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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Dämmerungsbellen

Hinter der dicken, weißen Wolkenschicht war die Sonne bereits fast an ihren höchsten Punkt geklettert. Anna und Birgit durchwanderten Dresden in der Umgebung des Uniklinikums auf der Suche nach Frau Schmitt. Noch hatten die beiden Frauen gute Laune, denn so wie die Zeichen derzeit standen, wäre der hin und her wogende Kampf gegen Fiacail Fhola bald endgültig vorbei.

Silke Vollands Spur allerdings war dünn wie ein Seidenfaden. Ein Hund hätte ihr folgen können, doch mit dessen Riechleistung konnten Vampirnasen niemals mithalten. Zu viele andere Menschen und Hunde hatten längst das Pflaster gekreuzt, Staub aufgewirbelt, die Anordnung der Sandkörner und Steinchen am Boden verändert. Auch Amboss’ Pfotenabdrücke rochen längst nicht distinktiv genug, um sie klar von denen anderer Tiere zu unterscheiden. Den beiden Musikerinnen blieb somit nur eins übrig: den stetig verblassenden Markierungen zu folgen. Für MIU-Einsätze galt die klare Regel, dass jeder, der allein den Stützpunkt verließ, jeweils im Abstand mehrerer hundert Meter einen sogenannten Marker anzubringen hatte, einen für Vampire nachvollziehbaren Hinweis auf Anwesenheit. Dies bedeutete etwa, mit der unbedeckten Haut kurz über einen feststehenden Gegenstand, etwa einen Pfeiler, eine Laterne oder eine Hauswand, zu streichen, sodass eine persönliche Duftspur zurückblieb. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Amboss folgte solchen Markern mit Leichtigkeit, Vampire taten sich schwerer, waren aber grundsätzlich in der Lage dazu – sofern die Spur nicht älter als drei Stunden war. Birgit war deshalb auch klar, was die Kratzspuren an dem Baum bedeuteten, wo Simon das trockene Blut gefunden hatte: Eric hatte einen Marker platziert, zunächst auf konventionelle Art; inzwischen war dieser jedoch viel zu alt gewesen, um ihn zuzuordnen. Blut war ein viel stärkerer Marker, doch wenn es trocknete, verlor es seinen betörenden Duft. Nur Amboss konnte es dann noch verfolgen.

Frau Schmitts Marker waren zwar gewissenhaft angebracht und gut lesbar, doch es kostete Zeit, von einem aus den nächsten zu finden. Natürlich hatte Amboss, nach Art der Hunde, ebenfalls markiert wie ein Verrückter, doch Tiere – die ja nicht ins Beuteschema fielen – rochen für Vampire alle viel zu ähnlich. Amboss roch schlicht wie ein Hund.

Von der Pfotenhauerstraße aus folgten Birgit und Anna mühsam der Gutenbergstraße bis zum Thomas-Müntzer-Platz, einer von Hecken umgebenen Wiese.

»Silke wollte zur Elbe, scheint mir«, vermutete Anna stirnrunzelnd.

Sie folgten dem Straßenrondell bis zum Käthe-Kollwitz-Ufer. Noch versperrten Linden und Hecken entlang der zweispurigen Straße die Sicht auf den Fluss. Die Marker, alle im gleichen Abstand von etwa dreihundert Metern, nahmen kein Ende; die Straße schien ebenfalls keines nehmen zu wollen. Immerhin war bald die Elbe zu sehen.

»Albertbrücke!«, sagte Birgit und hatte Recht: Silke hatte auf der Brücke einen Stromleitmast mit einem Hinweis auf Geschwindigkeitsbegrenzung markiert. Je weiter die beiden gingen, desto stärker mischte sich ein anderer Duft unter die herbstlichen Gerüche. »Vampire.«

»Oh je … Wir hätten uns denken müssen, dass es einen Zwischenfall gab.« Die beiden beschleunigten ihren Schritt. »Hat nicht jemand gesagt, Amboss wäre in Hamm vergiftet worden? Dann kennen Eff Eff doch den Hund. Wahrscheinlich wissen sie auch genau, wozu wir ihn haben.« Es war unnötig, den Sachverhalt näher auszuführen.

