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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Wahre Freunde

»Scheiße! Pflöcke!«, entfuhr es Lasterbalk, als ein überraschend kräftiges Mädchen mit der blinkenden Spitze nach seiner Brust hackte.

Sie lachte keckernd. »Da staunt ihr, was?«

»Und reden können die auch! Die sind net unter Blutf–«

»Weißt du, was ich noch kann?«, säuselte das Mädchen, seine fassungslose Feststellung unterbrechend, und streckte ihm ihre gepiercte Zunge entgegen. Noch immer rang sie für einen Menschen höchst erfolgreich mit ihm, der zwei Köpfe größer war als sie. »Das!« Sie öffnete den Mund, und ein Paar perlweißer Fänge fuhr aus dem Zahnfleisch hervor. Als sie Lasterbalks entsetztes Gesicht sah, lachte sie laut auf.

»Das sind Vampire

»Dann pfähl doch zurück!«, kam es weit beherrschter von Falk, der nicht weit weg kämpfte. »Ich weiß, die riechen wie Menschen, aber … arrrghhh –« Gerade wehrte er erfolgreich die Pfählattacke eines älteren Vampirs ab. »– es gibt Möglichkeiten, den Bestiengeruch zu überdecken …«

»Ach, Surprise!« Lasterbalk warf aus und brachte dem Mädchen einen Biss bei, der die Schulter klaffend auseinander riss. Endlich konnte er sie beiseite stoßen. »Jetzt wär ein bisschen Wikingerblut net schlecht!«

»Ich glaube, die haben das Wikingerblut gebechert!«, gab Falk keuchend zurück. »Das sind zu viele, wir werden die niemals alle – …«

»Macht Platz!«, grollte jemand, und Ingo Hampf stieß mit gezückter Waffe hinzu. »Jetzt geht’s Pflock gegen Pflock!«

»Und du glaubst, da hast du auch nur den Hauch einer Chance, a mhuirnín?«, keifte eine Vampirin, die sofort auf ihn losging. »Dich trinken wir leer wie eine Flasche Tullamore Dew

Die Drohung prallte so gründlich an Ingo ab wie besagte Flasche Tullamore Dew von der Wand einer Gummizelle. Er packte die Frau, riss sie zu sich und pfählte sie mit der Linken, ohne eine einzige unnötige Anstrengung zu unternehmen. Eine zweite, die glaubte, den kurzen Moment seiner Unachtsamkeit nutzen zu können, folgte ihr genauso abrupt in den Tod, als Ingo herumwirbelte und sie noch im Flug abfing. Falk, der sich einen Spritzer Blut aus den Augen wischte und ebenfalls wieder in die Offensive ging, konnte insgeheim nur staunen, was Subway To Sallys schweißüberströmter Gitarrist nach den bereits durchfochtenen, sich wie eine Ewigkeit anfühlenden Nachtstunden immer noch aus sich herausholte.

Lasterbalk wusste, dass die Aussichten dennoch nicht gut standen. Frais’ scheinbar sinnloser Fake-Vampir-Angriff hatte seine Wirkung nicht verfehlt: Die zuvor so ambitionierten Armbrust-Schützen würden ihre Waffen aus Angst, einen Menschen zu töten, nicht so bald wieder einsetzen; Erics Auftreten hatte zwar nicht alle MIU-Vampire, aber zumindest Sugar Ray und damit einen wertvollen Verteidiger aus dem Verkehr gezogen; Simon und Asp waren ebenfalls von der Bildfläche verschwunden, und zu allem Übel drückte sich auch noch irgendwo ein gut amüsierter Paul Frais herum. Die Locksänger hatten aufgehört zu spielen; Fionas Dudelsack war von Frais persönlich beschlagnahmt worden, das neue Lockstück somit nicht spielbar. Alea, wo auch immer er war, weigerte sich, seine gefürchtete Fähigkeit einzusetzen. Es war so ziemlich alles im Eimer. Hinzu kam, dass die wenigen Verteidiger der schieren Überzahl von Angreifern auf Dauer nicht gewachsen waren. Eben gesellten sich Michael und Dr. Pymonte mit Natron-Kanonen und Pflöcken hinzu. Machte fünf Kämpfer an der Front.

Fünf, dachte Lasterbalk und fühlte sich in dem Moment, als die Erkenntnis ihrer Unterlegenheit ihn mit voller Wucht traf, unendlich ausgelaugt und müde. Seine Muskeln zitterten von der Anstrengung, und zu gerne hätte er das Schlachtfeld jetzt weit hinter sich gelassen, um an einem weichen, warmen Ort einfach umzufallen und nie wieder zu erwachen. Als er stattdessen den vielen munteren Fiacail-Fhola-Vampiren entgegensah, die jetzt ihre tarnenden Linsen aus den Augen rissen und nachtsichtig wurden, stöhnte alles in seinem Kopf gequält auf: Wir sind am Arsch!

Doch er irrte sich.

Und wie.

Gerade als er dachte, dass die MIU dem Angriff auf die Klinik keine fünf Minuten länger Stand halten würde, brachen plötzlich noch ein gutes Dutzend weiterer Gestalten aus der Dunkelheit hervor. Instinktiv raffte Lasterbalk alle noch verbliebenen Kräfte zusammen, die in irgendwelchen verborgenen Winkeln noch vorhanden waren. Angesichts dieser Übermacht glaubte er, sein Herz müsse jeden Moment vor Verzweiflung aussetzen. Panik riss an seinem Willen, als er den Pflock umklammerte, um auch dieser schrecklichen Bedrohung noch irgendwie zu begegnen, egal wie.

