Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 1: Schnödes Wasser -------------------------- CATCH ME, SLAY ME, HUNT ME DOWN VIKING’S BLOOD WILL MAKE YOU DROWN FEEL IT FAN YOUR RAGE INSIDE SHOW YOUR GODDAMN FANGS AND BITE! – Blöder Refrain des Liedes „The Viking’s Blood“ der Kapelle Snowine, die darüber sagen wird, er sei nach einer Menge Kirschmet nebst Sichtung von „From Dusk Till Dawn“ getextet worden. - - Man sagt, in Wuppertal ist es Sommer, wenn der Regen warm wird. Laut vieler Statistiken ist die Hauptstadt des Bergischen Landes sogar die regenreichste Deutschlands. Wuppertaler Studierende sind sich einig, dass eine gigantische Glaskuppel über dem Campus von Vorteil wäre. Auch am zweiten Oktober regnete es solche Massen, dass ganze Sturzbäche die kurvigen Straßen ins Tal hinab flossen, in das sich die Innenstadt drängte. In diesem Jahr war der Sommer nur winkend vorübergegangen. Es war noch nicht einmal acht Uhr, doch die Dämmerung ging bereits nahtlos in Finsternis über. Zwei Studenten des Faches Sicherheitstechnik, die sich gerade erst eingeschrieben hatten und ihr Studium in zwei Wochen anzutreten gedachten, lehnten an der grauen Mauer des Wohnheims in der Max-Horkheimer-Straße und rauchten im Schutz des vorspringenden Daches mit klammen Fingern eine Zigarette, mit der sie sich ob der Kälte nicht lange aufhalten wollten. Ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock über ihren Köpfen warf ein gelbes Licht auf sie. »Okay … Jetzt könnte er aber langsam mal kommen«, murrte der eine. »Ruf ihn doch mal an.« »Hab ich ja gerade. Geht nicht ran.« Sein Gegenüber nahm gelangweilt den letzten Zug, ließ die Kippe fallen und trat sie aus. »Wie kann man so lange brauchen, um einen Tennisschläger zu suchen? So riesig sind die Zimmer hier doch gar nicht.« »Was heißt Suchen … Der räumt jetzt erst den Koffer aus.« Sie grinsten einander an. Und warteten weitere zehn Minuten schweigend. Dann wandte der Erste sich ab. »Ich geh mal rauf und check das schwarze Loch in seinem Fußboden.« »Hmmm … Dann kann ich genauso gut mitkommen. Besser als hier draußen frieren.« Gemächlich trotteten sie zu einer der vielen Glastüren des Wohnheims, die ihnen Zugang zu den grauen Fluren verschaffte. Eine weitere Glastür trennte sie von jenem Korridor, in dem ihr Kommilitone erst vor kurzem Quartier bezogen hatte. Die vierte Türe war seine. Der Zweite klopfte an. »Patti?« Keine Antwort. Sie tauschten einen Blick und drückten dann einvernehmlich ihre Ohren an die Tür. Kein Geräusch drang heraus. »Der ist bestimmt Kacken.« Der andere schüttelte entnervt den Kopf und versuchte es in energischerem Ton: »Pattiiiii! Mann!« Wieder nichts. »Alter, was ist denn das für ’ne Scheiße, wir wollen los! Die warten da nicht auf uns!« »Kannst laut sagen. Lass mal andere Seite versuchen.« Jene Studenten, die par terre wohnten, mussten auf einen Balkon verzichten; stattdessen öffnete sich ihre Fenstertür auf der anderen Seite zum Innenhof hin, wo lärmende Mitbewohner um einen knisternden Grill herumstanden. Patti hatte seine Tür nie offen stehen, aber stets angelehnt. Die Grillenden sahen auf, als die beiden Neuen sie mit knappen Grüßen passierten und auf Pattis Fenstertür zuhielten. Bunte Gardinen verwehrten die Sicht ins erleuchtete Zimmer. Ohne Widerstand öffnete sich die Tür und ließ Pattis Freunde herein. Sie fanden den in Ungnade Gefallenen auf seinem Bett sitzend vor, die Stöpsel seines MP3-Players in den Ohren, bei geschlossenen Augen einen friedlichen Ausdruck im jugendlichen Gesicht. Neben ihm lag der Tennisschläger. »Aaaah-ha! Deswegen hört der Herr also nichts!« »Ey, was für’n Arsch. Und wir warten da unten auf ihn!