Auf der anderen Seite der Brücke führte der Geruch nach Vampiren geradewegs in den Staudengarten. Schnurstracks verließen die beiden die sichere Straße und tauchten in den grünen Parkbereich ab. Hecken, Beete und Statuen boten einen malerischen Anblick.

»Hier sind keine Marker«, entschied Birgit nach minutenlangem ziellosem Umherirren.

»Das muss nichts heißen.«

»Nein, aber –« Plötzlich verstummte Birgit. »Hörst du das?«

Anna horchte auf. »Jemand spielt auf einem Dudelsack … oder versucht es zumindest …«

Ein kribbelndes Gefühl begann die zwei zu durchfluten, und das behagte ihnen gar nicht. Es stieg aus den Zehenspitzen bis in den Kopf, und ehe eine der beiden begreifen konnte, was gerade passierte, schwanden ihnen die Sinne. Lediglich eine kurz aufflackernde Erkenntnis brach sich noch Bahn: Wir kommen zu spät!
 

Fast hätte Silke Volland es geschafft, die knochige Hand des Vampirs von ihren Lippen zu ziehen und die beiden Kolleginnen zu warnen. Ihr Fänger drückte jedoch, als er ihre Bemühungen bemerkte, nur umso fester zu. Er musste ein Vampir sein, denn er hatte gut abdichtende Stöpsel in den Ohren, die ihn vor der Lockmusik schützten. Da es dicht bewölkt war, bestand für ihn keine unmittelbare Gefahr.

Warum sind Birgit und Anna nicht immun?, fragte Silke sich fieberhaft, während fortlaufend die stümperhaften Versuche der speckigen Frau, Fiona Rüggebergs Dudelsack ordentliche Töne zu entlocken, an ihre Ohren drangen. Woher hat Frais ein Lockstück, das wir nicht kennen?

»Hör schon auf zu zappeln!«, befahl der Vampir ihr knurrend. Widerrede nutzte nichts; mit den Stöpseln hörte er sie sowieso nicht.

Anna und Birgit traten wie in Trance von der Wiese mitten auf den Weg und blieben mit leeren Gesichtern stehen. Unter den Tarnlinsen hatten sich ihre Augen sicherlich dunkel gefärbt. Der Vampir schleifte Silke mit sich und begann, zunächst nachlässig mit der freien Hand ein Seil um die Hälse der Vampirinnen zu werfen. Nach getaner Arbeit zog er es fest, was den beiden Frauen erstickte Laute, aber immer noch keine Gegenwehr abrang, und schlang die Enden um die Äste eines Baumes.

»So, du kannst aufhören.«

In ihrem Versteck – aus Silkes Position gut einsehbar – setzte die dicke Frau das Anblasrohr ab und rieb sich die Stirn. »Das schlaucht total«, ächzte sie in quäkendem Ton.

»Hör auf zu flennen.« Frau Schmitts Bewacher zupfte sich die Ohropax aus den Ohren und steckte sie in eine Hosentasche. »Verdammt, wo bleibt Conall?«

Silke vermutete, dass er mit Conall den bulligen Vampir meinte, der nur aus Muskeln zu bestehen schien. Jener hatte versucht, Amboss einzufangen, der ihm sofort die Leine entrissen hatte und laut kläffend davon gestürmt war. Seither war Conall nicht mit dem Hund zurückgekehrt.

Nicht mehr dem Reiz der Musik ausgesetzt, erwachten Birgit und Anna aus ihrem Rausch, bemerkten den erdrückenden Zug um ihre Kehlen und griffen sofort hektisch danach. Der Vampir beobachtete ihre Bemühungen mit gehässigem Lachen. »Nur noch ein paar Minuten, Mädels, dann seid ihr starr wie die Terrakotta-Armee. Ich werde euch in Watte packen wie ein paar edle Steine, damit ihr auch keine einzige Erschütterung spürt und nicht etwa aus dem Scheintod aufwacht …« Sein Lächeln war breit und widerlich.

Silke tat das Herz weh, als sie ihren beiden Kollegen zusah, wie sie an dem Strick rissen und hilflos nach Luft rangen. Der Gedanke, dass sie nicht ersticken, sondern nur in Thanatose fallen würden, war dabei keinesfalls hilfreich. Wild entschlossen unternahm Frau Schmitt einen weiteren verzweifelten Versuch, sich freizukämpfen. Wieder völlig erfolglos.

