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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!

Schwungvoll wurde die Dachluke von unten aufgestoßen. »Hört auf zu feuern!«, brüllte Ingo, noch ehe er seine Nase nach draußen befördert hatte. »Ihr schießt auf Menschen!«

»Menschen?«, wiederholte Marco schaudernd und ließ beinahe die Armbrust fallen. Er hatte mit vielem gerechnet – doch nicht mit einer solchen Finte.

»Jaah! Ätzend viele Menschen unter Blutfessel! Guckt mal genau hin! Die gehorchen nur, die denken nicht!«

»Aber die Augen –«, protestierte Basti schwach.

»Linsen, du Trottel! Falsche Zähne! Wer sagt, dass nur wir so was haben? Das erklärt, wieso die Rattenfänger nichts nützen! Wieso wir erfolglos mit Natron draufballern! Da sind Kinder bei und alte Säcke! Daa, seht ihr? Ihr habt schon zwei von den Vogelkundlern umgenietet, mit denen wir bei der Semperoper waren!«

Marco gab ein Geräusch von sich, das nach Würgen klang, und geriet ins Taumeln. Pfeiffer zog ihn vom Dachrand weg und wandte sich fassungslos wieder dem sich bietenden Anblick zu. »Aber … Aber was erhofft Frais sich von so was …?«

»Das gleiche wie sonst auch!«, fuhr Ingo ihn an, schäumend wie eine Speikobra. »Red ich denn hier mit Idioten? Wir sollen die Bösen sein

Marco stöhnte leise und Boris packte ihn noch fester. »Okay, okay, wir werden auf nichts mehr schießen! Aber wie sollen wir eine Armee kopfloser Menschen unter Blutfessel abwehren? Die werden sich nicht aufhalten lassen!«

»Das lassen wir die Vampire und ihr Gift lösen. Falls es euch tröstet: Ich hätte eben fast ’n kleines Mädchen gepfählt.« Ingo spuckte aus und rieb sich Schweißperlen von der blassen Stirn. Bei keinem Konzertauftritt hatte er je so angestrengt ausgesehen. »Mann, unglaublich – alles Menschen! Dass Frais, der Drecksack, überhaupt noch Blut im Körper hat!« Er atmete einmal tief durch, was wie ein Blasebalg klang, tauchte wieder ab und ließ die Dachluke über sich zufallen.

Nunmehr allein versuchten die drei Männer von In Extremo, ihrem Entsetzen Herr zu werden.

»Scheiße«, murmelte Lange und konnte den Blick nicht von dem ungebremsten Ansturm abwenden. Die Toten und Verwundeten wurden von den verbliebenen Angreifern einfach überrannt. Ihre Körper blieben mit offenen Wunden liegen, ihre gequetschten Gliedmaßen waren fest in den Grasboden getreten, die Hälse verdreht. »Scheißescheißescheiße

Boris saß über Marco gebeugt, der sich schlaff auf dem Dach ausgestreckt hatte und offensichtlich einem Kreislaufkollaps nahe war. »Basti, wir müssen hier runter. Wir können sowieso nichts machen, nur mit Armbrüsten.« Tapfer schluckte er das Zähneklappern hinunter. Diese Situation war neu, obwohl sie sich nach all den Jahren der Vampirjagd nicht mehr so anfühlen sollte. Er konnte das Schaudern nicht vollends abschütteln. Die Waffe, die neben ihm lag, schien plötzlich Kälte auszustrahlen. »Oh Mann, ich … komm echt nicht drauf klar … Scheiße!«

»Na so was«, säuselte plötzlich eine süffisante Stimme hinter ihnen. Die drei fuhren herum, um sich Paul Frais gegenüber zu sehen, der barfuß, jedoch wie immer gut gekleidet vor ihnen stand und in aller Ruhe seinen langen Mantel glättete. »Dann wisst ihr Herren ja nun, wie ich mich fühle, wenn ich meinesgleichen ständig auf so demütigende Art und Weise sterben sehe. Wie erfreulich.«

Für die nächsten Sekundenbruchteile standen alle wie erstarrt. Dann machten Basti und Boris eine einzige, völlig synchrone Bewegung: Sie packten die Pflöcke an ihren Gürteln.

»Vergesst es«, sagte Frais gelangweilt. »Ich bin nicht hier, um zu sterben … sondern eigentlich nur, um eure totale Konfusion zu genießen. Ihr wart auf vieles vorbereitet, nicht wahr? … Aber darauf nicht. Ihr habt geglaubt, nur ihr würdet qualitativ hochwertige Tarnmittel besitzen. Dabei wisst ihr doch genau, dass ich reich bin und meine eigenen Hersteller bezahlen kann.«

»Aber du hast et nie jemacht«, stellte Basti etwas lahm fest. »Hast jesacht, dit wär dir zu … einfach.« Es war keine sehr hilfreiche Bemerkung.

