürchtete, die anderen würden dem Sänger beispringen; jedoch hatten sie in Wahrheit nichts hinzuzufügen. Alle blickten trübsinnig beiseite.

Nur Minuten später jedoch schaute Bock ziemlich aufgelöst zur Tür herein – der OP schien sich direkt nebenan zu befinden – und sagte eindringlich: »Vampire, reinkommen. Alle! Wir müssen Bluttransfusionen machen, die maschinelle Autotransfusion langt nicht.«

Vorsichtig wandte Ingo ein: »Ich denke, Vampire haben auch Blutgruppen.«

»Ja, aber das ist egal, weil ihr Blut bei Vermischung nicht so verheerend reagiert. Alle!«, wiederholte Bock, und daraufhin erhoben sich sämtliche anwesenden Vampire.

Nur Fritz und Ingo Hampf blieben zurück. Letzterer stellte düster fest: »Die Vampire freuen sich jetzt ’n Loch in den Bauch, dass sie zu was nütze sind. Keine Ahnung, ob in so ’ner Klinik sonst so viel Vampirblut lagert. Hoffen wir das Beste.«

Eine knappe Viertelstunde später kehrte Micha mit sorgenvoller Miene als erster zurück und setzte sich mit einem leisen Seufzen wieder auf seinen Platz, einen Tupfer auf seine linke Armbeuge drückend. »Lex ist ein zäher Hund«, sagte er bedeutungsvoll, aber man sah ihm an, dass ihn das, was er hatte sehen müssen, erschüttert hatte.

Einige weitere Minuten später kam auch Falk wieder herein. Auch er sah alles andere als beruhigt aus. Ihm folgten nach und nach die Übrigen, und keiner machte einen annähernd gefassteren Eindruck.

»Ich hab Angst zu fragen«, begann Fritz, »aber … was habt ihr drinnen gesehen?«

Falk berichtete: »Es ist noch schwieriger, als sie dachten. Die Wunde ist groß und tief. Weil ständig irgendein Knochen im Weg war, haben sie das Brustbein der Länge nach durchgeschnitten und die Rippen aufgespreizt. Jetzt steht das Herz still. Sie haben ein eiskaltes Gel reingespritzt, damit es erstarrt und sie sauberer arbeiten können, und irgendwelche Pumpen übernehmen die Funktion.«

Schlagartig fühlte Fritz das Blut wieder in seine Beine sacken. Er lehnte sich tief ins Polster des Stuhls, atmete tief durch und brachte zittrig hervor: »Und … meint ihr, sein Herz wird danach wirklich wieder anfangen zu schlagen?«

»Na klar«, behauptete Micha sofort. »Das ist ein Vampirherz, und zwar ein altes. Je älter ein Vampir ist, desto hartnäckiger klammert er sich ans Leben, zumindest körperlich. Deshalb sind Vampire wie Paul Frais ja auch so schwer zu töten. Wirklich, Lex kann noch kämpfen, wo jüngere Vampire es schon lange nicht mehr könnten.« Er furchte die Stirn. »Ich frag mich nur, wieso der OP mit den dreien so’n Panikschuppen ist. Und wieso hat Bock nie erzählt, dass er früher OP-Patienten schlafen gelegt hat? Ist das irgendwas Peinliches?«

»Das kann ich dir sagen«, erklärte Falk. »Bock hatte einfach – soweit ich mich erinnere, was er damals erzählt hat – immer Angst, dass seine Patienten während der OP aufwachen und sich dann wegen des Lähmungsmittels nicht bemerkbar machen können. Ich gebe zu, das ist auch ein ziemlicher Horror, die Vorstellung. Ich denke einfach, er hat es mal selbst erlebt. Du hast ja gerade gesehen, was drinnen los ist: Er überwacht Asp akribisch auf Stresssignale und redet ständig auf ihn ein, obwohl der höchstwahrscheinlich gar nichts mitkriegt.«

»Oh Mann, ey.« Micha stöhnte auf und rieb sich die Stirn. »Murphys Regel, ne? Alles Schlimme kommt immer zusammen. Mann, hoffentlich packen die das.«

»Tja, im Moment kann Asp jedenfalls nicht sterben. Die Herz-Lungen-Maschine übernimmt alle Vitalfunktionen für ihn. Sie müssen es nur schaffen, den Normalzustand wiederherzustellen, sodass der Körper das auch alleine schafft.«

Fritz gefiel nicht, was er hörte. Gerne wäre er auf der Stelle wieder ohnmächtig geworden.
 

Über eine Stunde später kam Bock herein. Er war total verschwitzt und schlotterte, ein Gewirr aus Haarsträhnen hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und ließ ihn zusammen mit seinen wilden Augen wie einen Verrückten aussehen. Geradewegs auf die gegenüberliegende Tür zuhaltend, drehte er sich nicht einmal nach den anderen um, die ihn erwartungsvoll ansahen.

»Bock«, begann Micha zaghaft. »Was ist?«

»Sein Herz ist angesprungen. Er lebt.«

Fritz hatte erwartet, dass jetzt alle Anwesenden in Jubelstürme ausbrechen würden, doch das passierte nicht. Alle saßen immer noch wie starr. Leise begann Falk: »Bock …«

»Nein!«, wehrte der Arzt ihn fauchend ab, sodass alle zusammenzuckten. »Ich bin erledigt. Ich muss schlafen. Lasst mich in Ruhe!« Damit stieß er die andere Tür auf und verschwand.

Ingo, Fritz und die Vampire tauschten unschlüssige Blicke. Kurz darauf kam auch der Chirurg herein, ebenfalls wortlos; er sah wesentlich nüchterner aus als Bock, lediglich sehr müde.

Er drehte sich noch einmal um und rief einer Schwester zu: »Platzieren Sie einen Beißkeil. Ich hatte schon Vampire auf dem Tisch, die nach Abklingen der Muskelrelaxation den Beatmungsschlauch durchgebissen haben.«

Micha hielt ihn auf: »Hey, was ist denn jetzt genau? Ist alles wieder okay? Können wir zu ihm?«

Entgeistert hob der Arzt die Brauen. »Zu ihm? Vergessen Sie’s! Sein Zustand ist sehr kritisch, ich kann nicht mal sagen, ob er die Nacht übersteht. Ich will niemanden auch nur in der Nähe dieser Tür sehen. Oh, aber das hier brauchen Sie vielleicht noch.« Damit öffnete der Arzt das weiße Bündel, das er unter dem Arm getragen hatte, und holte den bis zum Griff völlig mit Blut vollgesogenen Pflock hervor, um ihn Ingo zu reichen, der ihn zögernd nahm. »Gehen Sie ins Bett, hier passiert nichts mehr.«
 

»Und wir sollen jetzt allen Ernstes schlafen?«, fragte Fritz, als sie schweigend ins Versteck unter der DINZ-Baustelle zurückgekehrt waren. Noch immer war er nervös und aufgekratzt und konnte nicht einmal daran denken, sich jetzt zur Ruhe zu betten. Auf dem Weg zum Keller hatte er durch die Fenster gesehen, dass sich am Horizont bereits der Himmel zu röten begann.

»Ich hoffe nur, ich kann es«, gab Micha zurück. »Aber sie haben Lex am EKG und überwachen ihn. Für uns gibt’s nichts mehr zu tun. Wir sollten uns echt ausruhen.«

Falk, Lasterbalk und Simon zogen sich mit einem letzten Gruß zurück. Ingo, der an ihrer Seite gegen Fiacail Fhola gekämpft hatte, war verständlicherweise ebenfalls müde. Den blutigen Pflock, der nach wie vor Fritz gehörte und dessen Anblick allen Albträume verursachte, räumte er im Bockshof außer Sichtweite. Fritz schaute ihm nach, wie er den düsteren Flur hinunter trottete; dann glitt sein Blick wieder zu Micha, der allein am Tisch in der Küche saß, das Kinn auf die gekreuzten Unterarme gelegt, und ernst vor sich hin starrte. Als Fritz sich ihm näherte, hörte er ihn ganz leise eine Melodie summen.

»Hmmmmm, wie ging das noch mal … Vorwärts … Abwärts … In meinen Adern fließt das schwarze Blut … Oder wie auch immer …« Dann bemerkte er Fritz und brach sofort ab. »Du bist ja immer noch auf.«

»Hm, ja. War das … eins von seinen Liedern?«

»Jap. Schwarzes Blut. Man könnte denken, es handelt von Vampiren, tut’s aber nicht … Stattdessen geht es um Toleranz gegenüber Personen, die einfach nicht so sein können und möchten wie andere … die aber zu dem stehen, was sie sind. Okay, also doch irgendwie um Vampire, wenn man’s so sehen will.« Er schnitt eine Grimasse und wechselte dann abrupt das Thema. »Hast du schon gehört, dass die Krankenhausleitung uns hier raus haben will, sobald Lex’ Zustand das erlaubt? Die wollen keine Vampire mehr hier haben. Kann sein, dass wir Eff Eff bis dahin bei den Eiern haben. Vielleicht aber auch nicht.«

»Aber Alex kann immer noch sterben«, erinnerte Fritz vorsichtig.

»Ja. Hast ja vorhin gesehen, wie die Pfleger mit dem Defi lauern. Die kriegen das Kammerflimmern nicht in den Griff. Alter, Scheiße, ich halt das nicht aus! Am liebsten würde ich das gerade aus meinem Hirn löschen, bis Lex wieder fit ist!« Micha seufzte tief und fröstelnd. Fritz hatte ihn seit der Aushungerung nicht so aufgelöst gesehen. Genauso schnell, wie er die Fassung verloren hatte, gewann der Sänger sie jedoch zurück, rückte vom Tisch ab und stand dann hastig auf. »Ich geh jetzt eine rauchen. Oder zwei, je nachdem, wie lange ’s dauert, bis ich mich wieder einkriege. Sonst kann ich heute überhaupt nicht mehr pennen. Wir sehen uns morgen, Fritz … wenn alles, hoffentlich, wieder gut ist.«

Kalte Spuren

Am späten Morgen galt es zunächst, sich von den Locksängern zu verabschieden. Faun hatten ihren Teil zur Lösung des Problems beigetragen, wie es von ihnen verlangt worden war, und nun riefen andere Aufgaben sie zurück in den Süden des Landes. Lediglich Fiona Rüggeberg blieb, da sie sich bereiterklärt hatte, Teil der Dudelsack-Formation zu sein, die Fiacail Fhola aus ihrem neuen Versteck locken sollte. Zwar hatte Paul Frais ihr Instrument einfach an sich genommen, doch von diesem Schrecken hatte die Musikerin sich mittlerweile erholt und versprach, sich an dem Experiment zu beteiligen, wenn ihr jemand einen anderen Dudelsack zur Verfügung stellte. »Wär doch gelacht, wenn ich Angst vor jemandem wie dem hätte! So was gibt’s bei mir nicht!«, gab sie unverzagt zu Protokoll.

Während Faun gingen, kamen Schandmaul. Das hieß: Eigentlich kam nur der vampirische und im Übrigen zu zweihundert Prozent weibliche Teil der Band. Birgit Muggenthaler-Schmack brachte ihre Schäferpfeife mit; sie selbst würde, da sie für die Wirkung ebenfalls anfällig war, das neue Lockstück nicht mitspielen können, bot ihr Instrument jedoch Fiona an, die es dankend zur Ausleihe annahm. Birgit war ein Gründungsmitglied von Faun gewesen, weshalb die beiden Frauen einander schon seit vielen Jahren vollstes Vertrauen entgegenbrachten. Birgit und ihre Kollegin Anna Katharina Kränzlein taten geheimnisvoll, bis man sich vergewissert hatte, dass zumindest Alea noch schlief; alle anderen wussten natürlich, was die beiden im Gepäck hatten: Hyperborea. Die Ankunft des lang ersehnten Getränks vertrieb zunächst den gewaltigen Überhang von Angst und Sorge, der über dem MIU-Versteck dräute wie eine regenbringende Wolke.

»Habt ihr auch wirklich net alles unterwegs ausgetrunken?«, scherzte Lasterbalk, als er – sich diese kleine Freude gestattend – einen Fangzahn in den Korken der ersten Flasche rammte, um sie feierlich zu öffnen und den Inhalt auszuschenken.

Zusammen saßen nur die Vampire, weil Simon die Ankunft der Schandmaul-Damen bemerkt und alle möglichst unauffällig geweckt hatte. Den menschlichen Teil des Teams hatte man schlafen lassen. Die durchwachte Nacht war lang und unangenehm gewesen, außerdem sollte es die Menschen nicht behelligen, dass die Vampire ein Nahrungsproblem hatten. Bei ihnen war auch Sugar Ray. Die Verätzungen um seine Augenpartie waren schon recht gut abgeheilt, doch er war blind und würde es voraussichtlich noch mindestens fünf Tage lang bleiben, bis die Hornhäute sich regeneriert hatten. Simon gab ihm das Weinglas behutsam in die Hand.

»So, dann mal weg damit!«, brummte der Vampirjüngste, der ob des Wohlgeruchs schon ständig mit dem Speichelfluss zu kämpfen hatte, und schloss die Faust fest um den Glashals, doch Lasterbalk legte ihm mit tadelndem Blick eine Hand auf die Schulter.

»Net so schnell, Schmittchen. Das hier ist ein feierlicher Augenblick!«

Simon rollte die Augen. »Du hast wohl keinen Hunger, oder was?«

»Doch, aber wir reißen uns jetzt zusammen, wie sich des gehört. Hat jeder ein Glas?«

Zustimmendes Nicken und erwartungsvolles Murmeln antwortete ihm. Mit dieser ersten Flasche flüssiger Glückseligkeit würden sie alle zusammen anstoßen – danach würden sicherlich noch einige folgen.

»Worauf trinken wir denn?«, wollte Birgit wissen. »Auf gutes Gelingen und die Macht der Dudelsäcke?«

»Erstens das«, nickte Falk, »und zweitens darauf, dass Asp gesund wird.«

Anna sagte vorsichtig: »Er wäre der erste Vampir, der eine Pfählung überlebt.«

»Richtig«, antwortete Falk vorsichtig.

Dann entstand ein verlegenes Schweigen.

Micha räusperte sich: »Wir sollten außerdem darauf trinken, dass das Krankenhaus uns nicht auf die Straße setzt.«

»Ich glaub, so viel, wie wir dafür trinken müssten, haben wir net«, gab Lasterbalk düster zurück.

Schließlich wurde getrunken – schweigend und konzentriert, als könnten die geäußerten Wünsche durch den Akt des gemeinsamen Speisens tatsächlich Wirklichkeit werden.
 

Als Fritz gegen Mittag aufwachte, hätte er gern noch weitergeschlafen, doch sofort als er die Augen aufschlug, griff Sorge nach ihm. Rücksichtsvoll flüsternde Stimmen im Korridor zeigten an, dass bereits ein Teil der Belegschaft wieder auf den Beinen war, und so verließ Fritz das Kellerversteck, um in den dafür installierten Räumlichkeiten im Erdgeschoss eine Dusche zu nehmen. Als er zurückkehrte – halb über Amboss stolpernd, der ihn wedelnd begrüßte – fing Simon ihn ab. Und zwar mit einer Miene, die Fritz zutiefst erschreckte.

»Weißt du es schon?«, fragte ihn der junge Mann trübe.

Fritz schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Er hatte Angst vor dem, was er jetzt hören würde.

»Alex ist gestorben«, flüsterte Simon bedrückt.

»Was?« Etwas in der Art hatte Fritz befürchtet, doch alle Vorbereitung half nichts; er musste hart schlucken. Das konnte unmöglich wahr sein. Sie hatten alles versucht, hatten die ganze Nacht gebangt und gehofft …

»Ja. Heute früh, so gegen halb fünf, hat sein Herz den Geist aufgegeben.«

Fritz war völlig geplättet. Nach all den aufopferungsvollen Bemühungen der letzten Nacht hatte er damit kaum noch gerechnet. Als er wieder den Kopf hob, um Simon in die Augen zu sehen und irgendetwas zu sagen, durchfuhr ihn jäh eine Welle der Erleichterung: Der blonde Vampir grinste so breit, dass seine Zähne blitzten.

»Ha, verarscht! Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Tut mir Leid«, versicherte er schnell, als er Fritz’ angesäuerten Gesichtsausdruck bemerkte, »aber ich freu mich doch so, dass er über den Berg ist! Yeah!« Simons Freude trat nun ganz offensichtlich und unverhüllt zutage. »Wäre aber auch sehr uncool von ihm gewesen, nach all dem doch noch abzukratzen. Nicht so der Abgang, den man von ihm erwartet hätte.«

Eine beinahe schmerzhafte Erleichterung durchflutete Fritz, und er lächelte, obwohl er den morbiden Witz alles andere als angebracht fand. »Dann ist jetzt alles wieder gut?«

»Naja, nein, noch nicht. Wir haben uns die EKG-Kurve angesehen, toll ist die nicht. Harte Nacht. Zeitweise hatte er eine Pulsfrequenz von weniger als vierzig Schlägen pro Minute, dann wieder fast hundertachtzig. Hundertachtzig Ruhepuls! Das muss sich unter dem Stethoskop angehört haben wie ’ne Nähmaschine!«

»Bitte keine Details«, warf Fritz rasch ein und schluckte die Abscheu mühsam hinunter. »Hat Bock das schon gesehen?«

»Nein, der pennt wie’n Toter. Wir gönnen es ihm. Aber Alex müsste gut am Heilen sein … wobei ihm wahrscheinlich alles weh tun wird, weil das Aufbiegen der Rippen viele Muskeln abgequetscht hat.«

»War denn überhaupt schon irgendjemand bei ihm?«

»Bisher nicht. Wir sollen noch warten.« Simons Grinsen wurde etwas weniger, dafür weicher. »Schandmaul sind da … und es ist wieder gutes Essen im Haus.« Er sagte dies in einem liebevollen Ton, als wäre es schon immer Annas und Birgits Aufgabe, die anderen Vampire zu bemuttern.

Fritz verstand jedoch die Andeutung. Endlich, dachte er, kein Blut mehr in Suppentöpfen, kein Geruch von warmem Blut oder warmem Buck-Up mehr – hurra!
 

Der Dämpfer kam, sobald die offiziellen Zügelführer des MIU-Einsatzes – Buschfeldt und Schievenhöfel – in die Verwaltungsabteilung der Klinik gebeten wurden. Sie kehrten zurück mit der Botschaft, dass der MIU eine Schonfrist von drei Tagen eingeräumt worden war, dass nach diesem Termin aber keine Geheimdienst-Vampire mehr als Asylanten erwünscht wären.

Frustriert zog sich daraufhin ein Großteil des Teams zurück. Ohnehin waren sie wieder einmal zur Untätigkeit verdammt, bis die restlichen Dudelsäcke eintrafen. Marco, der Gott sei Dank seinen Nervenzusammenbruch überwunden hatte – dem allerdings nahegelegt worden war, im Falle des Auftretens von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung dringend einen Arzt aufzusuchen –, wurde mit liebevoller Aufmerksamkeit von Yellow Pfeiffer betreut; dieser wiederum machte sich erneut via Internet auf die Suche nach Anhaltspunkten für die Lokalisation des neuen Fiacail-Fhola-Unterschlupfs. El Silbador, dessen Wunde über dem Hüftgelenk noch mehrmals täglich in Nachbehandlung war, unterstützte ihn dabei nach Kräften. Auffällig war, dass er immer ein wenig schief auf dem Stuhl saß, damit sein Verband nicht verrutschen konnte.

Fírinne standen auf Abruf. In weiser Voraussicht hatten die Iren gar nicht versucht, mit dem Krankenhaus irgendetwas auszuhandeln, sondern waren gleich nach getaner Arbeit möglichst rasch abgerückt – zurück in die Botschaft, wo sie dem nächsten Hilferuf harrten.

Außerdem wurde alles Wikingerblut, das sich noch in Reichweite befand, einvernehmlich entsorgt. Im Bockshof gab es ein großes Waschbecken, und in dieses kippte Micha den Inhalt der drei verbliebenen Flaschen, ohne aufkommendem Protest Gehör zu schenken.

»Ob dit ’ne jute Idee ist? Ick seh schon Monsterratten durch die Kanalisation flitzen«, äußerte Basti angezeigte Bedenken.

»Kannst mich gerne dran erinnern, wenn Dresden von Ratten überfallen wird«, gab Micha zurück.

Bock verschwand fast augenblicklich, nachdem er aufgestanden war. Unschwer zu erraten, was er sich ansehen wollte. Kurz nachdem er den Keller wieder betreten hatte, folgte ihm zögerlich ein älterer Krankenpfleger, blieb jedoch noch am Anfang des Korridors stehen, sodass Bock sich zu ihm umdrehen musste.

»Was ist denn noch?«, fragte er ungehaltener als beabsichtigt.

Der ängstliche Pfleger überbrachte die Anfrage eines Arztes aus einem anderen Fachbereich, ob man von Asp eine Blutprobe nehmen dürfe.

»Können die ruhig machen«, antwortete Dr. Saltz unbehelligt, und der Mann ging.

Sofort schauten Ingo und Simon mit beunruhigten Gesichtern in den Flur. »Bock, wieso hast du das erlaubt?«, zischte Hampf. »Haben wir nicht genug am Hals?«

»Es kann uns völlig egal sein, ob uneingeweihte Ärzte sein Blut screenen«, erwiderte Bock. »Bei normalen medizinischen Tests verhält Vampirblut sich unauffällig, bis auf eine leichte Anämie. Wenn man wissen will, ob man das Blut eines Menschen oder das eines Vampirs vor sich hat, muss man spezifischere molekularbiologische Untersuchungen vornehmen … oder es einfach mit UV-Licht bestrahlen.«

»Es färbt sich schwarz, oder?«, fragte Fritz, der sich dunkel erinnerte. »Das hab ich bei Micha gesehen. Wieso macht es das eigentlich?«

Bock zögerte und hob dann ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht genau, wieso Vampirblut photoreaktiv ist«, gab er zu, »aber aus irgendeinem Grund lässt die Energie im UV-Licht das Hämoglobin zerfallen, sodass Hämatin entsteht, ein schwarzer Farbstoff. Das passiert übrigens auch mit Menschenblut, zum Beispiel wenn es verdaut wird.«

Ingo furchte die Stirn. »Ah … Deshalb ist Vampirkotze also schwarz.«

»Nicht nur Kotze«, murmelte Simon.

»Ahaaa! Schwarz, ganz schwarz!«, sang Hampf mit einem wissenden Grinsen, das Gelächter auslöste, und endlich hatte Fritz das Gefühl, dass alle sich plötzlich … entspannten. Es kehrte so etwas wie Enthusiasmus in die Mitte der MIU-Leute zurück, und das tat unfassbar gut, anders konnte er es nicht erklären. Er selbst war aufgekratzt darüber, dass Asp überlebt hatte, und konnte nicht anders, als seinem Enthusiasmus Luft zu machen – auch wenn er wusste, genau wie auch die anderen, dass dabei noch immer bestehende Probleme in den Hintergrund gerückt wurden.
 

Der Nachmittag näherte sich seinem Ende, als Fritz zum wiederholten Male der Küche – oder dem, was sie hier so nannten – einen Besuch abstattete. Diesmal jedoch war er dort nicht allein. Einsam und in eine Tasse Tee starrend saß Alea auf einem der wackligen Stühle am noch wackligeren Tisch und schien ganz in seine eigene Welt versunken zu sein.

Ohne ein überflüssiges Wort zu sagen, holte auch Fritz sich selbst heißes Wasser und warf einen Teebeutel hinein, um sich neben den Vexecutor zu setzen und herauszufinden, was ihn so verbitterte.

Ehe er jedoch mit dem Bohren beginnen konnte, sagte Alea ohne jede Einleitung: »Alle sind so fröhlich.«

»Äh … Ja, weil Asp noch lebt«, erklärte Fritz, der mit einer solchen Offenheit nicht gerechnet hatte. Er wusste nicht, wie viel man Alea erzählt hatte, aber über den Umstand, dass einer von ihnen sich in Lebensgefahr befunden hatte, war er offenbar informiert.

Alea nippte trübe an der Tasse und fuhr fort: »Keiner kann mir sagen, wieso die ihm ’nen Pflock ins Herz gerammt haben. Fiacail Fhola behandeln uns, als wären wir auch Vampire.«

Erst war Fritz erstaunt über diese Feststellung, denn er hatte nicht geglaubt, dass man Alea diese Wahrheit mit dem Pflock zugemutet hätte. Doch offenbar ließ sich dieser Umstand schwer geheim halten, womöglich hatte Alea das blutige Werkzeug sogar unbeabsichtigt zu sehen bekommen. Fritz versuchte eine Erklärung: »Sie wollen uns eben spüren lassen, was wir ihnen die ganze Zeit antun.«

»Eben, Fritz. Eben. Antun. Also fühlen die Vampire doch irgendwas. Und wenn sie fühlen können, können sie auch leiden. Ich meine, sie würden doch nicht so reagieren, wenn sie gar nichts empfinden würden.«

Oh je, dachte Fritz und bemühte sein Gehirn, um weiterzuspinnen: »Es geht hier darum, ob man frisst oder gefressen wird! Vampire sind unsere natürlichen Feinde, unsere Beutegreifer. Und sie sind böse! Sie empfinden nur Wut und Hass und wollen uns deshalb auf so eine böse Art quälen«, begründete er das feindliche Handeln. »Das bedeutet noch lange nicht, dass sie irgendwie … menschlich wären.« Eigentlich dachte er: Die wollen dein Blut! Reicht dir das denn nicht? Alea war wirklich anstrengend …

Und plötzlich konnte Fritz vollauf verstehen, wie er selbst auf andere wirken musste, wenn er in so kläglichem Ton über irgendetwas lamentierte. Um nichts Falsches zu sagen, nahm er schnell einen Schluck aus seiner Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge. Ruhig bleiben, dachte er, sonst bist du auch nicht besser als Micha … Vielleicht war ein Themenwechsel jetzt das beste. »Ähm, sag mal … Machst du dir immer noch Sorgen wegen Eric?«, fragte er beiläufig.

Prompt warf Alea ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Soll das ’n Witz sein? Wenn ich so lange bei Eff Eff festsitzen würde, hätte Eric längst durchgesetzt, dass ich da rausgeholt werde. Er kann ganz schön ungemütlich werden, wenn Sachen auf eine Art angepackt werden, die ihm unproduktiv vorkommt. Als wir gefangen waren, Fritz, war er bei Fírinne und konnte uns nicht helfen, sonst hätte er’s bestimmt im Alleingang gemacht.«

Das konnte Fritz sich in der Tat lebhaft vorstellen. Alea tat ihm plötzlich Leid; bestimmt fühlte er sich allein gelassen in einer großen Gruppe von Leuten, die ihn vor allem als mächtige Waffe betrachteten und ihn über wichtige Dinge im Unklaren ließen. Die ihm Lügen auftischten – und dabei in Kauf nahmen, dass die vielen Halb- und Unwahrheiten den einfühlsamen Mann mehr verwirrten und frustrierten als schützten.

Und plötzlich passierte es einfach. Ohne dass er es verhindern konnte, platzte es auf einmal aus ihm heraus: »Sie belügen dich.« Sein nächster Gedanke war: Oh. Mein. Gott.

Doch zu seiner Überraschung antwortete Alea ruhig: »Ich weiß.«

»Wie … Du weißt es?«

»Dass sie mich belügen, ja. Nicht warum oder über was, aber dass sie mich anlügen, ist ja wohl völlig unübersehbar.«

Diese Botschaft brauchte einen Moment, um das Innere von Fritz’ Gehirn zu erreichen. Er wusste nicht gleich, was er sagen sollte. Zugegeben, auch er hatte Alea für so naiv gehalten, die Ausflüchte einfach zu schlucken und keinen Verdacht zu schöpfen. Schließlich fand er doch noch die Sprache wieder: »Also tust du die ganze Zeit nur so, als würdest du auf das Spiel reinfallen? Wieso machst du das mit? Wieso drängst du sie nicht, dir die Wahrheit zu sagen, nämlich dass sie –!«

»Nicht!«, fuhr ihm Alea ins Wort. »Sag’s mir nicht. Ich will’s gar nicht wissen.«

»Was? Warum nicht?«

»Weil sie ’nen Grund haben, es vor mir geheim zu halten. Keine Ahnung, welcher das sein soll, aber sie versuchen wirklich alles, um mich dumm zu lassen, und … das würden sie nicht, wenn es dabei um gar nichts ginge.«

»Oh, mein Gott«, murmelte Fritz ganz perplex, »was bist du nur für ein seltsamer Mensch? Du bist ihnen gar nicht böse, du – …«

»Ich vertraue ihnen.« Es klang resigniert. »Für jeden von uns, Fritz, gibt’s Dinge, die wir besser nicht wissen sollten – auch wenn uns dieser Gedanke nicht gefällt. Wenn ich das Geheimnis erfahren würde, nur aus Neugier oder weil ich ein Recht darauf habe, und das hätte schlimme Folgen … was würde ich denn dann mit dem Wissen gewinnen? Nichts, es kann nur schlechter werden.« Er seufzte. »Also lasse ich es, wie es ist. Auch wenn ich dafür so tun muss, als wäre ich völlig unterbelichtet.« Plötzlich lächelte er matt. »Tja, jetzt kennst du die Wahrheit. Aber verrat’s ihnen nicht, okay? Es ist immer so nett anzusehen: Wenn ich irgendwo reinkomme, springen sie sofort auf, suchen den Raum ab und tischen mir irgendeine Story auf. Ich nicke und sage Ja und Amen und alle setzen sich entspannt wieder hin.« Er lachte leise und trank seinen Tee aus.

Fritz wusste nicht, was er sagen sollte, und tat es ihm gleich. Erst Minuten später fiel ihm ein, was er unbedingt noch hatte loswerden wollen: »Alea … Es ist wichtig, dass du weitermachst.«

Aleas halbseitiges Grinsen verschwand. »Ich glaube, ich kann nicht.«

»Aber ohne Vexecutor wird es schwierig, Eric zu befreien. Er ist doch so was wie ein Freund für dich.«

»Ja. Er hat viel für mich getan, wie überhaupt Subway viel für Saltatio getan haben. Aber ich … ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Denk noch mal darüber nach.«

»Hmm … Na schön. Werde ich machen.« Mit diesen Worten stand Alea vom Tisch auf und stellte seine leere Tasse in die Spüle, bevor er mit hängenden Schultern aus dem Raum trottete.
 

Nach dieser unbefriedigenden Unterhaltung schlich Fritz in den Bockshof, um sich klare, aber hoffentlich aufbauende Fakten anzuhören. Er traf den Arzt dabei an, wie er das Krankenlager an der Wand neben dem Heizkörper, in welchem Fritz nach seiner Beinverletzung ein paar Tage zugebracht hatte, bequem herrichtete.

»Oh, hallo Fritz. Wie geht’s deinem Bein?«

»Ganz gut, ich kann schon ziemlich lange rumlaufen, ohne was zu merken. Ähm … Willst du Alex hier runterholen?«

»Ja. So bald wie möglich. Nur ein kleiner Teil des Personals weiß, dass es einen Vampir behandelt, den Rest müssen wir so handhaben wie Alea – Vampire sind böööööse.« Er lächelte freudlos und schüttelte ein Kissen auf. »Außerdem will ich ihn selber im Auge behalten. Dauernd hochzurennen und denen zu diktieren, welche Medikamente auf Vampire wirken und auf welche Art, ist mir zu anstrengend.«

Plötzlich näherten sich auf dem Flur schnelle Schritte, dann kam Micha ins Lazarett gesprintet. Hektisch sah er sich um. »Hat jemand Sonnenscheinchen gesehen?«

»Ja, ich, vor ’ner Minute«, antwortete Fritz. »Wieso?«

»Weil wir ’nen Bestiendetektor brauchen.«

»Wieso?«, fragte Bock alarmiert. »Ist eine hier?«

»Es war eine hier, letzte Nacht – denke ich jedenfalls. Ich war eben oben, neues Kaffeepulver besorgen … und da hat’s doch ganz verdächtig nach Paul Frais gerochen!«

»Frais!«, echoten Bock und Fritz im Chor. »Alleine? Was soll der hier wollen?«

»Frag ich mich auch. War Stunden alt, die Spur. Alea soll mir helfen.«
 

Schließlich wurde Alea auf dem waldumschlossenen Parkgelände des Krankenhauses aufgespürt. Obwohl er lediglich erfuhr, dass er eine Vampirpräsenz bestätigen sollte, willigte er klaglos ein, Micha und Fritz zu begleiten. Er hinterfragte nicht, woran Paul Frais’ Besuch aufgefallen war. Ohne jede Bemerkung folgte er Micha durch verwirrende Gänge zu jenem OP im Dresdener Herzzentrum, wo alle Spuren des nächtlichen Einsatzes längst beseitigt worden waren. Von dort aus schien Paul Frais einfach Asps Geruch gefolgt zu sein; vermutlich war es für Vampire nicht allzu schwer, eine einprägsame Note aus Angstschweiß und Herzblut in der Nase zu behalten. In der Herzchirurgischen Intensivstation 2B war der Eindringling ebenso unbemerkt geblieben: Kein Betreuer auf der Station berichtete von einem Besucher, der auf Frais’ Beschreibung passte. Die Schicht hatte natürlich seitdem gewechselt, doch auch eine entsprechende Meldung oder Notiz lag nicht vor, obwohl darüber Buch geführt wurde, wer welchen Patienten wann besuchte – und abgesehen davon war Asp zu diesem Zeitpunkt zum Empfangen von Besuch gar nicht zugelassen gewesen.