Diese Medizin war bitter.

Dann war plötzlich Gesang zu hören. Es war ein leiser, auf und abschwellender Kehrreim, der rasch näherkam. Was war das? Wer war das? Silke hielt ebenso verblüfft inne wie ihr Aufpasser, und auch Birgit und Anna erstarrten – allerdings weitaus effektvoller, denn in ihre Augen kehrte derselbe verklärte Blick zurück, der davon zeugte, dass dieses einfache, harmlos klingende Lied ein potentes Lockstück war. Geistesgegenwärtig versuchte Silke, den sie festhaltenden Vampir abzuschütteln. Oh ja, diesmal war er machtlos gegen Eff Effs eigene Waffen gewesen! Seine Hand über ihrem Mund erschlaffte und sie stieß ihn unsanft von sich, um zu ihren Kolleginnen zu eilen. Schnell waren die Seile gelöst.

Die dicke Frau mit dem Dudelsack wurde nervös; sie fand sich soeben allein unter hypnotisierten Vampiren wieder, einer wehrhaften Gegenspielerin ausgesetzt. Ihr Blick huschte von Silke zu den benebelten Schandmaul-Damen – dann, endlich, nahm sie die Beine in die Hand und spurtete los, unbeholfen wie ein Seehund an Land, aber trotzdem mit einem beachtlichen Tempo. Den Dudelsack hielt sie fest zwischen ihre gewaltigen, schwankenden Brüste gedrückt.

Der weibliche Gesang bog um die Ecke. Es war ein seltsames Gespann: Eine ziemlich große Frau mit leuchtend rot gefärbtem Haar schlenderte vorneweg, den brav mittrabenden Amboss locker an der Leine, und hinterdrein Conall, artig wie ein Hündchen, ohne eigenen Willen. Ohne das Singen zu unterbrechen, hob die Ankommende eine Hand und winkte zu Silke und den anderen hinüber. In ihrem entspannten Gesicht war keine Spur von Furcht auszumachen.

»Ich … ich kenne dich«, sagte Silke vorsichtig, als die Rothaarige wie selbstverständlich den Strick auflas und damit Conall und den Knochigen zu fesseln begann.

»Ich dich auch«, antwortete sie kurz, ehe sie rasch das lateinische Lied wieder aufnahm und die Fesseln auf ihre Tauglichkeit testete. »So … Habt ihr was zum Pfählen?«

»Ich fürchte nicht …«

»Schade. Dann müssen wir uns beeilen. So ein kleines Seil hält jemanden wie den –« Sie nickte zu Conalls muskulöser Gestalt. »– nicht ewig auf.« Die noch irgendwie Unbekannte wandte sich Silke zu und hielt ihr die Hand hin. »Ah, Frau Schmitt«, grinste sie.

»Ja … Silke Volland.« Silke nahm die Hand der anderen. »Und du bist noch mal …?«

»Ich bin offiziell gar nicht eingeladen, ich weiß, aber Michael hat mir bescheid gesagt, und … ich hab ein bisschen Erfahrung mit Vampiren. Mit Lockmusik, und so. Oh, ich bin Cornelia Fuchs. Die Rote Füchsin. Früher In Extremo, jetzt Filia Irata. Unter anderem.«

»Na dann …« Frau Schmitt lächelte dünn. » … Willkommen im Kreise der chaotischsten Vampirjäger der Welt. Wir werden deine Hilfe brauchen.«

»Ich bin bereit«, erklärte Conny.

»Bestens. Wollen wir dann?«

»Aber gern.«
 

Ohne Verzug schlugen die Frauen den Weg zum Klinikum ein, um auf kürzestem Wege die Sicherheit des Verstecks zu suchen. Sie hielten nicht einmal an, um verhedderte Schnürsenkel zu ordnen. Überall konnte Frais weitere Schergen versteckt haben, und die drei Widersacher aus dem Park waren nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Es galt, keine Zeit zu verlieren.

Im Universitätskrankenhaus angekommen, mussten sie feststellen, dass der abgestellte Wachposten ihren besorgten Gesichtern nicht mit dem Ernst begegnete, den sie erwartet hätten.