»Ihr habt früher auch gesagt, eure Musik würde nie etwas für die breite Masse sein. Einmal kommt immer das große Umdenken.« Frais lächelte genüsslich – und warf klickend aus. Sein langer Zeigefinger wies auf den kreidebleichen Flex. »Der sieht sowieso nicht aus, als ob er die Nacht übersteht. Euch beide lasse ich in Ruhe, wenn ihr mich unbehelligt dinieren lasst.«

»Such dir was anderes zu fressen!«, fauchte Boris und stieg schützend über Marco. »Du weißt genau, was das hier ist!« Mühsam beherrscht gelang es ihm, seine zitternde Hand wieder um den Griff der Armbrust zu legen.

Frais lachte, ein hartes, abgehacktes Geräusch. »Als ob du nach dem, was du gerade getan hast, noch anständig zielen könntest! Selbst wenn der Bolzen direkt auf meinen Bauchnabel gerichtet wäre, würdest du mich nicht treffen, Yellow Pfeiffer – nicht mal du, der, soweit ich mich erinnere, immer die Fassung behält. Seltsam, hm? Bestien niederzumetzeln, damit habt ihr schon lange kein Problem mehr. Obwohl sie genauso schreien wie Menschen und genauso blutig sterben. Sie durchlöchert und verätzt ihr gnadenlos. Aber wenn ihr wisst, dass ihr Menschen vor euch habt, wird euch plötzlich ganz übel, nicht wahr? Ja, ich bin ein guter Kenner der menschlichen Psyche. Die Armbrust taugt jetzt nichts in deiner Hand, mein Guter.«

»Willste’t druff ankommen lassen?«, knurrte Sebastian, der Boris sofort beisprang.

»Oh, ja … Sehr gerne sogar.« Frais machte einen langsamen Schritt, ohne seinen selbstsicheren Blick von den Augen der beiden Schützen zu lösen. »Ein Schritt. Zwei Schritte. Drei Schritte …«

»Du Hurensohn!!«, brüllte eine raue Stimme, und plötzlich wurde Frais brutal in den Rücken gestoßen. Er kippte vornüber, fiel hart auf das Gesicht. Micha warf ihn auf den Rücken, stierte ihn wütend an und fauchte: »Das sind meine, du Wichser, meinemeinemeine!!« Damit sprang der blonde Mann wieder auf die Füße und stellte sich vor die drei Menschen, die sich dankbar hinter ihn duckten.

»Micha –«, setzte Boris an, doch der Sänger drehte sich nur ganz kurz nach ihm um. Sein wutverzerrtes Gesicht zeigte gefletschte Zähne und einen so eisigen Blick, dass es selbst seinem Bandkollegen einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sofort schloss Boris wieder den Mund. So hatte er seinen Sänger noch nie gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er das jemals wieder wollte.

Frais indes rollte sich gemächlich auf den Bauch und stand in aller Ruhe wieder auf, wobei er viel Zeit darauf verwandte, Dreck, Moos und Flechten von seiner Kleidung zu wischen. »Wie oft«, seufzte er in entnervtem Ton, »muss ich dich eigentlich noch töten lassen, du Nervensäge? Dich und diese …« Er rümpfte die Nase in Richtung Marco, der immer noch am Boden lag. »… schießwütigen Zirkustiger? Hab ich euch sieben nicht inzwischen oft genug zur Hölle geschickt? Ich meine, ich habe euch damals unter anderem …« Er fächerte die Finger und zählte gelangweilt auf: »… durch die Innenstadt von Dublin jagen lassen, bis ihr fast im River Liffey ertrunken wärt … euch am Giant’s Causeway mitten in der Nacht in einer Steinhöhle eingeschlossen … Wie ihr da rausgekommen seid, weiß ich bis heute nicht.« Frais zuckte unbehelligt die Schultern. »Ich weiß nur, dass ich es ermüdend finde, euch immer und immer wieder auf möglichst originelle Weise ins Jenseits zu befördern.«