« Die beiden tauschten einen Blick wortloser Übereinkunft und schlichen sich an. Der Erste beugte sich über Patti, hob die Hand und näherte sie langsam der Nase des Freundes. »Uuuuund – … hab ich dich!« Er kniff zu. Sein Begleiter hinter ihm lachte. Patti lachte nicht. Keiner seiner Muskeln hatte auch nur gezuckt. Das Grinsen der beiden erstarb. »Patti … Hallo?« Sie rüttelten an ihm; der Zweite verpasste ihm gar eine sanfte Ohrfeige. »Sag mal … Verarschst du uns?« Patti schien nichts Scherzhaftes im Sinn zu haben. Als der Erste seiner Freunde mit wachsender Besorgnis seine Hand ergriff und nach dem Puls tastete, fand er nichts. »Scheiße«, sagte er so wohlbetont, als handelte es sich um ein inbrünstiges Ave Maria. »Schei-ße … Scheißescheißescheiße!« Ein Blick genügte, und sein Kommilitone las seine Gedanken. Sofort hatte er sein Nokia in der Hand und tippte hektisch. »Bist du sicher …?« »Seh ich aus wie’n Arzt? Jetzt ruf schon an!«, spie der andere. Es dauerte einen quälenden Moment und zwei Freizeichen, bis sich in der Leitung etwas tat. Der Erste, der immer noch das langsam kühl werdende Handgelenk seines Freundes umklammert hielt, verspürte zunehmend den Drang, auf die Toilette zu rennen. Seine Eingeweide schienen komische Verrenkungen zu vollziehen. Noch einmal zwang er sich, in Pattis ausdrucksloses Gesicht zu sehen, das aussah, als wäre er beim Musikhören eingedöst. In diesem Fall hätten sie sich einen Filzstift suchen und ihm einen Schnurrbart malen können. Oder Augen auf die geschlossenen Lider. Irgendetwas Albernes. Doch jetzt, rief er sich ins Bewusstsein, war es mit so etwas vorbei – zumindest für Patti. Patti, den er erst vor einer Woche auf der Einführungsveranstaltung kennen gelernt und mit dem er zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckt hatte. Er war hinüber. Mausetot. Und saß hier mit seinen Stöpseln im Ohr, als ginge ihn das alles nichts an. Der junge Mann schluckte und machte einen großen Satz zur Badezimmertür. Klaus Buschfeldt warf sein Handy über die Lehne auf den Rücksitz des alten Opel Astra und setzte den Blinker, um aus der Parklücke auszuscheren. Regen klatschte auf seine Frontscheibe, und die Wischer waren durch das Herumstehen auf dem staubigen Parkplatz so verzogen, dass sie laut knarrten und Schlieren hinterließen statt klarer Sicht. Der Direktor der Musikindustrieüberwachung fluchte innerlich. Diese verdammten Freaks! Schlimm genug, dass sie ihre Arbeit auf sehr eigentümliche Art erledigten, aber mussten sie auch noch so tun, als wäre das alles ein Riesenspaß? Was war das wieder für ein kryptischer Hinweis gewesen, den er sich selbst zusammenreimen durfte? Er sah die SMS – so ganz ohne Interpunktion oder Beachtung gängiger Großschreibregeln – noch vor seinem geistigen Auge: mission accomplished haben das ei im nest wiederhole der adler ist gelandet gehen uns jetzt pizza holen btw. kollateralschaden mit dem schweizer der den koffer hatte… weg verfolgt haben pfeiffer und elsi schon dran. over&out simon m. Na prima. Offenkundig war die Mission im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen und mit »dem Schweizer« war sicherlich der Mitarbeiter von Roadrunner Records gemeint, der die Untersuchung angeregt hatte – doch was mit »Kollateralschaden« gemeint war, das wollte Buschfeldt sich gar nicht ausmalen. Als ein häufig verwendeter Begriff bezeichnete Kollateralschaden in der Regel etwas, das auf die Dauer nicht gerade zu biegen war. Zerstörte Beziehungen, etwa. Zerstörte Beziehungen zu Roadrunner Records? War es das? Würden sie jetzt ihr V-Personal abziehen und die Zusammenarbeit beenden müssen? Oder handelte es sich um etwas ganz anderes, etwa darum, dass