»Sieh an: Keine ganze Stunde vergangen, und die Mädels sind wieder da«, witzelte Lasterbalk nach einem Blick auf die Uhr, als die vier den Keller betraten.

Birgit lächelte unglücklich. »Wartet ab, bis ihr hört, was wir hinter uns haben.«

»Das könnt ihr gleich allen auf einmal erzählen. Auf in unser kleines Reich!« Damit übernahm er die äußerst kurze Führung ins dunkle und feuchte Innere des Klinikkellers. »Gemütlich habt ihr’s hier aber nicht«, kommentierte Conny die kahlen Betonwände.

»Wir sind Mittelaltermusiker, uns darf das nix ausmachen.« Lasterbalk legte den Kopf schief. »Frau Fuchs, sind Sie aus Spaß hier oder hat man Sie eingeweiht?«

»Bin eingeweiht«, antwortete Conny sofort. »Hier bin ich, hier in der Tasche ist mein Sack. Wann fangen wir an?«

Lasterbalk lachte auf. Manchmal – aber wirklich nur manchmal – mochte er Frauen, die nicht auf den Mund gefallen waren. »Eher, als uns allen lieb ist, fürchte ich.« Er wies auf eine Tür zur Linken. »Hier lang.«
 

Fritz staunte nicht schlecht, als alle temporären Bewohner des Stützpunktes zusammengetrommelt wurden und es plötzlich so viele waren, dass einige sich im Flur aneinander drängen mussten. Insgesamt waren kurz vor zwölf dreizehn neue Gesichter dabei, von denen Fritz kein einziges kannte. Was er bei der lauten und ungeordneten Konferenz am Rande mitbekam: Schelmish hatten drei Spieler ausgesandt, die sich lachend meldeten als Rimsbold von Tiefentann, Des Demonia (Fritz war sich ziemlich sicher, dass sie eine Frau war) und Dextro (von welchem Fritz nur der Ausruf »Wir schlagen uns mit Vampiren? Endlich mal ’n ordentlicher Job!« im Gedächtnis blieb); eine rothaarige Frau war augenscheinlich mit In Extremo befreundet und sobald das geklärt war, beanstandete niemand ihre Anwesenheit; von der Kapelle Corvus Corax waren vier Männer mit den schwierigen Namen Venustus Oleriasticus alias Wim, Karsten Liehm alias Castus Rabensang, Pan Peter und Vit angerückt; außerdem hatten sie drei ehemalige Kollegen dabei, die sich nun ganz einem Projekt namens Tanzwut verpflichtet hatten und sich Tritonus der Teufel und Martin Ukrasvan nennen ließen. Diese drei waren eine unerwartete Überraschung. Auch Pymontes Freunde von Cultus Ferox – Brandan, Feuerteufel und Böslinger – trafen mit einiger Verspätung wie versprochen ein. Wie immer fand Fritz die zum Teil recht albernen Künstlernamen einfach nur lächerlich, und er war ganz froh, mit keiner dieser suspekten Personen ein Wort wechseln zu müssen.

Ganz zuletzt stieß ein recht kleiner Mann namens Luzi hinzu und brachte neben seiner eigenen auch für Alea und El Silbador eine Sackpfeife mit. Saltatio Mortis und auch Schelmish, seine frühere Band, klopften ihm von allen Seiten auf die Schultern.

Kurz nach dieser prägenden Zusammenkunft verabschiedeten sich die Damen von Schandmaul, die, so merkten sie an, ihre Mission ja auch erfüllt hätten – Hyperborea heranzuschaffen.

»Seid nicht böse, aber ich hau ab. Ich hab ein Kind zu Hause«, erinnerte Birgit vorsichtig.

»Ihr seid entschuldigt«, beruhigte sie Boris. »Grüße an alle.« Überhaupt hatte Yellow Pfeiffer gleich hinter Lasterbalk eine Art Statthalterposition eingenommen. Als Chef der Supervisors hatte er bei allen Plänen eine Menge mitzureden und pflegte Lasterbalk davon abzuhalten, das Zepter um jeden Preis allein zu schwingen; letzterem war die Stellung als geistiger Leiter nach Buschfeldts Absetzung mehr oder weniger zugefallen. Dies allerdings machte sich jetzt mehr bemerkbar denn je, und längst nicht alle waren zufrieden damit, schon der Großteil von In Extremo nicht. Dass es jetzt jedoch fehl am Platz war, sich unkooperativ zu verhalten, war zum Glück einem Jeden klar.