Zur Verblüffung seiner aufgestachelten Bandmitglieder warf Micha den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Neeeeee, du hast uns nicht oft genug um die Ecke gebracht, du alter Pisser! Und wirst du auch nicht! Wir kommen immer aus der Hölle zurück – und vorher reißen wir dem Teufel seine drei goldenen Haare vom Sack!« Nun lachte der Blonde noch lauter, und seinen Bandmitgliedern kroch Gänsehaut die Arme hinauf. Dies war jenes nichtmenschliche Lachen, das man nur in Extremsituationen von Micha hörte und das so sehr nach jahrhundertealtem Wahnsinn klang, dass es Menschen in seiner Umgebung schlichtweg erstarren ließ. »Bei dir werden wir das auch noch machen, denn du landest garantiert in der Hölle!« Dann verschwand sein Grinsen schlagartig. Er machte einen Satz aus dem Stand und stieß Frais hart gegen die Brust. »Und jetzt kriegst du einen Freiflug geschenkt!« Wieder stieß er ihn, noch härter, aggressiver. Doch sein Versuch, den alten Vampir über die Dachkante zu befördern, misslang: Frais wich nach rückwärts aus in die Senkrechte und machte zwei Schritte an der Gebäudewand hinab.

Er wirkte alles andere als amüsiert. »Das hier wird mir zu dumm. Für einen guten Kampf ist mir das Niveau zu unterirdisch. Ihr entschuldigt mich? Gute Nacht. Viel Vergnügen wünsche ich noch.« Dann stieß er sich von der Wand ab, breitete seinen Mantel aus und ließ sich fallen.
 

Inzwischen war die erste Welle der angreifenden Menschen, willenlos durch Vampirblut, buchstäblich an den Klippen zerschellt. Falk, Lasterbalk, Simon und Sugar Ray hatten einen nach dem anderen kurz vor den Mauern der Klinik abgefangen und an dem nächstbesten Körperteil, das sie zu fassen kriegten, einen ruhigstellenden Biss platziert. Ingo, Elsi, Frau Schmitt, Dr. Pymonte, Bock und sogar ein paar beherzte Männer und Frauen aus der krankenhäuslichen Nachtschicht nahmen die sedierten und kaum noch wehrhaften Opfer in Empfang, um sie durch Fesseln, Einsperren oder sogar Medikamente dauerhaft unschädlich zu machen. Keiner wusste, wie viel Blut sie aufgenommen hatten und wie lange die Blutfessel vorhalten würde. Niemand war bereit, ein Risiko einzugehen.

Grimmig entfernte Dr. Saltz ein paar falsche Fangzähne aus dem Gebiss einer älteren Frau und betrachtete sie im schlechten Licht, das eine rasch aufgestellte Akkulampe spendete. »Pfff … Einfach über die Canini gestülpt wie zu ’ner Halloween-Party«, brummte er. »Und wir sind drauf reingefallen!« Ärgerlich warf er die Silikon-Imitate beiseite. »Dabei sind die Dinger auch noch teuer. Wir Idioten haben gedacht, er hätte so was Hochwertiges nicht. Blöd gelaufen!«

Plötzlich näherte sich etwas vom Gebäude her. Der Arzt drehte sich um und sah Micha von der Hauswand abspringen und im feuchten Gras landen. Auf den Armen trug er Flex. Bock lief ihm besorgt entgegen; Micha sah hektisch aus, und das wohl nicht ohne Grund. Marco war blass wie ein Laken. Schlaff hing er in Michas Armen, die Augen weit offen, aber seltsam blicklos. Bock verfiel die letzten Meter ins Rennen.

Atemlos fragte er: »Was ist mit ihm?«

»Weiß nicht, er hat das mit den Fakefangs gehört und sich dann einfach hingepackt. Du bist Arzt, bring ihn gefälligst in Ordnung!«

»Sieht nach einer heftigen Belastungsreaktion aus. Leg ihn hin«, forderte der Arzt. Micha gehorchte und legte Marco vorsichtig im Gras ab. Bock prüfte Puls und Bewusstsein. »Wäre nicht verkehrt gewesen, ihn zu beißen.«

»Fick dich. Ich beiße meine Freunde nicht.«

»Na, dann eben nicht. Hol mal zwei von den Pflegern her, die werden ihn rein und zu einem Arzt bringen. Wie schon viele andere vorher«, fügte er düster hinzu. »So einen Patientenzulauf hatten die bestimmt lange nicht.«

Micha konnte darauf nichts Hilfreiches erwidern; entschuldigend erklärte er: »Weißt du, ich dachte, wir kennen den Hurensohn. So was hat der echt noch nie gebracht. Früher hat er gesagt, Hinterhältigkeiten hätten keinen Stil. Wir haben ihn einfach so was von total unterschätzt. Dass wir jetzt so am Arsch sind, ist echt unsere eigene Schuld.«

Bock schnaubte nur zur Antwort.