der Schweizer bei dem Versuch, seinen ominösen Koffer in Sicherheit zu bringen, … ? Sein Handy begann zu quäken. Er hatte den nervenzerreibendsten Klingelton gewählt, den er hatte finden können, damit er bei jedem Anruf genötigt war, ihn sofort anzunehmen. Jetzt allerdings hatte er das Telefon auf den Rücksitz geworfen. Das Genöle dauerte an. Mit zusammengebissenen Zähnen steuerte er den Opel weiter durch Hildesheim. Es regnete nun schon den ganzen Vormittag, und aus allen Senken schoss das Wasser auf, wenn die Räder hineinrollten. Dark Knight nannten seine Agenten das Fahrzeug. Es war der Einsatzwagen der MIU, und dass Buschfeldt ihn heute selbst fuhr, war eine Ausnahme. Sein eigener Ford Cabrio hatte ein Problem mit den Bremsbelägen. Als er eine Parkbucht fand, hielt er dankbar an und kroch halb über die Rückenlehne, um nach dem Mobiltelefon zu angeln. Natürlich waren seine Finger knapp zwei Zentimeter zu kurz. Er musste hinaus in den Regen und es holen. Falls er gedacht hatte, dass sein Tag nach diesem Morgen und der schlecht verlaufenen Unterredung mit dem Bürgermeister Hildesheims nicht unangenehmer werden könnte, so lag er wieder einmal falsch; das Handy, das während der Fahrt fünfmal geklingelt hatte, zeigte die Nummer seiner Chefin an. Dr. Marianne Kircher – den Doktor hatte sie in Philosophie und Volkswirtschaft – leitete Abteilung 4 des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zu welcher die MIU gehörte. Allerdings saß sie gemütlich im Hauptsitz in Köln, wo garantiert die Sonne schien. Buschfeldt fuhr sich mit beiden Händen durch das schüttere graue Haar und machte sich daran, sie zurückzurufen. Es musste sich wohl um ein weiteres Anliegen in Hildesheim handeln, und sie würde ihn nicht erst nach Alfeld weiterfahren lassen. »Klaus, na endlich kriege ich Sie!«, begrüßte ihn die strenge, seltsam unfeminine Stimme. »Wieso gehen Sie denn nicht an Ihr Telefon?« »Ich bin gefahren«, rechtfertigte er sich und zog die Nase hoch; aus seinem Haar rann ein dicker Wassertropfen über seine Schläfe. »Ah! Wo sind Sie?« »Noch in Hildesheim.« »Gut, sehr gut. Wie lief das Gespräch?« »Wie erwartet.« Mehr musste man dazu wohl nicht sagen. »Meine Agenten haben –« »Ist mir schon zu Ohren gekommen, Klaus«, unterbrach sie ihn geschäftig. »Sie haben genau fünf Minuten für Ihre Schimpftirade, dann steht mein nächstes Meeting an.« Er seufzte. Sie wusste vermutlich mehr über diesen dubiosen Kollateralschaden als er. Schließlich machten seine Leute kein Geheimnis daraus, dass sie ihn nicht mochten. »Diese Musiker«, sagte er fest, »sind die Hölle. Allesamt Rabauken und kindische Dummbeutel.« Er machte eine Pause, um auf ihren Widerspruch zu warten, doch es kam keiner. Das ermutigte ihn. »Ich brauche unbedingt mehr Unterstützung in diesem Bereich, mein Assistent lässt denen viel zu viel durchgehen … Sobald ich mal nicht in Alfeld bin, zünden die mir das Haus an …« »Das ist mir neu«, sagte sie ohne Anteilnahme. »Vielleicht hätte ich Sie schon früher mal ausreden lassen sollen.« »Hören Sie, warum können wir das Ganze nicht ein wenig … dezentralisieren? Sie auf andere Bereiche verteilen, dafür mehr Leute zur MIU holen, die entsprechend ausgebildet sind …?« »Wissen Sie was, Klaus?«, unterbrach Fr. Kircher ihn schon wieder. »Ich werde Ihren Anregungen diesmal entsprechen. Ernsthaft. Naja, zumindest im Ansatz.« Er furchte die Stirn. »Was soll denn das heißen?« »Dass Sie einen weiteren Mann bekommen. Ein Kindermädchen, zu Ihrer freien Verfügung.« Buschfeldt ahnte etwas. »Was hat dieser arme Mann verbrochen, dass Sie ihn versetzen?« Sicherlich etwas ganz Furchtbares. »Ist er aufgeflogen?