Doch dann kam es anders. Wild stürzten diese neuen Akteure sich auf die feindlichen Angreifer, rammten ihnen von hinten Pfähle durch die Brust oder Zähne in die weichen Kehlen, bis sie gurgelnd fielen. Als sie näher kamen, erkannte der keuchende und verwirrte Lasterbalk dank der Beleuchtung des Geländes das kleine Abzeichen, das die unbekannten Helfer auf den Brusttaschen ihrer ausnahmslos weißen Hemden und Blusen trugen: ein dreiblättriges Kleeblatt in sattem Grün. Plötzlich waren die vielen Unbekannten gar nicht mehr unbekannt.

»Fírinne!«, hörte er Falk erfreut ausrufen. »Endlich kommen die sich mal revanchieren!«

Über alle Maßen erleichtert nickte Lasterbalk ihm und den Ankömmlingen zu, ohne dass ihm ein zusammenhängender Satz eingefallen wäre. Er war selten um Worte verlegen.

Verbissen ging der Kampf weiter, und obwohl es den Iren nicht leicht fiel, die Reihen der gegnerischen Vampire aufzubrechen, zeichnete sich schon bald ab, dass es Fírinne gelang, seitlich einen Keil zischen Paul Frais’ Leute und die ansonsten wohl verloren gewesene MIU zu treiben. Dies verschaffte den beiden älteren Vampiren überraschend einen größeren Abstand zur Front, sodass sie – unverhofft, aber willkommener Weise – verschnaufen konnten.

Jemand trat hinter Lasterbalk und hüstelte. Der große Vampir fuhr herum und sah einen kurzhaarigen jungen Mann. »Wunderschönen Abend, Niklas Löhse mein Name. Ich hoffe, wir stören nicht?«

Auf das triumphierende Lächeln hin stieß Lasterbalk nur begeistert hervor: »Himmel, nein, wir geben euch einen aus, wenn das vorbei ist! Mann! Wieso seid ihr net früher gekommen?«

»Tja, das hätten wir wohl, wenn uns mal jemand genauer informiert hätte. Aber erst diese Frau musste kommen und uns an unsere Schuld erinnern.« Löhse wies auf eine rothaarige Vampirin im blauen Wickelkleid. »Gestatten, Ríona Nic Mhathúna. Unsere Doppelagentin bei Fiacail Fhola

Lasterbalk zog die Brauen hoch. Die kleine Vampirin reckte stolz das Kinn. »Ah, na dann … willkommen an Bord, ne? Ich will euch gar net vom Kämpfen abhalten. Lasst uns diesen hirnlosen Lochern ’nen Satz warme Ohren verpassen!«

Und dann nahmen Fírinne und die MIU wieder Seite an Seite den Kampf auf, erstmals seit fast sechs Jahren.
 

Fritz duckte sich zitternd hinter Alea.

»Endlich ergibt alles Sinn!«, machte der Vexecutor seinem Zorn Luft. »Frais hat uns alle verarscht!«

»Meinst du nicht, dass das ein Grund wäre, ihn zu vexekutieren?«, schlug Fritz versuchshalber vor.

Alea ignorierte ihn; er sah nur wütend, aber dennoch fasziniert zu, wie sich Angreifer und Verteidiger rund um den Klinikkomplex erbitterte Kämpfe lieferten. »Ich glaub’s nicht, die Eff-Eff-Freaks gehen mit Pflöcken gegen unsere Leute vor! Was verdammt noch mal soll das?«

»Um sie spüren zu lassen, wie sich das anfühlt?«, sagte Fritz vorsichtig. »Ich meine, auch ein Mensch stirbt, wenn man ihm eine Spitze in die Brust rammt.«

»Ja, du hast Recht. Komm, Fritz, wir müssen zurück.« Unversehens machte Alea kehrt.

»Was, durch die ganzen Vampire?« Fritz traute seinen Ohren nicht.

»Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, welche Wahl haben wir schon? Immerhin, ich bin Lámh Dé, also sollten die eigentlich rennen wie die Blöden!«, gab Alea gereizt zurück. »Dass ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin! Los, es sind gerade nicht so viele! Jetzt

Sie stürzten los. Mitten in das Getümmel aus Feinden und Freunden hinein. Als das Licht auf Aleas Haar und Bart fiel, wandten sich ihm tatsächlich alle Augen zu; nicht nur die Fiacail-Fhola-Vampire, auch die Leute von Fírinne wichen augenblicklich zurück.

»Lámh Dé!«, wisperten die zahllosen Münder in Terror.

Alea achtete auf niemanden, ging nur stur geradeaus, wobei sich vor ihm eine Schneise bildete, und zog dabei Fritz am Ärmel hinter sich her. Letzterer setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Sein verletztes Bein stach empfindlich bei der unerwarteten Belastung.

Und dann, sehr schnell, hatten sie das Schlachtfeld hinter sich. Hier, dicht an der Hauswand, rückte der Kampflärm plötzlich in die Ferne. »Ich suche die Locksänger«, sagte Alea. »Sie müssen spielen, und ich will wissen, wieso sie’s nicht machen!« Und er huschte ins Dunkel davon.