Nachdem sie Flex an Fachpersonal übergeben hatten und der Arzt wieder an die Arbeit gegangen war, blieb Micha unschlüssig bei den sorgsam arbeitenden Menschen stehen. Es gefiel ihm zwar nicht, Marco allein zu lassen, doch ihm war klar, dass er nichts für seinen Freund tun konnte und zudem wichtigere Arbeit auf ihn wartete. »Frais drückt sich hier irgendwo rum. Ich muss ihn erwischen. Habt ihr Lex gesehen?«

»Nein, und wir suchen ihn jetzt auch nicht«, erwiderte Ingo, der neben ihm stand, entschieden. »Entweder hilfst du uns hier, oder du gehst an die Beißfront. Den anderen wird bestimmt langsam der Mund trocken. Weiß der Geier, warum Frais eine Schar Menschen nach der anderen auf uns zurennen lässt. Was soll der Blödsinn?«

Micha grunzte unwillig und schickte sich an, sich den übrigen Vampiren, die mit gebleckten Fangzähnen willenlose Menschen aufhielten, zuzugesellen. »Wenigstens gibt’s heute Nacht ordentlich was zu beißen«, knurrte er.
 

Trotz der vorwinterlichen Kälte waren die Locksänger, die allein gelassen im Innenhof des Parks musizierten, schweißgebadet. Vor knapp drei Minuten hatten sie zuletzt die Instrumente gewechselt; nun intonierten Oliver und seine Sängerinnen das gefühlvolle Hymn To Pan, wobei sie sichtlich gegen ihre eigene wachsende Panik ansingen und darum kämpfen mussten, die Melodie ruhig und tragend zu halten. Es war das wirksamste Stück, das sie momentan zur Verfügung hatten, doch diese Gewissheit half nicht. Ihre Stimmen zitterten, und sie kniffen die Augen zusammen, als könnte dies sie von den verstörenden Umweltreizen, dem Lärm und dem beunruhigenden Panorama abschirmen. Es war Rüdiger, der Trommler, der als Erster die Schlägel beiseite warf und starke Worte fand: »Scheiß auf den Abnutzungseffekt! Wir müssen das neue Lockstück spielen!«

Verunsichert brach Fiona den Gesang ab. »Wirklich? Soll ich …« Sie suchte Olivers Blick.

Der Sänger verstummte ebenfalls. »Ich fürchte … angesichts der Tatsache, dass unsere anderen Stücke offensichtlich keinerlei Wirkung haben … müssen wir zu drastischeren Mitteln greifen.«

Als Fiona den Dudelsack zur Hand nahm, protestierte niemand. Obwohl sie weit hinter der Front positioniert waren, lagen selbst hier Angst und Verzweiflung in der Luft, sodass es immer schwieriger wurde, sauber und konzentriert ein Instrument zu spielen. Die Schlacht war dort vorne, doch gleichzeitig war sie auch überall.

Gegen ihr heftig pochendes Herz anatmend füllte Fiona das Instrument mit Luft und versuchte, sich auf die Noten zu konzentrieren, die von El Silbador tadellos lesbar auf sauberes Papier geschrieben worden waren. Ehe jedoch der erste Ton seinen Weg aus den Bordunen nach draußen fand, trat jemand wie aus dem Nichts hinzu.

»Guten Abend, schöne Dame. Darf ich das kurz halten?« Mit einem freundlichen Nicken legte Paul Frais eine Hand um das Anblasrohr.

Fiona war so verblüfft, dass sie den Sack losließ. Der Vampir nahm ihn ihr aus der Hand und betrachtete ihn eingehend. »Hm, ein schönes Instrument«, kommentierte er. »Ich denke, ich werde es einbehalten. Danke.«

»Moment mal …«, protestierte Oliver schwach, der restlos verwirrt aussah und den imposanten Fremden offenbar nicht sofort erkannte.

Daraufhin wandte Frais ihm seine weiß leuchtenden Augen zu und entblößte ausgeworfene Fangzähne. »Sssssssss!«, zischte er grinsend, und der schmale Sänger wich perplex vor ihm zurück. »Wer wird denn so vorlaut sein, Herr Sa Tyr? Darf ich fragen, ob Sie schon einmal die Ehre hatten, von einem Vampir zur Ader gelassen zu werden?« Trotz des gelassenen Tonfalls wirkte der Vampir unheimlich und bedrohlich. An seiner Identität bestand jetzt kein Zweifel mehr. »Na?«, sagte er kalt lächelnd.

Die Kapelle schwieg. Alle starrten Frais an.