»Wie’s aussieht«, verschaffte Lasterbalk sich Gehör, nachdem ihm von Frau Schmitt die ganze unschöne Geschichte zugetragen worden war, »wissen unsere Widersacher einfach net, wann Schluss ist. Um ein Haar hätten sie diese drei Damen verschleppt.« Er deutete auf Silke, Birgit und Anna, letztere beiden waren im Aufbruch begriffen. Empörtes Getuschel erhob sich. »Ja, seh ich auch so: Es wird Zeit, dass wir ’nen Satz warme Ohren verteilen.«

»Und wer wird das machen?«, fragte die Frau namens Des Demonia. »Ich meine, wer macht denn was?«

Lasterbalk antwortete: »Ganz einfach, wir teilen das Team jetzt auf in Sackspieler und Spurensucher. Wer net dudelt, der geht Eric suchen. Das betrifft schon mal alle Vvvv– … also, ihr wisst schon, wen des betrifft. Wer also net dudelt, der kommt mit mir mit und hört auf mich, und wer dudelt, der geht zum Herrn Pfeiffer und folgt dessen Anweisungen. Ist das kapiert jetzt?«

»Joa«, kam die recht einstimmige Affirmation.

»Gut, dann klären wir jetzt noch, wer zu gar keiner Gruppe gehört. Auf jeden Fall Chef und Chefassistent, das ist ja klar. Arzt bleibt auch hier. Was ist mit den Kranken?«

»Komme mit«, erklärte Sugar Ray sofort.

Lasterbalk bedachte ihn mit einem prüfenden Blick, den der blinde Mann nicht erwidern konnte, und gab dann seine Zustimmung. »Wirst schon wissen, was du machst. Elsi?«

»Einen Sack halten kann ich schon noch«, ereiferte sich El Silbador sofort.

»Okay, okay. Fritz?«

»Ähm … jaah«, hörte Fritz sich sagen.

»Gut. Wir haben noch drei von den Sendern, die man am Laptop verfolgen und über die man auch reden kann. Ich mach mir mal Gedanken, wer aus meinem Team die kriegt. Den Sackspielern kann ich nur sagen: Frohes Üben, hoffentlich isses net zu schwer. Aber ihr seid ja alle Profis.«

»Helden der Säcke!«, rief jemand. Alle lachten verhalten.
 

»Du kannst von der Gefahr nicht genug kriegen, was?«, neckte Micha Fritz, als sie ihre Ausrüstung zusammensuchten.

»Ich muss Rache üben«, behauptete Fritz. Ihm war bewusst, wie extrem unglaubwürdig diese Aussage aus seinem Munde klang, doch wenn Micha ihn durchschaute, so verspottete er ihn in diesem Moment zumindest nicht, sondern fragte lediglich: »Ach was, und wofür?«

»Paul Frais … hat meinen Pflock versaut.« Wie eine plausible Begründung klang das nicht.

»Nee, Lex hat deinen Pflock versaut. Fakt.«

»Causa finalis nicht.«

»Glaubst du, dadurch wird er schneller gesund, oder was?«

Fritz seufzte. »Micha, Alex glaubt anscheinend, dass er wirklich gefährlich ist. Er will einfach nicht trinken.«

»Ach!«, sagte Micha und war plötzlich ganz Ohr. »Immer noch nicht? Ist der denn völlig daneben? Der muss doch schon Bauchschmerzen haben!«

»Bock weiß gar nicht, was er machen soll. Alex kann nicht richtig heilen ohne Nahrung, aber es nützt nichts, ihm das zu sagen.«

»Was gibt Bock ihm denn? Nur diese Teebrühe?«

»Er hat es mit allem versucht, was wir haben.«

»Wirklich mit allem?«

Fritz überlegte. »Naja, außer mit …«

»Lasst es mich mal versuchen. Der Lästige ist ja abgelenkt und stresst die anderen, da kann ich mal machen, was ich will. Ich finde, wir müssen Lex’ Ernährung ein bisschen umstellen«, entschied Micha, und dann ließ er Fritz stehen.
 