Fritz stützte sich an der kalten Mauer ab. Ihm war fast egal, wohin Alea jetzt wieder verschwand. Er brauchte eine Pause. Jedes Geräusch in der Nähe ließ ihn zusammenzucken; er konnte gar nicht richtig verfolgen, was um ihn herum passierte, so sehr hatte die geringe Anstrengung ihn bereits wieder überfordert. Alles schien durch den Schleier der Dunkelheit unwirklich, der Kampflärm so nahe und doch so endlos weit weg, als könnte keine Gefahr sie erreichen – und doch konnte sie es, und nicht nur die ziehenden Schmerzen in Fritz’ Bein taten davon kund. Er bemüht sich, ruhiger zu atmen, und schloss einen Moment lang die Augen.

Plötzlich sagte eine warme Stimme dicht neben ihm: »Du brauchst ihn ja gerade nicht, Fritz. Ich leihe ihn mir mal. Danke.« Etwas zupfte an seinem Gürtel. Fritz fuhr herum und sah niemanden; er versuchte, seinen pochenden Herzschlag zu beruhigen, doch schon lenkte wieder ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit ab. In einiger Entfernung sah er Falk und Ingo Hampf über ein wild um sich schlagendes Vampirpaar triumphieren. Dann eilte jemand ganz in seiner Nähe quer über die Bildfläche: schlanker Körper, lange blonde Haare. Simon Schmitt. Der junge Mann sah sich suchend um, erblickte Fritz und kam dann rasch auf ihn zu, einen besorgten Blick auf den jungen Zügen.

»Fritz! Hast du Alex gesehen?« Seine Stimme klang gehetzt und zutiefst verunsichert.

»Äääh … wie, was? Nein, ich …« Fritz ließ die Hauswand schwankend los, und noch während er verneinte, Asp gesehen zu haben, sah er ihn doch: Er spurtete soeben senkrecht an der Wand hinauf, schnell und leise wie ein Schatten, und rannte, oben angekommen, weit ausgreifend über das Dach davon. Fritz’ Hand flog zu der leeren Gürtelschlaufe, in der sein Pflock gesteckt hatte. »Da – da oben ist er!«

»Was?«

»Simon, schnell, wir müssen ihm folgen!«, insistierte Fritz. »Alle anderen sind zu abgelenkt!«

Simon schaute grimmig drein. »Das vergiss mal besser! Erstens verfolgt er Paul Frais, zweitens spinnt er –« Sein Ton spiegelte eine verständnislose, ohnmächtige Wut wider. »– und drittens holen wir ihn nie ein! Ich kann noch keine Wände hochlaufen, schon vergessen?«

»Aber er will ihn töten!«, insistierte Fritz, da ihm in diesem Moment alles klar wurde. »Also, Asp will Frais töten!«

»Pah, töten!«, entgegnete Simon augenrollend. »Das ist doch Quatsch. Alex tötet niemanden, er hat ja nicht mal einen Pflock!«

»Jetzt schon!« Fritz senkte die Stimme. »Er hat meinen.« Vielsagend hielt er die leere Gürtelschlaufe hoch.

»Oh …«, kam es überrascht aus Simons Mund.

»Also, gehen wir ihm jetzt nach oder nicht?«

»Doch …« Simon zögerte, und man sah es hinter seiner Stirn blitzschnell arbeiten. »… doch, aber wir – wir müssen um das ganze Gebäude rum. Ja, das geht am schnellsten. Komm, ich trag dich … und dann folge ich seiner Spur, so gut ich kann.«

Damit war Fritz durchaus einverstanden. Er hatte zwar keine Ahnung, woher sein Mut plötzlich rührte, zumal Frais hochgefährlich und Simon ein Chaosmagnet war – doch jetzt war er plötzlich voller Tatendrang und wollte zu etwas nutze sein. »Holen wir uns Frais!«, rief er, als Simon ihn hochgehoben hatte und trotz seiner Last leichtfüßig losrannte.
 

Die eigentliche Schlacht war kurz. Keine Stunde, nachdem Fírinne auf den Plan getreten waren, ergriffen die übrigen Fiacail-Fhola-Vampire laut fluchend die Flucht. Kaum einer ihrer eisernen Pflöcke hatte ein Vampirherz durchbohrt; die hölzernen Pendants der MIU jedoch hatten nicht wenige Opfer gefordert.

»Pfählen muss man jahrelang üben!«, kläffte Ingo, dessen allerletzter Atem dafür gerade noch auszureichen schien, einem davon stürmenden Gegner nach, ehe er vor Erschöpfung auf die Knie sank. »Das muss man perfektionieren, wie ein Musikinstrument!« Er stützte sich ab und japste nach Luft. Den fliehenden Vampir, der im Duell gegen ihn soeben das Handtuch geworfen hatte, interessierte dieser Hinweis wenig.

Fírinne hatten zwei Verluste zu beklagen. Es handelte sich um ein frisch verwandeltes und ebenso frisch verliebtes junges Paar, das seinen ersten Kampf bestritten hatte – nun waren sie im Tode vereint. Ebenso benötigten einige Verletzte Aufmerksamkeit, doch glücklicherweise ließen sich Wunden, die falsch gestoßene Pflöcke und Klingen zugefügt hatten, mit Vampirspeichel notdürftig versorgen.

Falk und Micha verfolgten ein paar der langsameren Flüchtigen noch bis zum Ende der Fetscherstraße; dann war plötzlich alles ruhig. Nur das hinterbliebene Chaos zeugte davon, dass auf dem Gelände vor kurzem ein Kampf stattgefunden hatte.