»Nun gut, ich will niemanden belästigen. Für mich bitte ich mir dasselbe Recht aus. Also Schluss mit dem Gedudel. Wir sehen uns bald wieder. Schönen Abend noch.« Mit einem letzten bösartig amüsierten Blick in die Runde machte Frais kehrt. Den Sack hielt er lässig in der Hand. Dann, nur einen Sekundenbruchteil später, war er in die Dunkelheit verschwunden, als wäre er nie da gewesen.

Oliver ließ zuerst den angehaltenen Atem ausströmen. »Oh je«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar.

Niel Mitra fügte unerwartet direkt hinzu: »Also, ich hätte mich gerade fast nass gemacht. Ihr auch?«
 

Fritz hatte Alea bei der Tagesklinik der KJP, was für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie stand, doch noch gefunden. Die alte Jugendstilvilla, weit ab vom Hauptkomplex, duckte sich am Rande des Waldparks in die Ecke zwischen Schubertstraße und Goetheallee, und genau dort hatte sich der Vexecutor postiert und beobachtete, wie die Schein-Vampire angriffen – wobei sie das halb versteckte Haus glücklicherweise völlig ignorierten.

»Sind da wirklich Kinder drin?«, keuchte Fritz, als er Alea endlich dicht bei dem selbst im Dunkeln freundlich aussehenden Bauwerk stehen sah.

»Nein, da ist keiner da. Ich hab mich das auch gefragt, aber auf der Info-Tafel steht, dass die Patienten nur bis zum Nachmittag, bis fünf Uhr oder so, da in der Tagesklinik sind. Deshalb Tagesklinik. Die drei Stationen haben sie evakuiert. Hmja, clever von ihnen.« Alea wirkte aufgeregt und irgendwie verwirrt. Seine Augen waren weit offen, und sein Blick huschte unruhig von einer Seite zur anderen. »Ist dir jemand gefolgt?«

»Ähm, nein. Ingo hat gesagt, ich soll dich suchen. Weil’s bei dir sicher wäre.« Fritz stolperte heran und duckte sich neben Alea in den Schatten.

»Hö … Sicher? Na, ich glaub nicht, dass es bei mir gerade besonders sicher ist.« Schon schielte der Sänger wieder zur Straße, wo ein leuchtendes Augenpaar nach dem anderen aus den Büschen hervorstieß. »Ich weiß gerade nicht mal, wem ich glauben soll: Meinem Bauchgefühl oder meinen Augen …«

»Wieso?«

»Weil die beiden sich nicht einig sind. Ich sehe Vampire – du hoffentlich auch –, aber wenn sie an uns vorbeirennen, wird das Gefühl nicht stärker. Verstehst du?«

»Versuch doch, einen zu vexekutieren.«

»Ooooh nein!«, schnaubte Alea. »Ich hab doch gesagt, dass damit Schluss ist. Jedenfalls vorläufig. Ich muss mich erst wieder orientieren, was das betrifft.«

»Damit könntest du dich angesichts dieser Scharen, die sich da auf ein Krankenhaus stürzen, mal ein bisschen beeilen!«, fand Fritz und warf Alea einen möglichst schneidenden Blick zu.

Der kleinere Mann wich dem Blickkontakt aus. »So einfach ist das nicht«, war sein schwacher Erklärungsversuch.

Fritz rümpfte die Nase. »Und jetzt versteckst du dich wie ein Feigling?«

»Musst wirklich du das gerade sagen?«

»Wenigstens habe ich einen Pflock im Gürtel und werde ihn benutzen, wenn uns eine Bestie anspringt!« Im Schutz der Dunkelheit machte Fritz sich bereit, seine eigene und notfalls auch Aleas Verteidigung zu übernehmen. Eigentlich hatte er sich das so nicht vorgestellt, und das ärgerte ihn. Alea sollte doch ihn beschützen! Ihn, der verletzt war und nicht gut kämpfen konnte! Aber nein, die Geheimwaffe der MIU musste ausgerechnet jetzt in einer Identitätskrise stecken. Fritz schäumte innerlich über so viel Weichheit. Beinahe konnte er nachempfinden, was Micha gegen ihn, Fritz, immer so aufgebracht hatte. Buuhuuhuu, ich könnte ja was Falsches machen! Bwääähääähäää, dann hab ich womöglich für IMMER ein schlechtes Gewissen! Was war mit diesem Typen nur los?!

Als Alea die ganze Zeit nicht mehr antwortete, wandte Fritz sich schließlich wieder nach ihm um. »Was ist, fällt dir dazu nichts mehr ein?« Er stutzte, als er das Entsetzen im Gesicht des anderen sah. »Alea, was – ?«

»Pscht!« Der Sänger brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und deutete verhalten auf eine Gestalt im Halbdunkel.