»Es war hier«, stellte Alea fest und räumte damit alle Zweifel aus dem Weg. »Ein Vampir mit starker Aura. Ich kenne Paul Frais besser, als mir lieb ist, deshalb erkenne ich ihn wieder.«

»Hm.« Micha rieb sich das Kinn und ließ seinen Blick von Zimmertür zu Zimmertür wandern, durch welche das Personal heraus und hinein wuselte. »Kapier ich nicht. Frais schleicht sich hier alleine rein … wegen Lex?« Abrupt wandte er sich zum Gehen. »Okay, mehr finden wir hier nicht. Abmarsch.«

Fritz und Alea tauschten einen unzufriedenen Blick, während sie ihm nachgingen. Es schien, als hätte der Vampir bereits eine Idee, die er noch nicht preisgeben wollte.
 

Offensichtlich hatte Micha vor, so bald wie möglich zur Station zurückzukehren, denn sein erster Weg, als sie im Keller waren, führte ihn wieder zu Bock.

»Und?«, fragte der Arzt.

Micha antwortete mit einer Gegenfrage: »Kann ich mit Lex sprechen?«

Bock dachte darüber nach. »Ich weiß nicht. Theoretisch ja. Praktisch hängt es von ihm ab. Ich habe ihn vor einer guten Stunde extubiert, also, den Beatmungsschlauch entfernt, aber geredet hat er da noch nicht mit mir.«

»In einer Stunde kann sich viel getan haben«, erwiderte Micha. Obwohl er nach außen hin lässig wie immer wirkte, fiel auf, dass er es tunlichst vermied, dem bohrenden Blick vonseiten Aleas zu begegnen. Letzterer fragte sich wahrscheinlich, wie Asp sich so rasch hatte erholen können.

Bock ließ die Schultern fallen. »Geh doch einfach zu ihm, Micha. Ich kann dich doch sowieso nicht davon abhalten. Aber erwarte nicht zu viel von ihm, auch wenn er wach ist. Er bekommt starke Medikamente gegen Schmerzen und Aufregung. Vielleicht solltest du ihm keine komplexen Denkaufgaben stellen.«

Dieses Zugeständnis war offenbar alles, was Micha hatte hören wollen, und sofort ging er ohne ein weiteres Wort. Fritz’ nachgerufene Frage »Kann ich mit …?« beantwortete er mit einem knappen Kopfschütteln.
 

Unter dem Betreuungspersonal der Herzchirurgischen Intensivstation machte sich Verblüffung breit, als Michael darauf bestand, mit dem gerade erst notfalloperierten Patienten ein Wort zu wechseln. Nach einem sehr kurzen verbalen Gefecht, zu dem ein eisiger Blick des Vampirs seinen Teil beitrug, wurde der Oberarzt hinzugezogen.

»Wenn sie von Dr. Saltz das OK haben«, erwiderte dieser achselzuckend, »dann nur zu. Wir mischen uns nicht in Fälle des Geheimdienstes ein. Dr. Saltz hat die medizinische Verantwortung.«

»Danke, mehr wollte ich doch gar nicht«, sagte Micha und unternahm keinen Versuch, seine Verdrossenheit zu verbergen. »Schönen Tag noch.« Leise, aber darauf bedacht, dass zumindest ein Pfleger es hören konnte, fügte er murmelnd hinzu: »Mann, was für’n Haufen Kontrollaffen.«

Asp hatte ein Zimmer für sich allein, allerdings nur, weil die anderen drei Betten unbelegt waren. Friedlich lag er unter seiner Decke. Eine Notiz am Fußende des Bettes wies daraufhin, dass er so bald wie möglich auf die Herzchirurgische Allgemeinpflegestation 3A verlegt werden sollte. Da habt ihr eure Rechnung aber ohne Bock gemacht, Leute. Garantiert würde Asp schon die kommende Nacht nicht mehr auf der Station verbringen. Auf den Monitoren kletterten Linien auf und ab, Messdaten schwankten, Zahlen veränderten sich und ein nervtötendes Piepsen störte die Ruhe. Asp schien das herzlich egal zu sein. Ebenso die Tatsache, dass unzählige Kabel zu seinem Körper führten.

Als Micha an das Bett herantrat, schlug er die Augen auf und blinzelte müde. Offenbar hatte er nur gedöst. »Morgen«, murmelte er.

»Sehr witzig. Es ist fast acht Uhr abends.« Micha schob die Hände in die Taschen und versuchte, eine entspannte Haltung einzunehmen. Es gelang ihm nicht gänzlich, da der Anblick seines verletzten Freundes ihm auch jetzt noch zu schaffen machte. Sich auf der Bettkante niederzulassen traute er sich nicht, dabei würde er nur irgendein Kabel herausrupfen. »Lex, bist du einigermaßen munter? Wir müssen nämlich reden.«

Asp gab ein träges Stöhnen von sich. »Muss das sein?«

»Ja, muss es. Paul Frais war hier.«

»Mmmmh.« Asp wirkte nicht überrascht. »Also doch … Er war sicher, dass ich sterbe.«

»Jetzt aber mal im Klartext!«, fuhr Michael eindringlich fort. »Spuck’s aus! Du kennst Frais schon viel länger als wir, oder? Warum? Woher? Was hast du mit ihm zu tun?« Insgeheim ahnte er es. Er hatte Simon und Fritz intensiv nach den Vorkommnissen in der Turnhalle befragt, und dieses Verhör hatte wenig Zweifel offen gelassen.

Asp bestätigte seine Vermutung mit schwankender Stimme: »Er ist mein Erschaffer.«

Scheiße. Voll ins Schwarze. Micha senkte den Blick; er wusste nicht sofort, was er dazu sagen sollte. Als er bemerkte, dass Asp ihn beunruhigt anstarrte, in Erwartung irgendeiner Reaktion, sagte er langsam: »Dann … muss er verflucht alt sein.«

»Mmmmh.«

»Wieso hast du uns das nie gesagt?«

»Weil ich natürlich vorhatte, das zu leugnen … Er ist schließlich die schlimmste Bestie, die wir kennen.« Leiser fügte er hinzu: »Ich schäme mich für ihn. Dafür, dass ausgerechnet er mich verwandelt hat. Aber ich kann es nicht ändern.«

»Er hätte dich jederzeit töten können.« Mühsam schluckte Micha den bitteren Geschmack hinunter. In ihm keimte die Sorge darüber, was diese neue Erkenntnis für sie alle bedeuten könnte, allmählich zur Furcht heran. Wenn Frais Asps Erschaffer war, dann konnte er ihn gegen die MIU ausspielen, ihn als Druckmittel missbrauchen. Vorausgesetzt, er gehörte zu jenen Bestien, die bereit waren, ihren Abkömmlingen zu schaden …

»Das macht er nicht«, sagte Asp mit fester Stimme, als hätte er Michas düstere Gedanken erraten. »Das hätte er schon an die hundert Mal machen können … In jedem Leben begegnen wir uns, und nie tun wir uns was an … Offensichtlich ist er auch jetzt nur gekommen, um daran Anteil zu nehmen, dass ich draufgehe. Er wird mich nicht töten, Micha, obwohl er es kann … und ich wollte ihn töten und musste jetzt lernen, dass ich der Einzige bin, der es nicht kann …« Er hustete und fing dann kurioserweise auch noch an zu grinsen. »Ist das nicht komisch, Micha … diese Ironie …«

»Jaah, sehr witzig. Ich lach mich tot«, grollte Micha.

»Vorher habe ich immer dafür gesorgt, dass er davonkommt. Wenn wir ihn fast hatten, hab ich’s irgendwie hingekriegt, dass er nicht getötet wurde. Ich dachte, wenn einer meinen Erschaffer tötet, dann ich. Aber es geht nicht. Ich kann es weder selber machen … noch dabei zusehen. Er ist verdammt noch mal mein Erschaffer

»Ich weiß!« Michas Stimme war immer noch dasselbe hässliche Knurren, doch daran konnte er gerade nichts ändern. »Mir musst du das nicht sagen. Ich kenne das Band. Ich hab’s auch gehasst … damals, als … du weißt schon.« Er musste hart schlucken.

»Hmmm.« Gramerfüllt sah Asp beiseite. »Der Moment, an dem man sich von demjenigen abwenden muss, der einem das zweite Leben geschenkt hat, ist nicht zu beschreiben.« Noch immer vermied er es, Michas Blick zu begegnen, doch sein Gesicht sprach Bände. »Und der, den wir jetzt Paul Frais nennen, war früher … so ganz anders. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Aber ich kann’s nicht.«

Micha schwieg. Sein Blick ruhte auf der schneeweißen Bettdecke, während ihm alles Mögliche durch den Kopf ging: Der große Kampf gegen Fiacail Fhola vor vielen Jahren, die Nachuntersuchungen über das plötzliche Verschwinden des Anführers … Ja, Plötzlich gab es eine Erklärung für mehrere sonderbare Zwischenfälle, die dafür gesorgt hatten, dass Frais mit dem Leben davonkam.

In dem Moment sah Asp ihn eindringlich an und sagte: »Ich bin kein Verräter.«

»Das weiß ich doch. Du bist sein Abkömmling. Für die Bindung kann keiner was. Niemand wird dir ’nen Vorwurf machen. Und wenn doch, kriegt er’s mit mir zu tun.« Dies zu erwähnen war unnötig. Niemand würde Asp auch nur einen bösen Blick zuwerfen. Nicht einmal Buschfeldt, denn selbst der tyrannische Direktor wusste, dass jeder Vampir dem Band zu seinem Erschaffer völlig unterworfen war.

Micha seufzte und beschloss dann, doch vorsichtig auf der Bettkante Platz zu nehmen. Asp rückte beiseite und zog die Zuleitungen aus dem Weg. »Passt schon, passt schon. Ich bin froh, dass wir schon wieder reden können.« Er deutete auf Asps Brust. »Zeig mal.«

Gehorsam schob Asp die Decke von sich. Viel sah Micha nicht; alles war mit flexiblen Verbänden dicht gemacht. Unter den weichen Polsterungen wanden sich dünne Schläuche hervor wie Ringelschlangen.

»Was sind’n das für Kabel?«

»Alles Drainagen. Frag mich nicht, welche was tut. Wenn du sehen willst, was da rausläuft, guck in die Flaschen unterm Bett. Aber wahrscheinlich willst du das nicht.«

»Nee, muss nicht sein.« Micha räusperte sich und deutete wieder auf den Verband: »Wie haben die das durchgesägte Brustbein wieder zusammenge…macht?«

»Drahtschlingen.«

»Nett. Und … was ist das bitte?« Er deutete auf Asps Hals, wo ebenfalls ein befestigter Dauerzugang lag. »In der Halsseite hast du auch so was.«

»Ob du’s glaubst oder nicht, Micha, aber dass in mir überall Schläuche stecken, ist mir aufgefallen. Die stecken auch noch an anderen Stellen, die ich dir jetzt, hm, nicht zeige. Das im Hals ist ein Zentralvenenkatheter, damit haben sie die Luft aus meiner Herzkammer gesaugt. Die durch das Pflockloch reingekommen ist.« Vorsichtig tastete Asp mit der Hand danach. »Ironischerweise liegt er in genau der Vene, aus der Vampire trinken …«

Micha nickte. »Witzig hoch drei.« Lust zu lachen hatte er nicht. Schon klar, wie Frais hier reingekommen ist, dachte er dumpf. Mist, das muss ich wohl erklären. Hoffentlich komme ich mit ’nem blauen Auge davon … Aber ich will das Teil wiederhaben! Buschfeldt jedenfalls würde nicht erfreut sein. »Na gut, Lex … Danke für die Antworten. Ruh dich aus.«

Asp hielt Micha am Arm fest und sagte nachdrücklich: »Holt mich bloß hier weg. Die Pfleger sind nicht blöd, die merken, dass die Ärzte mich anders behandeln als andere Patienten.«

»Ja, ja, ist alles vorbereitet, wir holen dich heute Abend runter.«

»Gut. Gut

Ehe Micha ganz aus der Tür getreten war, hatte Asp sich wieder bequem hingelegt und die Augen zugemacht. Das Piepsen des Kardiotachographen beruhigte sich.

(K)Ältere Spuren

»Mein Universalschlüssel?«, wiederholte Klaus Buschfeldt fassungslos. »Paul Frais hat sich mit meinem Universalschlüssel Zugang zur Klinik verschafft?!«

»Jap.« Micha unterstrich die Bejahung zusätzlich mit einem Nicken. Ein reumütiger Blick fiel aus. War sowieso egal, was er dabei für ein Gesicht machte, also gab er sich keine Mühe. Natürlich wurmte es ihn, dieses ungemein praktische Werkzeug nicht mehr in seinem Besitz zu wissen, aber deshalb würde er noch lange nicht vor Buschfeldt den Rücken krumm machen.

Der MIU-Direktor zog die Brauen zusammen. »Also hab ich den Schlüssel in Wirklichkeit nie verloren … sondern du hast ihn mir weggenommen!«

»Ich hab ihn gefunden«, korrigierte Micha. Ihm war klar gewesen, dass er jetzt so einige Anklagen würde hinnehmen müssen, aber als kriminell bezeichnet zu werden missfiel ihm dann doch. Muss dem wohl mal wieder die Zähne zeigen, damit er weiß, wer hier der Stärkere ist, dachte er mürrisch.

»Und nicht zurückgegeben!«, schoss Buschfeldt nach. »Obwohl du wusstest, dass es meiner war!«

»Es war doch völlig klar, dass du von Kircher sofort ’nen neuen kriegst, Boss. Ich hab nie was Verbotenes damit gemacht! Haben wir denn nix Besseres zu tun, als ums Prinzip zu streiten? Ich glaub langsam, ich spinne hier! Was hätte ich dir denn antun können mit dem blöden Ding?«

»Du hättest an meine privaten Sachen rangehen können! Mich ausspionieren können!« Buschfeldt fletschte die Zähne wie ein getretener Hund.

»Ey, jetzt hackt es aber, oder? Ich arbeite in der Abteilung für Spionageabwehr!«, belehrte Micha ihn unnötigerweise. »Du weißt genau, dass ich so was nicht machen würde! Außerdem hattest du keine Ahnung, was der Schlüssel alles kann. Man kriegt damit alles auf, wo man ihn irgendwie reingesteckt kriegt. Das ist der Grund, wieso ich ihn behalten hab!«

»Ach, weil du damit alle Schlösser aufkriegst!«, höhnte Buschfeldt, noch immer unbeeindruckt von Michas schwelendem Zorn. »Jaah, Einhorn, toll! Jetzt hat ihn Paul Frais und kann damit in unser Versteck eindringen, wie er lustig ist! Danke für so viel fachliche Kompetenz, du Idiot!«

Jetzt wurde Michael allmählich richtig ungehalten. »Ich bin nicht freiwillig zu Eff Eff, um mich kidnappen zu lassen!«, schnappte er. »Ich hab die nicht drum gebeten, eingesperrt und ausgehungert zu werden! Ich verwette meinen Arsch, wenn Erics Schießeisen Frais zum König der Welt machen würde, würdest du nicht Eric die Schuld geben! Wär egal, ne? Eric liebst du ja, das ist ja dein Musterschüler, der alles richtig macht. Passiert dem mal ’n Fehler, isses egal, wo gehobelt wird, fallen ja Späne. Aber ich bin der Arsch. Und zwar immer! Egal, was ich mache!«

Zu Michas Verblüffung blieb Buschfeldt von diesem Ausbruch völlig unbeeindruckt. »Um den Vergleich mit Erics Schießeisen aufzugreifen«, gab er zurück, »der Unterschied ist: Die Waffe gehört Eric, und er hat eine Berechtigung, sie zu führen. Das sieht mit dem Schlüssel ja wohl etwas anders aus, was?« Buschfeldt schnaubte abfällig. Sein Blick glitt an Michaels Gestalt hinauf und hinab, als überlegte er, was an ihm sich außerdem noch beanstanden ließe. »Im Übrigen weiß ich, wie du die Aushungerung überlebt hast, Einhorn. Auch wenn alle hier versucht haben, das vor mir geheim zu halten. Leider Gottes bin ich kein Idiot. Also … Wie hat Herr Wunderbaum geschmeckt?«

Leck mich, dachte Micha und ließ seine Miene wieder erstarren. »Chef, sach ma, soll ich dir mal was zeigen? Siehst du das hier?« Er zog die Oberlippe über der Zahnreihe zurück, um genau im richtigen Moment den Reflex zu aktivieren, der seine Fangzähne aus ihren Taschen schleuderte. Das schnappende Geräusch hallte wunderbar im Vordergrund völliger, eiskalter Stille.

Buschfeldt war kaum merklich zusammengezuckt. Er versuchte, keine Regung zu zeigen. »Ich bin ja nicht blind«, entgegnete er eisig.

»Fritz hat scheiße geschmeckt!«, spuckte ihm Micha vor die Füße. »Aber er hat mir das Leben gerettet! Indem er was gemacht hat, das du nie für einen von uns tun würdest!«

In den Augen seines Vorgesetzten schienen sich leise knisternd kleine Eiskristalle zu bilden. »Interessant«, sagte er kalt. »Das war dann wohl ein Geständnis. Das Beißen eines anderen Agenten ist streng verboten … und du willst mir ja wohl nicht erzählen, dass Friedrich neuerdings bei In Extremo spielt.«

»Fritz kann nicht mal beim Schreien einen Ton halten.« Micha war erstaunt über sich selbst, wie ruhig seine Stimme geworden war. Ich wollte überleben, du Arsch. Leben. Aber du hättest mich gerne tot gesehen! Als ob ich das nicht wüsste!

»Mach dich nur lustig, Einhorn. Aus dieser Sache werde ich dir persönlich einen Strick drehen. Ich werde ihn, wenn möglich, auch persönlich um deinen widerborstigen Hals legen und persönlich festziehen, bis du in Thanatose fällst.«

»Ach ja? Mach das mal! Bin gespannt, wie weit du kommst! Seine eigenen Leute reinzureißen ist das Allerletzte, weißt du das? Nicht mal von dir hätte ich das erwartet. Und ich werde auch nicht drauf warten! Wenn du das machst, bin ich nicht mehr dein braver zahmer Vampir. Dann werde ich richtig eklig! Würde dir das gefallen, hm?« Grollend vor zorniger Erregung beobachtete Micha das Mienenspiel im Gesicht seines Vorgesetzten. Buschfeldt sah kurzzeitig sogar wirklich beeindruckt aus. Micha wusste, der Mann hatte Angst vor ihm, irgendwo tief unter seiner Schale aus Boshaftigkeit, aber Buschfeldt behandelte seine Vampire wie gefährliche Hunde: Er würde ihnen gegenüber niemals zeigen, dass er ihre Zähne fürchtete. Im Gegenteil. Je mehr sie ihn provozierten, desto mehr Hass würde er ihnen erbarmungslos entgegenschleudern – weil er glaubte, dass ihn das beschützte.

Genau das passierte auch jetzt. Buschfeldt zuckte die Schultern. »Stell dich schon mal mental drauf ein. Wenn das alles hier vorbei ist, wird so einiges anders laufen … Das kannst du auch den anderen ausrichten.«

»Nö, kannst du ihnen selber sagen«, erwiderte Micha, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Wenn er sich dieses selbstgefällige, herrschsüchtige Gelaber noch länger anhörte, würde bloß noch ein Unfall passieren. Er hielt sich nicht für aggressiv, doch seine Lust darauf, die Fangzähne in widerstrebendes Fleisch zu stoßen, wuchs mit jedem Wort, das er mit seinem Chef zu wechseln gezwungen war. Also nichts wie weg hier. Ich lasse mich bestimmt nicht dafür bestrafen, drei Minuten vor dem Hungertod einen Kollegen gelocht zu haben. Der außerdem den Beißzwang benutzt hat. Hallo? Ich hatte gar keine Wahl! Auch ohne den Beißzwang, das wusste er, musste in so einer Situation, wie er und Fritz sie erlebt hatten, eine Ausnahmeregelung in Kraft treten. Wenn es offiziell keine gab, so würden zumindest mildernde Umstände greifen. Was auch immer Buschfeldt sich hier zusammenreimte, es war Unsinn – Fr. Dr. Kircher würde eine solche Klage abschmettern. Sie war streng, aber immer fair. Wie eine ambitionierte Kindergärtnerin. Und wahrscheinlich kam sie sich manchmal auch wie eine vor.
 

Noch ehe die Nacht vollständig hereingebrochen war, gingen Falk und Lasterbalk hinauf, um Asp zu holen. Kaum einen Tag nach der lebensrettenden Operation benötigte er keine Infusionen, Katheter und Drainagen mehr, und das Betreuungspersonal war froh, den unheimlichen, viel zu schnell genesenden Patienten loszuwerden – auch wenn niemand das laut aussprach. Im Bockshof neben der Heizung, in direkter Nähe der anderen, schien Asp sich sehr viel wohler zu fühlen; allerdings war er noch sehr schwach, konnte kaum aufstehen und erst recht nicht herumlaufen. Bock scheuchte daher jeden gut gelaunten Besucher, der sich im Laufe des späten Abends hinzugesellte, schon nach kurzer Zeit wieder hinaus. Narrenfreiheit genossen nur die anderen Patienten, die den Arzt noch hin und wieder brauchten: El Silbador, Sugar Ray und auch Fritz, der den Verband jetzt schon weglassen durfte.

Bevor die Geheimdienstler zu Bett gingen, um ihren Schlafrhythmus einigermaßen zu normalisieren, kam Bock noch einmal in die Küche geschlichen, vergewisserte sich, dass Alea nicht zugegen war, und nahm eine Flasche Hyperborea aus der schweren Truhe, die für gewöhnlich – und vor allem für Alea – abgeschlossen war. Birgit und Anna hatten sie in weiser Voraussicht mitgebracht.

Fritz folgte dem Arzt, der die Flasche davontrug. »Sollten wir nicht Alex was davon geben?«

Bock drehte sich um und blinzelte ihn verwundert an. »Wem denn sonst? Denkst du, ich will das selber trinken?« Er nickte Richtung Bockshof und fuhr leise fort: »Es war nicht zu früh, ihn herzuholen. Er hat viel Kraft verloren. Wir müssen seinem Körper so schnell wie möglich wieder auf normalem Wege Nahrung zuführen, um den hohen Energiebedarf zu decken. Glucose intravenös ist ja ganz nett, aber langfristig nicht ausreichend, bei Vampiren erst recht nicht. Du erinnerst dich ja sicher, was ich dir erzählt habe.«

»Oh, klar.« Fritz erinnerte sich an die Vorträge diesbezüglich, sowie an die Geschichte mit dem Experiment. Vampire brauchten nun einmal Blut – einerseits wegen des Eisens, andererseits wegen des ominösen, unsichtbaren Stoffes, der sich in den Erythrozyten befand. Trotz der parenteralen Ernährung auf der Intensivstation hatte Asp wahrscheinlich schon irgendwelche Mangelerscheinungen.

Auf dem Weg ins Bett sah Fritz die Nachteulen Pfeiffer und Elsi noch immer gewissenhaft vor dem Bildschirm hocken. El Silbador ließ sich, obwohl er noch angeschlagen war, nicht von seinem Arbeitsplatz vertreiben, und glücklicherweise war die Arbeit eines Supervisors ja auch nicht allzu körperlich belastend.

»Morgen geht’s los«, sagte Boris zu Fritz, als letzterer vorbeiging, hielt einen Daumen hoch und lächelte verschmitzt. »Dann kommen die Säcke.«

»Oh! Na endlich. Ähm … Werdet ihr dabei sein?«

»Ja, wir sind Sackspieler«, bestätigte El Silbador. »Und Alea und Fiona und Py und Marco und noch ein Haufen anderer Leute, die du nicht kennst.«

»Nach ’ner Armee klingt das trotzdem nicht«, merkte Fritz stirnrunzelnd an.

Boris behielt das geheimnisvolle Lächeln bei. »Abwarten.«

Damit begnügte sich Fritz. Abwarten hatte er mittlerweile gelernt. Nie in seinem Leben hatte er je so viel abgewartet wie in seiner Zeit bei der MIU.
 

Am kommenden Morgen war Fritz früh wach; im Keller war es still, offensichtlich war noch niemand neu eingetroffen. Sein erster Weg führte ihn zur Küche, um Kaffee aufzusetzen. Amboss sah ihn, sprang von seiner Decke auf und schwänzelte wedelnd und hechelnd hinter ihm her, wohl in der Hoffnung, ein Frühstück serviert zu bekommen. Vor der Herdplatte stand, zu Fritz’ Überraschung, Bock und beobachtete, wie in einem Topf voll Wasser langsam Bläschen aufstiegen.

»Oh. Morgen, Fritz«, sagte der Arzt missmutig.

»Morgen. Was machst du da?«

»Wasser kochen. Für Tee.«

»Ich hab dich noch nie Tee trinken sehen.« Fritz furchte die Stirn.

»Nicht für mich«, antwortete der Arzt dumpf, »für Alex. Tse, falls er ihn überhaupt trinkt.« Bock rieb sich den Nacken und schnitt ein Gesicht. »Der hat gerade ’ne komische Phase. Wollte gestern kein Hyperborea.«

»Oh. Naja, ist vielleicht normal nach so ’ner Operation.«

»Im Gegenteil. Der Körper muss doch heilen wie ein Irrer, was glaubst du, wie viel Energie das verschlingt?« Bock sah unschlüssig beiseite. »Aber er hat mich nur gefragt: Soll ich das Vieh etwa auch noch füttern? Was antwortet man auf so was …?«

»Das Vieh? Achso.« Fritz schluckte. Er betrachtete die Bläschen, die sich am Boden des Topfes bildeten und dann aufstiegen. »Gibst du ihm jetzt das gleiche wie Micha? Andorn und … was war das andere … Enzian?«

»Pah, das war was ganz anderes. Micha hat nicht die Nahrung verweigert. Wenn Alex nicht mal etwas trinken will, das lecker schmeckt, wie soll ich ihm dann ein so bitteres Zeug wie Andorntee einflößen? Nein, Fritz. Aber ich versuch’s mit ’nem Heilkraut, das schon. Und zwar mit Blutwurz. Tormentill, falls du das kennst.«

»Nein … Was bewirkt das?«

»Stärkung. Heilung. Ist sehr wohlschmeckend und wird immer gut vertragen. Von Vampiren jedenfalls. Menschen kann davon schon mal übel werden.« Bock lächelte und drehte, da das Wasser nun zu sprudeln begann, den Temperaturregler der Kochplatte herunter. »In den Tee werde ich was von dem Ausschussblut mischen, das die Klinik noch für uns in der Blutbank hortet. Dann kann ich die Dosis langsam steigern, bis der Nährwert gut ist. Hoffentlich klappt das.«

»Ich wünsche viel Erfolg.« Fritz sah zu, wie Bock einen Löffel getrocknete Wurzelstücke in einen Becher schüttete und das Wasser darauf goss; sofort färbte der Tee sich blutrot, und Fritz musste sich angewidert abwenden. Allein schon dieser unappetitliche Name: Blutwurz. Ihm war klar, warum das Kraut so genannt wurde.

»Das ist ein hübsches, gelb blühendes Blümchen«, sagte Bock, als er Fritz’ Blick bemerkte.

»Hilft mir nicht. Bis später.« Fritz beschloss, sein Frühstück an einem anderen Ort einzunehmen.

Was soll das heißen, er will das Vieh nicht mehr füttern?, dachte er im Hinausgehen. Müssen wir uns schon wieder Sorgen machen? Ich hoffe nicht.
 

Bald nach dem Frühstück tummelten sich die einsatzfähigen Vampire auf dem Außengelände der Klinik; getarnt natürlich, denn seit der blutigen Schlacht rund um das Krankenhaus, welche Menschenleben gefordert hatte, war vor allem der eingeweihte Teil des Personals, der sich helfend beteiligt hatte, den Blutsaugern alles andere als wohlgesinnt. Dabei schien es ihnen egal zu sein, dass es zwei Parteien von Vampiren gab – Blutsauger waren Blutsauger. Niemanden von der MIU überraschte diese Reaktion; sie waren es gewohnt, trotz aller guten Absichten auf Feindseligkeit zu stoßen.

Simon, Falk, Lasterbalk, Micha, Anna und Birgit – letztere waren ja als helfende Hände beim Team geblieben – wanderten über die nunmehr gemiedene, stellenweise mit Flatterband abgesperrte Parkanlage und besahen sich die Spuren der Kämpfe. Unter anderem waren Dekorationen und Pflanzen, vor allem Bäume, schwer beschädigt, die Wiesen stellenweise tief aufgerissen, sodass sie aussahen wie mit Wunden übersät. Blut war keins mehr zu sehen. Mit allen Mitteln hatte man dafür gesorgt, dass Rückstände solcher Art schnellstmöglich entfernt wurden, um das Gelände für Patienten wieder zugänglich zu machen: Kein verschossener Pfeilbolzen, keine leer geschossenen Natron-Magazine lagen mehr herum. Über den Köpfen der sechs hing dräuend eine graue Wolkenschicht. Ein schwacher Wind bog die zerknickten Grashalme und ließ die herbstliche Luft sich kühler anfühlen, als sie tatsächlich war.

»Hat irgendjemand gesehen, von wo genau die Menschen in Vampirverkleidung und danach die Vampire in Menschenverkleidung eigentlich herkamen?«, fragte Lasterbalk seine Kollegen. »Ich meine, wir hätten mal so schlau sein können, das genauer zu beobachten.«

»Eure Berichte klangen nicht, als wäre für so was Zeit gewesen«, merkte Anna an. »Wart ihr nicht voll beschäftigt mit den vielen Angreifern?«

Falk nickte düster. »Wir hätten die niemals alle im Auge behalten können, und um Wachen abzustellen waren wir auch zu wenig. Fírinne, naja, haben natürlich nicht drauf geachtet.«

»Alles Mist.« Simon faltete die Arme vor der Brust und blickte zu dem Flächenstück jenseits des rot-weiß-geringelten Absperrbandes, das eher nachlässig um entfernt stehende Baumstämme geschlungen war und im kühlen Wind geräuschvoll flatterte. »Ich möchte mal da rüber gehen. Das ist … die Stelle, an der Paul Frais mit Eric wieder abgehauen ist.«

»Gut, gehen wir mal hin«, gab Lasterbalk nach. »Aber Fußspuren oder so was findst da sicher net, und kurz danach war Frais ja auch alleine, als Alex ihm nachgelaufen ist, also … Bestimmt hat er Eric irgendeinen Befehl gegeben, dass er alleine zurück ins Versteck gehen soll, oder so. Ist ja mit Blutfessel alles kein Problem.«

Simon warf ihm über die Schulter einen Blick zu und schien etwas erwidern zu wollen; dann überlegte er es sich jedoch anders und sah wieder geradeaus, um zwischen die Bäume zu treten, wo der Blick auf die nahe Straße durch den Zaun frei wurde.

Birgit blieb an einem Baum stehen, um an oberflächlichen Kratzspuren in der Rinde zu schnuppern. »Hm. Hier hat sich jemand abreagiert, aber ein Vampir war das nicht.« Sie hielt ihre Nase noch näher an die Borke und atmete tief ein. »Nein, die Note ist einfach schon zu alt …«

»Guckt mal!«, rief Micha und deutete auf das gelbliche Gras unmittelbar neben dem Bordstein, jenseits des Zauns. »Draußen haben die noch nicht sauber gemacht. Da ist Blut.«

Er hatte Recht: Ein paar große, dunkle Flecken hatten die Halme verfärbt. Die dünne, bräunliche Kruste würde von einem Laien kaum als Blut erkannt werden, sah sie doch viel mehr nach etwas Verschüttetem und eher Unappetitlichem aus.

»Interessant!«, sagte Simon. »Von uns vieren hat keiner geblutet.«

»Könnte viel jünger sein, von heute oder so«, mutmaßte Lasterbalk.

»Ich geh’s checken.« Simon griff in den Zaun und war in weniger als einer Sekunde darüber geklettert. Am Straßenrand kniete er sich über die trockene Blutspur und beäugte sie kritisch. Nach eingehender optischer Examinierung, bei der die anderen ihn nicht störten, zupfte er vorsichtig einen der kontaminierten Halme ab und zog ihn sich über Zunge und Lippen. Die rotbraunen Krümel lösten sich wieder auf.

»Ach, Schmittchen, das macht man doch net. Da könnte ’n Hund drauf gepinkelt haben.«

Simon sah die anderen scharf an. »Es ist Erics Blut.«

»A-haaa«, sagte Micha, der seine Theorie, dass die Subway-To-Sally-Vampire Eric Fishs Blut tranken, endlich bestätigt fand, und warf den Schandmaul-Vampirinnen einen vielsagenden Blick zu.