»Nicht dass die uns wirklich hätten töten können«, stellte Falk fest, »wie man schon damals in Irland gesehen hat. Die sind so blöd, die rammen den Pflock rein und wundern sich, dass der Gegner nicht tot umfällt. Dass man den Pflock auch rausziehen muss, damit das Herz ausblutet, darauf kommen die gar nicht. Ha!«

Das siegreiche Lächeln verging den fünf Kämpfern, als sie hinter ihre Linien zurücktraten und mit der Klinikleitung konfrontiert wurden.

»Sie können gleich aufhören zu grinsen!«, keifte eine Frau in schmutziger Kleidung, der tiefe Spuren von Angst und Sorge in den übermüdeten Augen standen. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, welcher Gefahr Sie die Patienten ausgesetzt haben? Und gucken Sie sich das mal an!« Sie deutete auf das Feldlazarett unmittelbar vor der kleinen Metalltür, dem einzigen Zugang ins Krankenhaus, wo das Ärzteteam die falschen Vampire nach ihrer Ausschaltung in Empfang genommen hatte. Die unzähligen Patienten starrten dumpf vor sich hin. Viele von ihnen waren noch immer an den unterschiedlichsten Körperstellen blutüberströmt, weil die Vampire sie zwar gebissen, die Bisswunden in der Eile aber nicht eingespeichelt hatten. »Das sind alles Menschen, die manipuliert worden sind und die Sie trotzdem meinten, beißen zu müssen! Natürlich können Sie als Vampir jetzt behaupten: Jaah, genau dafür gibt es doch Ärzte!, aber ich sag Ihnen, nicht mal die Ärzte ohne Grenzen versorgen mit so wenig Personal so viele Verletzte!« Sie holte tief Luft.

Lasterbalk fühlte sich, mit so blankem und – seiner eigenen Meinung nach – unberechtigtem Zorn konfrontiert, etwas überfordert; von hinten kamen nun auch die vielen Vampirjäger von Fírinne angetrottet und hofften wohl auf so etwas wie ein alkoholisches Getränk. »Also …«, begann er langsam, und seine Fähigkeit, eine unschöne Situation in euphemistische Worte zu kleiden, erfuhr einen jähen Aussetzer. »… ich finde, wir haben nach Kräften …«

»Lasterbalk!!«, kreischte Bock plötzlich in allerhöchsten Tönen und deutete auf eine Gestalt, die sich gerade vom Rande des Schlachtfelds aus auf die wachsende Gruppe zuschleppte.

Augenblicklich verbannte Lasterbalk das Gezänk der Ärztin von der Liste Aufmerksamkeit verdienender Dinge. »Elsi! Was hast du gemacht, verdammt?!«

Als El Silbador die vertrauten Gesichter sah, sank er auf Hände und Knie und kippte wie in Zeitlupe zur Seite. Erst jetzt war die stark blutende Wunde knapp über seiner Hüfte zu sehen.

Ein paar ausgreifende Schritte brachten Lasterbalk an die Seite des Jüngeren, und er hob ihn auf, jedoch nicht ohne weiterhin seiner Erregung Luft zu machen. »Was an ›Bleib drinnen und halt den Zugang für Verletzte offen‹ hast du net kapiert, sag mal?« Einen Moment später war Falk neben ihm, und sie schleppten Elsi eilig zu Bock und den anderen.

»Ja, war ’ne blöde Idee, ich weiß«, ächzte Elsi, offenbar mühsam ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrückend, und hing schlaff im Griff der beiden. »Ich dachte, ›Offenhalten‹ würde auch ›Verteidigen‹ beinhalten, aber kaum bin ich draußen und geb ein paar Schüsse ab, jagt mir so’n Amateur seinen Pflock in die Seite … Zack, lieg ich unten, sofort fällt jemand über mich, ein anderer tritt mir auf die Schulter …« Er zog die Nase hoch. »Hab ich verkackt, ist klar …«

Die Ärztin, die den MIU-Vampiren kurz zuvor den Anranzer verpasst hatte, wollte ihnen sofort den Verletzten abnehmen, aber Lasterbalk hielt sie unsanft mit der freien Hand zurück. »Sie lassen schön erst mich da ran!«, verlangte er und bleckte die Zähne, und sofort sprangen auch die zwei Pfleger beiseite, die gerade unverfroren zupacken wollten.

»Was?«, protestierte die Ärztin. »Der junge Mann verblutet und Sie denken nur daran, aus ihm zu trinken?!« Sie schien es gar nicht fassen zu können.

Als Elsi auf dem Boden lag, inspizierte Bock die Wunde ganz kurz, dann machte er Lasterbalk sofort Platz; schlimmer noch, er zog sogar die Kleidung des Patienten beiseite, damit der Vampir sich über die Wunde beugen und die Lippen darauf drücken konnte.

»Ich glaub, mich tritt ein Pferd!!«, kiekste die Ärztin.

Ein Pfleger widersprach in ruhigem Ton: »Lassen Sie diese Leute ihre Probleme selbst lösen, Frau Doktor.«

Lasterbalk saugte nur ganz kurz an der Wunde, der Verunreinigung wegen, dann fing er an, sie zu lecken; das machte er so lange, bis sie ganz sauber war und – zum sichtlichen Erstaunen der kapriziösen Medizinerin – auch nicht mehr blutete. Dann hob er den Kopf und fragte den Patienten: »Besser?«

»Hundertmal«, antwortete El Silbador matt. Er war kreideblass, wirkte aber schon entspannter, da die Schmerzen aufgehört hatten.

