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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Blut ist dicker als Bier

Buschfeldt drückte Fritz einen Schlüsselbund in die Hand, der grob geschätzt hundert Schlüssel hielt und gefühlt drei Kilo wog.

»Das wird Ihre erste Aufgabe sein, Herr Wunderbaum. Sie sind unser Schlüsselwächter. Beweisen Sie uns, dass Sie Verantwortung übernehmen können.«

»Ist das ein Witz?« Es rutschte ihm einfach heraus, dabei hatte er noch nie eine vertikale Bewegung an Buschfeldts Mundwinkeln registriert.

»Ich mache nie Witze«, entgegnete der Direktor. Fritz glaubte ihm sofort.

An diesem Morgen befanden sich in der MIU-Zentrale dieselben Leute wie am Tag zuvor. Einige begrüßten ihn, andere nicht. Überhaupt schienen einige seiner Kollegen einander mehr zu mögen als andere, woraus er schloss, dass sie in derselben Kapelle spielten; andere gingen sich zwar nicht kategorisch aus dem Weg, wechselten jedoch nicht mehr Worte als nötig.

Asp indes schien sich mit allen gut zu verstehen, aber er schien auch einen sehr verträglichen Charakter zu haben. Fritz nahm sich vor, Menschen nie wieder nach ihrem äußeren Erscheinungsbild zu beurteilen.

»Buschfeldt wird dir im Laufe des Tages eine wichtige Frage stellen«, warnte Asp ihn. »Überleg dir gut, wie du sie beantwortest.«

»Was für eine Frage soll das sein?«

»Das wirst du schon sehen.«

»Ich hasse diese Geheimniskrämerei.«

Der finster aussehende Mann bedachte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln und tätschelte ihm die Schulter. »Glaub mir, du wirst dir später wünschen, er hätte dich nicht danach gefragt.«

Fritz zögerte und folgte ihm dann. »Eins muss ich aber wissen, weil ich das wahnsinnig irritierend finde!« Asp wartete auf ihn, und Fritz fragte: »Was, bitteschön, sollen diese Namen? Dieses … Asp und … Lasterbalk …«

»Ach, das … Ein leidiges Thema. Unsere Künstlernamen gelten als Codes. Buschfeldt besteht darauf, dass wir sie im Umgang verwenden, aber kaum jemand macht das. Du wirst also nach und nach auch alle bürgerlichen Namen erfahren, auch wenn wir sie offiziell nicht benutzen dürfen – naja, außer bei Saltatio Mortis. Die halten sich daran. Sie sind noch nicht so lange bei der MIU wie wir anderen.«

»Ah … okay.«

Jäh ertönte Buschfeldts Stimme den Gang hinunter: »Ihr redet mir alle schon wieder zu viel! Geht an die Arbeit, ihr habt noch einen Kollateralschaden zu beseitigen!«

Asp warf einen unbehaglichen Blick in die Richtung von Buschfeldts Büro. »Ein Kollateralschaden ist … gebauter Mist.«

»Hatte ich auch kürzlich«, murmelte Fritz.
 

Der Vormittag verlief aus Fritz’ Perspektive relativ ereignislos. Dies lag vermutlich daran, dass er den Musikern keine große Hilfe war. Falk und ›Schmittchen‹, wie Simon häufig genannt wurde, waren in Alfeld unterwegs und besorgten etwas, das sie ›Hyperborea‹ nannten. Fritz hatte nicht erfahren, worum es sich dabei handelte; vermutlich etwas ähnlich Mysteriöses wie dieses Treuenbrietzen-Zeug, dessen Namen er vergessen hatte. Ob es sich dabei wohl um Drogen handelte? Schließlich war allgemein bekannt, dass Musiker Unmengen an verbotenen Substanzen konsumierten – und die Vielfalt, die sich dem Verbraucher in dieser Szene bot, war schier nicht zu überschauen. Vielleicht, grübelte Fritz, waren einige dieser schrägen Typen wirklich gefährlich abhängig von etwas, das Buschfeldt für sie beschaffen musste, damit sie nicht beim Arbeiten den Löffel abgaben.

Unschlüssig entschied Fritz, der jungen Sekretärin Susi beim Sortieren einiger Akten zur Hand zu gehen, während sie Telefonate führte. Als er heimlich unter ihren Tisch lugte, der ein kleines Fach enthielt, konnte er dort mindestens drei angefangene Gummibärchentüten entdecken.
 