Saltatio Mortis waren davon keineswegs überrascht. Falk hakte nach: »Hast du nicht eben gesagt, keiner von euch hätte geblutet?«

Zur Antwort deutete Simon die Straße hinunter. »Wir standen auch da drüben, nicht hier. Aber hier muss Frais Eric alleine gelassen haben.«

»Und dann?« Falk hob die Augenbrauen. »Für mich macht das gerade nicht so richtig Sinn.«

»Also, ich hab’s verstanden«, sagte Lasterbalk und lächelte triumphierend. »Klar, des wäre durchaus möglich. Frais musste Eric wegschicken und hat ihm bestimmt ziemlich klare Anweisungen gegeben – aber er hat ihm höchstwahrscheinlich net verboten, sich selbst zu verletzen. Stimmt’s?«

»Hä?«, machte Micha verständnislos.

»Na, Eric hat eine Spur gelegt!«, fuhr Lasterbalk sichtlich erregt fort. »Für uns! Weil er weiß, dass die Subway-Vampire sein Blut erkennen! Wow, was für ’ne Weitsicht. Frais konnte ihn net überwachen … also konnte Eric dafür sorgen, dass die Blutung weiterging, bis –«

»– ins Versteck!«, endete Anna.

»Genau!«

Falk, der jetzt ebenfalls begriff, riss die Augen auf. »Schnell, ich muss Amboss holen!«, rief er. »Ha! Eric kann Amboss nicht leiden, aber er weiß genau, wie gut der Hund seine Arbeit macht!«

Diese Argumente überzeugten auch den skeptischen Rest des Vampirteams. Derart angesteckt von der hoffnungsvollen Euphorie traten sie umgehend den Rückweg an, um den Bluthund – das kompetenteste Teammitglied in Sachen Spurensuche – hinzuzuziehen.

Auf dem Weg in den Keller rannte Simon beinahe Sugar Ray um, der am Fuß der Treppe gewartet hatte und sich ohne Augenlicht schwer tat im Ausweichen. Simon fasste ihn am Arm und schob ihn sanft aus dem Weg. »Silvio, wir haben ihn!«, frohlockte er im Vorbeilaufen. »Er ist verletzt! Hervorragend!«

»Hervorragend?«, wiederholte Runge perplex.

»Naja, für ihn nicht, aber für uns. Wir glauben, dass das Absicht war.«

»Wie, und jetzt wollt ihr quer durch ’ne belebte Stadt rennen und vereinzelten Blutstropfen folgen? Nee. Könnt ihr nicht.«

»Stimmt! Können wir nicht. Aber jemand anders.« Simon tätschelte Sugar Ray die Schulter und ließ ihn stehen. Falk folgte ihm. Erst Birgit am Ende des Grüppchens nahm sich die Zeit, dem blinden und verwirrten Bassisten die Sachlage zu erklären.
 

Im beinahe leeren Besprechungsraum hatte El Silbador die verschiedenen Notenlinien für das neue Lockstück auf DIN-A4-Bögen übertragen und diese einfach in Augenhöhe an die leere Betonwand geklebt. Fritz betrachtete die sauberen Zeilen und die Zeichen darauf, die für ihn nur systemlose Punkte, Kleckse und Linien waren. Sobald Elsi hinausging, war außer ihm nur noch Boris mit seinem Laptop im Raum, der gelangweilt auf den Bildschirm starrte. Auf dem großen Tisch in der Mitte lag Birgits Schäferpfeife – der einzige Sack weit und breit.

»Diese anderen Dudelsackspieler«, wandte Fritz sich schließlich zögerlich an Pfeiffer, »also … wissen die bescheid? Sind die eingeweiht

Boris nickte ganz selbstverständlich. »Ja, sicher. Wir haben natürlich nur Eingeweihte gefragt.«

»Wie viele also?«

»Schelmish, Cultus Ferox und Corvus Corax … Also müssten wir, wenn sie uns alle Sackspieler schicken, noch zehn dazu kriegen. Zu den sieben, die wir schon haben. Macht siebzehn.«

»Und die, die wir erwarten, sind alle Menschen?«

»Ja, alles andere wäre ja wohl ’n bisschen kontraproduktiv.«

»Ah … richtig.« Fritz kratzte sich am Hinterkopf. »Und wieso kommen nur zehn? Wieso habt ihr nicht noch mehr gefragt?«

»Tja, wir von InEx wollten das. Subway sind dagegen. Immer, wenn wir für irgendwas sind, sind die dagegen. Aus Prinzip.«

»Und was ist mit den Leuten von Saltatio Mortis? Vielleicht ergreifen die Partei für euch.«

»Pah!« Boris lachte freudlos. »Da hast du aber was nicht mitgekriegt. Saltatio sind mit Subway To Sally praktisch verheiratet. Die werden immer zu Subway halten, da können wir noch so sehr im Recht sein.« Mit einem abfälligen Schnauben wandte er sich wieder dem Rechner zu.

Nur Sekunden später war im Flur ein Tumult zu vernehmen, der Fritz aufhorchen ließ. »Wir brauchen den Hund, los!«

Er lief hinaus, so schnell sein ziehender Schenkel es zuließ, und sah die Vampire, die nach Amboss suchten. Auf Fritz’ prompt gestellte Frage hin wurde ihm von Falk erklärt, dass man Eric und damit das Fiacail-Fhola-Versteck anhand einer Blutspur zu finden gedachte.

»Oh, ich hab Amboss heute Morgen gesehen, er war mit mir in der Küche …«

»Ja, ich hab ihn ja auch gefüttert«, sagte Falk stirnrunzelnd. »Aber wo ist er jetzt?«

»Frag mich was … Es ist total schwer, bei so vielen Leuten die Übersicht zu behalten. Mal sind alle da, mal nicht …«

Lasterbalk fiel ihm ins Wort: »Silke war doch mit ihm draußen, als er aufgefressen hatte. Ist die net wiedergekommen?«

»Ich weiß nicht …«

»Ich schlage vor, dass wir alle zusammen mal kräftig ›Frau Schmitt!‹ brüllen. Wenn sie dann net kommt …«

»Sehr witzig«, murrte Falk. Dann hob er die Hände an den Mund und rief laut: »Silke! Bist du da?«

Erst einmal tat sich gar nichts; dann schaute Basti aus seiner Zimmertür hervor. »Hä?«

»Wie Silke siehst du net aus«, stellte Lasterbalk überflüssigerweise fest.

»Dit stimmt. Die ist doch mit dem Hund weg … seit …« Der Gitarrist sah auf seine Uhr. »… ääh … knapp ’ner Stunde.«

»Die hat Nerven«, murmelte Simon.

»Ich geh mal gucken, ob ich sie finde«, teilte Anna den anderen mit. Birgit schloss sich ihr an und bemerkte keck: »Wenn wir in vierundzwanzig Stunden nicht wieder da sind, sollten die Männer übernehmen.«

»Lasst euch net zu viel Zeit, Mädels«, entgegnete Lasterbalk stirnrunzelnd.
 

Fritz folgte Simon, der sich wahrscheinlich etwas zu trinken holen wollte, planlos in die Küche. Spuren zum Eff-Eff-Versteck – das war die Sensation des Tages! Allerdings fragte er sich, wie die MIU das alles koordinieren wollte und ob es nicht klüger wäre, zuerst die Sackspieler das Lockstück einüben zu lassen. Bisher hatte es sich nie als förderlich erwiesen, das Team aufzuspalten; Menschen und Vampire waren aufeinander angewiesen.

In der Küche war nur Dr. Saltz, der erneut in einer Tasse blutroten Tees rührte. Gerade kippte er während des Rührens einen kleinen Teil des Inhalts einer aufgetauten Blutkonserve hinzu.

»Und?«, fragte Simon, der offenbar wusste, worum es ging. »Trinkt er es?«

»Kaum«, seufzte Bock.

»Lass mich mal kosten.« Unter Fritz’ angewidertem Blick ließ der junge Mann sich die Tasse geben und nahm prüfend einen großen Schluck. »Mmmmh!«, befand er. »Echt lecker. Kann zwar nicht mit Hyperborea mithalten, ist aber ein annehmbarer Ersatz, und dafür, dass es Medizin ist, kann man echt nicht meckern. Also, wenn Alex das nicht will – ich würd’s trinken.«

Bocks Gesicht hellte sich auf. »Gute Idee. Bring du es ihm und nimm dir selber eine Tasse mit, dann könnt ihr es zusammen trinken. Vielleicht überzeugt ihn das.«

Diesen Vorschlag ließ Simon sich nicht zweimal unterbreiten. Bock füllte eine zweite Tasse mit abgekühltem Tormentill-Tee, gab etwas Blut dazu und ließ den Vampir mit seiner Beute ziehen.

»Vielleicht solltest du es wirklich mal mit einem Appetitanreger versuchen«, schlug Fritz vor, als Simon gegangen war.

Bock schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um Appetit. Es geht um Unwillen. Alex vertraut sich selbst nicht mehr. Er fürchtet, sich nicht unter Kontrolle zu haben.«

Fritz wartete, bis Bock rücksichtsvollerweise Tee und Blut außer Sichtweite geräumt hatte; dann, um den Gedanken an Blut, der ihm noch immer ein wenig Übelkeit bereitete, aus dem Kopf zu bekommen, setzte Fritz sich selbst heißes Wasser auf und machte sich einen Capuccino.

»Auch einen?«, fragte er den Arzt.

»Oh, ja. Danke.« Bock sah müde aus. Wahrscheinlich war er das auch, bei so vielen Patienten.

»Sag mal«, begann Fritz, während er in seiner Tasse rührte, um das Pulver aufzulösen, »was ist das eigentlich für ein Kinderkram zwischen … In Extremo und Subway To Sally?«

»Och.« Bock hob unschlüssig die Schultern. »Das ist noch nie so die große Liebe gewesen. Ganz ursprünglich hatte das mal was mit Ideen zu tun, die wohl einer zuerst hatte und der andere adaptiert und auf eigene Art umgesetzt hat, oder so … aber seitdem geht das grundlos hin und her … Kann dir nicht mal sagen, wer da der Hauptaggressor ist. Inzwischen halte ich das Ganze auch mehr für ’nen Showkampf. Du weißt schon: Sobald jemand hinguckt, wird mit den Hufen gescharrt. Wenn’s aber drauf ankommt, arbeiten beide Bands prima zusammen. Eigentlich sind sie nur auf der künstlerischen Seite Rivalen. Dem Rest von uns ist das schlicht egal. Wir beteiligen uns nicht an dem Zickenterror.« Der Arzt nippte ganz vorsichtig an seiner heißen Tasse.

»Hältst du es für ’ne gute Idee, jetzt sofort den Blutspuren zu folgen?«

»Oh ja, Fritz. Auch auf das Risiko hin, dabei gesehen zu werden. Wir müssen für die Sackspieler einen möglichst leichten Zugang auskundschaften. Es ist noch nicht mal Mittag, ich bin überzeugt, dass heute alle noch Musikanten eintreffen und dann gleich mit dem Üben anfangen können.«
 

Nach einigem Zögern schlug Fritz mit seinem Cappuccino den Weg zum Bockshof ein. Dort saßen Simon und Asp auf dem Bett neben dem Heizkörper – Simon mit der Tasse an den Lippen, der Sänger unschlüssig in seine eigene starrend.

Fritz setzte sich ungefragt dazu und schaute Simon an. »Ich würde gerne mal kurz mit ihm reden«, erklärte er.

»Verstehe«, antwortete der Blonde, sah beiseite und erhob sich. »Naja, vielleicht hast du mehr Erfolg.« Mit einem Achselzucken ging er hinaus.

Asp sah ihm nach, dann richtete sich sein argwöhnischer Blick auf Fritz. »Bist du auch hier, um mir zu sagen, dass ich mich nicht so anstellen soll?«, fragte er müde.

»Nein«, antwortete Fritz. »Ich will dich was fragen. Du bist mit Micha und mit Eric befreundet. Wieso können die beiden sich nicht ausstehen?«

»Oh«, sagte Asp und sah vor Überraschung wieder in die Tasse. »Ich fürchte, ich bin als Auskunft ungeeignet. Gerade weil ich mit beiden befreundet bin und sie genau wissen, dass ich nie Partei ergreife. Keiner hat mit mir darüber geredet. Aber ich glaube, dass es in der Vergangenheit einen Vorfall gab, der dazu geführt hat. Es ist ja so: Micha und ich waren schon in unseren vorherigen Leben bei der MIU. Als Eric dazukam – das war 1990, kurz nach der Wende, wir hatten noch keine Bands bei der MIU, weder Subway To Sally noch ASP oder In Extremo, die gab es alle noch nicht –, da hat am Anfang alles gut geklappt. Aber … hmm … Micha ist sehr nachtragend. Irgendwas muss da gewesen sein.«

»Also ist Micha derjenige, der sich nicht versöhnen will.«

»Eric ist keinen Deut besser. Aber ganz so leicht ist es auch nicht. Micha und Eric sind sowieso … Gegenpole. Das sieht man schon am musikalischen Werdegang: Eric hatte in der DDR schon früh einen Ruf als guter Musiker, während Micha wegen aufmüpfiger Texte verhaftet wurde und seine Spielerlaubnis verloren hat. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden. Eric kann sich mit Situationen arrangieren und, falls nötig, viel aushalten. Micha versucht stattdessen immer, das durchzusetzen, was er für richtig hält. Beengtheit frustriert ihn, er muss sich immer dagegen auflehnen. Er braucht seine Freiheit.«

»Hmmm.«

»Mach dir keine Gedanken über die beiden, Fritz. Die kommen schon klar.«

»Wenn du meinst.« Trotzdem war Fritz mehr als neugierig, was den geheimnisvollen Vorfall betraf, der Micha und Eric endgültig entzweit hatte. Wahrscheinlich würde er das nie erfahren.

Fritz nahm einen großen Schluck Capuccino und sah zu Asp; dessen Tasse war um maximal zwei Zentimeter Füllstand leerer geworden. Dabei hatte er Blutdurst. Fritz war inzwischen sensibilisiert für Hinweise darauf, etwa die unterschwellige Unruhe, das vermehrte Schlucken und Lippenlecken. »Mir hat mal jemand gesagt«, begann er bedeutungsvoll, »ich würde es mir selber unheimlich schwer machen.«

Asp nickte seufzend. »Ja, ja. Ich weiß, dass ich das gesagt habe.«

»Da ich meinen persönlichen Konflikt mit Blut halbwegs überwunden habe, wirst du es wohl auch schaffen. Du darfst dir bloß nicht zu viel Zeit damit lassen.« Fritz schaute den anderen unverwandt an; dann, einer spontanen Eingebung folgend, streckte er die Hand aus und nahm Asp die Tasse aus der Hand. Achselzuckend hob er sie an die Lippen.

Aps schaute ihn verblüfft an. »He, halt! Das ist nicht nur Tee, da ist Blut drin!«

»Ich weiß«, sagte Fritz tapfer. Seine Hand mit der Tasse zitterte. »Und du siehst, ich … versuche gerade … mich zu überwinden …« Der Blutgeruch, der aus dem Tee in seine Nase drang, ließ ihm den Schweiß ausbrechen. Zusammenreißen, Fritz. Bloß zusammenreißen!

»Du willst das nicht wirklich probieren! Ich kenne doch deinen Ekel vor Blut!«

»Ich als Mensch sollte Blut auch nicht lecker finden«, würgte Fritz hervor, »aber du bist ein Vampir, das lässt sich nun mal nicht ändern …«

Asp öffnete kurz den Mund und schloss ihn sofort wieder in Ermangelung einer Antwort. Fasziniert sah er zu, wie Fritz einen neuen Versuch machte, die Tasse an den Mund zu setzen.

Es ist nur Tee. Roter Tee. Ziemlich roter Tee. Fritz kniff die Augen zusammen. Und kostete das lauwarme Gemisch aus Tee und Blut. Es kribbelte auf der Zunge, erfüllte seinen Rachen mit Wärme und salzigem Eisen. »Hmmm«, machte er mühsam, den Geschmack nach und nach abschluckend, so schnell es ging. »Schmeckt metallisch.«

Verunsichert musterte Asp Fritz’ verzerrte Miene. »Jetzt hast du mich wirklich verblüfft«, gestand er.

»Das war meine Absicht.« Fritz leckte sich die Lippen und musste sich schütteln. »Uargh.« Angewidert fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Da, bitte – ein Hämatophobiker trinkt Blut … Dann kannst du als Vampir es wohl erst recht.«

»Hab schon verstanden«, murmelte Asp, der das dargebrachte Opfer erkannte, übernahm die Tasse und kippte ihren Inhalt in einem Zug hinunter. Sich die Lippen leckend fragte er: »Zufrieden?«

»Naja, das kleine bisschen Blut hat dir bestimmt nicht viel gebracht. Wie lange willst du noch dagegen ankämpfen?«

»So lange, wie es eben dauert. Ich kann mich noch nicht … entscheiden.« Asp stellte die leere Tasse auf den Heizkörper und zog die Decke wieder zu sich. »Fritz, ich schätze es, dass du dir solche Mühe gibst, aber … hierbei kannst du mir nicht helfen. Ich muss das irgendwie selber lösen.«

Fritz nickte. »Gut. Aber dann beeil dich damit, okay?«

Dämmerungsbellen

Hinter der dicken, weißen Wolkenschicht war die Sonne bereits fast an ihren höchsten Punkt geklettert. Anna und Birgit durchwanderten Dresden in der Umgebung des Uniklinikums auf der Suche nach Frau Schmitt. Noch hatten die beiden Frauen gute Laune, denn so wie die Zeichen derzeit standen, wäre der hin und her wogende Kampf gegen Fiacail Fhola bald endgültig vorbei.

Silke Vollands Spur allerdings war dünn wie ein Seidenfaden. Ein Hund hätte ihr folgen können, doch mit dessen Riechleistung konnten Vampirnasen niemals mithalten. Zu viele andere Menschen und Hunde hatten längst das Pflaster gekreuzt, Staub aufgewirbelt, die Anordnung der Sandkörner und Steinchen am Boden verändert. Auch Amboss’ Pfotenabdrücke rochen längst nicht distinktiv genug, um sie klar von denen anderer Tiere zu unterscheiden. Den beiden Musikerinnen blieb somit nur eins übrig: den stetig verblassenden Markierungen zu folgen. Für MIU-Einsätze galt die klare Regel, dass jeder, der allein den Stützpunkt verließ, jeweils im Abstand mehrerer hundert Meter einen sogenannten Marker anzubringen hatte, einen für Vampire nachvollziehbaren Hinweis auf Anwesenheit. Dies bedeutete etwa, mit der unbedeckten Haut kurz über einen feststehenden Gegenstand, etwa einen Pfeiler, eine Laterne oder eine Hauswand, zu streichen, sodass eine persönliche Duftspur zurückblieb. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Amboss folgte solchen Markern mit Leichtigkeit, Vampire taten sich schwerer, waren aber grundsätzlich in der Lage dazu – sofern die Spur nicht älter als drei Stunden war. Birgit war deshalb auch klar, was die Kratzspuren an dem Baum bedeuteten, wo Simon das trockene Blut gefunden hatte: Eric hatte einen Marker platziert, zunächst auf konventionelle Art; inzwischen war dieser jedoch viel zu alt gewesen, um ihn zuzuordnen. Blut war ein viel stärkerer Marker, doch wenn es trocknete, verlor es seinen betörenden Duft. Nur Amboss konnte es dann noch verfolgen.

Frau Schmitts Marker waren zwar gewissenhaft angebracht und gut lesbar, doch es kostete Zeit, von einem aus den nächsten zu finden. Natürlich hatte Amboss, nach Art der Hunde, ebenfalls markiert wie ein Verrückter, doch Tiere – die ja nicht ins Beuteschema fielen – rochen für Vampire alle viel zu ähnlich. Amboss roch schlicht wie ein Hund.

Von der Pfotenhauerstraße aus folgten Birgit und Anna mühsam der Gutenbergstraße bis zum Thomas-Müntzer-Platz, einer von Hecken umgebenen Wiese.

»Silke wollte zur Elbe, scheint mir«, vermutete Anna stirnrunzelnd.

Sie folgten dem Straßenrondell bis zum Käthe-Kollwitz-Ufer. Noch versperrten Linden und Hecken entlang der zweispurigen Straße die Sicht auf den Fluss. Die Marker, alle im gleichen Abstand von etwa dreihundert Metern, nahmen kein Ende; die Straße schien ebenfalls keines nehmen zu wollen. Immerhin war bald die Elbe zu sehen.

»Albertbrücke!«, sagte Birgit und hatte Recht: Silke hatte auf der Brücke einen Stromleitmast mit einem Hinweis auf Geschwindigkeitsbegrenzung markiert. Je weiter die beiden gingen, desto stärker mischte sich ein anderer Duft unter die herbstlichen Gerüche. »Vampire.«

»Oh je … Wir hätten uns denken müssen, dass es einen Zwischenfall gab.« Die beiden beschleunigten ihren Schritt. »Hat nicht jemand gesagt, Amboss wäre in Hamm vergiftet worden? Dann kennen Eff Eff doch den Hund. Wahrscheinlich wissen sie auch genau, wozu wir ihn haben.« Es war unnötig, den Sachverhalt näher auszuführen.

Auf der anderen Seite der Brücke führte der Geruch nach Vampiren geradewegs in den Staudengarten. Schnurstracks verließen die beiden die sichere Straße und tauchten in den grünen Parkbereich ab. Hecken, Beete und Statuen boten einen malerischen Anblick.

»Hier sind keine Marker«, entschied Birgit nach minutenlangem ziellosem Umherirren.

»Das muss nichts heißen.«

»Nein, aber –« Plötzlich verstummte Birgit. »Hörst du das?«

Anna horchte auf. »Jemand spielt auf einem Dudelsack … oder versucht es zumindest …«

Ein kribbelndes Gefühl begann die zwei zu durchfluten, und das behagte ihnen gar nicht. Es stieg aus den Zehenspitzen bis in den Kopf, und ehe eine der beiden begreifen konnte, was gerade passierte, schwanden ihnen die Sinne. Lediglich eine kurz aufflackernde Erkenntnis brach sich noch Bahn: Wir kommen zu spät!
 

Fast hätte Silke Volland es geschafft, die knochige Hand des Vampirs von ihren Lippen zu ziehen und die beiden Kolleginnen zu warnen. Ihr Fänger drückte jedoch, als er ihre Bemühungen bemerkte, nur umso fester zu. Er musste ein Vampir sein, denn er hatte gut abdichtende Stöpsel in den Ohren, die ihn vor der Lockmusik schützten. Da es dicht bewölkt war, bestand für ihn keine unmittelbare Gefahr.

Warum sind Birgit und Anna nicht immun?, fragte Silke sich fieberhaft, während fortlaufend die stümperhaften Versuche der speckigen Frau, Fiona Rüggebergs Dudelsack ordentliche Töne zu entlocken, an ihre Ohren drangen. Woher hat Frais ein Lockstück, das wir nicht kennen?

»Hör schon auf zu zappeln!«, befahl der Vampir ihr knurrend. Widerrede nutzte nichts; mit den Stöpseln hörte er sie sowieso nicht.

Anna und Birgit traten wie in Trance von der Wiese mitten auf den Weg und blieben mit leeren Gesichtern stehen. Unter den Tarnlinsen hatten sich ihre Augen sicherlich dunkel gefärbt. Der Vampir schleifte Silke mit sich und begann, zunächst nachlässig mit der freien Hand ein Seil um die Hälse der Vampirinnen zu werfen. Nach getaner Arbeit zog er es fest, was den beiden Frauen erstickte Laute, aber immer noch keine Gegenwehr abrang, und schlang die Enden um die Äste eines Baumes.

»So, du kannst aufhören.«

In ihrem Versteck – aus Silkes Position gut einsehbar – setzte die dicke Frau das Anblasrohr ab und rieb sich die Stirn. »Das schlaucht total«, ächzte sie in quäkendem Ton.

»Hör auf zu flennen.« Frau Schmitts Bewacher zupfte sich die Ohropax aus den Ohren und steckte sie in eine Hosentasche. »Verdammt, wo bleibt Conall?«

Silke vermutete, dass er mit Conall den bulligen Vampir meinte, der nur aus Muskeln zu bestehen schien. Jener hatte versucht, Amboss einzufangen, der ihm sofort die Leine entrissen hatte und laut kläffend davon gestürmt war. Seither war Conall nicht mit dem Hund zurückgekehrt.

Nicht mehr dem Reiz der Musik ausgesetzt, erwachten Birgit und Anna aus ihrem Rausch, bemerkten den erdrückenden Zug um ihre Kehlen und griffen sofort hektisch danach. Der Vampir beobachtete ihre Bemühungen mit gehässigem Lachen. »Nur noch ein paar Minuten, Mädels, dann seid ihr starr wie die Terrakotta-Armee. Ich werde euch in Watte packen wie ein paar edle Steine, damit ihr auch keine einzige Erschütterung spürt und nicht etwa aus dem Scheintod aufwacht …« Sein Lächeln war breit und widerlich.

Silke tat das Herz weh, als sie ihren beiden Kollegen zusah, wie sie an dem Strick rissen und hilflos nach Luft rangen. Der Gedanke, dass sie nicht ersticken, sondern nur in Thanatose fallen würden, war dabei keinesfalls hilfreich. Wild entschlossen unternahm Frau Schmitt einen weiteren verzweifelten Versuch, sich freizukämpfen. Wieder völlig erfolglos.

Diese Medizin war bitter.

Dann war plötzlich Gesang zu hören. Es war ein leiser, auf und abschwellender Kehrreim, der rasch näherkam. Was war das? Wer war das? Silke hielt ebenso verblüfft inne wie ihr Aufpasser, und auch Birgit und Anna erstarrten – allerdings weitaus effektvoller, denn in ihre Augen kehrte derselbe verklärte Blick zurück, der davon zeugte, dass dieses einfache, harmlos klingende Lied ein potentes Lockstück war. Geistesgegenwärtig versuchte Silke, den sie festhaltenden Vampir abzuschütteln. Oh ja, diesmal war er machtlos gegen Eff Effs eigene Waffen gewesen! Seine Hand über ihrem Mund erschlaffte und sie stieß ihn unsanft von sich, um zu ihren Kolleginnen zu eilen. Schnell waren die Seile gelöst.

Die dicke Frau mit dem Dudelsack wurde nervös; sie fand sich soeben allein unter hypnotisierten Vampiren wieder, einer wehrhaften Gegenspielerin ausgesetzt. Ihr Blick huschte von Silke zu den benebelten Schandmaul-Damen – dann, endlich, nahm sie die Beine in die Hand und spurtete los, unbeholfen wie ein Seehund an Land, aber trotzdem mit einem beachtlichen Tempo. Den Dudelsack hielt sie fest zwischen ihre gewaltigen, schwankenden Brüste gedrückt.

Der weibliche Gesang bog um die Ecke. Es war ein seltsames Gespann: Eine ziemlich große Frau mit leuchtend rot gefärbtem Haar schlenderte vorneweg, den brav mittrabenden Amboss locker an der Leine, und hinterdrein Conall, artig wie ein Hündchen, ohne eigenen Willen. Ohne das Singen zu unterbrechen, hob die Ankommende eine Hand und winkte zu Silke und den anderen hinüber. In ihrem entspannten Gesicht war keine Spur von Furcht auszumachen.

»Ich … ich kenne dich«, sagte Silke vorsichtig, als die Rothaarige wie selbstverständlich den Strick auflas und damit Conall und den Knochigen zu fesseln begann.

»Ich dich auch«, antwortete sie kurz, ehe sie rasch das lateinische Lied wieder aufnahm und die Fesseln auf ihre Tauglichkeit testete. »So … Habt ihr was zum Pfählen?«

»Ich fürchte nicht …«

»Schade. Dann müssen wir uns beeilen. So ein kleines Seil hält jemanden wie den –« Sie nickte zu Conalls muskulöser Gestalt. »– nicht ewig auf.« Die noch irgendwie Unbekannte wandte sich Silke zu und hielt ihr die Hand hin. »Ah, Frau Schmitt«, grinste sie.

»Ja … Silke Volland.« Silke nahm die Hand der anderen. »Und du bist noch mal …?«

»Ich bin offiziell gar nicht eingeladen, ich weiß, aber Michael hat mir bescheid gesagt, und … ich hab ein bisschen Erfahrung mit Vampiren. Mit Lockmusik, und so. Oh, ich bin Cornelia Fuchs. Die Rote Füchsin. Früher In Extremo, jetzt Filia Irata. Unter anderem.«

»Na dann …« Frau Schmitt lächelte dünn. » … Willkommen im Kreise der chaotischsten Vampirjäger der Welt. Wir werden deine Hilfe brauchen.«

»Ich bin bereit«, erklärte Conny.

»Bestens. Wollen wir dann?«

»Aber gern.«
 

Ohne Verzug schlugen die Frauen den Weg zum Klinikum ein, um auf kürzestem Wege die Sicherheit des Verstecks zu suchen. Sie hielten nicht einmal an, um verhedderte Schnürsenkel zu ordnen. Überall konnte Frais weitere Schergen versteckt haben, und die drei Widersacher aus dem Park waren nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Es galt, keine Zeit zu verlieren.

Im Universitätskrankenhaus angekommen, mussten sie feststellen, dass der abgestellte Wachposten ihren besorgten Gesichtern nicht mit dem Ernst begegnete, den sie erwartet hätten.

»Sieh an: Keine ganze Stunde vergangen, und die Mädels sind wieder da«, witzelte Lasterbalk nach einem Blick auf die Uhr, als die vier den Keller betraten.

Birgit lächelte unglücklich. »Wartet ab, bis ihr hört, was wir hinter uns haben.«

»Das könnt ihr gleich allen auf einmal erzählen. Auf in unser kleines Reich!« Damit übernahm er die äußerst kurze Führung ins dunkle und feuchte Innere des Klinikkellers. »Gemütlich habt ihr’s hier aber nicht«, kommentierte Conny die kahlen Betonwände.

»Wir sind Mittelaltermusiker, uns darf das nix ausmachen.« Lasterbalk legte den Kopf schief. »Frau Fuchs, sind Sie aus Spaß hier oder hat man Sie eingeweiht?«

»Bin eingeweiht«, antwortete Conny sofort. »Hier bin ich, hier in der Tasche ist mein Sack. Wann fangen wir an?«

Lasterbalk lachte auf. Manchmal – aber wirklich nur manchmal – mochte er Frauen, die nicht auf den Mund gefallen waren. »Eher, als uns allen lieb ist, fürchte ich.« Er wies auf eine Tür zur Linken. »Hier lang.«
 

Fritz staunte nicht schlecht, als alle temporären Bewohner des Stützpunktes zusammengetrommelt wurden und es plötzlich so viele waren, dass einige sich im Flur aneinander drängen mussten. Insgesamt waren kurz vor zwölf dreizehn neue Gesichter dabei, von denen Fritz kein einziges kannte. Was er bei der lauten und ungeordneten Konferenz am Rande mitbekam: Schelmish hatten drei Spieler ausgesandt, die sich lachend meldeten als Rimsbold von Tiefentann, Des Demonia (Fritz war sich ziemlich sicher, dass sie eine Frau war) und Dextro (von welchem Fritz nur der Ausruf »Wir schlagen uns mit Vampiren? Endlich mal ’n ordentlicher Job!« im Gedächtnis blieb); eine rothaarige Frau war augenscheinlich mit In Extremo befreundet und sobald das geklärt war, beanstandete niemand ihre Anwesenheit; von der Kapelle Corvus Corax waren vier Männer mit den schwierigen Namen Venustus Oleriasticus alias Wim, Karsten Liehm alias Castus Rabensang, Pan Peter und Vit angerückt; außerdem hatten sie drei ehemalige Kollegen dabei, die sich nun ganz einem Projekt namens Tanzwut verpflichtet hatten und sich Tritonus der Teufel und Martin Ukrasvan nennen ließen. Diese drei waren eine unerwartete Überraschung. Auch Pymontes Freunde von Cultus Ferox – Brandan, Feuerteufel und Böslinger – trafen mit einiger Verspätung wie versprochen ein. Wie immer fand Fritz die zum Teil recht albernen Künstlernamen einfach nur lächerlich, und er war ganz froh, mit keiner dieser suspekten Personen ein Wort wechseln zu müssen.

Ganz zuletzt stieß ein recht kleiner Mann namens Luzi hinzu und brachte neben seiner eigenen auch für Alea und El Silbador eine Sackpfeife mit. Saltatio Mortis und auch Schelmish, seine frühere Band, klopften ihm von allen Seiten auf die Schultern.

Kurz nach dieser prägenden Zusammenkunft verabschiedeten sich die Damen von Schandmaul, die, so merkten sie an, ihre Mission ja auch erfüllt hätten – Hyperborea heranzuschaffen.

»Seid nicht böse, aber ich hau ab. Ich hab ein Kind zu Hause«, erinnerte Birgit vorsichtig.

»Ihr seid entschuldigt«, beruhigte sie Boris. »Grüße an alle.« Überhaupt hatte Yellow Pfeiffer gleich hinter Lasterbalk eine Art Statthalterposition eingenommen. Als Chef der Supervisors hatte er bei allen Plänen eine Menge mitzureden und pflegte Lasterbalk davon abzuhalten, das Zepter um jeden Preis allein zu schwingen; letzterem war die Stellung als geistiger Leiter nach Buschfeldts Absetzung mehr oder weniger zugefallen. Dies allerdings machte sich jetzt mehr bemerkbar denn je, und längst nicht alle waren zufrieden damit, schon der Großteil von In Extremo nicht. Dass es jetzt jedoch fehl am Platz war, sich unkooperativ zu verhalten, war zum Glück einem Jeden klar.