Zufrieden stellte Bock fest: »Gut, dann können wir jetzt nähen.« An die Ärztin gewandt fügte er hinzu: »Vampirspeichel ist hoch gerinnungsfördernd, eine Art Wundkleber. Wäre das nicht so, würden die Opfer nach dem Biss verbluten, weil die innere Drosselvene so viel Blut führt … wie Sie ja heute oft genug gesehen haben.« Die Ärztin starrte nur perplex zurück. »Übrigens, ich hätte liebend gerne eine Studie über vampirischen Speichel bewilligt … Okay, nein, lassen wir das, jetzt haben wir andere Sachen zu tun«, fügte er entschuldigend hinzu.

Die Ärztin war nunmehr so verblüfft darüber, von allen Seiten belehrt zu werden, dass sie den Mund zuklappte und nicht mehr öffnete. Lediglich ihre Miene sprach Bände.

Der Vampirarzt wurde unterbrochen, als Micha zu ihm trat und ungeduldig an seiner Schulter rüttelte. »Bock? Komm mal mit. Hier sind genug Ärzte. Ich kann Schmittchen, Lex und Fritz nirgends finden.« Er sagte das nicht nur zu Dr. Saltz, sondern auch zu Lasterbalk und den Umstehenden, erkennbar daran, dass er ihnen einen nachdrücklichen Blick widmete.

»Wo ist Alea?«, fragte Falk scharf.

»Bei den Rattenfängern. Allen geht’s gut. Paul Frais hat den Sack geklaut, keiner traut sich, ’nen Muskel zu bewegen … aber verletzt ist keiner.«

»Frais, soso«, kommentierte Lasterbalk. »Okay, dann haut ihr mal ab und sucht die Vermissten wieder zusammen. Falk, gehst du auch mit?«

»Wenn ich hier nicht gebraucht werde, ja«, antwortete Falk und hob die Schultern.

»Jaah, dann los, ab mit uns!«, zischte Micha ungeduldig. »Frais springt da noch irgendwo durch die Gegend, Fritz ist nicht gesund, Lex ist kein Killer und Schmittchen kein Aufpasser. Also kommt endlich!«

Seufzend sah Lasterbalk den dreien nach, wie sie sich – Micha mit gereckter Nase voran – vom Gelände entfernten; dann schaute er wieder zu Elsi, den nun das Ärzteteam behandelte. Er und die Zurückgebliebenen würden die Aufgabe haben, das hinterlassene Chaos bestmöglich zu beseitigen.
 

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …«, zählte Simon Schmitt zum wiederholten Male die parkenden Autos am Straßenrand. Er wirkte schrecklich nervös. »Ach Mann, immer wenn ich aufgeregt bin, fange ich an, sinnlos Sachen zu zählen!«

»Mach dir keinen Stress, das stört mich nicht«, beruhigte ihn Fritz, der nun auf eigenen Füßen ging, aber im Moment ganz gut Schritt halten konnte. »Jedes Kind weiß, dass Vampire gerne zählen. Ich denke immer an Graf Zahl aus der Sesamstraße …«

»Das ist übertrieben, aber ich hab vor meiner Verwandlung definitiv nicht so viel gezählt«, murmelte Simon, »obwohl ich als Lehrer gearbeitet hab. In der Musik muss man sowieso ziemlich viel zählen. Es fällt also nicht mal wirklich auf. Aber seit ich ein Vampir bin, zähle ich auch Kuchenstücke, Sockenknäuel und Wäscheklammern … meistens bis sieben, dann fange ich wieder von vorne an …«

»Solange du keine Erbsen zählst«, sagte Fritz. Was als Aufmunterung gedacht war, verfehlte seine Wirkung, denn Simon lächelte nicht zurück.

Stattdessen wandte er sich von den Autos ab und schnupperte. »Alex ist Frais wirklich geradewegs gefolgt. Ihre Spuren überlagern sich mit einem Abstand von … ein paar Minuten, bestenfalls. Ich fürchte, wir werden noch ein ganzes Stück laufen müssen. Ich weiß nicht mal, wo wir sind.«

»Ähm … Ich glaube, wir sind auf der Marienallee. Mal wieder. Du weißt schon, hier irgendwo ist die Albertstadt-Kaserne … und der Eingang ins Eff-Eff-Versteck.«

»Aha! Aber … das Versteck ist doch verlassen, oder nicht? Hab keine Ahnung, wieso Frais sich da verstecken will. Er weiß doch bestimmt, dass wir eine Karte davon haben.«

Fritz wusste keine Antwort darauf. Die einsame Straße mit ihrer nächtlichen Ruhe löste ein trügerisches Gefühl der Sicherheit in ihm aus, doch er wusste, dass diesem ganz und gar nicht zu trauen war. Er hoffte nur, dass sie Asp und Paul Frais finden würden, bevor der Kampf der beiden zu einem Ende kam. »Simon«, begann er, um die Stille, die vermutlich noch eine ganze Weile dauern würde, mit etwas zu füllen, »wie fühlt es sich an, wenn man ein … ein Vampir wird?« Bisher hatte sich keine einzige Gelegenheit ergeben, einen Vampir danach zu fragen. Ständig waren sie irgendetwas hinterher gejagt oder hatten in großer Runde Diskussionen geführt. Nun aber folgten sie zu zweit der Spur zweier Vampire, die nicht nur sehr viel schneller waren, sondern auch in kurzer Zeit große Distanzen überwinden konnten – und dies sicherlich auch getan hatten. Fritz und Simon waren jetzt vollkommen allein.