« »Sagen wir … er braucht einen Ortswechsel. Ich denke, die Arbeit bei der MIU wird ihm gut tun.« »Wie Sie meinen.« Widerstand war ohnehin zwecklos. Wenn Kircher fand, dass dieser Mann eine so schreckliche Strafe verdient hatte, dann musste Buschfeldt seine Rolle als Folterknecht wohl oder übel annehmen. »War es das, was Sie mir mitteilen wollten?« »Ja, deshalb habe ich ja gewartet, bis Sie sich beschweren. Ich dachte, Sie freuen sich, Klaus. Zwei Hände mehr, um die vielen Zügel zu halten.« »Zwei fähige, hoffe ich. Wo kriege ich den Mann?« »Deshalb hatte ich es so eilig, Sie in Hildesheim zu erwischen. Er wohnt dort. In Moritzberg.« »Wie günstig.« »Nicht wahr? Er ist vorgewarnt, überfallen Sie ihn ruhig. Ich schicke Ihnen die Adresse aufs Handy.« »Oh, ja … vielen Dank.« »Viel Vergnügen. Wir sprechen uns morgen. Auf Wiederhören, Klaus.« Sie legte auf, ehe er den Gruß erwidern konnte. Das tat sie immer. Musste so eine Emanzipationssache sein: Kircher konnte es nicht ertragen, wenn ein Mann das letzte Wort hatte. Buschfeldt griff unter den Sitz, wo er sein Navigationssystem fand. Jetzt brauchte er wohl nur noch die SMS abzuwarten, und schon konnte er den Tag noch schlimmer machen, indem er ein ätzendes Gespräch mit einem unglückseligen Versetzungskandidaten führte. Missmutig sah Friedrich Wunderbaum seiner Frau Christine dabei zu, wie sie ihre Fußnägel schwarz lackierte. Sie legte dabei eine Sorgfalt an den Tag, die ihn für gewöhnlich auf magische Art und Weise beruhigte. Obwohl jenseits der Vierzig, war Kitty auch optisch unverkennbar eine Liebhaberin der Schwarzen Szene, und er ließ es gut sein; wenn sie mit schwarzer Farbe auf ihren Nägeln oder Augenlidern hantierte, empfand er eine gewisse Befriedigung, eine Befriedigung darüber, dass er ein so toleranter Mann war, dass er diese eine Leidenschaft, die er mit ihr nicht teilen konnte, niemals als ein Hindernis angesehen hatte. Ja, wie säuberlich sie heute wieder mit dem Pinsel umging, um keine unsauberen Ränder zu streichen … Bei der Renovierung im letzten Jahr wäre ihm eine derartige Akkuratesse sehr willkommen gewesen, doch ein Farbroller war in Kittys Fingern beileibe nicht das gleiche. »Du starrst mich schon wieder so an, Fritz«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Du bist der einzige Anblick, der mich nicht noch nervöser macht«, gab er zu. »Ach, hör doch auf. Die werden dich nicht entlassen … Nicht wegen so was, Fritz.« Er versuchte, woanders hinzusehen. Das Foto seiner Eltern, das an der Wand hing, fing seinen Blick. Ihr Lächeln wirkte plötzlich so tückisch … als wüssten sie ganz genau, was ihr Sohn heute angerichtet hatte. »Ich dreh noch durch!«, schnaufte er, die Hände zu Fäusten ballend. »Wenn sie wenigstens anrufen würden! Und sagen: Jaah, Herr Wunderbaum, das war’s dann wohl mit Ihrer Laufbahn, alles Gute … Aber dann wüsste ich wenigstens bescheid! Mich so im Ungewissen zu lassen ist ja wie eine Strafe!« »Genau«, sagte Kitty ruhig und lackierte weiter, »und wenn sie dich lange genug bestraft haben, bist du wieder an Bord.« Als ob, dachte er. Die werden mich achteckig rauskanten. Wieder sah er das scheinheilige Lächeln des Barbesitzers vor sich, den er der Geldwäscherei hatte überführen wollen: Herr Schuster, wenn Sie in Marburg aufgewachsen sind und in Wetzlar leben, wie kommen Sie dann zu einem Brandenburger Kennzeichen? Einfach unglaublich, dass ihm ein solcher Fehler passiert war. Wie hatte er statt dem LDK-Kennzeichen, das für Lahn-Dill-Kreis stand, ein LDS-Kennzeichen für den Landkreis Dahme-Spreewald anbringen können? So etwas durfte nicht passieren, nicht bei seiner langjährigen Erfahrung! Alle Glaubwürdigkeit war damit dahin. Völlig aus dem Konzept gebracht, hatte