»Wie’s aussieht«, verschaffte Lasterbalk sich Gehör, nachdem ihm von Frau Schmitt die ganze unschöne Geschichte zugetragen worden war, »wissen unsere Widersacher einfach net, wann Schluss ist. Um ein Haar hätten sie diese drei Damen verschleppt.« Er deutete auf Silke, Birgit und Anna, letztere beiden waren im Aufbruch begriffen. Empörtes Getuschel erhob sich. »Ja, seh ich auch so: Es wird Zeit, dass wir ’nen Satz warme Ohren verteilen.«

»Und wer wird das machen?«, fragte die Frau namens Des Demonia. »Ich meine, wer macht denn was?«

Lasterbalk antwortete: »Ganz einfach, wir teilen das Team jetzt auf in Sackspieler und Spurensucher. Wer net dudelt, der geht Eric suchen. Das betrifft schon mal alle Vvvv– … also, ihr wisst schon, wen des betrifft. Wer also net dudelt, der kommt mit mir mit und hört auf mich, und wer dudelt, der geht zum Herrn Pfeiffer und folgt dessen Anweisungen. Ist das kapiert jetzt?«

»Joa«, kam die recht einstimmige Affirmation.

»Gut, dann klären wir jetzt noch, wer zu gar keiner Gruppe gehört. Auf jeden Fall Chef und Chefassistent, das ist ja klar. Arzt bleibt auch hier. Was ist mit den Kranken?«

»Komme mit«, erklärte Sugar Ray sofort.

Lasterbalk bedachte ihn mit einem prüfenden Blick, den der blinde Mann nicht erwidern konnte, und gab dann seine Zustimmung. »Wirst schon wissen, was du machst. Elsi?«

»Einen Sack halten kann ich schon noch«, ereiferte sich El Silbador sofort.

»Okay, okay. Fritz?«

»Ähm … jaah«, hörte Fritz sich sagen.

»Gut. Wir haben noch drei von den Sendern, die man am Laptop verfolgen und über die man auch reden kann. Ich mach mir mal Gedanken, wer aus meinem Team die kriegt. Den Sackspielern kann ich nur sagen: Frohes Üben, hoffentlich isses net zu schwer. Aber ihr seid ja alle Profis.«

»Helden der Säcke!«, rief jemand. Alle lachten verhalten.
 

»Du kannst von der Gefahr nicht genug kriegen, was?«, neckte Micha Fritz, als sie ihre Ausrüstung zusammensuchten.

»Ich muss Rache üben«, behauptete Fritz. Ihm war bewusst, wie extrem unglaubwürdig diese Aussage aus seinem Munde klang, doch wenn Micha ihn durchschaute, so verspottete er ihn in diesem Moment zumindest nicht, sondern fragte lediglich: »Ach was, und wofür?«

»Paul Frais … hat meinen Pflock versaut.« Wie eine plausible Begründung klang das nicht.

»Nee, Lex hat deinen Pflock versaut. Fakt.«

»Causa finalis nicht.«

»Glaubst du, dadurch wird er schneller gesund, oder was?«

Fritz seufzte. »Micha, Alex glaubt anscheinend, dass er wirklich gefährlich ist. Er will einfach nicht trinken.«

»Ach!«, sagte Micha und war plötzlich ganz Ohr. »Immer noch nicht? Ist der denn völlig daneben? Der muss doch schon Bauchschmerzen haben!«

»Bock weiß gar nicht, was er machen soll. Alex kann nicht richtig heilen ohne Nahrung, aber es nützt nichts, ihm das zu sagen.«

»Was gibt Bock ihm denn? Nur diese Teebrühe?«

»Er hat es mit allem versucht, was wir haben.«

»Wirklich mit allem?«

Fritz überlegte. »Naja, außer mit …«

»Lasst es mich mal versuchen. Der Lästige ist ja abgelenkt und stresst die anderen, da kann ich mal machen, was ich will. Ich finde, wir müssen Lex’ Ernährung ein bisschen umstellen«, entschied Micha, und dann ließ er Fritz stehen.
 

Asp schreckte aus einem erschöpften Schlaf auf, als Micha in den Bockshof stürmte.

»So!«, sagte der Blonde scharf. »So ist das also, ja? Alle haben sich den Arsch aufgerissen, damit du durchkommst, und jetzt schiebst du so ’ne blöde Nummer hinterher! Wieso isst du nichts, Mann?«

Asp setzte sich auf und erwiderte trotzig: »Ich kann nicht.«

»Willst du aushungern? Hatte ich gerade erst. Ist total beschissen.«

»Ich weiß.«

»Jaah, eben: Du weißt es! Mal gezählt, wie oft du dich in deinem Leben nach der Starre ausgehungert hast? Fünfmal? Zehnmal? Zwanzigmal? Du kennst alle Phasen, vor allem die Wahnphase, stimmt’s? Ne? Raserei! Ich dachte echt, wir hätten das hinter uns. Das muss aufhören. Und zwar endgültig!« Micha kehrte ihm den Rücken und wandte sich dem Brutschrank in der Zimmerecke zu. Wie erwartet fand er dort eine noch verschlossene Blutkonserve; sie würde am Abend, so lange ungekühlt, nicht mehr genießbar sein. Jetzt jedoch war der Tag noch jung.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, erklärte Asp. Er sagte es mit fester Stimme, doch unterschwellig wirkte er verunsichert, wie man es selten bei ihm erlebte. »Ich habe seit Ewigkeiten kein pures – …«

»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach Micha ihn ungerührt und drückte ihm den Becher in die Hand, in den er das Blut geleert hatte.

Asp wich vor dem intensiven Geruch zurück und hielt die Tasse von sich. »Es … ist warm.«

»Klar, hat Körpertemperatur. Los, trink. Wikingerblut macht böse, das ist wissenschaftlich bewiesen – aber leckeres, sauberes Vollblut doch nicht. Das ist bestimmt von lauter lieben und netten Studenten, die aus Nächstenliebe gespendet haben.«

Asp wirkte nicht überzeugt. Noch einmal roch er vorsichtig an dem Getränk.

»Einen Schluck, Lex. Einen.«

»Lässt du mich dann endlich meine Probleme alleine lösen?«, seufzte Asp.

»Ja. Zumindest das eine wird sich dann lösen.« Micha verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand.

Unbehaglich führte Asp den Becher an die Lippen. »Warum mache ich das bloß?«, murmelte er, bevor er einen Schluck nahm. Und innehielt. Versonnen bekannte er: »Dieses elende Zeug schmeckt so unglaublich gut … Hatte ich ganz vergessen.«

»Musst du mir nicht sagen«, gab Micha zurück.

Asp nahm noch einen Schluck und ganz zögerlich einen dritten. »Warum schmeckt es bloß so gut?«, wunderte er sich.

Micha hob die Schultern, als gäbe es keine eindeutige Antwort darauf. »Könnte daran liegen, dass du ein Vampir bist. Und eigentlich von Natur aus gar nichts anderes runterschlucken sollst als das. Also … trink aus.« Er wies auf die Tasse. »Und bis wir heute in der Dämmerung losgehen, bist du gesund – darauf schließ ich ’ne Wette ab.« Dann ging er hinaus.
 

»Ich kann nicht versprechen, dass uns keiner hört«, erklärte Boris einige Zeit später der Dudelsackformation. »Bin sogar sicher, dass das Krankenhaus sich bald beschweren wird. Wir sind … zwanzig Säcke, das wird ganz schön Krach machen. Und es ist ja nicht mal angenehme Musik …«

»Lass uns endlich üben!«, drängte Alea. »Die Zeit läuft uns weg, wir dürfen nicht so ’nen großen Abstand zu den Spurensuchern haben, also müssen wir das Stück noch heute können, möglichst fehlerfrei!«

»Da hat er Recht«, bekundete Py. »Ich finde, wir sollten jetzt anfangen und uns erst mal keinen Kopf machen über die Reaktionen von oben.«

»Okay, wie ihr meint. Dann bitte alle mal herschauen.« Pfeiffer deutete auf die graue Wand, wo für alle Säcke die Notenlinien angebracht worden waren. »Wenn jeder weiß, wo er hingehört, dann machen wir einen ersten Versuch auf mein Kommando …«
 

»Uh, Vorsicht, sie fangen an zu dudeln!«, warnte Lasterbalk sein Team, das sich mitten in den Vorbereitungen befand. »Schnell, stopft euch was in die Ohren!«

»Und nehmt kein Kaugummi«, belehrte Fritz die Vampire. Mit gefurchter Stirn lauschte er den diversen langgezogenen Tönen; offensichtlich war dies noch nicht das Stück, sondern nur ein Einstimmen. Oder musste man Dudelsäcke nicht stimmen? Er hatte keine Ahnung. »Ich finde es mies«, wandte er sich an Basti, einen der wenigen, die jetzt noch hören konnten, »dass Alea nicht mit uns mitkommt, sondern lieber so ’nen doofen Sack spielt wie jeder andere. Ein Sack mehr oder weniger, als Vexecutor wäre er uns viel nützlicher.«

»Meine Rede«, erwiderte Van Lange, »aber ick hab mir schon jedacht, dass dit Sonnenscheinchen den Schwanz einkneift. Najaaa … wird auch ohne ihn jehen.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Wie spät is’n dit?«

»Halb vier«, antwortete Fritz. »Also Abenddämmerung. Wir müssen los.«

»Haste allet?«

»Jaah. Wer hat die Sender?«

»Lasterbalk, Micha, Ingo. Eener von jeder Crew.«

»Oh, gut.«

Lasterbalk winkte wild in die Runde, bis jeder ihn ansah; dann deutete er zur Tür und gab die unmissverständliche Anweisung zum Aufbruch. Geordnet hintereinander, um durch die Türen zu passen, setzte sich das Team der Spurensucher, bestehend aus Falk, Lasterbalk, Fritz, Sebastian, Micha, Ingo, Simon, Silvio, Silke und natürlich dem aufgeregt wedelnden Amboss, in Bewegung.

Auf halber Strecke durch den Flur holte Asp sie ein. »Hey, wartet. Nehmt mich mit.«

Fritz, der neben Frau Schmitt und Basti ganz hinten ging, drehte sich überrascht um. »Alex! Du bist gesund?«

»Naja … halbwegs.«

»Och, Asp, jetzt hätteste so ’nen Spruch bringen müssen wie: Ick hab dit zwischen den janzen Memmen nicht mehr ausjehalten und bin jejangen«, merkte Basti scheinbar enttäuscht, aber lächelnd an.

»So ähnlich war es ja auch«, behauptete Asp. »Wobei … mein Rücken tut noch weh.«

»Ick fürchte, Jammern hilft nischt. Aber sind ja noch mehr jequälte Jestalten dabei. Guck dir Silvio an, der sieht nicht ma wat.«

»Wirst du uns denn nicht im Weg sein, wenn wir Frais umlegen wollen?«, hakte Fritz besorgt nach.

Asp schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Jetzt nicht mehr.«

Gemeinsam verließen sie das Krankenhaus. Klinikpersonal, das ihnen auf dem Weg zum Haupteingang begegnete, sah ihnen misstrauisch nach. Keiner sprach die Gruppe an. Fritz wusste, dass die Erlaubnis der MIU, in der Carl-Gustav-Carus-Klinik zu logieren, an diesem Abend ablief.
 

Draußen hatte der Himmel sich bereits dunkel gefärbt. Die Straßen waren gut gefüllt mit Fahrzeugen, die ihre Besitzer vom Arbeitsplatz nach Hause beförderten. Die Gruppe ging schweigend – wieder einmal für Passanten ein ungewöhnliches Bild abgebend – die Straße hinunter. Dezent nahmen die Vampire ihre Ohrstöpsel wieder heraus.

Lasterbalk testete den Sender. »Hallochen … Ist da jemand?« Es kam keine Antwort. »Na gut, die haben ja gerade erst mit dem Üben angefangen.«

An der Ecke zwischen Fetscher- und Pfotenhauerstraße wurde Amboss auf die Blutspuren angesetzt. Sein Körper schien wie elektrisiert, als er wild schnuppernd die Fährte aufnahm.

»Na dann«, kommentierte Micha, »verfolgen wir waidwundes Wild.«

Der Bluthund kläffte aufgeregt, als würde er die Aufforderung beantworten, dann stürmte er voran. Silke Volland hatte Mühe, die Leine in der Hand zu behalten, und Ingo kam ihr rasch zur Hilfe.

Bereits eine Weile später zeichnete sich ab, dass Amboss die Suchenden aus Dresden herausführen würde. Im Dunkeln schließlich folgten sie der B6, der Bautzner Straße, und die Bebauung wurde merklich karger. Jetzt, da sie endlich etwas unternehmen konnten, waren vor allem die Vampire aufgekratzt und voller Tatendrang. Als sie auf die S95, die Fischhausstraße, abbogen, fingen sie trotz der zahlreichen edlen Wohnhäuser entlang des Weges laut an zu singen.

»Es regnet! Es regnet Blut! Es regnet –«

»Lasst das!«, zischte Fritz nach vorn und schauderte. »Könntet ihr damit aufhören, ständig Lieder zu singen, die von Blut handeln?«

»Nein, das ist ist hochgradig erfüllend!«, entgegnete ihm Falk. »Hör dir bei Gelegenheit an, wie Micha das Wort Blut im Original ausspricht – so leidenschaftlich, mit breitem l und hartem t … das würde selbst dir Appetit machen!«

Und prompt imitierten alle Micha: »Es rääägnet! Es räägnet BLUT!«, ohne auf Fritz’ Protest zu achten.

Fritz seufzte und wünschte sich ein Paar der Ohrenstöpsel, die natürlich den Menschen nicht gegeben worden waren. Zu seinem Leidwesen stimmten die Vampire nach Beendigung des ersten sofort ein weiteres Lied an.

»Das Blut so rot … das Blut so rein …«

»He, das ist voll aus dem Kontext gerissen!«, beschwerte sich Ingo.

»Na und?«, kam es ausgerechnet von Sugar Ray.

»Ich frag mich nur gerade, wo wir hier eigentlich sind. Der Hund will aus Dresden raus, da hinten kommt nix mehr.«

Damit hatte er völlig Recht: Inzwischen waren sie rechts und links umgeben von kahlen Bäumen. Die Häuser waren völlig verschwunden.

Lasterbalk wandte sich an seinen Nachbarn. »Was sagt das Falk-Navi?«

»Ich glaube, wir sind auf der Radeberger Landstraße«, mutmaßte Falk. »Mir ist so, als wäre das die weitere S95.«

»Und wie weit ist es bis … Radeberg?«

»Weiß ich nicht. Nicht mal ich kann alles wissen.«

»Hm.« Lasterbalk holte den kleinen Sender aus der Tasche, den er, wie auch die anderen, noch nicht hinter dem Ohr angebracht hatte. »Boris?«

»Ja, hallöchen. Wir machen Fortschritte! Wo seid ihr inzwischen?«

»Das sollst du mir sagen, du Scherzkeks!«

»Oh … ja, stimmt. Einen Moment.« Yellow Pfeiffer schaltete irgendwas am Laptop um. »Nanu, ihr seid ja total in der Pampa! Der nächste Ort ist Loschwitz … dann die Dresdener Heide … und dann kommt nur noch Radeberg.«

»Wie weit bis dahin?«

»Hmm … noch so zehn Kilometer.«

»Oh Gott! Ich hoffe, Eff Eff sitzen net ganz so weit weg.«

»Du meinst, hoffentlich sitzen sie nicht noch WEITER weg.« Boris seufzte. »Na gut, wir starten den nächsten Durchgang. Werden langsam sicherer. Meldet euch, wenn’s was Neues gibt.«

Nicht wissend, was für ein Gesicht er machen sollte, ließ Lasterbalk den Sender wieder verschwinden. Alle starrten ihn an – jedenfalls alle, die im Dunkeln sehen konnten. »Na los, frohen Mutes weiter«, ermunterte er die anderen. »Ich denke, wir haben’s bald geschafft.«

Schon immer besonders

Die bizarre Musik erfüllte längst das ganze Erdgeschoss der Klinik – jedenfalls für solche Ärzte, Pfleger und Patienten, die besonders gute Ohren hatten. Der übrige Teil der Beschäftigten fragte sich schlicht, weshalb einige der Kollegen sich immer seltsamer zu verhalten begannen. Sie blieben ohne Aufforderung plötzlich im Gang stehen, bekamen einen träumerischen Blick und reagierten nicht mehr auf Ansprache, bis man sie kräftig ohrfeigte oder in einen geschlossenen Raum bugsierte. Was war das bloß? Grassierte hier irgendeine seltsame Krankheit? Man wusste nie, was frisch eingelieferte Patienten so mitschleppten. Und das betroffene Personal … nun, man wurde sich insgeheim darüber einig, dass diese Wenigen auch vorher schon höchst merkwürdig gewesen waren.
 

Begeistert griff El Silbador nach dem Headset. Boris und er hatten nun seit einiger Zeit nichts mehr von den Suchern gehört; inzwischen war es spät am Abend.

»Wir sind richtig gut!«, teilte er den hoffentlich Zuhörenden freudetrunken mit. »Nicht mehr lange und wir kommen euch nach! He, wie geht’s euch da draußen?«

Es war Ingo, der antwortete. »Wir … machen grad ’ne Pause.« Er klang erschöpft. »Wir sind durch Loschwitz … und haben schon den, ääh … Krötenbruchteich hinter uns. Kaum mehr als ’ne Pfütze ist das. Der Hund ist immer noch ganz aufgekratzt … aber zumindest wir Menschen müssen uns kurz ausruhen.«

»Überanstrengt euch nicht«, empfahl Elsi. »Völlig fertig nützt ihr Eric nichts.«

»Nee … Schon klar.«

»Wie sieht es da aus, wo ihr jetzt seid?«

»Ach, immer gleich. Bäume, Bäume, Bäume. Zweispurige Landstraße, manchmal mit durchgezogener Linie … manchmal dünne Querstraßen. Kurz vor uns kreuzt ’ne Straße namens … Gänsefuß. Da stehen zur Abwechslung sogar mal zwei, drei Häuser.«

El Silbadors Begeisterung hatte sich großteils verabschiedet. »Na gut … Ruht euch aus und macht mal wieder Meldung, falls ihr … was findet.« Allerdings sah es aus, als könnten bis dahin noch Stunden vergehen. »Ich informiere euch, wenn wir uns auf den Weg machen.«
 

»Bluuut, Bluuut … was sich reimt, ist guuut …«, sang Lasterbalk lustlos, während er und sein Team in endloser Geduld Kilometer um Kilometer durch die Nacht wanderten.

Fritz war müde. Er hatte das Gefühl, bald nicht mehr mithalten zu können. Seine schweren Füße bewegten sich nur noch wie mechanisch. Immerhin – und das war wohl ein gutes Zeichen – hatte er keine Schmerzen in seiner heilenden Beinwunde. Momentan ging er relativ weit vorne mit, nachdem er sich, flankiert von Lange und Frau Schmitt, von hinten zur Mitte des Trosses vorgekämpft hatte. Dicht hinter ihm waren Simon und Silvio; das Schlusslicht bildete Micha, der außer Lasterbalk und Ingo als Einziger einen Sender hatte.

»Sollte Eric wirklich bis nach Radeberg geblutet haben«, ließ sich Falk vernehmen, »dann können wir nur hoffen, dass ihn das nicht umgebracht hat. Siebzehn Kilometer lang zu bluten ist bestimmt kein Zuckerschlecken.«

»Er wusste, dass normale Marker nicht lange genug halten würden«, vermutete Silke.

»Trotzdem hat er immer wieder welche angebracht. Wir haben jetzt schon mehrere Bäume gesehen, an denen er Blut und Schweiß abgestrichen hat. Das wäre Amboss entgangen, so hoch über dem Boden.«

»Bringt diese Markersache eigentlich irgendwas?«, wollte Fritz wissen, der von weiter hinten aus den Dialog mühsam verfolgt hatte.

»Selbstredend, siehst du doch«, antwortete Falk. »Wobei Blut ein kräftigerer und länger währender Marker ist als Schweiß. Außerdem gibt es einen noch stärkeren Marker – einen, den jeder Vampir auch nach Tagen noch zweifelsfrei zuordnen kann. Nicht grundlos sehr beliebt im Tierreich. Du weißt, was ich meine, oder?«

Lasterbalk lachte leise. »Ich muss wohl net dran erinnern, dass öffentliches Pinkeln verboten ist, während gegen öffentliches Bluten aber kein Paragraph existiert.«

Amboss an der Spitze wimmerte. Auch er wirkte allmählich entkräftet; sein zuerst forscher Schritt hatte sich im Laufe des Abends merklich verlangsamt, und die Zunge hing ihm aus dem Hals.

Lasterbalk bemerkte Fritz’ Blick. »Wir schaffen es schon«, beruhigte er ihn.

Fritz hob den Kopf. »Was schaffen wir?«, fragte er müde.

»Na, das alles hier. Du weißt schon. Den Weg … Frais … diese ganze Sache. Wir überstehen das.«

Nicht überzeugt ließ Fritz sich wieder zurückfallen. Simon umging ihn, wobei er Sugar Ray vorsichtig dirigierte. Dann kam Fritz ganz hinten bei Micha an, der immer wieder über die Schulter schaute, als behielte er einen unsichtbaren Verfolger im Auge.

»Alles klar?«, fragte Fritz.

»Ja, ja. Kannst noch mithalten?«

Fritz hob die Brauen. » »Äh, ja …« Er zögerte, etwas verwirrt über die Frage. »Früher hättest du mich das nie gefragt. Da hättest du mich ausgelacht. Aber … Es ist tatsächlich schon ziemlich lange her, dass du mich ›Pfeife‹ genannt hast.«

»Macht ja auch irgendwann keinen Spaß mehr«, erwiderte Micha wohlwollend. »Also?«

»Ich wollte dich was fragen.« Fritz schaute um sich, ob auch sonst niemand zuhörte, doch hinter den Subway-To-Sally-Vampiren waren sie bereits deutlich zurückgefallen. »Also … Micha, wie alt bist du eigentlich?«

»Jetzt?«, fragte Micha misstrauisch. »Siebenundvierzig.«

»Nein, ich meine … insgesamt. In allen Leben.«

»Ach, das weiß ich nicht … Hab keinen Taschenrechner im Kopf. Warte mal … ich glaube … fast vierhundert…achtundsiebzig. He, das ist fast die gleiche Zahl, nur mit ’ner Acht dran.«

»Vierhundertachtundziebzig!« Fritz schnappte nach Luft. »Spätmittelalter?«

»Nee, Renaissance. 1534 bin ich geboren, verwandelt wurde ich 1567. Das sind so Daten, die merkt man sich.«

»Wie war dein Erschaffer so?«

»War ’ne Frau.«

»Hattest du eine Affäre mit ihr?«

Micha lachte. »Das hätte sie gerne gehabt … deshalb hat sie mich verwandelt. Glaub ich. Ich erinnere mich kaum an sie … Sie wurde gepfählt, irgendwann achtzehnhundert-bla. Weißt du, je älter man wird – je mehr Verjüngungen man durchmacht, sag ich mal – desto mehr rücken alte, früher gelebte Leben einfach in die Ferne. Alles verblasst langsam. An mein Leben als Mensch kann ich mich fast gar nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass ich nicht besonders glücklich war … dass ich oft krank war … dass ich eine Familie hatte, die ich nicht ernähren konnte … und dass es sehr oft dunkel gewesen sein muss, denn alle meine Erinnerungsfetzen spielen sich bei Nacht ab. Ob ich nachts gearbeitet habe oder tagsüber nicht auf den Beinen war? Keine Ahnung, vielleicht hat sich da schon eine Erinnerung an mein erstes Vampirleben mit reingemischt. Das kann man später nicht mehr auseinander halten, alles vermengt sich zu einer Suppe … Das ist alles so ewig, ewig lange her.« Er hob die Schultern.

»Schade … aber sonst hätte man bestimmt einfach zu viel im Kopf.«

»Es hat den Vorteil, dass es einem leichtfällt, sich anzupassen, also modern zu sein und mit der Zeit zu gehen. Man wird ja immer in ’ne neue Zeitepoche reingeboren.«

»Ich vermute, du erinnerst dich nicht an deine … Transformation.«

Über Michas glühende Augen huschte ein Schatten. »Doch … So was prägt sich ein.«

»Wie … war es?«

»Grausam. Ich wusste ja, was passieren würde, aber nicht wie. Wenn dein Körper anfängt, sich umzustellen, dann denkst du, du verreckst.« Micha befeuchtete sich die Lippen und fuhr fort: »Ich war zu Hause. Alleine. Meine Familie wusste nicht, was mit mir passiert; die dachten, ich wär von ’nem Dämon besessen. Hat man bei Vampiren oft gedacht. Man ist ja auch kurz vorm Durchdrehen, wenn man sich verwandelt. Schließlich haben sie mich eines Nachts zurückgelassen. Alles mitgenommen … und die Tür von außen verriegelt. Ich war ganz alleine, aber … ich hab’s kaum gemerkt, hatte gar keine Gelegenheit, mich einsam zu fühlen. Ich war zu beschäftigt mit mir selber. Nach ’nem gefühlten halben Tag Schlafen war mir so kalt, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Kein Muskel wollte mehr machen, was er sollte. Also bin ich einfach auf meinem Bett liegen geblieben. Die ganze Zeit. Konnte nicht denken. Konnte nichts essen oder trinken, ist nichts drin geblieben. Kein Tropfen Wasser. Hab alles neben das Bett gekotzt. Bin ausgetrocknet. Lag in so ’ner Art Delirium, vielleicht tagelang, irgendwie zwischen Krämpfen und Wahnvorstellungen. Hatte kein Zeitgefühl mehr. Ich weiß nur noch: Auf dem Nachttisch stand eine Schüssel mit Wasser. Keine Ahnung, ob ich sie dahin gestellt habe oder jemand anders, aber sie hat mir das Leben gerettet. Ich hab immer nur den Finger ins Wasser getaucht – mehr bewegen konnte ich mich ja nicht – und mir einen Tropfen auf die Zunge geschmiert, immer und immer die gleiche Bewegung, bis ich irgendwann in einer Nacht wieder richtig zu mir kam. Dann war ich fertig. Und irre vor Hunger. Ich hab die Tür eingetreten, mich rausgeschleppt … und den ersten Menschen angefallen, den ich sehen konnte. War eine Frau, die hat ein Bündel Holz geschleppt.«

Fritz war fasziniert von der Geschichte. Er konnte das Entsetzen über den eigenen, plötzlich fremden Körper gut nachempfinden. »Aber du … hast sie doch nicht getötet?«

Micha seufzte. »Naja, nee, aber … es war Winter und arschkalt draußen, und die Frau war blass und dünn und nicht gerade warm angezogen. Ich bin nach meiner ersten Blutmahlzeit wieder ins Haus gekrochen. Musste weiterschlafen, war total fertig. Als ich am späten Morgen rausguckte … lag sie erfroren vor meiner Tür. Fast ganz eingeschneit.« Als er einatmete, klang es zittrig. »Weißt du, wenn man zum ersten Mal beißt, hat man noch kein Gift. Das Opfer ist bei vollem Bewusstsein, nur wir sind in so ’ner Art Rausch, nur deshalb haben wir überhaupt die Kraft, einen wild um sich schlagenden Menschen unten zu halten. Die Frau hätte weglaufen können. Hätte ihr Holz liegen lassen und abhauen können. Aber dass ich getrunken hab, hat sie so schwach gemacht … der Blutverlust … und der Schock, bestimmt … dass sie nicht weit gekommen ist. Da lag sie dann … und ich hab gerätselt, wie qualvoll ihr Tod wohl war.«

Fritz schauderte. Kurzzeitig befiel ihn ein jämmerliches Gefühl, das er mit einem Schütteln vertreiben musste. »Hast … du sie begraben?«

»Der Boden war gefroren. Ich hab sie in den F–… Ach, Fritz, können wir das lassen? Ich erinnere mich nicht gerne an meine Zeit als Monster. Ich war doch völlig alle und durcheinander.«

Sofort lenkte Fritz ein: »Wie hast du dich ans Vampirsein gewöhnt?«

»Mit viel Kummer und Frust. Ich musste erst lernen, die scheiß Zähne zu kontrollieren. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und hatte den Mund voller Blut, weil ich im Schlaf die Hauer ausgeworfen und mir die Zunge dran aufgeschnitten hab. Außerdem das Tageslicht … Ich musste nachts arbeiten und am Tag pennen. Dabei mag ich die Sonne so … Aber man kann nicht alles haben, c’est la vie.« Es klang wie Sellerie.

»Okay … ähm, ich glaub, meine Neugier ist befriedigt.«

»Na, willst du nicht auch ’n Vampir werden?«, spaßte Micha, wenn auch nur halbherzig. »Deine Abneigung gegen Blut wär jedenfalls Geschichte.«

Fritz schüttelte wild den Kopf. »Nein … danke. Meine Frau würde es toll finden, aber … nein.«

Er lächelte noch kurze Zeit in sich hinein, sich Kitty und ihre mögliche Reaktion ausmalend, da stieß er plötzlich hart gegen seinen Vordermann. Der Trupp war abrupt zum Halten gekommen.

»Wo sind wir?«, hörte man Frau Schmitt rufen.

Lasterbalk gab die Frage sogleich an die Zentrale weiter. »Houston, erbitte Meldung über unsere gegenwärtige Position!« Er wartete die Antwort ab. »Ah ja. Also, die kreuzende Straße heißt … Anker. Ja, wir haben angehalten, weil der Hund offenbar die Spur verloren hat.« Alle Hinteren stöhnten auf. Das war keine gute Nachricht. »Danke, Elsi«, beendete Lasterbalk die Unterredung und drehte sich nach dem Team um. »Also, wir teilen uns auf. Wer möchte – …«

»Wir nehmen die Querstraße«, entschied Ingo sofort und meinte damit sich und Silvio. »Geht das klar?«

»Ja, okay, und wer – …«

»Fritz und ich gehen geradeaus weiter«, erklärte Micha. »Ihr anderen wartet einfach, bis einer von uns ’ne Spur findet.« Nach diesem eigenmächtigen Beschluss sah er jedoch zu Lasterbalk, wie um sich rückzuversichern.

Der große Mann nickte ihm zu. »Viel Erfolg …«

Micha griff sich Fritz und zog ihn an den anderen vorbei. »Es muss geradeaus weitergehen«, murmelte er.

Fritz blickte über die Schulter und sah, wie Ingo Sugar Ray eine Hand auf die Schulter legte und etwas zu ihm sagte; daraufhin biss der Vampir sich in den Handballen und bot seinem menschlichen Freund das Blut an. »Oh … sie teilen!«

»Na klar, die kennen sich doch schon ewig.«

»Für die Nachtsicht?«

»Von wegen. Zuckerschnute ist doch blind, der sieht nur Schwarz in Schwarz. Nein, er will durch Ingos Augen was sehen. Soweit das im Dunkeln geht. Schmittchen zu nehmen wär schlauer gewesen, aber der ist noch zu jung zum Teilen.«

»Also können auch zwei Vampire teilen?«

»Jap, klappt prima. Nur Blutfessel geht natürlich nicht.«

Fritz folgte Micha in der völligen Dunkelheit die Straße hinunter.

»Ah, guck an … Da ist schon das Ortsschild«, stellte der Vampir fest.