Fritz folgte dem Fingerzeig und war baff. »A-aber«, stotterte er verblüfft, »w-was macht er hier? Wie ist er …? Sollten wir ihn nicht auf uns aufmerksam – ?«

»Nein.« Aleas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Nicht zu laut. Wer weiß, was die Vampire mit ihm gemacht haben. Ich trau denen alles zu.« Er nahm Fritz am Ärmel und zog ihn näher zum Haus zurück. »Besser, wir beobachten ihn erst mal.«

Fritz gehorchte ratlos. Er wusste nicht, was er hiervon halten sollte; er wusste nur, dass er diesen Bekannten zuallerletzt auf dem Schlachtfeld erwartet hatte.
 

Grenzenlose Erleichterung durchflutete Silvio Runge, und alle Vorsicht war schlagartig vergessen.

»Eric!«, rief er der auffälligen Gestalt zu, die sich unter die Angreifer gemischt hatte. »Hier! Schnell, bring dich in Sicherheit!« Simon neben ihm fiel in die Rufe mit ein. Als Eric Fish zwar irritiert innehielt, sich aber nicht von der Stelle rührte, verließ Sugar Ray ohne zu zögern die Deckung, schubste zwei halbherzig angreifende junge Männer einfach beiseite und biss auf dem Weg noch eine fuchtelnde Alte in den Arm, um auf den Sänger zuzustreben. »Eric, bist du taub? Geh weg da!« Es war schon seltsam: Keiner der falschen Vampire schien Eric zu beachten. Vielleicht wähnten sie ihn auf ihrer Seite oder hatten gar nicht bemerkt, dass er ein entkommener Gefangener war. »Hier, wir sind hier drü–«

Im gleichen Moment sah Eric Sugar Ray, fixierte ihn für den Bruchteil einer Sekunde und hob dann so schnell den Arm, dass der Vampir keine Chance zum Ausweichen hatte. Die Schüsse trafen ihn direkt in die Augen, erst ins linke, dann ins rechte, zack, zack, zwei ganz leise, schnappende Geräusche. Sugar Ray schrie heiser auf und sackte auf die Knie, beide Hände auf das Gesicht gepresst.

Simon neben ihm fiel schaudernd zurück. »Hast du ’nen Dachschaden?«, rief er anklagend in Richtung des Sängers. »Wir sind’s!« Doch seine Muskeln waren jetzt auf Abwehr programmiert, und als Eric Sonnenauge hochriss und den nächsten Schuss abgab, war der schlanke junge Mann schon beiseite gesprungen. Dreimal im Abstand von Sekunden spürte er das in Natron gehüllte Reiskorn dicht an einer Wange vorbeizischen. Dann löste Eric ruckartig den Blick von ihm und stürmte weiter vor. Seine Gestalt tauchte ins Dunkel ab und er schlug sich seitwärts aus der voran strebenden Menschenmasse hinaus.

»Unglaublich«, murmelte Simon, völlig fassungslos, und machte sich dann daran, zwei Angreifer von Sugar Ray zu vertreiben, der vornüber gebeugt im Gras hockte und immer noch beide Hände auf seine verwundeten Augen presste. Seine beiden Wangen waren blutüberströmt, und immer wieder schüttelte es ihn. In sein schnaufendes Atmen war leises Wimmern gemischt. Er schaffte es offenbar nicht, der Schmerzen Herr zu werden. »Silvio … Lass mal sehen …«

»Nein, weg! Ich bin blind, scheiße …« Seine Miene verzerrte sich, seine Finger krampften. »Natron … muss das Scheißzeug abwaschen! Hilf mir!«

Simon tat, was er konnte, und schlotterte dabei. Um nichts in der Welt wollte er jetzt mit Silvio tauschen. Schon immer hatte er sich Natron in den Augen grauenhaft vorgestellt, und jetzt, wo er Sugar Rays haltloses Beben und den hellroten Schaum auf seinen Wagen sah, wurde ihm zum Speien übel. Wahrscheinlich hatten auch Falk und Lasterbalk, die nicht weit weg positioniert waren, schon gesehen, was passiert war. Vorsichtig führte der gesunde Vampir den verletzten hinter das, was man wohl als die Frontlinie bezeichnen konnte. Obwohl die versammelten Ärzte mit den sich wehrenden Attackierern zweifellos ausgelastet waren, machte Bock sich sofort los und behandelte Sugar Rays Augen. Das Natron hatte seine Wirkung längst getan: Die Pupillen waren lichtstarr und milchig weiß.