»Du meinst die … Transformation?« Simon zögerte unbehaglich. »Das solltest du lieber jemanden fragen, der’s bei vollem Bewusstsein durchmachen musste. Ich war ja schon bei der MIU, und bei mir hat man natürlich erkannt, was passierte. Bock und Eric haben mich sofort nach Treuenbrietzen ins Johanniter-Krankenhaus gebracht … du weißt schon, das uns das Azathioprin liefert. Da wissen alle bescheid. Die haben mich einfach in künstliches Koma versetzt und die Transformation auf der Intensivstation überwacht, bis alles vorbei war. Du weißt vielleicht, dass mehr als zwanzig Prozent aller Abkömmlinge beim Verwandeln sterben.«

»Ja … aber im Krankenhaus mit medizinischer Versorgung ist das wohl kein Problem«, folgerte Fritz nachdenklich.

»Ich glaube nicht. Die behandeln dich wie einen Schwerkranken, schließen dich an zig Geräte an, die alles für dich machen, sogar atmen. Ich bin noch in der Notaufnahme eingepennt, und als ich wieder wach war, waren plötzlich sieben ganze Tage vergangen … und ich war ein Vampir. Ich hatte plötzlich Fangzähne. Und die Power von zehn Tigern. Erinnere mich dunkel, nach dem Wachwerden jemanden gebissen zu haben, aber alle meinten, das wäre okay.« Simon atmete tief durch, als beengte etwas seine Brust. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für’n Mist das ist. Du weißt einfach gar nicht, wie dir geschieht. Zum Glück war Silvio da … und Asp.«

»Er hat dir auch geholfen?«

»Oh ja. Er hat mir die heiklen Sachen beigebracht, die Silvio zu unangenehm waren … zum Beispiel Beißen. Das ist echt, als würdest du mit deinen Eltern über Sex reden.« Simon schaute verlegen beiseite.

»Und ausgerechnet Alex hat das mit dir besprochen?«, hakte Fritz ungläubig nach. »Der beißt doch gar nicht.«

»Nein. Aber er hat vollstes Verständnis dafür, wenn andere das machen. Wir benutzen die Hauer ja auch als Waffen, und Alex sieht sich eben als Ausnahme. Er ist der Letzte, der anderen was vorschreibt – Micha übrigens auch, dem ist ja vieles schnurzegal, aber er hatte keinen Bock, ein Baby zu unterrichten.«

Fritz kam ein anderer Gedanke. »Und was war mit deinem … Erschaffer?«

»Hm.« Simon zuckte die Achseln. »Ich kenne ihn kaum.« Plötzlich musste er lachen. »Klingt, als wäre ich ein Kind ohne Vater, ne? Aber es war fast das gleiche: Er hat mich verwandelt, ohne dass ich richtig wusste, was eigentlich passierte. Hat mir meinen Wahrnamen gegeben und mich dann im Stich gelassen. Als er sich ins Krankenhaus geschlichen hat, um zu gucken, ob ich überlebt habe, hat Ingo ihn gepfählt.« Wieder hob er die Schultern. »Tja, eigentlich haben Erschaffer und Abkömmling ja eine besondere Verbindung zueinander, aber so … Mir war’s eigentlich egal, dass er getötet wurde.«

»Aber er war doch sicher keine Bestie?«

Daraufhin zögerte der Jüngere einen Moment. »Naja«, räumte er ein, »doch. Der war schon das, was wir Bestie nennen würden. Hat Menschen aufgelauert und sie zum Vergnügen gequält. Deswegen haben wir ihn verfolgt. Aber auch Bestien wollen Abkömmlinge haben, und manchmal hat’s ihnen dann ein Mensch angetan, den sie für immer behalten wollen … Ich weiß nicht, ob das bei meinem Erschaffer auch so war, oder ob er uns nur eins auswischen wollte, indem er mich verwandelt hat … Jedenfalls war ich ihm am Ende nicht besonders wichtig.«

»Von einer Bestie kann man wohl nicht viel erwarten«, vermutete Fritz.

»Er hätte sich trotzdem um mich kümmern müssen. Als Baby-Vampir ist man so was von beschissen hilflos!«

»Hat irgendein MIU-Vampir Abkömmlinge?«

»Nein. Asp und Micha könnten welche machen, wollen aber nicht.«

»Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, andere … naja … Mitarbeiter in Vampire zu verwandeln.«

»Vielleicht. Das ist ein Thema, das in der MIU schon lang und breit diskutiert wurde. Es gibt jedenfalls kein Verbot gegen das Erschaffen.« Simon verlangsamte seinen Schritt und war plötzlich ganz aufmerksam. »Oooh, Fritz, ich glaube, wir haben die beiden gefunden …«

Vor ihren Nasen ging die Marienallee gerade in eine lange Rechtskurve über und entfernte sich von der Parallelstraße zugunsten eines bebauten Geländes mit Wiesenflächen, das sie nun vorsichtig betraten. Ein hell gestrichenes Haus war das Ziel von Simons eingehender Untersuchung.

»Sportpension Dresden«, las Fritz, was in weißer Schrift auf dem braunen Schild über der Tür stand, und furchte die Stirn. »Das ist ein … Hotel, oder so.«

»Nee, hier sind wir auch falsch«, murmelte der junge Vampir. »Die Herberge interessiert Frais nicht. Dahinter wird’s interessant … da.« Er deutete vage auf ein höher aufragendes, schlecht beleuchtetes Gebäude. Keine Menschenseele war dort zu sehen, obwohl in der Herberge in einem der oberen Fenster hinter den Vorhängen noch Licht brannte.