Gegen Mittag verstreuten sich die Agenten. Nur Pfeiffer blieb da, an einem Laptop sitzend und über ein Headset ständig mit jemandem Kontakt haltend, der sich offenbar außerhalb der Stadt aufhielt. Aus den Wörtern, die er dabei benutzte, wurde Fritz nicht schlau und gestand sich ein, dass man ihn nicht alle BfV-Codes gelehrt zu haben schien, bevor er zur MIU versetzt worden war.

Auch Fritz verließ also die Zentrale, schaute sich ein wenig in Alfeld um – so bestaunte er etwa ganze fünfzehn Minuten lang das Fagus-Werk, das Walter Gropius gebaut hatte und das sich damit rühmte, ein UNESCO-Weltkulturerbe zu sein – und kehrte um Punkt vierzehn Uhr zurück in den Keller der SAPPI-Fabrik.
 

Buschfeldt fing ihn bereits an der Tür zum Besprechungsraum ab.

»Herr Wunderbaum, auf ein Wort.« Er winkte ihm zu folgen.

Sofort fiel Fritz Asps Warnung wieder ein, Buschfeldt würde ihn etwas Brisantes fragen wollen. Nervös setzte er sich dem Direktor gegenüber und faltete seine schweißfeuchten Hände auf dem Tisch.

Buschfeldt fuhr sich durch das graue Haar und bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Nun stehen Sie an der Schwelle einer neuen Episode, Friedrich. Was halten Sie bisher von der MIU?«

Ist das die Frage, auf die ich gefasst sein sollte?, grübelte Fritz. Sie klang so harmlos.

»Äh … ich weiß nicht, so viel habe ich ja noch nicht gemacht …«

»Mir geht es dabei auch vorrangig um die Mitarbeiter. Glauben Sie, dass Sie auf Dauer mit denen zurechtkommen werden?«

Das war schon etwas heikler … aber eigentlich auch nicht so schwierig.

»Naja … ja, schon«, antwortete Fritz. »Sie scheinen alle recht verträglich zu sein.«

Buschfeldt sah ihm fest in die Augen. Er wirkte müde und irgendwie alt. »Also«, seufzte er schließlich, »dann haben Sie jetzt die Wahl. Eine Wahl, die Sie nur einmal haben werden, also wählen Sie gut. Wollen Sie die rote oder die blaue Pille?«

Pille? Fritz starrte ihn an. »Rot oder blau?«

»Das ist aus einem Film namens Matrix. Subkultur. Ich hielt die Metapher für mittlerweile allgemein geläufig. Präziser: Ich biete Ihnen hiermit die Chance, den fahrenden Zug noch zu verlassen. Auszusteigen, quasi. Wenn Sie diese Chance nicht nutzen und sich stattdessen entscheiden, bei uns zu bleiben, werden Sie in Sachverhalte eingeweiht werden, die den Namen ›X-Akten des BfV‹ durchaus verdienen. Und die Schweigepflicht wird eine Herausforderung sein. Machen Sie sich das bewusst.«

Fritz hörte sich das an – und wusste jetzt, weshalb man seinen Fragen ständig ausgewichen war. Verschwörungen! Alles voll davon!

»Was passiert, wenn ich aussteige?«, verlangte er zu wissen. »Bekomme ich meine alte Stelle zurück?«

»Nein«, sagte Buschfeldt.

»Also wäre das mein … Karriereende.«

»Ja.« Der Direktor faltete die knochigen Finger ineinander. »Unter Umständen ein lebensrettendes.«

»Ist es so schlimm?« Eine gewisse verirrte Belustigung konnte Fritz sich nicht verkneifen; Buschfeldts Trauermiene wirkte einfach furchtbar übertrieben. »Ich bin dreiundvierzig, also, ich glaube nicht, dass mich noch irgendwas aus der Bahn werfen kann. Und wenn ich weiter beim BfV arbeiten darf – mit dem, was ich kann –, dann steht meine Entscheidung wohl fest, egal wie viele X-Akten auf mich warten.«

Sein Chef sah immer noch unglücklich aus. »Wie Sie meinen, Friedrich. Ist das endgültig?«

»Ja.« Fritz bemühte sich um ein sicheres, souveränes Nicken.