»Was steht drauf?«

»Große Kreisstadt Radeberg. Und … aaaah ja.« Micha blieb stehen; Fritz erahnte nur vage, wo er stand. »Blut an der Schildstange.« Ein leises Geräusch deutete darauf hin, dass Micha den trockenen Lebenssaft probierte. »Ja, eindeutig Hechtsuppe. Fritz, ruf die anderen.«

Bei Fritz stellten sich jäh die Nackenhaare auf. »Moment mal! Du weißt, wie er schmeckt? Du … hast ihn gebissen

»Wer hat ihn nicht gebissen?«, gab Micha zynisch zurück. »Bin sicher, dass schon fast die ganze MIU ihre Zähne in Herrn Hechts Hals hatte.«

»Aber …«, stammelte Fritz, »… wieso in aller Welt solltest du ihn beißen? Hasst du ihn so sehr?«

»Ach Quatsch. Ich wette, ich bin der Einzige, der’s nicht freiwillig gemacht hat.« Micha seufzte und erklärte: »Damals hätte ich den Fisch nicht aus eigenem Antrieb beißen können. Der war echt brauchbar, ich mochte den eigentlich. Aber plötzlich hat der Mistkerl mich drum gebeten! Aus heiterem Himmel! Du weißt ja, wenn du einen Vampir bittest, dich zu beißen, dann hat er keine Wahl. Eric wollte mich nämlich zwingen – pass auf! –, ihn auch zu einem Vampir zu machen. Der war so fasziniert davon … und hatte einfach noch gar keine Ahnung. Der war noch voll der Grünschnabel! War vielleicht so alt wie Schmittchen heute, Ende zwanzig. Da wollte der das wirklich. Anscheinend hat er die ganze Zeit gelauert, um diesen Moment abzupassen, in dem er mit mir alleine ist. Da war mir klar, dass man dem nicht trauen kann. Hat sich auch bestätigt, als er mir gezeigt hat, was er so unter Konfliktlösung versteht. Nicht etwa Reden, wenn du weißt, was ich meine. Das war so der Anfang unserer … Kontroversen. Vor allem eben das mit dem Biss. Heute weiß er’s besser … und ich auch.«

Fritz war nun alles klar. »Ah. Er wollte also ein Vampir werden … Und warum solltest gerade du ihn verwandeln?«

»Weil es sonst keiner kann. Seine eigenen Bandvampire – also, damals gab’s ja Schmittchen eh noch nicht – sind zu jung, genau wie diese halbgaren Saltatio-Sauger. Außer mir ist nur Lex reif genug. Aber Lex ist Erics Freund und würde sowieso um nichts in der Welt die Zähne benutzen … also bleibe nur ich. Der Hecht wollte nicht kapieren, dass ich solche Entscheidungen gerne selber treffe. Meinte wohl, mich interessiert nicht, wen ich beiße oder verwandle. Ne, dem Michael ist ja auch sonst alles scheißegal.« Er knirschte mit den Zähnen. »Wenn er mit mir drüber geredet hätte, wär das was ganz anderes gewesen. Hätte man drüber reden können. Dann hätte ich ihm den Gedanken gleich ausgetrieben, weil es völlig bescheuert ist, so ohne jedes Wissen ein Vampir werden zu wollen. Aber mich einfach hinterrücks zum Blutsaugen zwingen und den Rest heimlich durchziehen wollen, das ist ja wohl der Gipfel der Respektlosigkeit! Gut, dass er es vor lauter Schlummifix-Verdummung nicht so schnell hingekriegt hat, unser Blut zu vermischen. Schon aus Prinzip werd ich mir das nie, nie mehr anders überlegen. Selbst wenn wir eines Tages die besten Freunde sein sollten, ich werde nie einen Vampir aus Eric machen. Trau dem nicht über den Weg.«

»… Verstehe …«

»Aber gut, heute hat er’s ja auch gerafft und ist froh, dass es nicht geklappt hat. Der würde sich eh die Karten legen, sobald er seine Familie überlebt hat«, grunzte Micha. »Ich frag mich nur, wieso seine Bandvampire aus ihm trinken. Das raff ich nicht. Beide! Und dieser Simon ist noch ein Baby! Was soll’n das?«

»Naja«, sagte Fritz vorsichtig, »vielleicht ist Eric einfach unfassbar lecker.«

»Aaaaach. Also, der schmeckt schon gut, ich meine, guck dir den an, man sieht ja, dass der nahrhaft ist. Der ist total gesund, steht gut im Futter und nimmt auch keine Medikamente. Aber abgesehen davon? Auch nicht so spektakulär.«

Michas spottender Ton verschwand, als er laut nach dem Rest des Teams rief. Schritte in der fernen Dunkelheit zeigten an, dass die anderen dabei waren, zu ihnen aufzuschließen.
 

Nach einer weiteren ermüdenden Probe setzten die Musikanten ihre Dudelsäcke ab und ließen sich einfach – wenn sie nicht ohnehin schon saßen – auf den staubigen Boden sinken. Glücklicherweise hatte Bock für alle Getränke kalt gestellt. Das Lockstück verlangte den Spielern viel Mühe ab.

»Wir sind gut«, sagte Pfeiffer zuversichtlich, »und ich bin sicher, wir können noch besser werden.«

»Ich hoffe nur, dass wir’s in dieser einen Nacht nicht bis zur Weltklasse schaffen müssen«, stöhnte Martin Ukrasvan. »Hat mal jemand die Uhrzeit?«

»Kurz nach Mitternacht«, beantwortete sein Kollege Castus die Frage.

Dann horchten alle auf. Im Flur ertönten Schritte. Viele Schritte.

»Sind die etwa schon zurück?«, fragte Flex zögerlich. »Ich denke, die sind kurz vor Radeberg …«

Behutsam wurde die Tür geöffnet. Niklas Löhse – den meisten bereits bestens bekannt als die Dresdener Kontaktperson von Fírinne – trat ein. »Ah, ich wusste doch, dass unsere Ohren uns nicht täuschen. Wie viele Spieler seid ihr?«

»Zwanzig«, antwortete Boris und starrte den jungen Dresdener an. »Wieso?«

»Weil ihr jetzt … dreiunddreißig seid«, antwortete Löhse. »Ich fürchte, ihr braucht einen größeren Proberaum.« Er stieß die Tür ganz auf, und hinter ihm kam ein Bündel Frauen und Männer zum Vorschein, sämtlich in der weißen, kleeblattversehenen Fírinne-Uniform. Jeder von ihnen trug Uilleann Pipes unter dem Arm.

»Haben wir überhaupt Lines für irische Säcke?«, fragte Alea.

»Ja, natürlich«, antwortete Boris grinsend.

El Silbador, mit dem Rücken an die kühle Wand gelehnt, musterte den Zuwachs fasziniert. Ein Lächeln stahl sich auf sein jugendliches Gesicht. »Dreiunddreißig«, hauchte er und konnte es kaum fassen. »… Geil.«
 

Hinter dem Eingang zur Stadt Radeberg hatte sich die Radeberger Landstraße in die Dresdener Straße verwandelt. Eine längere Strecke folgten die MIU-Ausgesandten ihr bis hinein in den Ort. Amboss hatte die Fährte wieder aufgenommen und trottete ausgelaugt vorneweg. Kurz nachdem sie das Polizeirevier Radeberg passiert hatten, endete die Spur. Zitternd vor Erschöpfung blieb der Bluthund stehen und legte sich dann quer über den Gehweg, um zu verschnaufen.

Falk sah nach links. »Irgendwie hab ich mir das gedacht.«

»Darf ich raten, wo wir sind?«, fragte Frau Schmitt.

Simon las bereits laut vor, was in goldenen Majuskeln über dem ausladenden, gut beleuchteten Gebäude zu lesen war: »Radeberger Exportbierbrauerei

»Eric hätt’s schlimmer treffen können«, fand Sebastian.

»Schlaue Kerlchen sind sie ja, diese Iren. Wahrscheinlich hocken sie im Keller, genau wie wir in Alfeld.«

»Dann stürmen wir diesen blöden Keller jetzt«, knurrte Ingo. »Los, rein da!«

»Ohne die Säcke?« Basti furchte die Stirn.

»Wir müssen ja nicht in die Vampire reinrennen. Wir gucken doch nur, wo die sind!«

»Langes Labern und Rumstehen macht unsere Feinde nur aufmerksam«, erinnerte Micha. »Also, wenn wir rein wollen, dann machen wir’s am besten gleich.«

Lasterbalk erteilte seine Zustimmung. »Alle bleiben zusammen!«, befahl er. »Wir machen keinen Lärm und greifen nicht an, ist des klar? Gut.«

»Was ist mit dem Hund?«, fragte Fritz und deutete auf den gähnenden Amboss.

»Der wird sich ’n Plätzchen zum Schlafen suchen. Wenn wir nachher in die Ultraschallpfeife pusten, ist er sofort wieder da. Und jetzt los. Aber leise

Dicht beieinander schlichen die zehn Ermittler über den Parkplatz der Radeberger Brauerei. Fritz sah reihenweise Paletten mit Stapeln der typischen Fünf-Liter-Fässer. Sie nahmen nicht den Haupteingang, sondern schlichen um das Gebäude herum – wo, an der Südseite, eine kleine versteckte Treppe tief hinunter und vor eine Tür zum Inneren führte. Natürlich war letztere verschlossen.

Lasterbalk rüttelte einmal vergeblich am Knauf und drehte sich nach hinten um. »Micha?«

»Nee, Fehlanzeige. Paul Frais hat meinen Universalschlüssel.«

»Ach? Ich frag mal besser net, wie das passieren konnte.«

»Schöne Scheiße«, hörte man Hampf grummeln.

»Könnt ihr sie nicht einfach eintreten?«, fragte Fritz.

»Natürlich, aber das würde sicher irgendeinen Alarm auslösen.«

»Ich hatte früher ein Gerät, um Türen schnell und geräuschlos zu öffnen. Ihr seid schon ein komischer Geheimdienst.«

Lasterbalk seufzte. »Na gut … Zähne. Wer will?«

»Immer der, der fragt«, erwiderte Falk höflich.

»Wusst ich’s doch. Aber du musst mir helfen, alleine pack ich das net. Und es wird nicht leise sein, also haltet euch bereit!«

Falk duckte sich unter Lasterbalk. Gemeinsam griffen sie nach dem Türknauf – was zu zweit nicht ganz einfach war – und verlagerten ihr Gewicht, um die schmale Fuge zwischen Tür und Rahmen bestmöglich zu vergrößern. Falk hielt diese Stellung nach bestem Vermögen, während Lasterbalk in die Knie ging und versuchte, mit seinen Fangzähnen den Türriegel auszuhebeln. Dies ging schneller als erwartet: Fast sofort brach der Riegel aus seiner Halterung und fiel klirrend auf den Boden hinter der Tür. Letztere schwang auf und erschlug beinahe Sugar Ray, der als Einziger nicht sofort zurückgesprungen war. Ingo zog ihn beiseite.

Als sich drinnen auch Sekunden später nichts rührte, atmeten alle auf. »War anscheinend halb so wild«, wisperte Silke.

Ein langer, dunkler Gang kam zum Vorschein. Von unten drang ein leises Summen herauf. Die Luft war sehr warm, aber irgendwie bewegt, als drehte sich in der Nähe ein Ventilator.

Vorsichtig holte Ingo seinen Sender hervor. »Boris? Elsi?«, flüsterte er.

»Was ist?«, fragte Yellow Pfeiffer.

»Hast du uns auf dem Schirm?«

»Ja, ihr seid … Heilige Scheiße, IN der Brauerei Radeberg? Sicher, dass ihr richtig seid?«

»Ja. Was ist denn hier drinnen alles?«

»Ähm – Sekunde … ah, ja: Ihr seid im Produktionsgebäude. Da sind die Filtrationsanlage, das Sudhaus, der Gärkeller und der Lagerkeller.«

»Gut. Danke.« Ingo sah sich nach den anderen um. »Fürchte, wir müssen uns aufteilen. Hinter den riesigen Fenstern an der Frontseite wird ja nichts sein, aber hier hinten ist’s bestimmt auch am Tag saudunkel.«

Lasterbalk nickte zustimmend. »Wenn ihr nix dagegen habt, greife ich mir Falk, Micha und Asp. Ihr anderen seid in der Überzahl. Stürzt euch auf den Keller. Vergesst net, auf eventuelle Marker zu achten.«

Damit trennten sie sich. Fritz heftete sich, da seine Bezugspersonen sämtlich die Gruppe verließen, an Simon. Dieser und Silvio waren die einzigen verbliebenen Vampire, und nur Simon konnte jedes Detail im Raum erkennen.

»Die denken echt, wir sind bescheuert«, knurrte Ingo, als er unmittelbar vor einer Tür mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN hohlen Boden unter den Sohlen spürte, sich bückte und unter einer staubigen Fußmatte eine Falltür fand. »Immerhin ist sie verschlossen.«

»Das lösen wir dann wohl«, folgerte Simon und meinte damit sich und Sugar Ray. »Also … Bitte alle Abstand halten.«
 

Kein Problem mit der Dunkelheit hatte jener Teil des Teams, der oberirdisch suchte. Zwar waren auch hier alle Produktionsräume abgedunkelt, doch Micha, Falk, Asp und Lasterbalk waren alle vier nachtsichtig und durchschauten buchstäblich die finstere Fassade, die alles schummrig umgab. Die Geräte arbeiteten auch nachts. Gleichmäßige, betäubende Geräusche irritierten das empfindliche Gehör der Vampire. Schließlich betraten sie den riesigen Raum, der die meisten dieser störenden Laute zu produzieren schien: die Sudwerkanlage. Hier wurde vorwiegend aus Malz und Hopfen jene Würzmischung zubereitet, die dem Radeberger Pilsener seinen charakteristischen Geschmack verlieh. Die Gerüche der diversen in den Sudpfannen kochenden Brühen waren stechend, und die vier Männer zögerten instinktiv.

»Hier sind mit Sicherheit keine Vampire, das würden die nie aushalten«, stellte Falk naserümpfend fest.

»Das zweifle ich net an … Hauen wir ab.«

»Irrtum!«, sagte plötzlich eine Stimme in der grünlichen Dunkelheit. »Hier ist Endstation, Freundchen!«

Zwischen den Kesseln, Bottichen und Tanks traten jäh Menschen hervor. Sie schienen wie aus dem Nichts in allen Raumecken aufzutauchen, erst wenige, dann immer mehr. Die vielen Gerätschaften hatten ihnen Gelegenheit gegeben, sich zu verstecken, und die starken Gerüche hatten ihre eigenen mit Leichtigkeit überdeckt. Die aussichtslose Lage erkennend, wollten die vier sofort den Rückzug antreten, doch auch zwischen sie und die Tür waren inzwischen Widersacher getreten. Selbstverständlich waren sie alle mit Pflöcken bewaffnet.

»Dumm gelaufen für uns«, fand Micha.

»Ich, ääh – ändere spontan meine Anweisung!«, rief Lasterbalk hektisch. »Macht Lärm

Sofort traf Michas Blick den von Asp. Gefasst sagte er: »Da hilft wohl nur eins: Jemand muss schreien.«

»Du oder ich?«, fragte Asp.

»Wir.«

»Du und ich?« Er grinste.

»Wer sonst?«

»Hihi.«

Synchron füllten sie ihre Lungen in einem tiefen Atemzug mit reichlich Luft. Die Mienen der umstehenden Pfähler wurden jäh unsicher. Einer flüsterte: »Sind die etwa alt genug, um –«

Diesen Satz konnte er nicht beenden, da im gleichen Moment Micha und Asp zu einem Schrei ansetzten, der die Gegner sämtlich mit brachialer Gewalt aus dem Weg fegte.

Schlafende Hunde

Um fast drei Uhr nachts fand Boris Pfeiffer, dass Fírinnes Sackspieler – sämtlich Teil eines Militärmusikkorps – ihren Part ausgezeichnet verinnerlicht hatten. Es hatte lange gedauert, ja, doch das Lockstück saß jetzt. Noch länger zu üben würde nichts bringen, außer dass es die Musikanten weiter ermüden würde und dass die MIU-Sucher noch länger sich selbst überlassen wären.

Um die Teilnehmenden als (wenn man es so sehen wollte) unbewaffnete Nicht-Kämpfer zu kennzeichnen, beschrifteten Boris und Elsi bunte Haftnotizen und klebten sie sich selbst und den anderen Musikern einfach über der Brust auf die Kleidung.

»Was steht da?«, fragte Luzi, sah an sich herab und legte die Stirn in Falten.

»Sackheer«, las Marco.

»Ach, Sackheer! Ich lese dauernd Sackhaar

»Dazu sag ich mal lieber nichts.«

Dr. Saltz wandte sich an Niklas Löhse: »Die siebzehn Kilometer bis Radeberg zu Fuß gehen können diese Leute nicht mehr, die sind alle viel zu müde. Wir haben leider nur drei Autos, da passt maximal die Hälfte der Spieler rein.«

»Oh, das macht nichts«, antwortete Löhse lächelnd, »wir haben zehn. Wollen wir dann los?«

Endlich also machte sich das Ablenkungskommando auf den Weg. Die Fahrt zur Radeberger Brauerei würde etwas länger als eine halbe Stunde dauern; diese Zeit nutzten die müden Männer und Frauen, um dösend auszuruhen. Die Nacht war kurz, und sie mussten unbedingt erfolgreich sein.
 

»Bwäh!« Van Lange fuhr zusammen, als das Geschrei bis in den feuchten Keller hinunter drang. »Wat röhren die denn so? Klingt wie zwei anjeschossene Hirsche. Vor allem Micha, dit alte Nebelhorn.«

»Meines Erachtens unverkennbar«, murmelte Ingo. »Das hellere wird Alex sein. Sollten wir uns Sorgen machen?«

»Ich glaube, nach so einem Löwengebrüll brauchen die uns nicht mehr«, bemerkte Silke stirnrunzelnd. »Lasst uns lieber weitersuchen.«

Fritz fand es seltsam, dass in diesen engen, schummrigen Gängen, deren Seiten auch noch mit unbrauchbar gewordenen technischen Geräten oder sonstigem schlecht erkennbaren Plunder zugestellt waren, niemand auf die sechs lauerte. Es war richtig ruhig in diesem Gewölbe gleich neben den zur Gärung und Lagerung genutzten Kellern der Brauerei. Wahrscheinlich wusste ein Großteil der Beschäftigten gar nicht, dass diese Katakomben überhaupt existierten – und dass Fiacail Fhola in ihnen nisteten.

Nach kurzem weiterem Weg hielt Simon die anderen plötzlich auf. »Pssst!«

»Was ist?«, zischte Ingo.

»Da hinten … vor einer grauen Metalltür … ist ein Wachposten.«

»Ein Vampir?«

Simon wagte sich, um darauf antworten zu können, vorsichtig ein paar Schritte weiter und reckte schnüffelnd die Nase vor. »Jaah … ein Vampir … und – unglaublich, der pennt …«

»Im Ernst?«, hakte Ingo belustigt nach. »Was für’n Trottel.«

»Es muss die Nächte über sehr ruhig hier unten sein«, vermutete Frau Schmitt.

»Wahrscheinlich … Können wir ihn überwältigen?«

»Glaub schon«, antwortete Simon. »Willst du das machen, Ingo? Ich komm mit, falls er doch aufwacht.«

Die beiden Männer schlichen vorsichtig los. Simon, eine Hand auf Ingos Schulter, blieb dem menschlichen Kollegen dicht auf den Fersen. Fritz beobachtete, wie die beiden im Dunkeln immer schlechter zu sehen waren, als würden sie nach und nach von schwarzer Gaze verhüllt.

Hampf zog geräuschlos seinen Pflock und sammelte sich. Als er direkt vor dem leise schnarchenden Vampir stand, der schlaff an die Wand gelehnt war und aus dessen Mundwinkel ein dünner Speichelfaden hing, hob er langsam den Arm.

Der schlecht rasierte Mann erwachte. Schlaftrunken blinzelte er der drohenden Pflockspitze entgegen und schien erst gar nicht zu begreifen, was passierte. »Ihhhhggg …«, machte er und bemühte eine Hand empor, um sich die Augen zu reiben.

»Es ist nicht gut, bei der Wache zu pennen«, belehrte Ingo ihn kalt, dann stieß er wohl koordiniert zu. Und zog den Pflock sofort wieder heraus.

Der Mann brachte ein paar undeutliche Laute heraus, die Augen kaum weiter geöffnet als zuvor, und sank dann langsam an der Wand zu Boden, wobei er einen breiten, feucht glänzenden Streifen auf ihr hinterließ.

Ingo bückte sich, tastete in der Kehlgrube nach dem Puls und fand keinen. Er nickte Simon zu, der daraufhin energisch die anderen heranwinkte.

Hinter der Metalltür, die sich nur sehr schwer von der Stelle bewegen ließ, befand sich ein großer, recht hoher Raum, der mit Apparaturen vollgestopft war: Schwarze Monitore, ruhende Messzeiger. Fritz fragte sich, was hier für gewöhnlich so akribisch überwacht und aufgezeichnet wurde – dann sah er die Lautsprecher in den vier Zimmerecken, jeder einen halben Meter hoch und mindestens dreißig Zentimeter breit.

»Ein Audiolabor«, wisperte Hampf. »Seht ihr? Lauter Anschlüsse, Kabel und Konnektoren. Wahrscheinlich können sie hier alles messen: Tonfrequenzen, Hirnströme, Herzschläge … Hier haben sie an ihrem Lied geschraubt, um es möglichst tödlich zu machen. Eff Eff und diese armen kleinen Scheißer von Snowine!«

Die anderen schwiegen beklommen; unsicher ließen sie ihre Blicke durch den Raum gleiten. Die Wände waren unverzimmert, die karge Einrichtung nebst den Geräten wirkte kalt und steril. Silke betastete einen kleinen Schalter, der samt Kabel säuberlich mit Duct Tape in Handhöhe an die Wand geklebt worden war. »Darf ich ausprobieren, ob das ein Lichtschalter ist?«, fragte sie.

»Mach, vielleicht sehen dann alle was«, ermunterte Simon sie.

Frau Schmitt betätigte den Schalter; daraufhin sprang flackernd an der Decke eine grelle Glühbirne an, deren Zuleitungen ebenfalls unverkleidet über den rohen Beton liefen. Doch es geschah noch mehr: Ein vielstimmiges Summen setzte ein, wurde lauter und höher, als nähmen mehrere elektrische Geräte den Betrieb auf; die Monitore schalteten sich ein, die Messfühler erwachten zitternd zum Leben, überall gingen kleine Lichter an und blinkten Zahlen auf. Aus den vier Lautsprechern drang ein Ton hervor, so tief, dass er nur als Vibration im Boden wahrzunehmen war.

Verunsichert drängten die sechs sich in der Mitte des unheimlichen Raumes zusammen. Selbst Frau Schmitt machte einen Schritt zurück, beließ aber geistesgegenwärtig einen Finger auf der Taste.

»Selbstzerstörung in zehn Sekunden!«, kam es von Simon in der Hoffnung, die Situation etwas aufzuheitern, aber niemand kicherte auch nur.

»Sieh an, ein Universalschalter«, brummte Hampf.

Fritz konnte nun den ganzen Inhalt des Zimmers überschauen, da alles in das weiße, ungedimmte Licht getaucht war. An der Raumseite, die der schweren Eingangstür gegenüber lag, stand ein leerer Stuhl; Sitzfläche und Armlehnen waren mit dunklem Kunstleder bespannt, zudem waren im Bereich der Hand- und Fußgelenke des Sitzenden starke Riemen angebracht, die sich festzurren und verschnallen ließen. Wer auch immer auf diesem Stuhl Platz nahm, würde ihn offensichtlich rasch verlassen wollen – und es nicht können. Auf der Sitzfläche lag ein Paar geschlossener Muschelkopfhörer mit Fixiervorrichtung.

»Sie haben das Lied auf jede erdenkliche Art an den Opfern ausprobiert«, flüsterte Simon. »Fritz … war es auch so, als du und Alea … beschallt wurdet?«

Ratlos schüttelte Fritz den Kopf. »Bei uns hatten sie nur die Lautsprecher … und gefesselt wurden wir auch nicht. Es wurden einem nur Messelektroden auf die Stirn und die Innenseiten der Handgelenke geklebt, um unsere Reaktionen auf die Musik zu messen. Hirntätigkeit, Pulsfrequenz, Schweißabsonderung, Blutdruck … solche Sachen.«

»Hat ein Vampir euch gekostet?«

»Nein. Ich glaub, die wissen gar nicht, dass man nach dem Hören des Liedes nach Panik schmeckt.«

Die anderen sahen unangenehm berührt beiseite. Nur Sugar Ray hatte die Nase gehoben und zerlegte augenscheinlich den metallischen Geruch des Raumes in seine Einzelnuancen. Plötzlich knirschte er »Hier lang« und setzte sich in Bewegung, wobei er nicht einmal die Hände vorstreckte, um sich zu orientieren. Zielsicher bog er um den großen Klotz an blinkenden Apparaturen herum, der die Sicht blockiert hatte und hinter dem der Raum offenbar nach rechts noch weiterging – und blieb stehen.

»Heiliger Scheiß!«, stieß Ingo hervor, sobald er ihn eingeholt hatte.

Fritz beeilte sich hinterherzukommen. Als er auf dem Boden Blut sah, wollte er zuerst schnellstmöglich die Augen zusammenkneifen; dann jedoch zwang er sich hinzusehen.

Sie hatten Eric gefunden. Er saß zusammengekauert auf dem kalten Boden, den Rücken an die Wand gedrückt und den Blick gesenkt. Seine Schultern zitterten leicht, doch er atmete ruhig. Als Ingo einen Schritt auf ihn zu machte, glitten die Augen des Sängers zu ihm hoch und offenbarten einen zwar nicht panischen, aber dennoch verstörten Blick. Er war im gleichen Moment erstarrt und regte keinen Muskel, als wäre er mit dem Erscheinen seiner Retter ziemlich überfordert.

»Die Geräte«, wisperte Simon. »Wahrscheinlich ist er schon drauf konditioniert, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn die Stromversorgung angeht. Geht schnell, so was.«

»Guckt euch seine Ohren an!«, zischte Ingo. Damit meinte er den Umstand, dass aus Erics Gehörgängen Blut gesickert und dort getrocknet war; es war auch an Kiefer und Halsseiten entlanggelaufen und geronnen. Was aber fast noch schlimmer war: Sein linker Handrücken war ein Bild der Zerstörung, ebenfalls voller Blutreste, aus denen verkrustete Wundränder ragten. »Ach du Kacke … Um die Spur für uns zu legen, hat er sich die oberen Venen aufgebissen! Wahrscheinlich immer wieder!«

»Ich glaub, ich kotz gleich«, murmelte jemand.

Für Fritz war das endgültig zu viel. Allein die Vorstellung zwang ihn auf die Knie: Stumpfe Menschenzähne, die minutenlang damit kämpften, feste Blutgefäße aufzureißen, dabei an der Haut rissen und an den Handknochen vorbeischrammten … Fritz kroch auf allen Vieren beiseite, ehe ihm auch schon saurer Magensaft hochkam. Nur gut, dass er so spät nachts nichts mehr im Bauch hatte.

Während Sebastian und Silke sich neben ihn knieten, ohne dabei Eric aus den Augen zu lassen, näherten sich Simon und Ingo vorsichtig dem so lange Vermissten. Eric starrte sie an, als überlegte er fieberhaft, ob seine langjährigen Bandkollegen vielleicht nur eine Erscheinung waren.

Ingo wandte sich an Simon: »Ich glaube, um wieder runter zu kommen, hat er ’nen Biss bitter nötig. Sei aber vorsichtig, er wird sich bestimmt wehren.«

Simon nickte und ging in die Knie. Voll konzentriert pirschte er sich an Eric heran, ganz wie das Raubtier, das er war. Als er ihm so nahe war, dass beide zweifellos schon den Atem des anderen auf der Haut spüren konnten, teilte er die Lippen und fuhr mit leisem Klicken seine Fangzähne aus ihren Taschen. Ganz leise, mehr gehaucht als gesprochen, sagte er in das blutige Ohr: »Eric, du musst mir erlauben, dich zu beißen … Hast du gehört? Nick einfach, wenn ich darf …«

Auf diese klare Botschaft hin zuckte Eric zusammen und blinzelte wild. »Nicht«, wisperte er. »Nicht beißen, Simon. Nicht beißen.« Nunmehr schien er das Ringen gegen sein Misstrauen gewonnen zu haben und gab sich der Erkenntnis hin, dass man ihn tatsächlich befreien gekommen war. Seine Mundwinkel bewegten sich schwach nach aufwärts. »Voll gut, euch zu sehen.«

Skeptisch wich der junge Vampir zurück. »Erkennst du uns? Weißt du, wo wir sind?«

Eric schluckte und nickte mühsam. »Leider ja.« Seine Stimme klang schwach und dünn. »Ich – ich kann euch den Weg zeigen … zu Paul Frais. Deshalb darfst du mich nicht beißen … denn dann kann ich euch nicht hinbringen. Ich muss … noch denken können.« Fahrig tasteten seine Hände an Wand und Boden, um sich abzustützen, doch es ging nicht. Er konnte nicht aufstehen. Frustriert sog er die klamme Luft ein. »Blutfessel«, knirschte er. »Ich hab die Anweisung, mich hier nicht weg zu bewegen.«

»Dann tragen wir dich«, bot Simon sofort an. »Silvio?«

Ingo führte den sehunfähigen Kollegen heran, damit er und Simon Eric aufheben konnten.

Letzterer nahm sichtlich bestürzt die Blindheit des älteren Vampirs zur Kenntnis. »Das … war ich, oder?«

»Geht vorbei«, besänftigte ihn Sugar Ray. »Paar Tage, dann ist das weg. Kann schon wieder hell und dunkel unterscheiden.«

Erleichtert darüber, Eric lebendig und halbwegs in einem Stück aufgefunden zu haben, machte sich dieser Teil des Teams auf den Weg zum Lager von Paul Frais. Wieder im Kellergang, begann Eric sie zu lotsen.

»Eins noch«, fragte Ingo mitten in die konzentrierte Stille hinein, die nur vom feuchten Widerhall ihrer Schritte durchbrochen wurde, »wenn die dich die ganze Zeit mit ihrem tödlichen Lied beschallt und immer wieder die Frequenzen modifiziert haben … Wie kommt es dann, dass du überhaupt noch lebst?«

»Kann ich nicht sagen«, seufzte Eric. »Ich fürchte, ich bin einer von den wenigen Menschen, auf die das Stück einfach keine letale Wirkung hat. Genau das hat mich für Fiacail Fhola ja so interessant gemacht. Ich bin … einfach immun. Passiert nun mal. Irgendjemand ist immer gefeit. Frais weiß, dass er nicht ausnahmslos alle Menschen mit der Musik töten kann, und hat an einer … Abhilfe gearbeitet.«

»Aber sie haben es bisher nicht geschafft, das Lied so zu verändern, dass es dich tötet«, schloss Ingo. »Mann, da haben wir wohl Glück.«

Eric stimmte murrend zu. »Ein, zwei Tage später … dann wären sie vielleicht auf den Trichter gekommen.«

Mit einem Seufzen griff Hampf in die Tasche und holte den Sender hervor. »Na gut, ich werde unsere Zentrale mal auf den neusten Stand bringen.«
 

Boris Pfeiffer saß auf dem Beifahrersitz des Dark Knight, den Laptop auf dem Schoß und ganz Ohr. Was ihm da berichtet wurde, war ungemein erleichternd. Außer ihm im Wagen saßen Marco und André, letzterer hinter dem Lenkrad. Boris berichtete, was ihm zugetragen wurde. »Sie haben Eric. Nicht unversehrt, aber lebendig.«

»Immerhin«, schnaufte Py. »Dann sind ja jetzt alle wieder vereint.«

Flex, der auf dem Rücksitz gedöst hatte, hob schläfrig ein Augenlied. »Wir werden da einschlagen wie ’ne Bombe und dann ist endlich Ruhe im Karton«, brummte er. »Wie weit ist’s denn noch?«

»Viertelstunde«, antwortete Pfeiffer mit Blick auf Google Maps. »Hoffentlich klappt alles. Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber ich hatte noch nie so viel Lampenfieber vor ’nem Auftritt.« Zum wiederholten Male schaute er unbehaglich über die Schulter zur Rückscheibe.

Py rollte die Augen. »Boris, lass endlich den Verfolgungswahn. Die anderen holen uns nicht so schnell ein. Fírinne haben Erfahrung, die passen schon auf, dass unsere dreizehn Karren da nicht wie ein Konvoi ankommen.«

»Das will ich hoffen. Frais hat bestimmt Späher rund um die Brauerei postiert. Wenn wir auffallen, bevor wir drinnen sind, können wir die Aktion vergessen.«

»Jaah, jaah. Und wenn sich jeder von uns so ins Hemd macht, dann auch.«

Pfeiffer sah zur Seite. Er gefiel sich nicht in der Rolle des Panikschiebers. »Ich hab nur das Gefühl, als Supervisor müsste ich mich auch noch um diesen Scheiß kümmern.«

»Njet. Der Scheiß, um den du dich kümmern musst, liegt auf deinem Schoß. Los, mach was Sinnvolles und gib Micha bescheid«, ermunterte ihn André.

Boris nickte und ergab sich. »Hast Recht. Bin dabei.«
 

»Micha?«

»Boris? Ich hör dich.«

»Das andere Team hat Eric gefunden.«

»Oh, schön.«

»Wo seid ihr?«

»Wir sind gerade durch die Filtrationsanlage gewetzt. Hier oben ist nichts. Werden jetzt versuchen, zu den anderen zu stoßen.«

»Ja, beeilt euch. Eric führt sie zum Lager von Eff Eff, ihr müsst sie einholen. Haltet nach einer offenen Falltür Ausschau und folgt einfach dem Gang. Ich sage den anderen, dass sie Marker anbringen sollen.«

»Okay. Wir melden uns.«

»Viel Erfolg.«
 

Etwas angewidert rieb Van Lange die Unterseite seines Armes, über dem er den Ärmel zurückgezogen hatte, in Nasenhöhe an der feuchten Kellerwand. »Nass, kalt und glitschig wie in ’nem Krötenarsch ist dit hier«, beschwerte er sich. »Aber ick seh ein, dass die anderen ’ne Spur brauchen. Ist ja verwirrend hier unten.«

»Da hinten«, sagte Eric schwach und versuchte vergeblich, mit dem Finger geradeaus zu zeigen. Dort versank der Gang in undurchdringliche Dunkelheit. »Hinter der Tür …«

»Ist die verschlossen?«, wollte Silke schon vorab wissen.