»Das sieht wie eine Sporthalle aus«, stellte Fritz fest. »Meinst du, Lex wird Frais zu ’ner Partie Volleyball rausfordern?«

Simon schluckte hart. »Ich hab was anderes im Verdacht. Komm, wir müssen uns beeilen!«, wisperte er und hastete dann auf das Gebäude zu.

Die Tür zur Turnhalle war tatsächlich nicht verschlossen. Simon hielt sie auf, damit Fritz sich hindurch winden konnte. Allmählich wurde sein verbundenes Bein unangenehm steif.

Ein Blick in die leere, unbeleuchtete Halle ließ beide erleichtert aufseufzen.

»Hier sind sie nicht«, wisperte Fritz. Sein Blick glitt langsam durch den Raum; die Wand mit den Zugängen war mit roten Ziegeln verkleidet, die gegenüberliegende hatte große Fenster, durch die blasses Mondlicht hereinfiel. Nichts regte sich.

Simon fasste ihn am Ärmel und zog ihn wieder in den Korridor. Diesmal hielten sie auf die Umkleidekabinen zu; es gab vier Türen mit je einem großen Raum dahinter, und alle waren durch Waschräume miteinander verbunden. Sobald Fritz hineinsah, erblickte er sich selbst in dutzendfacher Ausführung.

»Wusste ich’s doch«, zischte Simon. »Spiegel. Alles voller Spiegel!«

»Das sehe ich«, flüsterte Fritz und bekam eine Gänsehaut. »Aber was soll das? Nutzen die das hier als Ballett-Übungsraum? Warum so viele davon?«

»Frag mich nicht. Klar ist nur, dass Frais sich was dabei gedacht hat.«

Diese Mitteilung beunruhigte Fritz auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte. »Was meinst du damit?«

Simon senkte die Stimme noch mehr: »Hat Micha dir nicht gesagt, dass Asp einen Teil seiner Seele abgespalten hat, weil er ihn nicht ertragen konnte?«

»Doch … aber er hat mir nie gesagt, was das eigentlich bedeu–«

»Psst!«, brachte Simon ihn jäh zum Schweigen und drückte auch noch, als wäre das nötig, eine schweißfeuchte Handfläche auf Fritz’ Mund. »Hörst du das?«

Fritz lauschte. Und ja, er hörte etwas. Leise Stimmen erhoben sich, gleich nebenan. Zwei Männer, die ruhig miteinander sprachen – doch der Ton, der dabei mitschwang, war alles andere als freundschaftlich. Asps Stimme war leicht zu erkennen, die andere hatte einen seltsam emotionslosen, herablassenden Klang.

Fritz ignorierte Simons Hand auf seinem Mund und versuchte, sich so still wie möglich zu verhalten.
 

Durch Vampiraugen leuchtete die Dunkelheit in verwaschenen Grüntönen. Ein Licht anzuschalten war nicht nötig, nicht für zwei, die sich nur in der Nacht wirklich geborgen fühlten.

Allerdings waren dort Spiegel. Links und rechts und auch hinter der Ecke, wo Kleiderhaken und Bänke sich neben den riesigen Waschbecken drängten. In jede Richtung starrten sie zurück.

Umringt von Reflexionen seiner selbst fühlte Asp sich mehr als unwohl. Er versuchte, seine Unsicherheit zu ignorieren; alle seine Sinne waren auf Paul Frais gerichtet, der ihm unbehelligt den Rücken zuwandte. Das Holz des Pflocks in seiner Hand schien den kalten Schweiß aufzusaugen.

»Wie könnt ihr euch nur als Vampire bezeichnen?«, seufzte Frais, ohne sich umzudrehen. Sein Blick war unbeirrt geradeaus gerichtet. Die vielen Spiegel würden ihm jederzeit verraten, wenn der andere seine Position veränderte. »Ihr tötet euresgleichen … trinkt verdünntes, gezuckertes Blut aus kalten Gläsern … und wollt trotzdem Vampire sein? Schoßhunde seid ihr. Weiter nichts. An die Leine gelegt und kastriert.«

»Man muss beide Seiten der Medaille sehen«, erwiderte Asp. Eine günstige Gelegenheit … er brauchte nur eine günstige Gelegenheit! Sein Magen verkrampfte sich. Er wusste, dass er von seinen ärgsten Feinden umringt war. Die Spiegel reflektierten jenen Teil von ihm, den er verabscheute. Frais wusste das auch.

Aber Frais tat, als würde er den Pflock nicht sehen, und seufzte erneut theatralisch. »Ach, Asparagus, wann hörst du bloß endlich damit auf?«

Asp zuckte innerlich zusammen, als er seinen Wahrnamen hörte. Dieses viersilbige Wort hatte eine Macht über ihn, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Zugegeben, es war ein Spottname und auch als solcher intendiert gewesen: Er bedeutete nichts anderes als Spargel. Bei seiner Verwandlung durch Frais – es war 1635 passiert – war Asp sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, heimatlos, krank und kaum mehr als Haut und Knochen. Es war nicht absehbar gewesen, ob er die Transformation überhaupt überleben würde. Doch aus irgendeinem Grund hatte sein Körper die Qualen durchgestanden, und Frais hatte dies zum Anlass genommen, seinem ersten Abkömmling einen bezeichnenden Wahrnamen zu verleihen. Ironischerweise auf Latein, der Sprache kultivierter, philanthropischer Vampire. Spott in jeder Hinsicht. Und dennoch, fand Asp, war es ein klangvolles Wort, ein Wort, das … ihm gehörte.