»Die Retina ist hin, aber die Bindehäute sind, wie immer, völlig unbeeindruckt«, murmelte der Arzt, während er vorsichtig Blut und Tränenflüssigkeit aus den Augen des Vampirs wischte. Erst dort, wo die Schleimhäute in die härtere Epidermis übergingen, hatte das Natriumhydrogencarbonat Verätzungen verursacht. »Okay, das wird wieder. Silvio, ich mach dir erst mal neutralisierende Tropfen rein und leg dir eine kühlende Wundabdeckung drauf. Du versuchst bitte, die Augen geschlossen zu halten und möglichst nicht zu bewegen. Guck einfach geradeaus, du siehst ja sowieso nichts.«

Ingo Hampf trat hinzu. »Ist das erste Mal, dass einer von uns ’nen Blindschuss kassiert hat«, knurrte er und kniete sich zu Sugar Ray, dem Bock gerade feuchte Tücher auf die beschädigten Augen legte. »Habt ihr gesehen, wo Eric hin ist?«

»Ich jedenfalls nicht«, schniefte Silvio, der immerhin seinen Humor noch nicht ganz verloren zu haben schien.

»Ich geh ihn suchen«, meldete Simon sich sofort freiwillig.

»Herrje, das hab ich befürchtet«, seufzte Ingo. »Pass auf, dass er dich nicht auch blind schießt. Er steht wahrscheinlich unter Blutfessel. Okay, eher sicher

»Ich beiße ihn einfach und bringe ihn her. Wenn Frais denkt, er könnte uns mit so blöden Tricks aus dem Konzept bringen, schneidet er sich aber!« Simon leckte sich die Zähne und tauchte wieder ins Getümmel ab.
 

Nach einem kurzen Run auf alle Mauern des Krankenhauses war nur noch die Nordseite bestürmt worden, und das nicht einmal mit besonders viel Begeisterung. Die zahlreichen Männer und Frauen, mit reflektierenden Kontaktlinsen und falschen Fangzähnen als Vampire getarnt, hatten von Paul Frais offensichtlich keine klareren Anweisungen erhalten als die, alle Verteidiger mit ihrer schieren Masse in Beschlag zu nehmen. Als Simon sich mühelos durch die vorwärts taumelnden Menschen wand und nur halbherzig aufgehalten wurde, war ihm klar, dass der Plan hinter alldem ein anderer sein musste. Eine beunruhigende Entdeckung – aber vermutlich hatten seine Kollegen sie auch schon gemacht.

Der junge Mann fand Eric an der Ecke zwischen Pfotenhauer- und Fetscherstraße, mitten auf dem Gehweg, komischerweise in einem Handgemenge mit Asp, den kurz nach Einsetzen des ersten Angriffs niemand mehr gesehen hatte. Mensch und Vampir lieferten sich ein eher lahmes Gefecht: Eric versuchte, auf Asp zu schießen, während letzterer einfach immer wieder seinen Arm mit dem erhobenen Revolver beiseite schob und dabei auf ihn einredete, etwa davon, dass die Blutfessel schon nachlassen würde, dass Frais doch keine Macht über ihn hätte.

Noch im Laufen rief Simon: »Alex, draufquatschen bringt nichts!«

Derart abgelenkt wandte Asp sich nach ihm um, eine Bewegung, die Eric Zeit zum Feuern verschaffte. Überraschend trat jedoch wie aus dem Nichts Paul Frais auf den Plan und bremste Eric mit einem ruhigen: »Nicht.« Eric ließ die Waffe sinken. Er sah aus, als wäre er gleichzeitig entsetzt und völlig durcheinander. Seine Hand mit dem Colt zitterte, als könnte er mit ihr unmöglich zielen, und sein Blick zuckte gehetzt von einer Seite zur anderen. »Jaja, ich weiß«, fuhr Frais gespielt teilnahmsvoll fort, »es kann nicht schön sein, wenn der Körper etwas tut, das der Geist nicht gutheißt.«

Asp schaute zu Simon, der bei Frais’ Auftreten wie angefroren stehen geblieben war. »Und was habt ihr jetzt vor?« Asp wirkte nicht verängstigt – bestenfalls verunsichert. Simon konnte mit seiner Reaktion rein gar nichts anfangen und rührte sich nicht.