»Gut. Dann holen wir jetzt die anderen.«

In dem Moment, in dem Buschfeldt sich aus seinem Sessel erhob, streckte Falk den Kopf zur Tür herein. »Wir sind wieder da«, meldete er. »Vorräte aufgestockt.« Er nickte in Fritz’ Richtung. »Weiß er es schon?«

»Er ist kurz davor, es zu erfahren. Wenn du so nett wärst, die Übrigen zu versammeln.«

»Aber gern.« Eine unterschwellige Vorfreude schien Falk zu ergreifen, während er sich scheinbar gemäßigt auf den Weg machte. Nur Sekunden später machte die Nachricht in allen Zimmern die Runde: »Der Klugscheißer wird die rote Pille schlucken! Alle kommen, großes Kino!«
 

Fritz fühlte sich entsetzlich beobachtet, als die Runde wieder zusammen saß. Alle musterten ihn mit weit größerem Interesse als am Tag zuvor.

»Ein bisschen Mumm hast du scheinbar doch«, ließ sich sogar Ingo Hampf herab zu bemerken. »Wirst es nicht bereuen. Jetzt kommt Schwung in dein ödes Leben, glaub’s mir.«

Der Mann namens Einhorn fehlte, aber Dr. ›Bock‹ Saltz war anwesend und rieb sich seelenruhig die Hände mit Pflegelotion ein.

»Also«, eröffnete Buschfeldt die Sitzung, »ich werde Ihnen jetzt nahelegen, wieso die MIU nicht das ist, was sie zu sein scheint.«

Mitten in die anschließende Stille hinein schlich sich ein leises Geräusch – eine Art Klicken, das klang, als würde ein winziges Klappmesser aufschnappen.

»Hey!«, rief Buschfeldt. »Habe ich euch dazu aufgefordert?«

»Ich war es nicht«, wisperte jemand, »ich war es nicht ichwaresnicht!«

»Was ich Sie fragen wollte, Herr Wunderbaum: Was wissen Sie über Vampire?«

Über den Raum sank eine Geräuschlosigkeit herab wie ein Betoneimer auf den Grund des Meeres. Mit Bestürzung nahm Fritz zur Kenntnis, dass jetzt niemand mehr lächelte. Alle Augen waren voller Ernst auf ihn gerichtet. Selbst Lasterbalk und Falk tuschelten nicht, sondern beobachteten gespannt seine Reaktion.

»Ääh«, begann Fritz, »Vampire, ja … Wieso Vampire?«

»Naja, weil die … gefährlich sind«, sagte Simon Schmitt.

»Weil die scheißlange Zähne haben«, sagte Ingo Hampf.

»Und weil die sich bei ALDI immer auf die Sonderangebote stürzen«, sagte Asp.

Fritz erwiderte die starrenden Blicke mit immer größer werdendem Missgefühl. »Sprechen wir von diesen Zombies, die Menschenblut trinken und in der Sonne zu Staub zerfallen?«

»So in etwa«, nickte Lasterbalk. »So ganz in etwa.«

»Also, meine Frau liebt Geschichten über Vampire. Sie hat diesen ganzen Twilight-Mist verschlungen.«

»Wir reden hier von richtigen Vampiren«, verwies ihn Yellow Pfeiffer mit angewiderter Miene. »Von Vampiren mit zweieinhalb Zentimeter langen Eckzähnen. Von Vampiren, die im Dunkeln sehen, ohne Mühe Knochen durchbeißen und jeden Tag das Blut von Menschen trinken wie Fassbrause.«

Ein eben noch belustigtes kleines Tierchen in Fritz’ Brust machte sich plötzlich ganz klein. »Vampire«, wiederholte er tonlos.

Falk wandte sich unerwartet freudig an ihn: »Magst du Vampire, Fritz?«

»Ich … glaube nicht, nein.«

»Schade. Aber vielleicht werden sie dir beim Vampir-Aufklärungsunterricht ja sympathischer.«

»Beim … was?«

»Das ist dann wohl mein Stichwort!«, frohlockte Dr. Saltz und sprang auf, dass sein Kittel flatterte. »Also lehn dich zurück und genieß die Freakshow!«

Susi kam herein und schob einen Rolltisch mit einem Beamer darauf vor sich her. An diesen war Pfeiffers Laptop angeschlossen.