Asp schreckte aus einem erschöpften Schlaf auf, als Micha in den Bockshof stürmte.

»So!«, sagte der Blonde scharf. »So ist das also, ja? Alle haben sich den Arsch aufgerissen, damit du durchkommst, und jetzt schiebst du so ’ne blöde Nummer hinterher! Wieso isst du nichts, Mann?«

Asp setzte sich auf und erwiderte trotzig: »Ich kann nicht.«

»Willst du aushungern? Hatte ich gerade erst. Ist total beschissen.«

»Ich weiß.«

»Jaah, eben: Du weißt es! Mal gezählt, wie oft du dich in deinem Leben nach der Starre ausgehungert hast? Fünfmal? Zehnmal? Zwanzigmal? Du kennst alle Phasen, vor allem die Wahnphase, stimmt’s? Ne? Raserei! Ich dachte echt, wir hätten das hinter uns. Das muss aufhören. Und zwar endgültig!« Micha kehrte ihm den Rücken und wandte sich dem Brutschrank in der Zimmerecke zu. Wie erwartet fand er dort eine noch verschlossene Blutkonserve; sie würde am Abend, so lange ungekühlt, nicht mehr genießbar sein. Jetzt jedoch war der Tag noch jung.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, erklärte Asp. Er sagte es mit fester Stimme, doch unterschwellig wirkte er verunsichert, wie man es selten bei ihm erlebte. »Ich habe seit Ewigkeiten kein pures – …«

»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach Micha ihn ungerührt und drückte ihm den Becher in die Hand, in den er das Blut geleert hatte.

Asp wich vor dem intensiven Geruch zurück und hielt die Tasse von sich. »Es … ist warm.«

»Klar, hat Körpertemperatur. Los, trink. Wikingerblut macht böse, das ist wissenschaftlich bewiesen – aber leckeres, sauberes Vollblut doch nicht. Das ist bestimmt von lauter lieben und netten Studenten, die aus Nächstenliebe gespendet haben.«

Asp wirkte nicht überzeugt. Noch einmal roch er vorsichtig an dem Getränk.

»Einen Schluck, Lex. Einen.«

»Lässt du mich dann endlich meine Probleme alleine lösen?«, seufzte Asp.

»Ja. Zumindest das eine wird sich dann lösen.« Micha verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand.

Unbehaglich führte Asp den Becher an die Lippen. »Warum mache ich das bloß?«, murmelte er, bevor er einen Schluck nahm. Und innehielt. Versonnen bekannte er: »Dieses elende Zeug schmeckt so unglaublich gut … Hatte ich ganz vergessen.«

»Musst du mir nicht sagen«, gab Micha zurück.

Asp nahm noch einen Schluck und ganz zögerlich einen dritten. »Warum schmeckt es bloß so gut?«, wunderte er sich.

Micha hob die Schultern, als gäbe es keine eindeutige Antwort darauf. »Könnte daran liegen, dass du ein Vampir bist. Und eigentlich von Natur aus gar nichts anderes runterschlucken sollst als das. Also … trink aus.« Er wies auf die Tasse. »Und bis wir heute in der Dämmerung losgehen, bist du gesund – darauf schließ ich ’ne Wette ab.« Dann ging er hinaus.
 

»Ich kann nicht versprechen, dass uns keiner hört«, erklärte Boris einige Zeit später der Dudelsackformation. »Bin sogar sicher, dass das Krankenhaus sich bald beschweren wird. Wir sind … zwanzig Säcke, das wird ganz schön Krach machen. Und es ist ja nicht mal angenehme Musik …«

»Lass uns endlich üben!«, drängte Alea. »Die Zeit läuft uns weg, wir dürfen nicht so ’nen großen Abstand zu den Spurensuchern haben, also müssen wir das Stück noch heute können, möglichst fehlerfrei!«

»Da hat er Recht«, bekundete Py. »Ich finde, wir sollten jetzt anfangen und uns erst mal keinen Kopf machen über die Reaktionen von oben.«