er sich keine schlüssige Erklärung dafür einfallen lassen können. Brandenburg, ja, äh … ja. Nun, Einpacken war wohl jetzt das Naheliegendste. Angenehme Zeiten als Diplomat gehörten damit der Vergangenheit an: Parken im Halteverbot … Ignorieren von Verkehrsregeln … Essen mit wichtigen Leuten in teuren Restaurants … und nicht zu vergessen: eine wirklich fürstliche Bezahlung. Wie sollte er Kitty ermöglichen, sich all diese Gothic-Musik nichtaussprechbarer Bands legal zu beschaffen (worauf er bestand) und dieses teure schwarze Lack-und-Leder-Zeug zu tragen (wobei sie ihn im entsprechenden Dessous durchaus zu verführen verstand), wenn das BfV ihn nicht behalten wollte? Es war möglich, dass er bei einem anderen Geheimdienst eine Anstellung fand, etwa als Auslandsdiplomat beim Bundesnachrichtendienst … doch dazu müsste er erst einmal bessere Fremdsprachenkenntnisse erwerben. Sein Französisch war ihm zuletzt auf dem Niveau A2 bescheinigt worden. Das bedeutete: Absolvent kann einfache Sätze verstehen. Ehe er sich wieder Christine zuwenden und unangenehme Grübeleien in Gang bringen konnte, klingelte es an der Tür. Kitty hob den Kopf. »Ich bin noch feucht, Fritz. Mach mal auf.« Er machte auf dem Absatz Kehrt. Ich bin noch feucht, Fritz. Dieser Satz konnte auch bequem aus einem Film im Spätprogramm stammen. Nicht ich muss aufmachen, Kitty, du musst mich reinlassen, mein Teufelsweib! Das sangen sie doch immer in diesem Geträller, das sie sich in der Küche anhörte, Oooooh-hoo-hoo, du bist das Teufelsweib, oder so ähnlich. Ach, es war doch sowieso alles egal nach dem heutigen Tag … Vor der Tür, die er schwungvoll öffnete, stand ein Mann mit grauer Halbglatze. Das verbliebene Haar hatte er sich über den Scheitel zu kämmen versucht, doch der Regen hatte seine Bemühungen sichtbar zunichte gemacht. »Friedrich Wunderbaum?« »Äh, ja. Kann ich was für Sie tun?« »Sie könnten mich reinlassen. Klaus Buschfeldt.« Mit offenkundig routinierter Bewegung zückte er einen Ausweis und hielt ihn Fritz auf Augenhöhe hin. Das Papier wies ihn als BfV-Kollegen aus. Abteilung 4, wie er – Spionagebekämpfung. »Bitte«, sagte Fritz und trat beiseite. »Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden«, erklärte der streng aussehende Ankömmling, indem er den Regen abschüttelte. »Wir müssen über Ihre Zukunft sprechen.« Fritz seufzte: »Sagen Sie mir einfach, dass ich raus bin.« »Raus? Nein, nein. So weit wollen wir mal nicht gehen.« Ächzend richtete sich der geschätzte Mittfünfziger wieder auf. »Wir wollen mal versuchen, ob Sie nicht in einem anderen Bereich mehr Freude haben.« Ich hatte immer viel Freude, dachte Fritz wehmütig. Falsch parken … »Und welcher Bereich wäre das?« »Meiner. Die Musikindustrieüberwachung, kurz MIU.« Fritz stutzte. »Müsste es dann nicht MIÜ heißen?« Buschfeldt lächelte gequält. »Sie sind schnell im Denken, das gefällt mir.« Es klang wie: Sie sind ein Klugscheißer, das hasse ich. »MIU sieht besser aus und ist auslandsfreundlicher. Umlaute, Sie wissen schon.« Fritz wusste nicht, aber Fritz ahnte. Allmählich sogar ziemlich viel. »Läuft wohl nicht alles so gut in Ihrem Bereich, mit der … Musik.« Musik, ja, und? Was machte man überhaupt bei der MIU? Durfte er das fragen, oder war er dann ein Vollidiot? »Wir wissen«, sagte Buschfeldt gewichtig, »wo falsch gespielt wird – und damit meine ich nicht nur schiefe Töne. Wir beobachten, wo welches Geld landet, wo Willkür herrscht, wo unschöne Umstände totgeschwiegen werden, und genauso, wie Kapellen ausgeschlachtet und den konsumierenden Massen ihr Musikgeschmack quasi diktiert wird. Wussten Sie, dass vielen Kapellen durch den finanziellen Einsatz reicher Konzerne zu Ruhm verholfen wird? Nein, das wussten Sie nicht, aber wir wussten es. Es gibt noch viel mehr düstere Machenschaften, die man mit Musik so betreiben kann, Herr Wunderbaum. Allerdings …« Und nun wurde sein euphorischer Ausdruck jäh wieder düster. »… genießen wir beim BfV nicht den besten Ruf. Es ereignen sich zuweilen schwer kontrollierbare Dinge … Dinge, die uns den Beinamen ›X-Akten des BfV‹ eingebracht haben, falls Sie diese Anspielung verstehen.