»Alle Lämpchen leuchten«, sagte sie hilflos, »ich hoffe, das stimmt jetzt so.«

»Das ist prima, danke, Susi«, übernahm Bock das Gerät. Er richtete das sich langsam färbende Projektionsbild auf die weiße Wand des Raumes und machte Simon einen Wink, das Licht zu löschen. »Vampire«, begann er dann, »sind uns ziemlich ähnlich. Das liegt daran, dass sie nicht geboren, sondern gemacht werden. Alle Vampire kommen also als Menschen zur Welt. Ein Mensch wird erst durch einen anderen Vampir selbst in einen Vampir verwandelt. Ist das verstanden, Fritz?«

»Ja, das war mir schon klar«, antwortete Fritz, der sich vorkam wie in einem schlechten Film. Was um alles in der Welt sollte dieser Vampirmist? Wenn es Vampire wirklich gab – vor seinen Augen entstanden Bilder von geifernden, bluttriefenden Fratzen –, dann wollte er sich lieber eine Kugel geben. Welch grauenhafte Vorstellung, von einem Blutsauger in den Hals gebissen zu werden! Das konnte einfach nicht Buschfeldts Ernst sein. Kurz kam in ihm der Gedanke auf, dass diese Leute, die hier um ihn herum saßen, sich nur wie ein Geheimdienst aufführten, in Wirklichkeit aber einer Gruppierung gefährlicher und völlig verrückter Verschwörer angehörten. Oder war das hier vielleicht ein Test?

»Den Vorgang dieser Verwandlung nennt man Transformation, aber dazu später«, fuhr der Arzt inzwischen ungerührt fort. »Zunächst mal was viel Wesentlicheres: Vampire sind keine Monster, wie man es oft in der Popkultur zu sehen bekommt. Sie können sich immer entscheiden, und die meisten sind friedlich.«

»Das ist wichtig, merk dir das«, bekräftigte Falk.

»Damit geht einher, dass es nicht … sagen wir … nicht unbedingt schlimm ist, ein Vampir zu sein.«

»Moment mal, Moment mal!«, unterbrach Fritz konsterniert. »Was heißt hier ›nicht schlimm‹? Vampire trinken Blut, oder nicht? Und derjenige, der gebissen wird, wird auch ein Vampir!«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Der Biss löst keine Transformation aus –«

»Also, man stirbt, wenn man gebissen wird, ja?«

»Nein, das auch nicht. Lass mich ausreden –«

»Man verblutet oder wird bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken! Das weiß man doch!« Fritz ließ sich nicht beirren.

Er war überrascht, als Lasterbalk ihn plötzlich süffisant anlächelte. »Dann will ich sehen, wie du auf einen Schlag fünf bis sechs Liter Bier trinkst, Kumpel. Beweis mir, dass das geht. Und Blut ist noch dicker und gehaltvoller als Bier, wenn ich daran erinnern darf.«

Dr. Saltz, ein wenig verdrießlich darüber, ständig unterbrochen zu werden, fuhr fort: »Vampire trinken etwa einen halben Liter, sagen wir, bis zu sechshundert Milliliter. Damit sind sie völlig zufrieden. Das ist nur ein kleines Bisschen mehr als die Menge, die bei einer Blutspende auch entnommen wird. Also überhaupt nicht dramatisch.«

Fritz dachte darüber nach. Diese Vampirsache schien allen hier ernst zu sein, niemand machte Witze darüber. Das konnte nur bedeuten, dass er deshalb nichts von Vampiren wusste, weil … »Die Geheimdienste …«, stammelte er, »… sie halten es … geheim.«

»Das ist der Job von Geheimdiensten«, erinnerte Ingo ihn überflüssigerweise. »Deshalb heißt das Geheimdienst, kapiert?«

»Fritz«, sagte Bock beinahe zärtlich zu ihm, »bist du bereit für noch eine Wahrheit?«

»Noch eine?« Er bereitete sich auf das Schlimmste vor. »Werwölfe? Drachen?«

»Nein, also … mir persönlich reichen Vampire vollkommen. Aber Fritz … Wir haben welche hier.«

»Hier?« Fritz fuhr entsetzt zusammen. »Wo?« Hektisch sah er sich in dem dunkeln Raum um. Die Gesichter der Umsitzenden wurden nur schwach vom Schein des Beamers bestrahlt, der den Bildschirmschoner zeigte. »In deinem Labor? Experimentierst du mit ihnen?«

»Äh … nö, ich meinte eigentlich … hier im Raum.« Bock machte eine Geste über alle Köpfe hinweg.