»Okay, wie ihr meint. Dann bitte alle mal herschauen.« Pfeiffer deutete auf die graue Wand, wo für alle Säcke die Notenlinien angebracht worden waren. »Wenn jeder weiß, wo er hingehört, dann machen wir einen ersten Versuch auf mein Kommando …«
 

»Uh, Vorsicht, sie fangen an zu dudeln!«, warnte Lasterbalk sein Team, das sich mitten in den Vorbereitungen befand. »Schnell, stopft euch was in die Ohren!«

»Und nehmt kein Kaugummi«, belehrte Fritz die Vampire. Mit gefurchter Stirn lauschte er den diversen langgezogenen Tönen; offensichtlich war dies noch nicht das Stück, sondern nur ein Einstimmen. Oder musste man Dudelsäcke nicht stimmen? Er hatte keine Ahnung. »Ich finde es mies«, wandte er sich an Basti, einen der wenigen, die jetzt noch hören konnten, »dass Alea nicht mit uns mitkommt, sondern lieber so ’nen doofen Sack spielt wie jeder andere. Ein Sack mehr oder weniger, als Vexecutor wäre er uns viel nützlicher.«

»Meine Rede«, erwiderte Van Lange, »aber ick hab mir schon jedacht, dass dit Sonnenscheinchen den Schwanz einkneift. Najaaa … wird auch ohne ihn jehen.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Wie spät is’n dit?«

»Halb vier«, antwortete Fritz. »Also Abenddämmerung. Wir müssen los.«

»Haste allet?«

»Jaah. Wer hat die Sender?«

»Lasterbalk, Micha, Ingo. Eener von jeder Crew.«

»Oh, gut.«

Lasterbalk winkte wild in die Runde, bis jeder ihn ansah; dann deutete er zur Tür und gab die unmissverständliche Anweisung zum Aufbruch. Geordnet hintereinander, um durch die Türen zu passen, setzte sich das Team der Spurensucher, bestehend aus Falk, Lasterbalk, Fritz, Sebastian, Micha, Ingo, Simon, Silvio, Silke und natürlich dem aufgeregt wedelnden Amboss, in Bewegung.

Auf halber Strecke durch den Flur holte Asp sie ein. »Hey, wartet. Nehmt mich mit.«

Fritz, der neben Frau Schmitt und Basti ganz hinten ging, drehte sich überrascht um. »Alex! Du bist gesund?«

»Naja … halbwegs.«

»Och, Asp, jetzt hätteste so ’nen Spruch bringen müssen wie: Ick hab dit zwischen den janzen Memmen nicht mehr ausjehalten und bin jejangen«, merkte Basti scheinbar enttäuscht, aber lächelnd an.

»So ähnlich war es ja auch«, behauptete Asp. »Wobei … mein Rücken tut noch weh.«

»Ick fürchte, Jammern hilft nischt. Aber sind ja noch mehr jequälte Jestalten dabei. Guck dir Silvio an, der sieht nicht ma wat.«

»Wirst du uns denn nicht im Weg sein, wenn wir Frais umlegen wollen?«, hakte Fritz besorgt nach.

Asp schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Jetzt nicht mehr.«

Gemeinsam verließen sie das Krankenhaus. Klinikpersonal, das ihnen auf dem Weg zum Haupteingang begegnete, sah ihnen misstrauisch nach. Keiner sprach die Gruppe an. Fritz wusste, dass die Erlaubnis der MIU, in der Carl-Gustav-Carus-Klinik zu logieren, an diesem Abend ablief.
 

Draußen hatte der Himmel sich bereits dunkel gefärbt. Die Straßen waren gut gefüllt mit Fahrzeugen, die ihre Besitzer vom Arbeitsplatz nach Hause beförderten. Die Gruppe ging schweigend – wieder einmal für Passanten ein ungewöhnliches Bild abgebend – die Straße hinunter. Dezent nahmen die Vampire ihre Ohrstöpsel wieder heraus.

Lasterbalk testete den Sender. »Hallochen … Ist da jemand?« Es kam keine Antwort. »Na gut, die haben ja gerade erst mit dem Üben angefangen.«

An der Ecke zwischen Fetscher- und Pfotenhauerstraße wurde Amboss auf die Blutspuren angesetzt. Sein Körper schien wie elektrisiert, als er wild schnuppernd die Fährte aufnahm.