»Wir«, fuhr Frais nun mit leisem Seufzen fort, ihm durch den Spiegel fest in die Augen sehend, »sind Jäger.« Seit einer schieren Ewigkeit diskutierten sie nun bereits, und allmählich schien den alten Vampir die Geduld zu verlassen. »Wir werden es immer sein. Wir können unsere Beute nicht wie Gleichgestellte behandeln, das ist wider die Natur.«

»Ach, wirklich?«, gab Asp zurück, um einen spöttischen Ton bemüht, der seine Beklommenheit kaschieren sollte. »Dann erklär mir mal die völlig natürlichen Dinge, die du mir nie erklären konntest: Warum gibt es das Gift, um die Beute zu beruhigen? Warum gibt es den Bissgriff, damit die Beute nicht verletzt wird? Warum gibt es den Wundkleber in unserem Speichel, der Schmerzen stillt und Infektionen verhindert? Warum, alter Herr, gibt es die Beißhemmung, die unsere menschlichen Freunde vor unseren Hungerattacken schützt? Sieh es endlich ein: Wider die Natur ist es nur, eine Bestie zu sein.« Frais hatte diese Tatsache seit jeher ignoriert. Asp war nie eine Bestie gewesen und wollte niemals eine werden. Auch jetzt versuchte er, seine Besonnenheit als großen Trumpf gegen Frais’ Launenhaftigkeit auszuspielen. Eine Gelegenheit …

Frais lachte. Er war vollkommen entspannt. »Dieses grenzenlose Verständnis! Sag mir, gibt es eigentlich auch irgendwas, das du … nicht magst?«

»Bestien«, antwortete Asp sofort. »Oh, und Plattenfirmen, die mir vorschreiben wollen, wie ich meine Musik zu machen habe. Ich weiß gerade gar nicht, was schlimmer ist«, setzte er noch trocken hinzu.

Endlich drehte Frais sich zu ihm um. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, seine Augen kalt. »Du glaubst wohl, ich wüsste nicht, wie du es machst, nicht wahr? Kein Vampir würde es aushalten, niemals zu beißen. Niemals pures Blut zu trinken. Niemals die Zähne auszufahren. Das musstest du schon in deinem ersten Leben lernen! Eine gewisse Zeit lang können wir unsere Natur im Zaum halten, aber sie wird sich immer wieder Bahn brechen. Wir sind, was wir sind. Aber du … du kannst dich nur deshalb nahezu menschlich verhalten, weil du einen Teil von dir losgemacht hast … und du hast schon oft genug erfahren, wie gefährlich das ist, Asparagus.« Frais lächelte eisig und überlegen. »Ein Tier, das man in Ketten legt, wird nicht zahmer … sondern nur wilder.«

»Ich hab keine Angst vor ihm, falls du das denkst«, beeilte Asp sich klarzustellen. »Im Gegenteil, ich liebe den alten Knaben! Eine Quelle steter Inspiration. Immer da, wo ich bin, um mir ins Ohr zu pöbeln, wenn ich lieber allein wäre. Ich kenne ihn gut. Wenn das nicht so wäre, hätte ich ihn nicht von mir isolieren können, oder? Ach, und übrigens: Rein künstlerisch sind wir ein tolles Team. Hocherfolgreich. Also, spar dir das pathetische Geschwätz und lass uns endlich einen doppelten Schlussstrich ziehen.« Er war selbst erstaunt, dass seine Stimme noch immer so ruhig und gefasst klang. Tatsächlich hatte sich während der ganzen Unterhaltung eine klamme Furcht in ihm breit gemacht, die er kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Das Gefühl des Pflocks in seiner Faust, das ihm Sicherheit hatte geben sollen, half jetzt nicht mehr.

Frais legte den Kopf schief. Noch immer beanspruchte er keinen Muskel mehr als nötig. »Mein Lieber, meinst du nicht … dass du dein Alter Ego in letzter Zeit ein bisschen … vernachlässigt hast? Hast du ihn vielleicht … zu gut gefüttert?«

»Ist das eine Anspielung auf dein falsches Wikingerblut?«

»Natürlich. Ich kenne dich, ich wusste, dass frisch Gezapftes keine Alternative für dich ist«, lächelte Frais. »Mir war klar, dass du es trinken würdest. All die Angst, die Aggression und die widersprüchlichen Gefühle, die in dem Trank schwimmen … Meinst du nicht, dass ihm das hervorragend geschmeckt hat?«

»Oooh, ja. Wieso auch nicht?«, heuchelte Asp weiterhin tapfer Gelassenheit. »Geschmacklich war der Hormon-Eintopf einwandfrei, da kann man nicht meckern. Chapeau

Jetzt lachte der alte Vampir laut auf. »Ah! Auch nach so vielen Dekaden weiß ich noch genau, was mir an dir so gefallen hat, Asparagus: Egal was man dir antut, du hast immer diesen … Witz. Und diese stoische Abgeklärtheit.« Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. »Aber wenn du glaubst, dass du mich töten kannst, irrst du dich. Er irrt sich. Frag ihn. Du hast bis jetzt seine Verwandlungen immer genau verfolgt, aber diesmal wird er dich überraschen.« Mit dünnem Lächeln wies Frais auf die vielen Reflexionen, die ihn und Asp umgaben. »Schau in den Spiegel, Spross, und erkenne dich selbst. Er wird wissen wollen, ob du ihn vermisst hast. Wie immer. Sag es ihm.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Und es wird noch viel aspiger. Komplett anzeigen

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