Frais lächelte und beantwortete Asps Frage sogar, indem er Richtung Simon nickte und befahl: »Schreite zur Tat, lieber Eric.«

Sofort reagierte Eric, schneller als ein Mensch es gewöhnlich konnte. Simon musste sich beiseite werfen wie bei einer drohenden Explosion, um dem Schuss zu entgehen. Wieder hielt Asp Eric auf, umklammerte seinen Arm und versuchte mit der freien Hand erfolglos, ihm die Waffe zu entwinden. Amüsiert sah Paul Frais seinen Bemühungen zu.

»Also, ihr seid schon ein putziges Grüppchen, ihr vorsichtigen, kleinen MIU-Vampire«, stellte er schmunzelnd und in unüberhörbar herablassendem Ton fest. »Bloß keinen töten. Bloß keinen verletzen. Nur immer mit allen Kanonen auf die Bestien. Alle anderen Konflikte kann man durch Reden lösen.« Besonders bedauernd musterte er Asp. »Und du bist so ziemlich der Schlimmste, mein Guter.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Asp einigermaßen gefasst, immer noch Erics Hand unten haltend. »Einigen wir uns darauf, dass du diesen albernen Angriff jetzt abbrichst?«

»Albern?«, wiederholte der alte Vampir. »Abbrechen? Aber nicht doch – jetzt, wo es lustig wird!« Und er wies die leere Pfotenhauerstraße hinunter, von wo aus seine Armee aus Menschen angestürmt war. Jetzt standen dort nur noch vereinzelte von ihnen, ohne zu rennen; sie warteten auf den nächsten Befehl. Diese trugen keine Leuchtlinsen und keine Fangzähne. Das Ablenkungsmanöver war vorüber.

»Was wird das?«, fragte Simon alarmiert. Er kauerte noch immer halb auf dem Asphalt.

»Das wirst du gleich sehen, Frischling.« Und Frais holte Luft, die Menschen fixierend, um weithin hörbar einen Befehl zu erteilen.

Simon hatte keine Lust, diesen abzuwarten. Was auch immer Frais jetzt vorhatte, man tat gut daran, es zu verhindern. Aus der Hocke schnellte er hoch wie auf Sprungfedern und warf sich dem hochgewachsenen Mann direkt an den Hals, die Zähne zum Kämpfen vorgestreckt.

Frais sah die plötzliche Attacke nicht kommen. Er konnte nicht schnell genug reagieren. Umso verblüffter war Simon, als die Abwehr jemand anders übernahm – und zwar nicht Eric, der völlig hölzern stehen blieb. Es war Asp, der Simon an der Schulter erwischte und von Frais fortstieß.

Nach ein paar gestolperten Schritten fing sich Simon und sah entgeistert zurück. »Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?«, fragte er Asp anklagend, doch vor Verblüffung klang seine Stimme weit weniger wütend als beabsichtigt.

Asp erwiderte den Blick unsicher. »Ich – …«

»Das reicht!«, fauchte Paul Frais dazwischen. »Du wirst schon noch Gelegenheit bekommen, dich deinen zahnlosen Freunden zu erklären. Jetzt kommt erst mal der zweite Akt meines fulminanten Großwerks!« Und er wandte sich schrill an die Menschen: »Jetzt Plan B! Los, holt sie euch!«

Dann brach die zweite Angriffswelle los.

Simon fluchte leise. Erst fuhr er zu den losstürmenden Menschen herum, die sich alle nahezu gleichzeitig jeder einen langen Metallpflock aus dem Gürtel zogen, dann wieder zu Frais, der im gleichen Moment mit zwei großen Schritten aus dem Licht der Straßenlaterne verschwand. Eric befreite mit einem Ruck seinen Arm aus Asps gelockertem Griff und folgte dem Herrn über seinen Willen unerwartet flink.

Asp und Simon tauschten einen schnellen, durchdringenden Blick. »Ich folge ihnen«, entschied der ältere Vampir dann und setzte sich lautlos in Bewegung.

»Warte!«, knurrte Simon ärgerlich. »Was zum Teufel sollte das eben? Alex, ich rede mit dir!« Als der junge Mann merkte, dass er allein zurückgeblieben war und nur noch der Nachtwind seinem Zornausbruch lauschte, drehte er auf dem Absatz um und rannte in die entgegengesetzte Richtung los, direkt auf die hypnotisierten Menschen zu. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun, als Frais zu folgen. Auf die MIU-Vampire war eine Horde von Pfählern losgelassen worden. Wenn sie sie nicht aufhalten konnten – …

Er wurde schneller. Noch beachteten die Feinde ihn nicht, die wild entschlossen auf die Klinik zuhielten. Simon erreichte mit weit ausholenden Sprüngen ihre hinterste Reihe, fuhr die Zähne aus und warf sich dem nächsten der Angreifer schwungvoll von hinten um den Hals.



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