»Nein … Die rechnen absolut nicht damit, dass ihr herkommt … Die haben mir höhnisch erzählt, dass ihr euch wie Kaninchen in euren Bauen verstecken würdet.«

»Ach? Ich würde sagen, wir sind ziemlich vorwitzige Kaninchen.«

»Sie haben allerdings«, fuhr Eric mühsam fort, »Menschen als Wachen abgestellt … oben, in der Brauerei. Nur für den Fall.«

Basti kicherte. »Wir haben bis hier unten jehört, wie Micha und die anderen mit denen fertig jeworden sind.«

Als die Eindringlinge in die Finsternis abtauchten, verlangsamten sie ihren Schritt. Simon übergab seinen Teil der Last an Ingo und trat an die Spitze. Alle bemühten sich, möglichst geräuschlos zu gehen. Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, breitete Simon die Arme aus, um die hinter ihm Gehenden sanft aufzuhalten.

»Hier ist die Tür«, wisperte er. »Ich mach sie jetzt auf. Pfähltrupp bitte hinter mich!«

Kurzes, schweigendes Gewusel deutete darauf hin, dass das Sturmkommando sich umsortierte: Silvio und Ingo legten Eric behutsam im Gang ab, und Ingo umfasste stumm seinen Pflock; Sebastian löste die Armbrust aus ihrer Tragevorrichtung über seiner Schulter und schaltete das kleine, blendende Licht zur Zielsuche ein; Fritz klammerte sich an seine Natron-Kanone, obwohl er nicht wusste, ob sie ihn im Notfall retten würde. Sugar Ray und Frau Schmitt traten ans Ende des Zuges zurück.

Als alle ruhig standen und bereit waren, drückte Simon vorsichtig die rostige Klinke herunter.
 

Die vier Nachzügler-Vampire waren mittlerweile durch die Falltür geklettert. Nun suchten sie nach Spuren; Falk hielt seine Nase beim Gehen dicht an die rechte Wand, Micha seine an die linke.

»Hast du schon was?«

»Nee.«

»So weit können die doch gar net sein!«, zischte Lasterbalk.

Keine drei Sekunden später blieb Falk stehen und beroch die Wand. »Hier! Das Schwitzwasser hat den Duft fast abgewaschen, aber das ist Sebastians Marker, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Lass mich das mal prüfen«, forderte Micha und schob Falk beiseite. Allerdings lieferte auch seine Nase keine neue Erkenntnis: »Okay, Treffer, das ist Basti.«

Lasterbalk spitzte die Ohren. »Habt ihr des gehört? Hier ist irgendwas in der Nähe. Da hinten, wo’s so dunkel wird.«

»Ich staune«, bemerkte Asp, als er versuchte, am Ende des Tunnels etwas zu erkennen. »Es ist so was von finster, man erkennt rein gar nichts!«

»Ja, aber … war da nicht gerade ein Licht … wie von einer Armbrust …?«

»Was haltet ihr von Nachgucken statt Blubbern?«, knurrte Micha und ging dann einfach drauf los. Nach anfänglichem Zögern kamen die anderen nach.
 

»Krass!«, hauchte Simon, als vor ihm die Tür – Gott sei Dank völlig lautlos – aufgeschwungen war. »Kommt, das müsst ihr sehen!«

Fritz wollte ihm folgen, blieb dann aber erschrocken stehen, als sein Blick ins Innere fiel. Sie standen auf der Schwelle zu einer recht niedrigen, aber überaus großflächigen Halle. Präzise in der Mitte der Decke gähnte ein Lüftungsschacht von mindestens einem Meter Durchmesser, und durch ihn fiel fahles Mondlicht in den großen Raum und beleuchtete silbern das, was sich darunter befand: ein Vampirlager. Wie im Schlafsaal einer Notunterkunft lagen die Körper aufgereiht wie an mehreren Perlenketten, alle im gleichen Abstand zueinander, zum Teil ganz verbuddelt in Massen von bleichem Stroh. Ja, sie hatten das Versteck der Fiacail-Fhola-Vampire gefunden – und selbige gleich dazu, in ihrem verletzlichsten Zustand.

»Das raff’ ich nicht«, machte Ingo seiner Verwunderung Luft. »Es ist mitten in der Nacht! Warum pennen die? Eff Eff sind doch nachtaktiv, die vertragen die Sonne nicht!«

»Vielleicht haben sie jetzt eine Möglichkeit gefunden«, mutmaßte Frau Schmitt, »und wollten damit uns überraschen, indem sie am hellichten Tage über uns herfallen … wenn wir nicht mit ihnen rechnen.«

Angesteckt von diesem Gedanken begann Hampf leise und hysterisch zu lachen. »Na, wie geil ist das denn! Und wir gehen hier bis an die Zähne bewaffnet rein, weil wir denken, die sind alle putzmunter und warten auf uns! Aber genau das Gegenteil ist der Fall! Die wollen uns überfallen, wenn wir nicht damit rechnen – aber jetzt ist es genau umgekehrt, und dabei hatten wir’s nicht mal geplant! Hahaha, das ist echt der Hammer!«

»Pssst«, machte Simon ruhig, »wir wollen uns den Vorteil nicht versauen, indem wir jemanden wecken! Die Frage ist: Was fangen wir jetzt an mit der Situation? Gibt es eine Möglichkeit, viele Vampire auf einmal im Schlaf zu töten?«

»Jaah«, murrte Lange, »’nen Vexecutor! Aber nööö …«

»Ich würde sagen, wir schleichen uns rein und pfählen drauf los«, schlug Ingo vor. »Klar werden die dann wach werden, aber bis die richtig zu sich kommen, haben wir vielleicht schon ein Viertel oder sogar mehr erledigt.«

»Klingt noch am sinnvollsten«, stimmte Simon zu. »Dann machen wir das jetzt … Also … Alle ganz leise! Auf drei: Eins … zwei … dr–«

»Halt!«, wisperte Frau Schmitt.

Simon hielt bereits von selbst an, denn er hatte es längst gesehen: Auf einen leisen, aber penetrant brummenden Vibrationsalarm hin hatte sich eine dünne, blasse Vampirin wackelig auf ihrem Strohlager aufgesetzt und rieb sich nun erst einmal ausgiebig die Augen, bevor sie sämtliche knochigen Glieder der Reihe nach von sich streckte.

»Auch das noch … Das ist bestimmt die Wachablösung – für den Vampir, den ihr vor der Labortür gekillt habt!«, jammerte Fritz. Er wusste schon gar nicht mehr wohin mit seiner Angst.

Grummelnd bekundete der Rest seine Zustimmung zu dieser Theorie.

»Noch hat sie uns nicht gesehen … Zieh vorsichtig die Tür ran, Schmittchen, dann lauern wir ihr auf.«

Simon tat, wozu Ingo ihm geraten hatte, und alle traten von der Tür zurück. Silvio und Silke knieten sich zu Eric, um ihn notfalls aus der Schusslinie zu halten. Dann wurde von innen die Tür geöffnet, und schlaftrunken schlurfte das magere Mädchen in den Flur hinaus.

An dieser Stelle hätten sich viele Möglichkeiten für Pannen eröffnet. Doch Simon und Ingo agierten schon so lange im Team, dass sie auch jetzt wie lange geplant die Gedanken des anderen zu lesen schienen. Simon packte die Erschrockene und presste eine Hand auf ihren Mund, sodass der Schrei, den sie ausstoßen wollte, als Ingos Pflock zustieß, ihr im Hals stecken blieb. Das Geräusch war unschön. Simon ließ den Kopf der Frau vorsichtig los, sodass ihr Körper beinahe lautlos zu Boden glitt.

»Sauber!«, lobte Basti.

Erneut versammelten sich alle – über die Leiche steigend und versuchend, nicht auf ihrem Blut auszurutschen – und warteten darauf, dass Simon die Tür ein zweites Mal öffnen würde. Dann jedoch erlebten sie eine Überraschung: Als Simon die Finger um den Türgriff gelegt hatte, stieß sie bereits jemand auf und stürzte dem überraschten Pfählkommando entgegen. Es war ein kräftiger Vampir mit kurzen schwarzen Haaren.

»Sarah!«, klagte er. »Whate’er I said last night, I swear I – … Whadd’e fuck?!«

Sofort fing er sich, weit eher als die MIU. Er sah die vielen Angreifer, die Pflöcke in ihren Händen und natürlich Eric auf dem Boden, den befreiten Gefangenen. Und er reagierte. Warf die Zähne aus, schlug sie in das erste, was er erwischen konnte – es war ausgerechnet Frau Schmitts Hals – und sprang dann tobend an den Übrigen vorbei. Diese reagierten um ein Haar zu lahm. Ingo griff ins Leere, Silvio fing Frau Schmitt auf. Als der Vampir panisch davon stürmte, legte Basti noch hoffnungsvoll mit der Armbrust an, drückte ab – und hatte das Gefühl, etwas getroffen zu haben.

»Basti, das Fluchen klang ein bisschen zu deutsch!«, grollte Ingo und rannte los.

Silke Volland war, durch das Vampirgift außer Gefecht gesetzt, neben Eric zu Boden gesunken; Simon und Sugar Ray umsorgten sie sofort und kümmerten sich um die Bisswunde.

Fritz folgte Ingo und Sebastian und sah in der Ferne deutlich mehr als nur eine Gestalt auftauchen.

Soeben ließ Falk den zusammengesackten flüchtigen Vampir zu Boden sinken, den er offenbar erwischt und gepfählt hatte – auch hier triumphierte das Überraschungsmoment. Lasterbalk indes versuchte gerade mit zusammengebissenen Zähnen, durch gleichzeitiges Drehen und Ziehen Van Langes Armbrustbolzen aus seinem linken Oberarm zu entfernen.

»Mann, ihr Deppen, könnt ihr net ordentlich zielen?«, schnaufte der große Mann. »Boah, Scheiße, tut das weh!« Asp und Micha hatten an seiner Rückseite die Pfeilspitze abgebrochen und zogen nun gemeinsam den blutigen Schaft vorsichtig heraus.

»Balken, der war nicht für dich!«, versicherte Lange sofort

»Jaja, ist mir klar! Tut trotzdem weh!« Lasterbalk leckte die Wunde hektisch, denn sie blutete nun ziemlich stark.

Fritz machte wieder kehrt. Egal in welche Richtung er nun schaute: Blut war überall. Seufzend lauschte er, wie beide Teile des Spurenteams wieder zusammenkamen und sich gegenseitig über die Sachlage informierten. Dann fanden sich alle erneut vor der Tür zum Vampirnest ein.

»Okay«, flüsterte Lasterbalk, der seine Verletzung nunmehr so optimal versorgt hatte, wie ein Vampir es eben konnte, und vorerst nicht mehr von Schmerzen oder Blutungen behindert wurde. »Silvio, Eric und Silke bleiben draußen, und wir versuchen, die Sache drinnen zu erledigen. Wir sind jetzt so viele Pfähler, dass wir’s packen könnten. Auf geht’s!«

Ein drittes Mal wurde also zum Angriff geblasen. Die Bestienjäger umfassten ihre Waffen.

Doch auch diese Attacke gelang nicht. Kaum war der Entschluss gefasst und Simons Hand nach der Tür ausgestreckt, als wie aus dem Nichts plötzlich ein lächelnder Paul Frais erschien. Er trat der Gruppe einfach entgegen – durch die geschlossene Tür hindurch.

Augenblicklich packte alle der Schrecken. Die Männer taumelten zurück.

»Ich hab doch gesagt, er geht durch Wände!«, rief Simon schrill. Der Pflock zitterte in seiner Hand. Diesmal widersprach ihm niemand.

Frais lächelte höflich. »Guten Morgen. Na, da habe ich ja noch mal Glück gehabt! Ihr seid ganz schön vorwitzig, mit einer Handvoll Mann gegen einen ganzen Keller voll in den Krieg zu ziehen. Ich habe wirklich gedacht, ich hätte euch genug eingeschüchtert.« Ein MIU-Vampir nach dem anderen wurde von Frais’ kritischem, herablassendem Blick abgetastet. »Unglaublich, wie alt ihr geworden seid!«, stellte er nicht ohne Faszination fest. »Ich hätte nie gedacht, dass ihr es zulassen würdet, so verdammt alt zu werden! Umso eher sollte ich diese Chance nutzen. Wenn ihr erst mal eure Kapellen überlebt habt, werdet ihr so schnell wie möglich wieder jung werden und woanders weitermachen – glaubt ihr, das wüsste ich nicht?« Er schürzte die Lippen. »Wie habt ihr überhaupt hierher gefunden, wenn ich fragen darf?«

»Das spielt für dich jetzt keine Rolle mehr«, verwies Ingo ihn mutig. »Wir haben dich sozusagen mitten in deiner Operationsbasis umzingelt!«

Frais, durch diese Antwort nicht gerade befriedigt, musterte weiterhin einen nach dem anderen mit seinen intensiv strahlenden Augen. Schließlich entdeckte er auf dem Boden Eric, der hasserfüllt zu ihm aufsah. Und Frais ging ein Licht auf. »Ah! Ich verstehe – deine aufgebissene Hand! Ich habe das für eine stressbedingte Autoaggressionshandlung gehalten, wie man sie oft bei Menschen in psychisch belastenden Situationen beobachten kann. Ein eingesperrter Vogel, der sich die Federn rupft. Wäre ja verständlich gewesen, nachdem du deine eigenen Leute angreifen musstest. Aber gut, ich habe dich wohl unterschätzt.« Gleichgültig hob er die Schultern. »Ist ja jetzt auch egal. Ich habe schon zwei meiner Abkömmlinge losgeschickt, um von der anderen Seite diesen Gang fangzahnsicher zu verriegeln. Wir brauchen diesen Teil des Kellers nicht unbedingt, es gibt andere Wege. Also mache ich dasselbe jetzt mit dieser Tür hier. Für mich ist sie kein Hindernis. Nun denn, MIU-Leute: Willkommen in eurem Gefängnis! Es wird euer letztes sein. Nach einer guten Woche ist keiner von euch mehr am Leben. Ich werde hin und wieder vorbeischauen, um die Show zu genießen – etwa, wie ihr das Schwitzwasser von den Wänden leckt. Später dann natürlich, wie sechs hungernde Vampire sich in der Wahnphase auf fünf Menschen stürzen und sie in ihrer Not bis auf den letzten Tropfen leertrinken, nach und nach. Vielleicht werdet ihr euch ohnehin so sehr in die Haare kriegen, dass die Beißhemmung schon vorher ausfällt. Das wird wunderschön. Ich liebe den Kampf sogenannter kultivierter Vampire gegen ihre animalische Natur – besonders die Stelle, wenn sie endlich verlieren.« Mit entschuldigendem Lächeln machte Frais einen großen Schritt rückwärts, der ihn wieder durch die Tür beförderte. Direkt nach seiner Passage klickte die Tür mit lautem, schwerem Ton; ein Schlüssel drehte sich mehrfach, dann wurden knirschend fünf Riegel von oben bis unten vorgeschoben. »Bis bald!«, flötete Frais von außerhalb. Was folgte, war Stille.

Dudelschlacht

Yellow Pfeiffer, der auf dem Beifahrersitz ein bisschen gedöst hatte, erwachte schlagartig, als ihm jemand durch das Sprechgerät ins Ohr brüllte.

»Heeey, Zentrale! Alarmstufe rot!«, dröhnte Ingo. »Bringt irgendwas zum Aufbrechen von Türen mit! Und rechnet mit Widerstand! Paul Frais hat uns gefunden – und das ganze verfickte Nest geweckt! Er hat uns in dem Zugang, den wir genommen haben, eingesperrt und wartet darauf, dass wir uns gegenseitig umbringen. Den Gefallen wollen wir ihm nicht tun, egal wie lange er wartet. Also macht euch nützlich!«

»Ach, Scheiße!«, knurrte Boris. »Okay, wir sehen mal, was wir da machen können.« Er warf das Headset ab, schnallte sich los und krabbelte halb über die Rückenlehne.

»Hey, hey, ich fahre noch!«, erinnerte Dr. Pymonte ihn alarmiert. »Da vorne ist doch schon die Brauerei! Warte noch ’ne Minute!«

»Nein, ich will jetzt aber nicht warten!«, widersprach Boris vehement und rüttelte an Flex, der während der letzten Minuten tief eingeschlafen war und nur langsam wieder zu sich kam. »Marco, wach auf! Versuch an den Kofferraum ranzukommen! Los, los, Augen auf!«

Marco blinzelte ihn verständnislos an. »Wo sind wwww… Was ist denn passiert …?«

»Häng dich über die Rückenlehne und angel dir den Trennschleifer! Der muss in den Baumwollkittel gewickelt sein, zusammen mit der Schutzbrille!«

»Ich vergesse immer, wie viel nützliches Zeug wir im Auto haben … Hm, okay, mal gucken …« Marco tat, wie ihm geheißen, auch wenn ihm der Sinn nicht ganz klar war. »Das Ding haben wir doch seit zehn Jahren oder so nicht mehr gebraucht … Ich weiß gar nicht, ob da noch Sprit drin ist …«

»Doch, doch, bestimmt. Und wenn nicht, ist da ja noch irgendwo ein Benzinkanister.«

»Ja, aber halb leer.« Mühsam kroch Flex über den mittleren Rücksitz und fischte das schwere Handgerät samt Schutzausrüstung aus dem allgemeinen Chaos, das den Kofferraum des Dark Knight ausfüllte. Der Trennschleifer war schmierig und seine Hülle eingestaubt, was keine gute Kombination abgab. Angewidert wischte Marco sich die Finger an dem fleckigen Schutzkittel ab. »Okay, hab ihn …«

»Gut, dann mach ihn mal startklar.«

»Wehe, ihr probiert das Ding hier drinnen aus!«, drohte André, während er den Opel schwungvoll auf den Parkplatz lenkte. »Übrigens, lieber Boris: Jetzt wäre es mal Zeit für eine Erklärung! Was bitte ist passiert?«
 

Vor der Brauerei versammelte sich die dreiunddreißig Mann starke Dudelsackkapelle. Noch immer war der Himmel schwarz, obwohl schon die ersten Autos vorüber fuhren. Wenn demnächst die Frühschicht im Radeberger-Produktionsgebäude mit der Arbeit beginnen würde, hätte die MIU ein Problem; die Musikanten mussten das Blatt rasch wenden. Aufgeregt bereitete ein jeder sein Instrument vor.

El Silbador übernahm von Boris Laptop und Headset, nachdem er über die Sachlage unterrichtet worden war. Sofort beruhigte er die Eingesperrten: »Macht euch nicht nass, wir kommen jetzt rein. Haben Werkzeug, um euch zu befreien.«

»Gut«, schnaufte Ingo zur Antwort. Er klang alles andere als geduldig. »Wir haben schon gerüttelt wie die Bekloppten, das muss eine richtig harte Sperre sein!«

»Ja, ja. Bleibt cool.«

Über den Weg, der ihnen beschrieben worden war, drangen die Musikanten gesammelt in das Gebäude ein. Die rückseitige Tür stand noch offen, doch es dauerte, ehe alle sie passiert hatten. Die Falltür war nun fest verschlossen: Insgesamt vier eiserne Riegel hielten sie an ihrem Platz.

»Kleinigkeit«, brummte Py, der von allen den Trennschleifer am besten handhaben konnte. Rasch warf er sich den Körperschutz über. »Bitte alle zurücktreten!«

Mit nervötendem Lärm begann die Maschine zu arbeiten. Funken stoben in alle Richtungen. Etwa zwei Minuten später waren alle Riegel durchtrennt und die Luft erfüllt von undurchsichtigen Abgasen.

»So, na bitte.«

»Leute!«, rief Wim, der ganz hinten Wache stand, alarmiert nach vorn. »Wir sollten uns ’n bisschen sputen! Da sind überall Schritte um uns rum!«

Sofort sahen alle Alea an, der Entwarnung gab: »Keine Vampire.«

»Menschen können wir nicht bezirzen!«, stöhnte Marco. »Wir müssen da runter, sofort!«

Gemeinsam packten er und seine beiden Kollegen von In Extremo die Falltür, um sie aufzuziehen.

Erst jetzt bemerkte Elsi, dass aus dem Headset, das er lose in der Hand hielt, Rufe drangen. Schnell setzte er es auf und hörte Lasterbalk panisch brüllen: »… –usik anmachen! Elsi, Boris, hört ihr endlich? Haltet euch VERDAMMT NOCH MAL die Ohren zu!!«

»Verstanden!«, schrie Elsi zurück. Dann wandte er sich an die Umstehenden: »Im Keller läuft das böse Lied, wir können so nicht runter! Wir müssen uns entscheiden – entweder schaffen wir es, uns beim Klettern die Ohren zuzuhalten, oder wir kämpfen hier oben!«

»Was?«, ächzte Boris.

»Ich bin raus«, murrte Py, »ich bin so raus … Mann, das Versteck ist da unten?«

»Ja«, bestätigte Elsi.

»Und die Bösen hocken da unten?«

»Ja

»Also müssen wir runter, oder nicht?«

»Wenn wir jemandem in den Arsch treten wollen, ja

»Und warum erklärt mir das nicht gleich jemand? Case closed, ich gehe vor.«

»Halthalthalt!«, erklang eine Stimme von weiter hinten, und dann kämpfte sich Alea zu ihnen nach vorn, die anderen etwas unsanft beiseite schiebend. »Wartet mal! Ich kenne das Lied, und ich hab’s schon geschafft, mich davor zu schützen! Also …« Er fuhr mit beiden Händen in seine Jackentaschen. »…Ich glaube sogar, ich hab noch genug Schutz für alle dabei …«
 

Das unmelodische Intro hatte mehr als nur üble Erinnerungen in Fritz’ Gedächtnis hinterlassen. Auch Erics Augen wurden sofort weit, ebenso erkannte Asp den Track binnen Sekundenbruchteilen – und die seltsame nonverbale Kommunikation zwischen den Vampiren überraschte Fritz ein weiteres Mal: Ehe er oder irgendein anderer Mensch auf die Bedrohung reagieren konnte, packte Simon Ingo und hielt ihm sofort die Ohren zu, und genauso verfuhr Sugar Ray mit Silke, Micha mit Sebastian, Falk mit Fritz und Asp mit Eric. Für mehrere Sekunden trat eine merkwürdige Stille ein.

Fritz, Ingo, Basti und Eric – jeder mit einem Vampir im Rücken, der ihm die Ohren zuhielt – tauschten Blicke, die von unsicher bis verdrossen jede Nuance widerspiegelten.

»Ähm«, begann Lange schließlich zögernd, »ähm, wat macht’n ihr da grade?«

Fritz konnte kaum etwas hören, dafür war Falks Druck zu fest, aber er sah, dass auch die Vampire ihre Lippen bewegten und nicht losließen; das war der Information genug.

»Die Hände auf die Ohren drücken können wir uns auch selber«, erinnerte Fritz vorsichtig, wobei seine eigene Stimme in seinem Kopf nachhallte. »Und Eric …«

»… riskiert nur wieder blutende Ohren!«, begründete Asp seine Reaktion. »Und sobald wir jetzt loslassen, seid ihr für einen kurzen Moment der Musik ausgesetzt, und das kann schon genug Schaden anrichten!«

»Dit habta ja jetzt jeschickt jemacht«, kommentierte Basti, so erstaunt, dass die Ironie fast unterging. »Alle seita jetzt handlungsunfähig … bis uff den Balken.«

Das hatte er richtig erkannt: Lediglich Lasterbalk hatte keine menschlichen Ohren in den Händen. Sobald diesem das bewusst wurde, warf er ein paar Blicke in die Runde und spurtete dann los in Richtung der musikalischen Folterkammer, aus der sie Eric befreit hatten.
 

Während des Rennens machte Lasterbalk mit dem Sender Meldung an das Sackheer und hoffte, dass es den Keller noch nicht betreten hatte. Elsi bestätigte ihm diese Hoffnung, nachdem er endlich auf die Warnrufe geantwortet hatte.

Im Musiklabor – und genau das hatte Lasterbalk schon befürchtet – traf er auf Paul Frais, der mit vergnügtem Grinsen an den Apparaturen herumspielte, Hebel hoch und runter zog und damit Frequenzströme empfindlich veränderte. Das Lied The Viking’s Blood von Snowine dröhnte hier so laut, dass Lasterbalk das Gefühl hatte, seine Trommelfelle müssten platzen; eigentlich wollte er Frais, der aufgrund des Lärmes sein Kommen nicht bemerkt hatte, von hinten pfählen, doch seine Ohren hielten dem Druck nicht stand, sodass er beide Hände brauchte, um sie zu bedecken. Er verfluchte den alten Vampir dafür, dass er so viel weniger empfindlich war.

Ich muss es trotzdem packen, dachte er. Ich muss dicht an ihn ran, schnell zustoßen – und dann sofort diesem Folterinstrument den Saft abdrehen!

Der Plan schlug fehl; Frais drehte sich nach ihm um – und wirkte, zu Lasterbalks Entsetzen, keineswegs überrascht. »Na, Großer?«, lachte er. »Wenn ihr meine Leute mit Musik angreift, dann mache ich das auch. Wobei die Zielgruppen ja etwas unterschiedlich sind.« Damit wandte er sich wieder seiner augenblicklichen Passion zu und manipulierte beschwingt weiter den todbringenden Song.

Lasterbalk sah, dass er an Frais nicht herankam, und änderte spontan sein Ziel: Mit einem schnellen Blick erfasste er die vier Lautsprecher, von denen zumindest zwei dicht beieinander standen, peilte den ersten an und preschte los, um dem verzweifelten Zorn auf diesen Mörder, der in ihm tobte, freien Lauf zu lassen. Dieser Bastard konnte hier nicht stehen und unbehelligt mit tödlichen Frequenzen spielen! Dabei würde er nicht zusehen! Zähnefletschend riss Lasterbalk die Soundbox mitten entzwei. Rrrrrrrratsch!, flogen die Teile zu beiden Seiten.

Frais merkte sofort, dass der Musikdruck rapide abnahm, doch mit einer solchen Maßnahme hatte er wohl nicht gerechnet. Ehe er von seinem hochkomplizierten Mischpult ablassen konnte, hatte Lasterbalk sich schon auf den zweiten Lautsprecher gestürzt und bei diesem mit einem Fußtritt die empfindliche Membran zerstört. Endlich wurde der Sound dreckig und schnarrend.

Frais fuhr herum. »Lass das!«, fauchte er und stürzte sich auf ihn.
 

»Okay, habt ihr gut gekaut?«, fragte Alea die Umstehenden im Flüsterton. Die Zeit drängte, und alle waren hochnervös. »Dann nehmt jetzt das Kaugummi aus dem Mund und macht zwei Kugeln draus. Die sollten mindestens so groß sein wie der Daumennagel.«

Etwas skeptisch tat die ganze Gruppe, was von ihnen verlangt wurde. Die Iren von Fírinne machten ihren deutschen Mitspielern einfach alles nach.

»Kann nicht fassen, dass wir so viel Kaugummi zusammengekriegt haben«, murmelte Boris, wobei ihn kaum jemand hörte, und drückte das klebrige Zeug in seinen Gehörgängen fest.

»Und ich nicht, dass wir das wirklich machen.« André vergewisserte sich mit einem Blick an alle, dass jeder der Spieler so weit war, und riss die Falltür auf.

In genau diesem herrlich passenden Moment bogen Fiacail Fholas menschliche Wächter um die Ecke, mindestens zwanzig Mann, mit grimmigen Gesichtern und gezückten Waffen. Über den Einsatz des Liedes hatte man sie offenkundig nicht informiert.

Sobald die Angreifer die Töne hörten, die von unten herauf drangen, wurden ihre Mienen panisch. Entsetzt warfen sie die Waffen von sich, machten auf dem Absatz Kehrt und pressten sich fluchend die Hände auf die Ohren. Die meisten fanden ihr Heil in der Flucht, doch für einige wenige war es bereits zu spät.
 

Dass Frais selbst keine Pflöcke verwendete, war für Lasterbalk ein lebensrettender Umstand. Außerdem – trotz der extrem schlechten Siegesaussichten – entzückte es ihn irgendwie, dass er sogar diesen so alten, viel Wert auf Form legenden Vampir dazu gebracht hatte, blind mit den Zähnen zu kämpfen. Nie zuvor, soweit der Große sich erinnerte, hatte Frais das nötig gehabt. Jetzt jedoch hingen seine rasiermesserscharfen Hauer in Lasterbalks Kehle und drangen wie wild in Sehnen und Muskeln ein, um die große Halsschlagader zu erreichen. Die innere Jugularvene, die genau daneben verlief und das Ziel gewöhnlicher Vampirbisse war, hatten sie bereits durchdrungen; Lasterbalk glaubte bereits zu spüren, wie das Leben langsam, aber stetig aus ihm herauslief.

Nein, aller Widerstand nützte nichts: Frais lag auf ihm wie ein Felsblock und hielt Lasterbalks Arme in einem Griff, der den Fixationsriemen am Folterstuhl, keinen Meter entfernt, in nichts nachstehen konnte. Der viel größere und eigentlich auch kräftiger aussehende Lasterbalk rang vergeblich mit Frais’ Stärke und Gewicht. Er konnte seinen Pflock nicht ziehen und erst recht nicht einsetzen. Immer noch kaute die Bestie mit eisenharten Zähnen das weiche Fleisch seines Halses durch. Wäre Lasterbalk ein Mensch, hätte Frais ihm ohne Zweifel binnen Sekunden die Kehle herausgerissen; so jedoch hielten die harten Sehnen im Hals des Jüngeren hartnäckig Stand, auch wenn es sich nur noch um Minuten handeln konnte, bis Frais’ Fänge dieses letzte Hindernis überwunden hatten.

Er könnte mich enthaupten, indem er mir den Hals durchbeißt!, dachte Lasterbalk schwindelig.

Zähneknirschend spannte er alle Muskeln im Leib und schob mit aller Kraft gegen das peinigende Gewicht des Gegners an.

Eine Ewigkeit später, so kam es Lasterbalk vor, stürzten endlich Leute herein. Jemand schaltete die grässliche Musik ab. Er konnte den Kopf nicht drehen und hoffte inständig, dass es sich um seine Leute handelte und nicht um Fiacail-Fhola-Verstärkung. Die Hoffnung erfüllte sich: Mindestens drei paar Hände griffen plötzlich mutig nach Frais und zogen ihn von Lasterbalk herunter. Leider waren es Hände ohne Pflöcke. Keine Vampirjäger. Verdammt! Vor Lasterbalks Augen verschwammen die kleinen Schildchen auf der Kleidung der Menschen, aber irgendetwas stand dort geschrieben. Die drei, die Frais gepackt hatten, mussten postwendend dafür bezahlen, denn er biss sie alle. Spritzte Gift in ihre Körper und riss ihre Halsvenen auf. Durch den Schleier erkannte Lasterbalk erst kurz danach, wer sie waren, die da so beherzt hinzugestürzt waren: Boris, Fiona und – Luzi! Auf dem Boden vermischte sich Vampirblut mit menschlichem. Lasterbalk kam taumelnd auf die Füße, gestützt von noch mehr Menschen, und zog den Pflock, um Frais zu pfählen. Denn nichts anderes galt jetzt mehr. Zu seinen Füßen lagen seine Leute, ein Teil seiner Dudelsackarmee, und Frais würde einen nach dem anderen töten, wenn er ihn nicht sofort aufhielt. Die Menschen, die sich der Bestie entgegen warfen, waren ohne Chance.

Frais, der einen Spielmann nach dem anderen lässig abwehrte, bemerkte die Bemühungen des anderen Vampirs und bleckte wütend die Zähne. »Vergiss es, du armseliger Kettenhund. Ich bin dir und deinen leckeren Freunden weit überlegen!« Zorn ging nahtlos über in Triumph, als sein Grinsen breiter wurde – doch kurz darauf verzerrte sich sein Gesicht zu einer undeutbaren Grimasse. »Lámh Dé

Aus dem Augenwinkel sah Lasterbalk im Türrahmen Alea stehen; der jedoch starrte die Szenerie nur schockstarr an, ohne etwas zu unternehmen. Beide Hände ließ er schlaff hängen, unfähig zur Reaktion.

Dies entging auch Frais nicht. »Du Feigling!«, höhnte er. »Meine Zeit ist noch nicht abgelaufen!« Und er stürzte, blutbesudelt wie er war, lachend durch die nächste Wand davon.

Sein Ziel entkommen sehend, fiel Lasterbalk zitternd vor ohnmächtiger Wut auf die Knie. Viele Hände tätschelten seine Schultern. Welche, das war ihm jetzt egal. Irgendwann merkte er, dass ihm jemand ein Taschentuch an den Mund hielt und ihn eindringlich bat: »Bitte, spuck drauf!« Träge versuchte er zu gehorchen. Das war gar nicht so einfach. Lasterbalks Mund war trocken wie Wüstensand. Es dauerte, ehe er genug dicke, schleimige Spucke auf der Zunge angesammelt hatte. Nie würde man damit alle Verletzten versorgen können. »Okay, neuer Versuch: Beiß hier rein.« Diesmal hielt man ihm ein Stück Leder hin. Egal woher, vielleicht einer der Riemen. Das Zubeißen brachte den Quell zum Sprudeln. Begeistert fingen mindestens fünf Taschentücher den wässrigen, heilenden Speichel auf. Sekunden später fiel ihm Alea wieder ein, und sein Kopf ruckte hoch, der Blick nun glasklar – doch der Vexecutor war nirgends zu sehen. Höchstvermutlich, dachte Lasterbalk erleichtert, hatte jemand Aleas offensichtliches Entsetzen als Vorwand genutzt, ihn von der Szenerie wegzuführen.