In Fritz gefror etwas. Sein Mund wurde ganz trocken. »Ihr seid alle Vampire?«, krächzte er und merkte schon, wie sich sein Puls beschleunigte. Wie konnte er am schnellsten hier rauskommen? Sie saßen näher an der Tür als er. Was war er nur für ein Idiot? So vertrauensselig, so naiv – !

»Fritz!«, sagte Bock streng. »Entspann dich! Sofort! Du fällst ja gleich in Ohnmacht! Niemand hier tut dir etwas, hörst du? Wir sind nicht alle Vampire!«

»Ich sehe viel zu gesund aus für einen Vampir«, murmelte Pfeiffer und betrachtete seine Fingernägel.

»Wie ich schon sagte, Vampire sind keine Monster, und sie kommen auch in der Regel gut mit dem Vampirsein zurecht, also guck jetzt hier rüber, Fritz, damit ich dir was über Vampirphysiologie erklären kann.« Dr. Saltz drückte eine Taste am Laptop, damit der Bildschirmschoner verschwand. Dann öffnete er ein PDF.

»Hat’s net mal für PowerPoint gereicht?«, beschwerte sich Lasterbalk.

»Hey, ich arbeite dran! Nächstes Mal kannst du ja die Präsentation vorbereiten.« Ein Bild erschien; es zeigte Christopher Lee in einem Filmausschnitt aus Dracula von 1958. »Fritz, was sehen wir hier?«

»Zähne … und rötliche Augen …«, brachte Fritz hervor. Er konnte den Blick nicht abwenden.

»Sehr gut. Die Zähne und die Augen sind die wichtigsten Erkennungsmerkmale, jedenfalls für einen Laien. Du wirst aber zugeben, dass wir dich gut getäuscht haben. Oder kannst du mir sagen, wer von uns ein Vampir ist und wer nicht?«

»Ich will darüber nicht nachdenken«, gab Fritz zu, und er hatte jetzt wirklich Angst. »Ich will es gar nicht wissen. Ich hätte doch lieber die blaue Pille. Kann ich das nicht einfach alles vergessen?«

»Zu spät«, sagte Buschfeldt mit eherner Miene. »Jetzt müssen Sie sich zusammenreißen.«

»Wenn wir mit dem Unterricht fertig sind, wird es dir besser gehen«, versprach ihm Dr. Saltz. »Es ist erst mal wichtig zu wissen, warum Vampire eigentlich Blut trinken. Wenn man das verstanden hat, ist es gar nicht mehr so schaurig. Zunächst mal gibt es auch Tiere, die Blut trinken: Mücken … Flöhe … Zecken … ’ne Menge anderes Krabbelzeug … Blutegel … Würmer … Fische … Fledermäuse … und eine Art der Darwinfinken.« Bock drückte immer dieselbe Taste, und die Bilder huschten vorbei. »Für sie ist Blut eine Energie- oder Proteinquelle, oder beides. Man spricht von Haematophagie. Vampire, Fritz, können das Essen, das wir Menschen zu uns nehmen, nicht mehr richtig verwerten; sie haben nur noch eine sehr begrenzte Fähigkeit, Nahrung in Kleinstbausteine aufzuspalten. Unser Blut ist aber für eben diese Kleinstbausteine – Proteine, Kohlenhydrate, Fette, Salze und was du noch so alles kennst – das Transport- und Lösungsmedium. Wenn ein Vampir unser Blut trinkt, kriegt er also alle Nährstoffe so, wie er sie braucht, um gesund und munter zu bleiben.«

Fritz schniefte. »Na toll … Das beruhigt mich enorm.«

»Im Grunde wollen Vampire auch nur leben und satt werden. Sie haben den Trieb, Blut zu trinken – Haematophilie –, und das ist auch gut so, denn sonst würden sie nicht überleben.« Bock nickte Simon zu, der den Arm ausstreckte und das Licht wieder anmachte. »So, jetzt werde ich dir das Vampirgebiss erklären – und dazu, Fritz, werde ich einen von uns outen.«

Alle am Tisch raunten verhalten und tauschten wissende Blicke. Jedoch niemand verriet sich.

Fritz’ Haut kribbelte. Bock würde einen Vampir enttarnen! Ihm war klar, dass er denjenigen fortan auf ewig meiden würde. Und am besten auch die anderen, denn es waren sicher noch mehr Vampire unter ihnen.