»Na dann«, kommentierte Micha, »verfolgen wir waidwundes Wild.«

Der Bluthund kläffte aufgeregt, als würde er die Aufforderung beantworten, dann stürmte er voran. Silke Volland hatte Mühe, die Leine in der Hand zu behalten, und Ingo kam ihr rasch zur Hilfe.

Bereits eine Weile später zeichnete sich ab, dass Amboss die Suchenden aus Dresden herausführen würde. Im Dunkeln schließlich folgten sie der B6, der Bautzner Straße, und die Bebauung wurde merklich karger. Jetzt, da sie endlich etwas unternehmen konnten, waren vor allem die Vampire aufgekratzt und voller Tatendrang. Als sie auf die S95, die Fischhausstraße, abbogen, fingen sie trotz der zahlreichen edlen Wohnhäuser entlang des Weges laut an zu singen.

»Es regnet! Es regnet Blut! Es regnet –«

»Lasst das!«, zischte Fritz nach vorn und schauderte. »Könntet ihr damit aufhören, ständig Lieder zu singen, die von Blut handeln?«

»Nein, das ist ist hochgradig erfüllend!«, entgegnete ihm Falk. »Hör dir bei Gelegenheit an, wie Micha das Wort Blut im Original ausspricht – so leidenschaftlich, mit breitem l und hartem t … das würde selbst dir Appetit machen!«

Und prompt imitierten alle Micha: »Es rääägnet! Es räägnet BLUT!«, ohne auf Fritz’ Protest zu achten.

Fritz seufzte und wünschte sich ein Paar der Ohrenstöpsel, die natürlich den Menschen nicht gegeben worden waren. Zu seinem Leidwesen stimmten die Vampire nach Beendigung des ersten sofort ein weiteres Lied an.

»Das Blut so rot … das Blut so rein …«

»He, das ist voll aus dem Kontext gerissen!«, beschwerte sich Ingo.

»Na und?«, kam es ausgerechnet von Sugar Ray.

»Ich frag mich nur gerade, wo wir hier eigentlich sind. Der Hund will aus Dresden raus, da hinten kommt nix mehr.«

Damit hatte er völlig Recht: Inzwischen waren sie rechts und links umgeben von kahlen Bäumen. Die Häuser waren völlig verschwunden.

Lasterbalk wandte sich an seinen Nachbarn. »Was sagt das Falk-Navi?«

»Ich glaube, wir sind auf der Radeberger Landstraße«, mutmaßte Falk. »Mir ist so, als wäre das die weitere S95.«

»Und wie weit ist es bis … Radeberg?«

»Weiß ich nicht. Nicht mal ich kann alles wissen.«

»Hm.« Lasterbalk holte den kleinen Sender aus der Tasche, den er, wie auch die anderen, noch nicht hinter dem Ohr angebracht hatte. »Boris?«

»Ja, hallöchen. Wir machen Fortschritte! Wo seid ihr inzwischen?«

»Das sollst du mir sagen, du Scherzkeks!«

»Oh … ja, stimmt. Einen Moment.« Yellow Pfeiffer schaltete irgendwas am Laptop um. »Nanu, ihr seid ja total in der Pampa! Der nächste Ort ist Loschwitz … dann die Dresdener Heide … und dann kommt nur noch Radeberg.«

»Wie weit bis dahin?«

»Hmm … noch so zehn Kilometer.«

»Oh Gott! Ich hoffe, Eff Eff sitzen net ganz so weit weg.«

»Du meinst, hoffentlich sitzen sie nicht noch WEITER weg.« Boris seufzte. »Na gut, wir starten den nächsten Durchgang. Werden langsam sicherer. Meldet euch, wenn’s was Neues gibt.«

Nicht wissend, was für ein Gesicht er machen sollte, ließ Lasterbalk den Sender wieder verschwinden. Alle starrten ihn an – jedenfalls alle, die im Dunkeln sehen konnten. »Na los, frohen Mutes weiter«, ermunterte er die anderen. »Ich denke, wir haben’s bald geschafft.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
And walking.
And walking.
And mooooore walking. Komplett anzeigen

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