»Wo sind die anderen?«, wollte Elsi wissen.

Lasterbalk sagte es ihm. Jetzt sah er auch, dass jeder der Hinzugekommenen eine Sackpfeife behütend an die Brust drückte. Das Sonderkommando war also einsatzbereit – oder wäre es zumindest, wenn endlich die Blutungen gestillt waren und das Gift seine Wirkung verloren hatte. Er hoffte, dass Boris, Fiona und Luzi noch stark genug waren, sich mit versorgten Verletzungen wieder in die Reihen der Spieler einzugliedern. Jeder wurde gebraucht.
 

Endlich, einige Zeit später, war ein halbwegs an Ordnung erinnernder Zustand wiederhergestellt worden – jedenfalls soweit Fritz die Lage von seinem Platz weiter hinten aus überblicken konnte. Alle einundvierzig Männer und Frauen hatten wieder zueinander gefunden und drängten sich in ihrem langgezogenen Gefängnis. Lasterbalk hatte Frau Schmitts Platz neben Eric eingenommen. Er war blass und sah aus, als drehte sich alles hinter seiner Stirn; die Wunde an seinem Hals war tief, und Fritz konnte sie gar nicht ansehen. Das war zum Glück auch nicht nötig, denn etwas anderes erregte soeben seine Aufmerksamkeit, als eines der vielen ihm unbekannten Mitglieder der Sackkapelle etwas Verdächtiges aus seinem Ohr zog, es in Form knetete und wieder hinein stopfte. »Oh Gott, ihr habt euch wirklich Kaugummi in die Ohren gesteckt«, stöhnte Fritz mit dämmernder Erkenntnis.

»Ja, es klebt schon eklig«, räumte Dr. Pymonte ein, »aber wir hatten einfach nichts anderes. Was ist, wollen wir diese Sache jetzt ein für alle mal beenden?« Er hielt den speckigen Trennschleifer hoch. »Das hier hat uns befreit.«

»Das Sackheer ist einsatzbereit!«, tat Boris, wenn auch noch immer mit leicht blutverschmiertem Hals, kund. »Von unserer Seite aus kann’s losgehen.«

Lasterbalk murmelte: »Ich bin leider völlig am Ende … und übertrage hiermit das Kommando feierlich auf … den Kerl da neben mir …« Er nahm sich zusammen und tat Falk den Gefallen, ihn bei vollem Namen und Titel zu nennen: »… Herrn Irmenfried von Hasenmümmelstein, erster Offizier und Stellvertreter des Kapitäns …«

Falk salutierte zackig. Dann trat er auf die erhabene Türschwelle und kommandierte: »Pfählerteam antreten. Los jetzt! André, mach die Tür auf. Spielleute, spielt
 

Auf ein lautloses Kommando hin erfüllte laute, rohe Dudelsackmusik den ganzen Keller. Die Töne drangen in jede Ritze, stürmten sowohl die Ohren der bereits vom Tumult aufgeweckten als auch die der wenigen noch schlafenden Vampire wie ein angreifendes Heer und malträtierten sie mit einer Gewalt, welche die Blutsauger bis in ihre Träume hinein rettungslos in unsichtbare Ketten legte. Stöhnend rafften sie sich auf, allesamt, und stürzten mit starren, dunklen Augen auf die Musiker zu, welche wie eine Flutwelle in den Raum strömten und sich in ihm verteilten, ihn ganz und gar einnahmen, das Lager einkreisten, über dreißig Spieler auf einen Schlag. Und sie spielten, als hinge ihr Leben davon ab. Der Klang war nicht schön, sondern nur noch derb und zerstörerisch. Einige der hypnotisierten Vampire begannen aus den Ohren zu bluten. Die Sackspieler hatten gut daran getan, ihre Ohrstöpsel aus Kaugummi in den Ohren zu behalten; die Akustik der Halle verstärkte den enormen Impact, der sich bereits während der Proben angedeutet hatte.

Außerdem einen Gehörschutz trugen die MIU-Vampire. Jetzt, da genug Zeit gewesen war, die mitgebrachten Pfropfen aus Schaumgummi richtig zu platzieren, war die magische Melodie kein Problem mehr. Sie lauerten nur auf jenen Moment, in dem alle feindlichen Vampire nutzlos in der Gegend herumstehen würden. Das Beste war: Frais würde nichts dagegen tun können. Er hatte verloren.

Dann kam endlich der Moment des Einsatzes.

Und mit ihm kam eine neue Erkenntnis, auf die jeder gern verzichtet hätte. Denn trotz allem Erfolg war der Kampf keine Befriedigung: Das hier war keine glorreiche Schlacht, wie die Pfähler sie erhofft hatten, es war tatsächlich noch nicht einmal ein Kampf – sondern ein stumpfes Abschlachten fern jeder Fairness. Keiner der Feinde wehrte sich. Es war allzu leicht, sie hinzumetzeln, ihr Blut wie Waschwasser zu verschütten, ihre Körper liegen zu lassen, wo sie fielen. Eine kineastische letzte Bataille, Gut gegen Böse, hätte eine gewisse Befriedigung mit sich gebracht; stattdessen aber starben Frais’ Schergen wie Schafe auf der Schlachtbank.

Dieses Töten war zugleich das leichteste und das schwierigste, das die MIU-Pfähler bisher bewältigt hatten. Töten musste einen Sinn haben, um erträglich zu sein, und in einem Fall wie diesem, wenn der Gegner sich nicht zur Wehr setzen konnte, geriet der Sinn schnell aus dem Fokus. Mit jedem gefallenen Gegner lag der Pflock schwerer in der Hand, ließ sich der Arm mühsamer heben. Schließlich wurde gepfählt, ohne hinzusehen. Keiner wollte dem verträumten Blick einer Bestie begegnen, wenn er brach. Innerhalb weniger Minuten waren alle Feinde gefallen. Und diejenigen, die die Helden hätten sein sollen, standen, körperlich wie geistig ausgelaugt, bis zu den Knöcheln in Blut.

Dann war es endlich vorbei.

»Oh, Scheiße«, murmelte Ingo, sobald er den ganzen Raum, angefüllt mit Leichen und Blut, komplett überblicken konnte. »Lasst uns bloß hier abhauen.«

»Hat denn jemand Frais erwischt?«, fragte Silke vorsichtig. In ihren Augen stand noch immer die Abscheu vor dem Massaker.

»Weiß ich nicht … Aber er hat jedenfalls keine Streitkräfte mehr, weder menschliche noch vampirische, und wir müssen hier raus.«

Die übrigen Pfähler stimmten ihm zu; auch sie waren vom Töten völlig ausgelaugt, ihre Gesichter blass und elend. Genauso mitgenommen waren die Sackpfeifer, die das Blutbad mitangesehen hatten; nach und nach hatten alle das Spielen abgebrochen, einige hatten mit dem Brechreiz gekämpft, den der Anblick und der stechende Geruch des Blutes auslösten, andere hatten sich rücklings gegen die Wände gedrückt, wenige hatten sich gar in die Ecken gekauert und das Gesicht mit den Händen bedeckt, als könnten sie das grauenhafte Schauspiel einfach ausblenden. Ihnen widmeten diejenigen mit einem stärkeren Nervenkostüm nun besondere Aufmerksamkeit, als es daran ging, die ganze Gruppe binnen kürzester Zeit zum Aufbruch zu bewegen.

Gesammelt und mehr oder weniger intakt verließen die MIU und ihre Verstärkung den Geheimkeller auf demselben Weg, der sie hineingeführt hatte. Sobald alle die Falltür passiert hatten, wurde diese fest zugemacht.

»Wir sollten in die Wege leiten, dass der Keller nach der Säuberung verschlossen und versiegelt wird«, sagte Falk. »Aber vorher sollten wir fürs erste ein paar Spuren verwischen. So wie der Zugang jetzt aussieht, nach der Behandlung mit dem Trennschleifer, wird ihn jeder, der hier arbeitet, sofort finden.«

Boris sah sich um. »Lass uns erst mal den Abtreter wieder drüber legen. Über so was wundert sich vor einer Tür niemand. Wenn die Polizei anrückt, dann … naja, dann kümmern die sich um den Geheimhaltungskram.«

Fritz sah höchst ungeduldig zu, wie sich um – seiner Meinung nach – solche Lappalien gekümmert wurde. Ihm persönlich war inzwischen alles egal. Mehr Blut würde er nicht ertragen. Er musste nach Hause. Ins Bett … und schlafen. Er wusste, dass es den meisten anderen ganz genauso ging.
 

Doch noch immer war der Feind nicht völlig besiegt – dies zeigte sich, als der geschwitzte und ausgelaugte Trupp sich schleppend zum Ausgang im Erdgeschoss hinbewegte.

Kurz vor der ersehnten Freiheit trat ihnen Paul Frais in den Weg. Flankiert wurde er von dem schniefenden Ned und Conall Cernach, den beiden letzten wirklich gefährlichen Handlangern, die ihm noch zur Verfügung standen. Die zwei boten den bekannten Anblick relativ kalkulierbaren Zorns; Frais jedoch war gar nicht wiederzuerkennen: Er war ein Abbild des Wahnsinns. Seine Augen waren blutunterlaufen und weit aufgerissen, seine Mundwinkel voller blutigem Schaum wie die Lefzen eines tollwütigen Hundes. Als er die Überraschung auf den Gesichtern seiner erstarrten Widersacher gewahr wurde, stieß er ein so hässliches, irres Lachen aus, wie man es nie zuvor von ihm gehört hatte.

»Jetzt ist Schluss, ihr kleinen Menschen und Kaltbluttrinker«, sagte er gefährlich ruhig, so leise, dass es Mensch und Vampir kalt durchs Mark ging. »Jetzt ist Schluss. Ihr müsst bezahlen. Ich zähle bis zehn – bis dahin können die von euch weglaufen, die es noch schaffen. Alle anderen reißen wir in Stücke. Eins

Niemand rührte sich. Jeder hatte Angst – doch keinem fiel es ein, die Seite der anderen zu verlassen.

Conall ließ seine Muskeln spielen; Ned grinste angriffslustig. Er hatte einen Tisch im Arm, die Platte an den Bauch gepresst. Die vier Tischbeine waren angespitzt. Eine schwerfällige, aber zweifellos wirksame Waffe. Und als Vampir besaß er genug Kraft, sie effektiv einzusetzen.

»Zwei«, zählte Frais ruhig.
 

Lasterbalk, der sich noch immer wie ein ausgewrungenes Handtuch fühlte, wandte sich den zusammengedrängten Musikern zu. »Leute«, sagte er schlapp, »lauft weg. Wir bringen das alleine zu Ende. Es soll keiner unnötig verletzt werden. Nur wer bewaffnet ist, kann bleiben.«

»Wir sind bewaffnet!«, erinnerte ihn Conny Fuchs und hielt ihre Sackpfeife hoch. Obgleich sie aussah, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, forderte sie mit ungebrochenem Kampfeswillen ihre Mitstreiter auf: »Los, noch mal, alle zusammen!«

Frais quittierte ihren Mut mit einem bösartigen Lachen. Er winkte ab, als mehr als die Hälfte der Musiker sich grimmig daran machte, ihre Instrumente vorzubereiten. »Das könnt ihr getrost sein lassen«, ließ er sie wissen. »Ich habe es gerade schon gehört, und es hat mir gut gefallen. Dudelsäcke … immer wieder schön.« Und dann, zu jedermanns Entsetzen, summte er die transsylvanische Lockmelodie. Einfach so.

Augenblicklich wurde den MIU-Vampiren schwindelig. Auch Conall und Ned an Frais’ Seite bekamen einen glasigen Blick und begannen zu schwanken.

»Aber, aber«, brach Frais seine Darbietung ab, »wer bin ich, dass ich zu solch unlauteren Mitteln greife? Nein, ich bevorzuge den direkten Kampf. Trotzdem habt ihr immer noch eine faire Chance. Drei

»Nun lauft schon!«, spornte Ingo geistesgegenwärtig die Spielleute an. »Was steht ihr noch hier rum! Ihr könnt nicht helfen

Diese Ansage wirkte. Die ersten drehten ab und rannten zurück ins Innere der Brauerei. Frais und seine Handlanger hielten sie nicht auf. Dem alten Vampir ging es nicht um diese paar eingeschüchterten Menschen; er würde sie in aller Ruhe schlachten, nachdem er das Leid der MIU-Vampire genossen hatte. So ließ er zu, dass der langgezogene Raum sich langsam leerte, während immer mehr Dudelsackspieler zu der Einsicht gelangten, dass sie nichts mehr ausrichten konnten. Zuallerletzt wichen, auf die eindringlichen Blicke ihrer Freunde hin, auch Elsi, Boris und die übrigen unbewaffneten MIU-Leute in den Tunnel zurück. Es gab nichts, das sie tun konnten.

Übrig blieben nur die wirklich Wehrhaften: Micha, Asp, Falk, Lasterbalk, Sebastian, Ingo, Simon … und Fritz, der nun mit glühendem Blick seinen Pflock aus dem Gürtel zog.

»Da, bitte! Ich hoffe, du erkennst ihn noch, Frais!« Fest umfasste er den mit Schaumstoff verkleideten Holzstift, der ab der Mitte in dunklem Rotbraun verfärbt war. Obwohl man ihn gründlich gewaschen hatte, haftete diese neue Farbe dem Pflock an wie eine Lasur.

Unbeeindruckt fuhr Frais fort: »Vier

»Boss, das ist langweilig!«, nölte Ned.

»Ich weiß, ich weiß. Fünf
 

Fieberhaft überlegte Ingo, wen es zuerst zu attackieren galt. Abzuwarten, bis Frais bei zehn angekommen war und selbst in die Offensive ging, war keine Option. Sie mussten die drei letzten Feinde vorher erledigen. Aber in welcher Reihenfolge? Welche Vorgehensweise wäre am klügsten?

»Ihr Hänflinge seid ja immer noch da!«, verhöhnte Conall die MIU.

»Die werden auch nicht weglaufen«, seufzte Frais, »weil sie nicht wissen, was gut für sie ist. Also gut, kürzen wir das Ganze ein wenig ab: Sechs, acht, zehn

Damit hatte sich die Frage für die MIU erledigt. Fangzähne klickten, und es ging los. Conall stürzte sich auf den geschwächten Lasterbalk und warf ihn um wie einen gefällten Baum. Sofort griff Falk ihn an. Ned nahm Anlauf, johlte und wollte ihm eines der Tischbeine von hinten durch den Körper treiben. Simon, der nicht schnell genug am Ort war, holte verzweifelt mit dem Pflock aus und warf ihn – wie einen Drumstick, der irgendwo im Publikum landen sollte. Das Holz drehte sich in der Luft mehrmals um sich selbst und traf mit der Spitze voran. Allerdings nicht Ned, sondern Conall Cernach, der mehr vor Überraschung als vor Schmerz einen dröhnenden Schrei ausstieß. Ned mit dem Tisch guckte dumm und Falk gewann Zeit. Rasch vollendete er Simons Werk und rammte den Pflock tiefer in die Brust des bulligen Gegners, der ihm daraufhin mit einem leisen Stöhnen fast in die Arme fiel und seinen letzten Atemzug tat.

Basti und Ingo griffen sich den verblüfften Ned, der den Pflockwurf offenbar hoch beeindruckend fand, rissen ihm den Tisch aus den Händen, sodass dieser – Beine in die Luft – polternd zu Boden fiel, dann packten sie Ned an jeweils einer Schulter und warfen ihn mit Schwung rückwärts auf eines der Tischbeine, das seine Brust durchdrang wie Kuchenteig und zwischen den Rippen wieder hervorstieß.

»Whaaa, wie in From Dusk Till Dawn!«, johlte Lange.
 

Frais, noch immer in kein richtiges Gefecht verwickelt, hatte diesen kurzen Kampf mit Erstaunen verfolgt. Die verzweifelte Entschlossenheit der MIU hatte er unterschätzt, dies wurde ihm nun klar. Mit der Kraft der Hoffnung hatten sie mit seinen besten Kämpfern kurzen Prozess gemacht – obwohl er sie so massiv geschwächt und demoralisiert hatte! Unverständnis stieg in ihm auf, verwandelte sich mehr und mehr in Verwirrung angesichts dieser neuen Stärke seiner Feinde. Einzeln waren sie so leicht außer Gefecht zu setzen. Doch als Gruppe … warum …?
 

»Jetzt kommst du!«, brüllte Fritz. Der Erfolg seiner Kollegen hatte seinem Mut Flügel verliehen. Mit dem Pflock in der Hand stürzte er auf Frais zu.

»Fritz, nicht!«, hörte er Asp noch rufen, dann packte ihn Frais’ Hand am Kragen und bremste seinen Sturmlauf.

»Du weißt auch gar nicht, wann es genug ist!«, fauchte Frais, maßlos wütend über so viel Dreistigkeit, warf Fritz mit dem Bissgriff um und schlug die Zähne in seinen Hals.

Fritz schrie auf, doch sein Schrei verebbte rasch, als er vor Ekel und Angst in Ohnmacht fiel.
 

Frais kommentierte das prompte Erschlaffen seines Opfers mit einem hämischen Kichern und trank ein paar große Schlucke Blut. Neue Kraft! Nie würde er sich von diesen Feiglingen bezwingen lassen, nie!

Postwendend griff Michael ihn an. Fritz war sein Partner, Frais provozierte ihn mit dem Angriff aufs Schlimmste. Als Ältester der MIU hatte Micha wohlmöglich die besten Chancen – doch dass Paul Frais von dem hart erkämpften Lockstück völlig unbeeindruckt geblieben war, hatte gezeigt, dass er unfassbar alt sein musste. Entsetzliche Angst hätten sie haben müssen, sie alle, angesichts solcher Macht – doch niemand ließ es zu. Ohne zu zögern eilten Falk, Ingo und Simon Micha zur Hilfe.

Für Frais war dies jedoch weder ein Problem noch eine Überraschung. Er wehrte jeden von ihnen mit einem derben Faustschlag ab. Allein Micha schaffte es mit all seiner Hartnäckigkeit, Frais in ein fruchtloses Gerangel zu verwickeln, das einige Minuten in Anspruch nahm; doch nach längerem Zerren und Stoßen schickte der Alte schließlich auch ihn auf die Bretter. Er traf Micha derart hart, dass es den MIU-Ältesten gegen die Wand schmetterte, wo er blutend liegen blieb.

Frais klopfte sich den Staub ab und lachte. »Ein paar Jahre früher hättest du eher eine Chance gegen mich gehabt, Michael Rhein. In diesem Leben bist du leider schon zu alt – aber vielleicht kriegst du mich ja im nächsten.«
 

Van Lange, Asp und Lasterbalk, die in sicherer Entfernung geduckt verharrt waren, tauschten erschrockene, hilflose Blicke. Frais war wirklich unbesiegbar. Sie hatten keine noch so irrwitzige Aussicht auf den Sieg.

»Gebt auf«, forderte Frais sie auf. Aus seiner blutbeschmierten Fratze sprach der blanke Wahn. »Oder ich lasse keinen am Leben. Nicht mal dich, meinen Abkömmling, würde ich jetzt noch verschonen. Und eure Menschen werde ich alle austrinken. Alle!«

Lasterbalk schüttelte den Kopf. »Nein.« Er schleppte sich sichtbar hinkend vor den Gang, durch den das Sackheer geflohen war, und die anderen beiden schlossen sich ihm sofort an, so schnell sie konnten. »Du wirst hier nicht vorbeikommen.« Ihnen allen war klar, dass jetzt nur noch wenige Sekunden sie und die anderen vom Tode trennten.

»Oh, wie heldenhaft!« Frais musterte sie mit einem Ausdruck zwischen Spott und Bewunderung. »Ist dieses Verhalten das, was eure Menschen von euch erwarten? Nun gut. Ihr habt es so gewollt.« Grinsend machte er den ersten Schritt auf sie zu. »Dann sterbt jetzt.« Und er trat voran.

Zwei Schritte schaffte er.

Die Finger seiner vorgestreckten Linken strichen über Lasterbalks Brust, ehe er mitten im Lauf plötzlich einknickte und auf die Knie fiel. Seiner Kehle entwich ein Röcheln. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen griff er sich an das Herz. Krämpfe durchzuckten ihn. Dann fiel er auf die abgestützten Hände, rang nach Atem. Konnte nicht begreifen, was geschah. Schließlich sank er ganz auf den Bauch. Seine Augen rollten wild in den Höhlen, seine Nasenflügel blähten sich und stießen kurz und abgehackt den Atem aus, während seine Finger sich immer wieder verkrampften und wieder streckten, wie eine Spinne, die sich allmählich sterbend zusammenrollt. Nach langen Minuten, in denen seine Muskeln immer schwächer zuckten, wurden seine Augen endlich starr, der ganze gestreckte Körper kam zur Ruhe.

Paul Frais war tot.
 

Sekunden später wandte sich Lasterbalk als Erster ab und ließ zischend den angehaltenen Atem entweichen. Kurz traf sein Blick den seiner erschöpften Mitstreiter; dann sah er suchend über seine Schulter, wo im Halbdunkel jemand stand und die ausgestreckte Hand langsam sinken ließ.

»Du hast dir Zeit gelassen, Alea … Wolltest du’s so spannend machen?«

Alea atmete kräftig durch und senkte den Kopf. Er sah furchtbar erschöpft aus. Wie in Trance fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, wo dünne Rinnsäle von Blut ihm aus der Nase und den Ohren gesickert waren, Zeichen seiner Anstrengung.

Lasterbalk sah ihn nur an wie ein großes Rätsel. In seinem Kopf war zu viel, das er sagen wollte, allem voran: Warum bist du überhaupt noch hier, verdammt?

Alea bemerkte seinen unverwandten Blick. Er legte den Kopf schief und erklärte: »Du hast gesagt, wer bewaffnet ist, kann bleiben.«

Eierkuchen

45: Eierkuchen
 

Das erste, was Fritz durch seine halb geöffneten Augenlider erspähen konnte, war Regen, der auf die Frontscheibe des fahrenden Autos prasselte. Gleichmäßig und einschläfernd fuhren die Scheibenwischer immer wieder darüber weg und schoben die Flüssigkeit beiseite.

Fritz zwang sich, die Augen dennoch weiter zu öffnen. Er saß auf dem Rücksitz seines eigenen Autos. Nicht sofort erinnerte er sich an die letzten Geschehnisse. Was hatten er und die MIU gemacht? Ah, die Brauerei in Radeberg gestürmt. Ja. Paul Frais gejagt. Doch dieser war schwer zu fassen gewesen … und zuletzt … Oh.

Schlagartig war Fritz hellwach und drückte seine Nase ans Fenster. Sie fuhren auf einer Autobahn. Der Himmel war von Regenwolken völlig verhangen; unmöglich zu erkennen, wie spät es war.

»Wo fahren wir hin?«, rief er schrill.

»Nach Alfeld«, antwortete der Fahrer. »In der Klinik dürfen wir ja eh nicht mehr pennen. Haben da nur ’nen ganz kurzen Stopp gemacht, um unsere Sachen zu holen. Wahrscheinlich musst du im HQ kurz ’ne Aussage für den Bericht machen und darfst dann gleich nach Hause weiterfahren. Naja, wenn du fahren kannst.« Micha warf ihm durch den Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu.

Fritz’ Hand schoss sofort an seine Halsseite, wo Frais ihn gebissen hatte. Dazu musste er sie erst mal unter der roten Decke hervor winden, mit der er säuberlich zugedeckt war. »Fühlt sich gar nicht so schlimm an …«

»’n normaler Vampirbiss halt.«

»Habt ihr …« Fritz zögerte. »… Habt ihr Frais besiegt?«

»Ja, er ist tot«, bestätigte Micha.

»Wer hat ihn getötet?«

»Sonnenscheinchen.«

»Oh, das … hätte ich nicht erwartet.«

»Wir auch nicht. Seiner eigenen Aussage nach ist er einfach nicht mit raus gerannt, als das restliche Sackheer vor Frais getürmt ist. Hat sich in ’ner dunklen Ecke versteckt … und keine Sau hat auf ihn geachtet, weil alle viel zu beschäftigt waren. Wir mit Frais, Frais mit uns. Schwein gehabt.«

Fritz ließ diese Information sacken. Alea hatte sich also auf seine Fähigkeiten zurückbesonnen und das einzig Richtige getan. Dieser Teil der Geschichte fühlte sich gut an; der andere jedoch …

»Er weiß es also«, hörte Fritz sich leise sagen. »Er weiß, dass ihr Vampire seid.«

Micha nahm einen tiefen Atemzug und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Also …«, begann er schließlich umständlich, »… die Lage ist da nicht ganz klar, weißt du … Genau genommen haben wir keine Ahnung, was er weiß. Aber es steht außer Frage, dass er etwas weiß. Wir müssen diesen Punkt noch klären.«

Fritz ließ es dabei bewenden. Sein Blick glitt zum Beifahrersitz; über diesem lag schlafend der schwere Bluthund, unförmig wie ein Kartoffelsack. Seine Rute hing schlaff über der Handbremse. Als Fritz erstmals neben sich schaute, war er überrascht, auch auf der Rückbank nicht allein zu sein: Auf der linken Seite saß Eric Fish, oder besser, er lag halb, den Kopf gegen Scheibe und Nackenpolster gelegt und ebenfalls bis knapp unter die Nase warm zugedeckt. Offensichtlich war er am Leben: Seine Augen waren geschlossen, doch er atmete tief und gleichmäßig.

»Weck ihn nicht auf«, bat Micha. »Der ist völlig erledigt. Schläft wie ’n Stein, seit wir unterwegs sind. Von Radeberg bis Dresden, und von Dresden bis jetzt auch wieder.«

»Er hat sich immerhin das Blut abgewaschen.«

»Nee, das waren der Hampf und Frau Schmitt. Er wird überrascht sein, wie sauber er ist. Bestimmt wär er nicht mal wach geworden, wenn wir ihn kopfüber ins Wasser getaucht hätten. Ich hab das vorgeschlagen, aber keiner wollte mitmachen.«

Fritz schaute wieder aus dem Fenster. Der fadenförmige Regen ließ die monotone Umgebung der Autobahn grau und trüb wirken. Nach einigen Kilometern fiel Fritz auf, dass Micha mit dem Zeigefinger irgendetwas in seinem Mund betastete und es sich, die Zähne gebleckt, angewidert im Rückspiegel ansah, welchen er hiernach mürrisch wieder gerade rückte.

»Du bist doch nicht verletzt, oder?«, fragte Fritz den Vampir überflüssigerweise.

Unbequem antwortete Micha: »Naja … doch.« Erstmals klang er gar nicht mehr so tough, sondern fast ein bisschen weinerlich. »Von meinem rechten Fangzahn ist die Spitze abgesplittert. Jetzt sieht das aus, als hätte ich rechts keinen Eckzahn.« Er schielte zu Fritz in den Rückspiegel. »Und der Giftkanal ist auch hin«, fügte er Mitleid heischend hinzu, »jetzt hab ich dauernd so ’nen scharfen Geschmack im Mund.« Er schmatzte demonstrativ.

»Heilt das?«, wollte Fritz wissen.

»Ja … Aber ’nen Fangzahn zu regenerieren dauert fast einen Monat! Das scheiß Teil wird rausfallen und neu wachsen.«

»Sei froh, das machen Menschenzähne nicht«, erinnerte Fritz. »Und du kannst ja mit dem linken Zahn noch beißen.«

»Für’n Arsch! Du willst doch auch nicht nur auf einem Backenzahn kauen, oder?«

Fritz hörte einfach nicht mehr zu. Für das Gejammer hatte er nicht viel übrig, also tat er so, als würde er weiterschlafen. Inzwischen wurde der Himmel langsam wieder heller.
 

Drei Tage später traf sich die MIU in Alfeld im Keller der SAPPI-Fabrik. Als Fritz dort ankam, wirkte plötzlich alles so vertraut und heimelig. Die ersten Arbeitstage, die er hier verbracht hatte, waren völlig friedlich gewesen und es hatte keinen Hinweis auf die Schrecken gegeben, die dem Antritt der Reise nach Wuppertal gefolgt waren. Jetzt war es, als wäre er nie weg gewesen. Das leise Gluckern der Kaffeemaschine hinter der Tür mit der Aufschrift ›Wer den geheimdienstlichen Kaffeekocher klaut, ist ein schlechter Mensch‹; die Bandfotos an den Wänden; das MPS-Poster von Saltatio Mortis mit den verräterischen Fangzähnen und Aleas Schnurrbart; der Weinkeller, der einen Vorrat an Hyperborea aller Geschmacksrichtungen beherbergte; der geräumige Besprechungssaal, der allen kompletten MIU-Bands Platz bot: Alles hieß Fritz warm willkommen.

Die vier MIU-Bands, die für Norddeutschland zuständig waren – In Extremo, Subway To Sally, ASP und Saltatio Mortis – waren mit allen Musikern, die am Fiacail Fhola Incident beteiligt gewesen waren, im HQ eingetroffen. Der Einzige, der fehlte, war Klaus Buschfeldt. Schievenhöfel vertrat ihn jedoch und verbreitete ohnehin weit mehr gute Stimmung, als der Direktor es je vermocht hätte.

Es war der dritte Tag nach der endgültigen Zerschlagung von Fiacail Fhola. Zumindest die Vampire waren mittlerweile von den gröbsten Verletzungen genesen, wenn man von Michas Fangzahn absah.

»Ich hab übrigens«, erhob Eric die Stimme, als alle im Konferenzraum um den großen runden Tisch saßen, »schon heute einen Brief von unseren irischen Freunden Fírinne gekriegt. Aufgesetzt von der Präsidentin persönlich. Mary McAleese wünscht uns weiterhin viel Erfolg und freut sich auf weitere gute Zusammenarbeit. Ich würde den Brief ja vorlesen, aber der ist komplett auf Gälisch. Er fängt an mit ›Dia daoibh, a chairde‹ – also mit dem, was ich auf einer irischen Bühne als erstes sagen würde.«

»Es gibt auch von der Studentenkapelle was Neues«, verkündete KP, »von Snowine. Sie haben sich von dem Schrecken ganz gut erholt und wollen wohl bald wieder Musik machen. Einwandfreie, versteht sich. Ihr könnt ja mal die Ohren offenhalten, vielleicht kriegen sie ja irgendwann einen Plattenvertrag.«

»Nur wenn die noch ein gutes Stück besser werden«, sagte Simon mit schiefem Lächeln. »Aber wir haben ja alle mal klein angefangen.«

Micha fügte den Meldungen noch eine weitere hinzu: »Rea und seiner Familie geht’s übrigens auch gut. Er sitzt jetzt in der Jury von The Voice of Germany. Naja, soll er machen.«

Die Runde lachte verhalten. Immerhin schien bei den Verbündeten der MIU alles in Ordnung gekommen zu sein.
 

»Was werdet ihr jetzt tun?«, fragte Fritz, als er, Micha und Basti auf dem Gelände standen und die beiden Musiker eine Zigarette rauchten. »Nehmt ihr jetzt sofort die Arbeit an einem neuen Fall auf?«

»Nee«, antwortete Micha nach einem langen Zug. »Jetzt haben wir Zeit für die Musik. So steht’s im Arbeitsvertrag. Alle wollen touren – wir mit Sterneneisen, Subway mit Schwarz In Schwarz und Saltatio mit Sturm aufs Paradies. Lex’ Band hat, glaub ich, auch ein Album in Planung. Weißt du, wenn man Künstler ist, ist Rumtouren das Allergrößte. Ich freu mich immer schon ’n halbes Jahr vorher drauf. Wir werden nicht nur in Europa sein, sondern auch in den USA und in Mexico.«

Fritz schnitt eine Grimasse. »Das würde ich mir nicht antun.«

»Ach, du weißt ja nicht, was gut ist!«, lachte Micha.

Basti wechselte das Thema. »Fritz, biste morgen Abend bei unserer kleinen Party dabei?«

»Party? Oh … mich hat keiner eingeladen.«

»Dit ham wir auch spontan jestartet. Also … eijentlich sollen wa dit nicht rumerzählen, aber … Buschfeldt –«

»Bekommt er Ärger?«, fragte Fritz sofort. Nach allem, was auch der MIU-Direktor hatte durchstehen müssen, würde ihm das sehr Leid tun.

»Nee, im Jegenteil«, grinste Lange. »Der hat mit seinen Maßnahmen und Anweisungen den Fall sooo toll jelöst, dass er jetzt versetzt und befördert wird. MIU-Direktor und unser Chef wird KP. Dit ist, wat wir eijentlich feiern. Und dass wa noch leben, natürlich. Wir wollen noch ’n paar andere Leute einladen: den Niklas Löhse … deine Freundin Ríona … dann natürlich alle von Schandmaul, Faun, Schelmish, Corvus Corax, Tanzwut, Cultus Ferox und Connys Truppe … oh, und den Jefäßchirurg, der Lex operiert hat.«

»Klingt unterhaltsam«, befand Fritz.