Jemand seufzte. »Na gut, na gut … Ich mach es freiwillig.« Zu Fritz’ Schrecken erhob sich Falk und trat neben Dr. Saltz. »Guck nicht so entsetzt, Fritz, es ändert nichts.«

Bock grinste erfreut. »Zähne«, befahl er.

Falk öffnete den Mund und hob die Oberlippe, damit Fritz die Zahnreihe darunter sehen konnte. Es gab dasselbe Klickgeräusch, das vorhin schon im Dunkeln ertönt war, und seine Eckzähne – denen Fritz erst jetzt ansah, dass sie unauffällig spitz waren – sprangen um einen vollen Zentimeter Länge hervor.

Vampirzähne.

Echte Vampirzähne.

»Der Eckzahn – also Caninus – eines Vampirs ist ungemein scharf«, erklärte Bock. »Umgangssprachlich nennen wir ihn Fangzahn, aber das wird seiner Funktion nicht gerecht. Der Zahn dient nämlich nicht zum Fangen – also zum Beutegreifen –, sondern zum Punktieren eines Blutgefäßes. Deshalb heißt er korrekt Blutzahn, wissenschaftlich Dens sanguinis.« Er nickte Falk zu, und dieser ließ die Zähne geräuschlos wieder so weit verschwinden, dass es unauffällig aussah. »Das Auswerfen und Einziehen läuft über einen willentlich ausgelösten Reflex. Es gibt auch im Unterkiefer Fangzähne, die aber viel kleiner und unbeweglich sind. Die großen liegen im Mund auf ihnen, sodass die Zähne sich gegenseitig anschleifen und immer messerscharf sind. Man spricht von Dens sanguinis major und minor

Fritz hätte nie gedacht, einmal einen derart wissenschaftlichen Vortrag über vampirische Mundwerkzeuge zu hören. Ihn überlief ein Schauder nach dem anderen, und er fühlte auf seinem Hemd die Schweißflecken unter den Achseln, die immer größer wurden. Das eigentlich Erschreckende war, dass der Arzt in seiner Arbeit total aufging: Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, während er die Funktionsweise der Zähne schilderte. Sie wären scharf wie Skalpelle und hart wie Diamant, betonte er, und sie könnten mitunter Stahl durchschlagen.

»Falk, du bist noch nicht entlassen. Eins müssen wir Fritz auch noch zeigen.« Er holte einen Schwamm und ein kleines Gläschen aus der Kitteltasche.

»Ach nö!«

»Doch, Falk, sei so nett.«

»Ah je, ich hoffe, du hast diesmal einen sauberen genommen.« Falk ließ die Zähne hervorschnappen und biss in den Schwamm. Dieser färbte sich langsam dunkel.

»Die Fangzähne können noch was anderes: Sie bringen Gift in die Wunde«, sagte Bock feierlich.

»Gift?« Fritz wähnte sich einer Ohnmacht nahe. »Auch das noch! Ist das … dieses Zeug, das da runter tropft …?« Er wies schwach auf Falks Kinn.

»Nee, daf ift Fabber, mein Lieber«, korrigierte Letzterer. »Ih kann den Mund niht fumahen, mit dem Fwamm. Daf könnteft du auch nicht.«

Lasterbalk grinste. »Ja, Vampire fangen nach dem Biss kräftig an zu sabbern. Das ist aber sinnvoll, weil die Wunde dadurch betäubt wird. Kein Mensch würde sich beißen lassen, wenn das die ganze Zeit so wehtun würde.«

Vorsichtig, um die Zähne nicht zu berühren, nahm der Doktor Falk den Schwamm aus dem Mund und drückte ihn über dem Gläschen aus. Eine klare, blass mintgrünliche Flüssigkeit sammelte sich darin. »Voilà

Jetzt wurde es Fritz wirklich zu viel. »Stopp, stopp«, stöhnte er, »so geht das nicht … Vampire, und … nein … Ich muss euch was Wichtiges sagen, etwas, das ihr noch nicht wisst …« Er schluckte, und seine Kehle fühlte sich steinhart an. »Ich, ich bin Hämatophobiker … Ich habe eine Riesenangst vor Gift, vor spitzen Dingen … und vor allem – vor Blut


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Ich hoffe, die Offenbarung war nicht allzu erwartet. ;) Komplett anzeigen

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