« »Ja, ja, verstehe ich.« Kitty liebte Akte X. Buschfeldt sah sich zum ersten Mal eher beiläufig in der Diele um. Fritz erinnerte sich plötzlich, dass er als Hausherr auch Pflichten hatte. »Oh, ooh, kann ich Ihnen was anbieten, Herr Buschfeldt? Einen Tee?« »Nun, angesichts Ihrer Versetzung wäre doch eher etwas zum Anstoßen angebracht … Wie wär’s mit einem Gläschen Sekt?« Fritz hielt inne und überlegte fieberhaft. Hatten Sie Alkohol im Haus? Sekt? Wein? An Kittys Geburtstag war doch alles vernichtet worden … und seitdem … Er begann den Kopf zu schütteln. »Tut mir Leid … Haben wir nicht. Ich kann Ihnen … Wasser anbieten.« Buschfeldt sah enttäuscht aus. »Wasser«, wiederholte er müde. »Na gut … dann holen Sie uns Wasser.« Fritz kam der Aufforderung nach. Es ging, so erinnerte er sich mit Nachdruck, beim Anstoßen ja auch eher um die Geste als um den Inhalt des Glases. Genau! Also stießen sie mit stillem Wasser an. Immerhin war es nicht aus der Leitung. »Na dann, willkommen bei der MIU. Sie haben Glück, die Zentrale ist nicht weit weg.« Fritz setzte sein Glas ab. »Oh, ich muss … mich erst irgendwo melden?« »Das wäre von Vorteil. Kennen Sie Alfeld?« »Hm, kann sein …« »Dort gibt es eine Papierfabrik. Sie ist der Sitz der MIU.« Fritz stutzte. Das war höchst seltsam. Augenscheinlich stimmte es, dass in der Musikindustrie nicht alles mit rechten Dingen zuging. »Um dort reinzukommen, brauchen Sie eine Parole, die ich Ihnen noch auf anderem Wege übermitteln werde. Ich erwarte Sie am Montag um zehn Uhr im Besprechungsraum.« Mit diesen Worten leerte der MIU-Direktor sein Glas und stellte es schwungvoll auf den Tisch. »Ich möchte mich dann verabschieden und für die … Gastfreundschaft danken.« »Gern …«, murmelte Fritz, um Worte verlegen. »Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht …« »Ach, das sehen wir dann, wenn ich Sie in Ihr neues Aufgabenfeld einweise. Machen Sie sich nicht unnötig Sorgen, es wird Ihnen gefallen. Viel Abwechslung.« Er hielt Fritz die Hand hin. »Einen angenehmen Abend.« »Ebenfalls.« Fritz sah zu, wie Buschfeldt aus der Tür stapfte, noch einmal winkte und zu seinem Auto trat, einem etwas mitgenommen aussehenden Opel Astra. Hoffentlich, dachte Fritz, ist das kein Maßstab für die Dienstwagen … Als er die Tür hinter sich schloss, stand Kitty in der Diele. »Und?«, fragte sie. »Alfeld«, antwortete er. »Montag.« »Siehst du! Ich hab doch gesagt, die werfen dich nicht raus.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn auf die Nase und trollte sich dann zur Couch, um einen aufgeschlagenen Vampirroman beiseite zu räumen und sich in das Polster sinken zu lassen. »Dann hast du ja morgen frei, und wir können einen Film ausleihen …« »Aber nicht den mit Patt Robertson, oder wie der heißt.« »Dann einen anderen. Komm, rutsch rüber. Der Abend gehört uns!« Ihr schwarzgerändertes Lächeln war so aufreizend, dass Fritz nicht widerstehen konnte, sich der ersehnten Erleichterung hinzugeben. Er hatte seinen Job doch nicht verloren. Im Gegenteil – er hatte ein neues Einsatzgebiet! Innerlich frohlockte er, als er Kitty küsste. Die MIU sollte nur kommen – was komische Sachen betraf, so war er auf alles vorbereitet. 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