»Jaah, ne? Also nimm dir bloß nüscht anderet vor!«
 

Fritz blieb auch diese Nacht noch in Alfeld. Am nächsten Morgen würde noch einiges an Papierkram zu erledigen sein. So sehr er sich auch nach Kittys heilender Umarmung sehnte: Auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt nicht mehr an. Er war in diesem einen Monat viel stärker geworden, hatte Ängste überwunden und Courage gezeigt, hatte mehr zu erdulden gelernt als je zuvor. Kitty würde diesen neuen Fritz zu gegebener Zeit kennen lernen. Außerdem wollte er noch etwas für sie besorgen …

Als Fritz am Spätnachmittag ins HQ kam, waren dort schon viele Menschen versammelt. Zum Glück war der Fabrikkeller wesentlich größer als alle Stützpunkte, die sie in der letzten Zeit bewohnt hatten. KP begrüßte ihn herzlich und Fritz gratulierte ihm, denn nun war die Beförderung offiziell. Auch alle anderen Kollegen und MIU-Sympathisanten begegneten Fritz fröhlich und klopften ihm auf die Schulter.

Die Küchentür trug diesmal die Aufschrift ›Heute nur für Buffet-Personal!‹. Fritz war nicht sicher, was genau das zu bedeuten hatte. Natürlich würde der Raum als Lager für Hyperborea dienen und die strikte Beschränkung wäre gewöhnlich dazu gedacht gewesen, den unwissenden Alea am Eintreten zu hindern; jetzt aber wusste Fritz nicht, was Alea wusste und was die anderen davon wussten, was er wusste. Niemand hatte ihn diesbezüglich aufgeklärt. Allerdings war Alea derzeit nirgends zu sehen – Zeit für Fritz, in die Küche zu schlüpfen und Erkundigungen einzuholen, ob die Aufschrift immer noch ernst gemeint oder zu einem Scherz degradiert worden war, über den auch Alea nur noch müde lächeln konnte. Fritz brauchte in dieser Angelegenheit unbedingt Klarheit, denn sollte es immer noch einen Sicherheitsstandard zu wahren geben, so wollte er nicht derjenige sein, der diesen verletzte.

Vorsichtig trat er ein. Erwartungsgemäß fand er Gläser und ein paar Flaschen Hyperborea vor, außerdem Lasterbalk und Asp, die vor der Anrichte standen und gemeinsam ein Glas 2009er – halbtrocken, wie Fritz inzwischen wusste, mit mehr Gewürzen als Fruchtzucker – genossen.

»Na?«, begrüßte ihn Lasterbalk und hielt ihm vergnügt sein halbvolles Glas hin. »Mal probieren?«

Fritz hob die Brauen. »Vielleicht bin ich ja im Laufe des Abends betrunken genug, dass ihr mir das Zeug unterjubeln könnt.«

»Oh, guter Ratschlag. Danke.«

»Sagt mal …« Fritz beugte sich verschwörerisch vor, und automatisch senkten auch die Vampire ihm die Köpfe entgegen. »… was ist jetzt eigentlich mit Alea? Weiß er bescheid? Was hat er gesehen

Lasterbalk reagierte entspannt auf die Frage. »Oh, gesehen hat er ziemlich viel, des wissen wir mittlerweile. Zum Beispiel einen Paul Frais am Rande des Wahnsinns, der zusammenhangloses Zeug labert.«

»Und jeden in seinem Umfeld, eingeschlossen uns alle, als Vampire tituliert, die ihre Rasse verraten«, ergänzte Asp mit ernster Miene, aber dem bekannten listigen Funkeln in den Augen. »Wer weiß schon, wie viel davon wahr ist?«

Die Gelassenheit der beiden verunsicherte Fritz noch mehr. Seine Verwirrung wuchs. »Aber Alea hat euch gegen ihn kämpfen gesehen«, gab er zu bedenken, »er hat gesehen, wie ihr seine beiden Handlanger geschlachtet habt …«

»Die haben wir gepfählt, und das waren vornehmlich Sebastian und Ingo. Fangzähne waren nicht im Spiel.«

»Aber er muss doch gesehen haben, wie …« Fritz unterbrach sich, als ihm einfiel, dass er das Ende des Kampfes ab dieser Stelle verpasst hatte. Frais hatte ihn ausgeknockt. Aber hatte denn daraufhin niemand …?

Wieder schien Asp seine Gedanken lesen zu können: »Micha hat sich danach ziemlich auf Frais gestürzt, ja. Und bei diesem Ringkampf hat er ein paar gute Minuten durchgehalten.«

»Niemand von uns hat Frais mit den natürlichen Waffen eines Vampirs angegriffen«, fuhr Lasterbalk ruhig fort, »weil wir wussten, dass es nix nützen würde. Micha wusste das auch. Er hat’s mit bloßer Kraft versucht. Und Alea hat in diesem Moment schon auf Frais eingewirkt, aus der Distanz, bis er sich getraut hat, näher ranzukommen, um einen festeren … Griff zu haben.«

Es ergab einen gewissen Sinn. Trotzdem wuchsen die Furchen in Fritz’ Stirn zu tiefen Gräben aus. »Das heißt … er weiß nichts? Aber wie …? Er wusste schon vorher, dass wir ihn anlügen, das hat er mir selber gesagt …«

Lasterbalk nickte. »Ja, absolut richtig. Wir haben uns da fälschlicherweise in Sicherheit gewiegt, fürchte ich. Er hat uns damit konfrontiert und wir haben ein Geständnis abgelegt.«

»Oh … ach ja? Und welches?«

»Wir haben sein Blut gegen Hinweise getauscht. Über längere Zeit, immer wieder. Wir … dealen sozusagen damit, um uns Tipps aus erster Hand zu holen.«

Fritz brauchte einen Moment, um sich zu entsinnen, was damit gemeint war. »Coppelius«, murmelte er. »Es war nicht das erste Mal.«

»Nein.«

»Wie?«

»Alea ist ein fleißiger Blutspender.«

»Und wir sind gut im Netzwerken, genau wie Frais«, fügte Asp hinzu und leerte gemütlich sein Glas.

»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte Fritz unbehaglich.

»Ging so. Er kann furchtbar vernünftig sein.«

»Aber dass ihr Vampire seid …«

»Fritz.« Lasterbalk stellte sein Glas beiseite, kreuzte die Arme vor der Brust und sah ihn fest von oben herab ab. »Glaubst du net auch, dass Alea dann ein bisschen mehr Theater gemacht hätte? Wenn er all sein Vertrauen untergraben finden würde? Er weiß, dass wir alles tun, um ihn zu beschützen … aber fände er das raus, dann glaub ich net, dass er noch taff hinter uns her spazieren und hinterrücks unseren Feind umlegen würde.«

»Hmmm. Vielleicht hast du Recht.«

Allmählich sah Fritz ein, dass er sich womöglich doch von den Umständen hatte blenden lassen. Einen reinen Tisch mit Alea hätte er sehr begrüßt, doch vorschnell daran zu glauben war naiv gewesen. Das Risiko war enorm. Und an der Erkenntnis, dass man unter der Hand sein Blut verkaufte, hatte Alea sicher erst einmal genug zu kauen.

Als die Stille einen langen Moment angehalten hatte, schickte sich Lasterbalk mit einem knappen »Bis später dann« zum Gehen an. Asp blieb stehen und musterte Fritz aufmerksam.

»Nicht ganz, was du erhofft hast, hm?«

»Nicht wirklich«, gab Fritz zu.

»Es wäre uns allen lieber, wenn das Lügen ein Ende hätte.«

Fritz nickte langsam; inzwischen wusste er, dass das stimmte. Ändern können würde er daran nichts. Geneigt, einer anderen drängenden Frage nachzugeben, wandte er sich an Asp und fragte zaghaft: »Belastet es dich sehr, dass dein Erschaffer tot ist?«

Asp dachte darüber nach, lächelte vorsichtig und meinte: »In dem Moment, als er sagte, dass er uns alle töten würde – mich eingeschlossen –, hat er das Band zerstört. Es ist wirklich so einfach. Nur ein paar Worte … und man ist frei.« Sogleich, um das Aufkommen nachdenklichen Schweigens zu vermeiden, fügte er hinzu: »Fritz, Micha hat vorhin nach dir gefragt. Ich weiß aber nicht, was er wollte. Vielleicht solltest du ihn mal suchen gehen.«

»Oh.« Das erstaunte Fritz. »Ich mach mich gleich auf den Weg.«
 

Fern dem Trubel auf den Stufen der mittlerweile geschlossenen Papierfabrik saßen Eric Hecht und Michael Rhein und tranken jeder ein Bier. Gesagt hatten sie bisher nicht viel, eigentlich nur steifes Zeug, doch endlich setzte Eric dazu an, das verlegene Schweigen zu brechen.

»Diese Sackpfeifen-Armee war episch«, sagte er. »Was für’n Mist, dass ich nicht mitspielen konnte.«

Micha zuckte die Schultern: »Nimm’s leicht, Drama Queen. Dafür hattest du deinen Auftritt als Mittelpunkt des Ganzen. Viele Sackspieler Deutschlands und Irlands haben sich zusammengerottet, um dich zu retten.« Er trank den Rest seines Biers aus, stellte die Flasche neben sich und musterte den anderen. »Ich würd dich gern was fragen«, begann er zögerlich. »Was, das mich eigentlich nichts angeht, aber das ich einfach nicht raffe.«

Eric starrte ihn an. »Und was? Frag halt … solange es nicht wieder was Beleidigendes ist.«

»Nee, diesmal nich’ … nur … naja – warum, zur Hölle, trinken die dein Blut? Ich meine die Subway-Vampire. Deine Frau ist kein Vampir, von der können die Löcher nicht sein. Was also machst du mit Simon und Silvio, dass die so abhängig von deiner Suppe sind? Und wieso

Eric antwortete nicht sofort. Eine Zeitlang sah er Micha an, als wäre er nicht ganz sicher, die Frage überhaupt richtig verstanden zu haben. »Du glaubst also«, fasste er die Anklage zusammen, »ich würde die dazu zwingen? Um sie zu dominieren? So eine … Machtspiel-Sache? Ja?«

Sofort zuckte Micha erneut die Schultern, hielt aber weiterhin den Blick unverwandt auf Eric geheftet. »Es ist einfach nur komisch. Und die wollen nicht drüber reden, wenn man sie drauf anspricht. Für mich sieht das schon danach aus, als würdest du sie unter Druck setzen.«

Eric schüttelte entschieden den Kopf. »Ich hab wirklich andere Sachen zu tun, als meine Bandmitglieder permanent zu demütigen«, schnaubte er. Seine leere Flasche anstarrend, fuhr er leiser fort: »Die sollten es nur nicht überall rumerzählen.«

»Was rumerzählen? Dass du es magst, gebissen zu werden?«

»So ist das nicht. Nein, dass ich … also, dass ich … oft, wenn ich zu viel arbeite, nicht zur Ruhe komme. Nicht schlafen kann. Launisch werde … und Fehler mache, die nicht passieren dürfen. Das ist ein Problem, gegen das Baldrian nicht mehr hilft. Ich kann einfach oft nicht schlafen, wenn wir arbeiten, und steh dann unter Stress. Das tut keinem in meiner Umgebung gut. Du weißt genau, was ich damit meine.«

Endlich verstand Micha, was der andere ihm herumdrucksenderweise mitzuteilen versuchte. »Achsoooo … Es geht also nur um ’ne Dosis Schlummifix?«

»Worum denn sonst?«

»Du tauschst eine warme Mahlzeit gegen einen Gute-Nacht-Kuss?«

»Finde ich fair«, erwiderte Eric trotzig. »Und deine Metaphern sind geschmacklos, wie immer. Michael, wenn ich versuchen würde, Subway To Sally von mir abhängig zu machen, dann müsste ich mich erst mit Bodenski um die Vorherrschaft prügeln. Das wäre ein epischer Kampf, wie zwischen den beiden Stieren in der Táin Bó Cúailnge. Und ich würde definitiv nicht gewinnen.«

»Verstehe.« Micha nickte nur. Es war nicht nötig, mehr dazu zu sagen.

Beide starrten eine Weile vor sich hin. Dann, schließlich, gab Micha Eric wortlos eine neue Flasche und hielt ihm seine eigene zum Anstoßen hin.
 

Als Fritz nach langem Suchen dazukam, stand Eric sofort auf. »Ah, Friedrich. Gut, dich zu sehen. Ich lasse euch mal allein … Wollte eh gerade noch ein paar Worte mit den anderen wechseln, außer meiner Band werde ich die ja alle eine Weile nicht sehen«, entschuldigte er sich.

Fritz wartete, bis er außer Hörweite war, und wandte sich dann an Micha: »Was wolltest du mich denn wissen lassen?«

»Och, nur was … so am Rande.« Micha nickte neben sich, und Fritz nahm Platz, woraufhin auch er ein Bier gereicht bekam. »Eigentlich nur, dass ich bei der MIU aufhöre. Hey, du bist nach InEx der erste, der’s erfährt, Glückwunsch.«

»Aufhören?«, wiederholte Fritz und starrte seine Flasche an, als wüsste er nicht mehr, wie sie zu öffnen war. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Was sollte diese Eröffnung? »Aber wieso denn das? Buschfeldt ist doch weg!«

»Ach, es war nicht nur Chefchen, der mich genervt hat«, wehrte Micha ab. »Eigentlich hab ich schon lange drauf gewartet. Du weißt, Buschfeldt hätte uns als Band platt gemacht, wenn wir ausgestiegen wären. KP wird uns keine Schwierigkeiten machen. Die anderen werden, denk ich mal, noch weiterarbeiten. Zumindest, solange die restlichen Schwachmaten nichts alleine hinkriegen.« Er lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich fänd’s gut, wenn die anderen auch aussteigen würden … Wir hätten mehr Zeit für die Mucke.«

»Hm, verstehe«, gab Fritz unschlüssig zurück. Er war nicht sicher, ob er bekümmert oder eher erleichtert sein sollte.

»Außerdem«, fuhr Micha verträumt fort, »muss ich mir … in zwanzig Jahren oder so … einen anderen Ort suchen. Warum erst richtig alt werden, wenn man es vermeiden kann.«

Fritz horchte auf. »Moment mal … Du willst sterben

»Sterben?«, fragte Micha verblüfft.

»Naja, alle haben gesagt, dass … Vampire ja nicht von alleine sterben, sondern, wenn sie alt sind, einfach woanders hingehen und wiedergeboren werden. Dass sie sich aber ab einem bestimmten Zeitpunkt immer daran erinnern, wer sie sind … und dass sie es irgendwann satt haben …«

»Naja, das stimmt auch, ich meine, es will ja keiner ewig leben. Aber –«

Fritz fiel ihm entsetzt ins Wort: »Alle sagen, dass alte Vampire ihr Leben dann selber beenden!« Ängstlich fügte er hinzu: »Ich meine, du bist der älteste Vampir in der Gegend, oder?«

»Oh ja.« Michas eben noch leidlich bestürzte Miene verwandelte sich in ein Grinsen. »Aber mach dir keinen Kopf. Ich rede wirklich nur vom Verjüngen. Sterben, wer macht denn so was? Will ich nichts von wissen. Gibt noch viel zu viele Orte, die ich sehen will, und zu viele Sachen, die ich ausprobieren will. Blöd, dass Menschen nur ein einziges Leben haben, denn das reicht ja vorne und hinten nicht. Ich will mal auf dem Mond wohnen, und so. Kann also noch dauern.«

Jetzt musste Fritz lachen. »In Anbetracht dessen müsste man sich wirklich überlegen, doch noch ein Vampir zu werden.«

»Vergiss es, so ’ne Weichflöte wie dich will ich nicht als Baby! Würde mich ja um den Verstand bringen!« Micha lachte mit. »Aber ich sag mal, im nächsten Leben lass ich es ’n bisschen ruhiger angehen. Zwei Jobs gleichzeitig sind einfach zu stressig. Keine MIU mehr.«

»Aber auch kein In Extremo.«

»Das ist schade, ja.«

»Du liebst die Band wirklich, oder?«

»Jaah«, sagte Micha zärtlich. »Du glaubst nicht, wie verdammt dankbar ich bin, in einer Band wie In Extremo zu spielen. Wie viel mir das gibt. Diese Typen behandeln mich zu einhundert Prozent wie ihresgleichen.«

Fritz staunte. »Ist das nicht selbstverständlich?«

»Nee. Eben nicht. Selbst wenn Menschen dich als gleichgestellt betrachten, wirst du trotzdem ständig dran erinnert, dass du anders bist. Wenn ich mit InEx unterwegs bin, passiert das praktisch nie. Wenn wir zusammen essen, nörgeln die nicht rum, dass ich das gar nicht brauche. Die liegen mir nicht in den Ohren, wann ich wie viel Blut trinken soll. Die machen keine blöden Bemerkungen über meine Augen oder sagen Sachen wie: ›Oooh, Micha, mach doch mal mit deinen Zähnen meine Bierdose auf.‹ Die reißen keine Vampirwitze – naja, gut, meistens jedenfalls – und die verlangen auch nicht, dass ich sie beiße oder an ihnen rumlecke, wenn sie sich mal in den Finger schneiden. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. In den anderen Bands passiert das, das weiß ich. Müssen die Vampire selber wissen, wenn die das nicht stört. Die sind ja auch fast immer zu zweit in einer Band. Ich jedenfalls würde mich nicht wohlfühlen, wenn ich ständig so ’nen Stempel auf der Stirn hätte. Aber so ist es eben nicht … Ich kann mich die ganze Zeit praktisch wie ’n Mensch fühlen. Hyperborea? Jeder hat Lieblingsgetränke. Azathioprin? Die anderen nehmen auch Pillen. Scheißegal! Ich bin einer von ihnen, und sie zeigen mir das. Alter, mit denen kann ich Musik machen, bis die Welt untergeht … und genau das will ich!« Er atmete tief die kühle Luft ein und ließ sie behaglich wieder ausströmen. »Vielleicht sollte ich sie einfach alle in Vampire verwandeln … In Extremo für immer …«

»Ohne Anschluss an Menschen werdet ihr so ein Haufen wie Coppelius«, erinnerte Fritz grinsend. »Nein, es ist schon ganz gut, dass Vampire sich mit Menschen umgeben. Nicht nur zum Sattwerden.«

»Hm, ja. Wäre vielleicht doch nicht so gut.«

»Hier seid ihr!«, hörte Fritz auf einmal Falk rufen, der durchs Dunkel auf sie zustapfte. »Ich hab euch schon gesucht! Ich möchte die Herren ja nicht stören, aber: Wir gehen gerade zu den harten Drogen über.« Er sah ausgesprochen gut gelaunt aus. »Erstens stehen Musiker, gleich nach Winzern und Weinhändlern, an dritter Stelle der Personengruppen mit berufsbedingt erhöhtem Alkoholkonsum. Zweitens müssen wir alle wieder eingetrunken sein, wenn’s auf Tour geht. Also? Kommt ihr?«

Fritz schaute unschlüssig vom einen zum anderen. »Ich hätte wissen müssen, dass harte Sachen ausgepackt werden würden, oder?«

»Willste kneifen?«, neckte Micha und gab ihm einen herausfordernden Rempler mit der Schulter.

»Nicht diesmal, Micha. Nicht diesmal.«

Ein zufrieden schmunzelnder Falk führte den Dreiertross Richtung Küche.
 

Zu Fritz’ Erleichterung fiel der Kater am nächsten Morgen mild aus. Schon gegen Vormittag hatten ihn die Musiker mit auf Erfahrung basierenden Tipps soweit wiederhergestellt, dass er endlich seine Fahrt nach Hildesheim antreten konnte – nach Hause, zu Kitty.

Seine Frau fiel ihm um den Hals, als wäre er jahrelang verschüttet gewesen. »Ich hab so wenig von dir gehört!«, beschwerte sie sich, schob ihn von sich und musterte ihn besorgt. »Oh Gott, du hast sogar Wunden am Hals!«

»Halb so wild«, antwortete er lächelnd. Wie schön sie war, so schwarz in schwarz, wie immer. Einen neuen Lidschatten hatte sie auch. Seine Gothic Queen … und daneben er, ein penibler, feiger, sauberkeitsfanatischer Krawattenträger …

»Komm rein! Ich hab Pflaumenkuchen im Ofen!«, forderte ihn Kitty auf und zog ihn am Hemdärmel ins Haus, um die Tür zu schließen. »Leider gibt es im Winter keine deutschen Pflaumen … Man muss immer irgendwo welche aus Südamerika finden …«

Schon der süße Duft aus der Küche ließ Fritz den Mund wässrig werden. Beinahe hätte er vergessen, dass er Christine etwas mitgebracht hatte. Da sie schon wieder herumwuselte, hielt er sie sanft am Arm fest. »Kitty, guck mal«, strahlte er. »Ich hab was für dich.« Und er reichte ihr ein kleines hölzernes Kästchen mit goldenem Beschlag.

»Für mich?«, fragte Kitty, sichtlich verwirrt. Offensichtlich war Fritz’ heile Rückkehr für sie schon das größtmögliche Geschenk gewesen. »Nanu …« Sie klappte das Kistchen vorsichtig auf. Ihre Augen wuchsen zu doppelter Größe heran. »Oooh!«

Fritz sah zu, wie sie die beiden herzförmigen Glasanhänger herausnahm und selig lächelnd betrachtete. »Ich wusste gar nicht, dass es sie als Herzchen gibt! Wie süß!«

»Tja«, erwiderte Fritz und schluckte das aufkeimende Unbehagen tapfer hinunter. »Wir müssen uns wohl mal einen Arzttermin geben und sie füllen lassen.«

»Gleich morgen!«, freute sich Kitty.

»Ja, von mir aus …«

»Wie kommt es, dass du plötzlich nichts mehr dagegen hast?«, wollte sie neugierig wissen.

Fritz druckste herum. »Och, also … Sagen wir, es hat sich vieles verändert. Der neue Job hat alles ein bisschen … umgeworfen. Ich sehe einiges anders. Muss offener für Neues sein, weniger verklemmt. Ich arbeite dran. Und Blut hab ich sooo viel gesehen in den letzten Wochen … Ich mag es immer noch nicht, aber ich glaube, ich will jetzt lernen, damit umzugehen. Dazu gehört es eben, auch deinen Vorlieben mal ein bisschen entgegen zu kommen. Auch dich werde ich jetzt wohl mit anderen Augen sehen … meine Vampirlady.« Er zog sie an sich und küsste sie auf die Wange, und Kitty quietschte vergnügt.

»Fritz, ich bin so glücklich, dass du endlich wieder da bist!« Liebevoll gab sie ihm nun ihrerseits einen Kuss. »Du bist der beste Mann der Welt!«

Und das sagt eine Frau, der ich nie wirklich alles zu geben versucht habe, dachte Fritz ganz liebestrunken. Ich hab immer viel zu sehr auf mich selbst aufgepasst … aber das wird jetzt alles anders.

Und, optimistisch in die Zukunft sehend, fuhr er zum Jahresanfang wieder nach Alfeld.
 

ENDE


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie ihr seht, spielt die Geschichte so ziemlich nach der MPS-Saison, aber vor den großen Tourneen der Bands – also eigentlich in einem Zeitraum, den es gar nicht wirklich gegeben hat. Ich habe diesen fiktiven Zeitraum einfach mal „Oktober 2011“ genannt, auch wenn das nicht ganz hinkommt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Ich hoffe, die Offenbarung war nicht allzu erwartet. ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hardfail, was die Auswahl betrifft. Mehr kann man da wohl nicht sagen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Is Gaeilge í an teanga seo, nach í? = Diese Sprache ist Gälisch, hm? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
fiacail, f. = Zahn
fuil, f., Gen. fola = Blut
fírinne, f. = Wahrheit
lámh, f. = Hand
Dia, m., Gen. = Gott

Songtext: In Extremo – „Ai Vis Lo Lop“ bzw. Saltatio Mortis – „Lepornia Venatio“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
a = irische Vokativpartikel, d.h. steht vor jeder Anrede Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
A ghrá mo chroí! = O Liebe meines Herzens! (Vok.) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
uafásach = schrecklich, furchtbar
rua = rothaarig
A chairde! = O Freunde! (Vok.)
A stóir! = O Schatz!
Póg mo thóin! = Küss meinen Hintern!
táin = Herde
amadán = Idiot
Tá áthas orm bualadh leat. = Ich freue mich, dich/Sie zu treffen.
Tá áthas orm tú a bhualadh. = Ich freue mich, dich/Sie zu schlagen.
buail = schlagen
buail le = (sich) treffen mit Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Gähn ... Meine Güte, wenn kommt hier endlich mal wieder Action? *scroll* ... *scroll* ... Irgendwie vorerst gar nicht ... Mal sehen, ob ihr die Dürre übersteht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
neamh, f. = Himmel
ifreann, m. = Hölle
Maith thú = wörtl. „Du bist gut“, wird u.a. für „Danke“ benutzt Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
a chara = o Freund
Nach ea? = Nicht wahr?
Céard faoi sin? = Wie wär’s damit?
Cuirfidh mé scéala chuici. = Ich werde ihr bescheid sagen.
Ceart go leor. = Entspricht etwa “Well enough”.
amhrán, m. = Lied
Ní maith liom é. = Ich mag es nicht.
Níl a fhios agam. = Ich weiß es nicht.
na rudaí seo = diese Dinge
a dhéanamh = zu tun
Tá sé marbh anois, tá mé cinnte. = Jetzt ist er tot, da bin ich sicher.
gan amhras = ohne Zweifel
Go raibh maith agaibh. = Danke (euch).
ceapaim = ich denke
Ar ndóigh. = Natürlich.
Slán go fóill! = Auf wiedersehen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Beidh mé ag cabhrú leat láithreach bonn. = Ich werde dir sofort helfen!

Tabhair aire dhuit féin! = Pass auf dich auf!

Slán go fóill! = Auf wiedersehen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Und es wird noch viel aspiger. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soho!
Alle, bei deren Geschichten ich immer bemängelt habe, etwas sei „unrealistisch“, dürfen mir jetzt mit dem UNREALISTISCH!!-Schild so richtig eins überziehen. Eigentlich wollte ich diese Szene ganz knapp halten, so à la „Los, jetzt aber schnell!“ – „Okay, wir sind fertig!“, bis mir klar wurde, dass das totaler Humbug ist. Schon allein, dass zwei Ärzte, die dafür gar nicht adäquat ausgebildet sind (in diesem Fall Bock und der Chirurg) so eine OP durchführen dürfen, ist totaler Irrsinn. Und dass dann auch noch ein völliger Laie (in diesem Fall Micha) bei der RSI assistiert, ist sicherlich ebenso undenkbar. Außerdem versichert das Herzzentrum Dresden, dass bei ihnen immer so ein OP-Team bereitstünde, nech? Wie auch immer, ich hätte natürlich außerdem alle medizinischen Fachbegriffe ins Glossar aufnehmen können. Hab ich aber nicht – erstens, weil sie danach nie wieder benutzt werden, zweitens, weil sie für den Mainplot keine Rolle spielen. Ich denke mal, wenn ihr was genauer wissen wollt, werdet ihr schon nachfragen oder Google bemühen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
And walking.
And walking.
And mooooore walking. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Tristania
2021-11-11T09:23:42+00:00 11.11.2021 10:23
Oh. Mein. Gott.
Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Fanfiction nach all den Jahren noch einmal so fesseln kann wie dieses hier. Habe es jetzt zum zweiten Mal gelesen und bin immer noch voller Begeisterung - die Darstellung der Charaktere ist meiner Meinung nach tatsächlich nicht weit weg von der Realität. Vor allem Micha begeistert mich als großer In Ex-Fan durch die Bank und Basti spricht tatsächlich mit seiner Originalstimme in meinem Kopf (ich finde es fantastisch, dass du ihm Berliner Schnauze verpasst hast, das machts so herrlich authentisch). Ganz großes Kino! Ich habe es jetzt zweimal durchgelesen und dabei gelacht, gelitten und gefiebert. Auch deine OCs finde ich super kreiert, vor allem Fritz und Bock haben schnell mein Herz erobert. Das Detailwissen rund um die Musiker und Bands und vor allem dein medizinisches Hintergrundwissen sind der Hammer (bei ersterem kann ich einigermaßen mithalten, bei letzterem bin ich vollkommen raus :D).
Ich mag deine grundsätzliche Darstellung der Vampire sehr, eben weil es keine Twilight-Jammergestalten sind, sondern (wie du schon schreibst) alles ein wenig dreckiger zugeht. Außerdem finde ich die Aspekte des Bluttrinkens, den Einsatz von Betäubungsgift beim Biss und den Umstand, das Vampire Sonnenschein eigentlich lieben höchst interessant - ist auf jeden Fall mal ein anderer Ansatz zu dem Thema und nicht schon hundertmal niedergeschrieben.

Ich weiß nicht, ob du noch schreibst und das Thema noch einmal aufgreifen willst (ist ja schon ein paar Jährchen her), aber ich persönlich würde mich wahnsinnig darüber freuen, in einem zweiten Teil mehr von der MIU zu lesen. Gerade auch von der In Ex-Fraktion, trotz Michas recht eindeutiger Ansage am Ende.

Liebste Grüße von einer, die jetzt zum dritten Mal auf diesen herrlichen Storytrip gehen wird! :)
Antwort von:  CaroZ
21.11.2021 18:42
Haaaaalllo, viel zu spät entdecke ich deinen zauberhaften Kommentar und kann mich nur allerherzlichst bedanken! Ich freue mich auch nach langer Zeit noch über Reaktionen zu Geschichten, und dass diese dir gefällt, freut mich natürlich ungemein! Vielen Dank, made my day <3
Die Fortsetzung läuft tatsächlich äußerst schleppend auf fanfiktion.de, aber da sind die letzten Postings im Abstand mehrerer Jahre gekommen, weil ich einfach seit meinem Eintritt ins Vollzeit-Berufsleben mit Single-Haushalt große Probleme habe, Zeit und Energie zum Schreiben zu finden. Ich habe so viele Fandoms, in denen ich aktiv sein will, aber es klappt einfach nicht. Insofern: Ob die Fortsetzung je fertig wird, weiß ich nicht ...

Lieben Dank noch mal und ich freue mich riesig, dass du die Geschichte magst. :D
Antwort von:  Tristania
23.11.2021 00:31
Huhu, vielen Dank für die Info, dann werde ich mich gleich mal auf fanfiktion.de auf die Suche danach machen. Ja, das Thema kenne ich - Beruf, Alltag, Hobbies und nicht zuletzt Familie bremsen einen da manchmal ziemlich aus. Genauso das Problem der 1000 Fandoms. Nichtsdestotrotz tut es gut, sich ab und an mal wieder in andere Welten zu begeben. Dann wünsche ich trotzdem weiterhin viel Erfolg und kreativen Input. Liebe Grüße!
Von:  Zeku
2016-02-16T14:15:28+00:00 16.02.2016 15:15
Ich brech ab vor Lachen. x,D Es macht so Spaß, das zu lesen und in den Hirnwindungen nach den Musikern zu suchen ,die sich hinter deinen Beschreibungen verstecken. Und die kleinen Insideranspielungen, z.B. bei ASPs Namen. x3 Köstlich. Natürlich habe ich auch nach dem erwähnten MPS Plakat schauen müssen, das du eingebaut hast. Die ganze Story dazu .. Alea? Der hält das für nen PR-Gag. *höhö .. Allerliebst. Alle Daumen hoch von mir. Ich freue mich gerade noch mehr auf die nächsten Kapitel. ^.^
Antwort von:  Zeku
16.02.2016 15:55
Ach und btw. hab ich mich 2009 mit einigen sehr netten "Vampiren" ablichten lassen. :D *hihi Das war ein schöner Abend .. ^^ sfz*

http://galerie.lotgdforum.de/showfull.php?photo=20536
http://galerie.lotgdforum.de/data/872/152.jpg
Antwort von:  CaroZ
16.02.2016 20:35
N’Abend!

Schöne Fotos hast du da! Die Herren sind aber auch fotogen … du allerdings auch, muss ich sagen! Ich hab noch nie so ein Foto gemacht …

Danke für das Lob und den Eifer beim Nachforschen.^^ Ich seh schon, deine Kommentare zu lesen wird immer überaus unterhaltsam sein. xD Ich hoffe, du entdeckst noch viele kleine Easter Eggs. Hab mir Mühe gegeben!

Yay, danke noch mal, hoffentlich gefällt es dir weiterhin. ;)

Liebe Grüße
Caro
Von:  Zeku
2016-02-15T16:39:04+00:00 15.02.2016 17:39
Wie klasse liest sich das denn bitte? XD Ich bin gerade auf dein ungewöhnliches FF gestoßen und werde mich pöapö darüber her machen. Das erste Kapitel ist schon mal Bombe. :D Ich freue mich schon auf den Auftritt der ersten Band-Member. x3 *grins
Antwort von:  CaroZ
15.02.2016 21:18
Hallööööli,

danke für den Kommentar. =) Ich hab befürchtet, FFs zu den Bandmitgliedern selber werden hier nicht gelesen, da es auch kaum welche gibt. Schön, wenn sich trotzdem jemand dafür interessiert. Ich hoffe, die Geschichte gefällt dir und du hast Spaß! xD

Liebe Grüße
Caro
Von:  Rockryu
2013-11-01T15:08:45+00:00 01.11.2013 16:08
Das ist mal was anderes! Und lustig.
Es wird mir einen Heidenspaß machen, das weiterzuverfolgen.


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