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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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... Und dann kam Polly

Am Abend nach Fritz’ und Michas Rückkehr ins HQ harrten Menschen und Vampire in zitternder Anspannung eines erwarteten Angriffs auf das Carl-Gustav-Carus-Klinikum. Frau Schmitts Vorschlag, das Krankenhaus zu verlassen, um es zu schützen, war auf begründete Ablehnung gestoßen: »Eff Eff werden den Laden sowieso angreifen, und wenn wir nicht da sind, wird es für die Leute noch viel schlimmer enden!«

Als die Dunkelheit sich über Dresden senkte, teilten Falk, Lasterbalk, Simon, Asp und Sugar Ray einander in Wachschichten ein, um feindliche Vampire rechtzeitig zu erspähen. Wieder begründeten sie diese Fähigkeit für Alea mithilfe der ›besonderen Kontaktlinsen‹, die sie angeblich einsetzten und nicht etwa herausnahmen, um nachtsichtig zu sein. Obgleich der Vexecutor sich nach wie vor weigerte, seine tödliche Fähigkeit zur Anwendung zu bringen, trat er doch zu später Stunde noch hinaus in die Herbstkälte, um mit den Wächtern ein Wort zu wechseln und selbst mit seinen empfindlichen Sinnen nach Vampiren zu spüren.

Micha fiel bei der Wache aus; er musste im Bockshof bleiben. Sein Körper kämpfte sich hartnäckig durch die Regenerationsphase, um seine alte Stärke wiederherzustellen. Angeregt durch die Kräuter bekam er alle paar Stunden heftigen Blutdurst, den Bock ihn stets sofort zu stillen animierte. Unproblematisch war das nicht: Nicht nur der Vorrat an Spenderblut, sondern auch der an Buck-Up – das ja zum Teil aus Blutprodukten bestand – war begrenzt.

»Es klingt gemein«, sagte Simon, als Fritz ihn spät abends danach fragte, »aber Micha ist ein echter Störfaktor im Diätplan. Er muss verdammt viel Blut trinken, um sich von der Aushungerung zu erholen, und kann kein FDH durchhalten wie wir.«

»FDH?«, wiederholte Fritz fragend.

»Friss die Hälfte. Wir müssen vorübergehend weniger Blut trinken, als wir eigentlich brauchen.«

»Und das ist nicht problematisch?«

»Blöde Frage, natürlich ist das problematisch. Das ist, als würdest du zu jeder Mahlzeit zu wenig essen, dann wird dein Energiebedarf auch nicht gedeckt. Eine Zeitlang kann man das ganz gut verkraften, aber dann wird man langsam immer schwächer und verliert Gewicht. Wir nennen das untertourig laufen.« Daraufhin musste Fritz lachen; Simon lachte allerdings nicht mit. »Das ist wie Aushungern in langsam, also überhaupt nicht witzig. Vampire halten einfach nicht so lange durch, wir sind wie Vögel, die bei zu wenig Futter gleich von der Stange fallen. Schneller Stoffwechsel, miese Hungertoleranz. Vor allem muss man, um wieder gesund zu werden, viel, viel mehr Blut trinken als normal. Du siehst ja jetzt bei Micha, was der wegsaufen muss. Also, das wird scheiße, Fritz … voll scheiße.«
 

Fritz langweilte sich in seinem Bett im Bockshof. Nur am Rande bekam er mit, wann die Vampire ihre Schichten wechselten. Schlafen konnte er bei all der Unruhe, die in der Luft hing, sowieso nicht; er stellte sich vor, wie der Mond am schwarzen Himmel schwebte und sein kaltes Licht auf Falk oder Asp warf, die sich versteckt auf dem Klinikgelände postiert hatten und mit ihren hell leuchtenden Augen aufmerksam in die Nacht spähten.

Schließlich, als Bock gerade nicht zugegen war, griff Fritz nach dem Heizkörper neben seinem Bett, um sich daran hochzuziehen. Es ging sogar. Dass er einigermaßen schmerzfrei auftreten konnte, lag vermutlich am Analgetikum, doch das musste reichen. Er konnte nicht untätig auf seinem Krankenlager warten, bis Paul Frais mit einem Heer von Blutsaugern das ungeliebte, aber notwendige Refugium überrannte.

Fritz hinkte in den Korridor und fand diesen leer und beachtlich still vor. Vorsichtig spähte er in verschiedene Zimmer, unter anderem in die Küche, wo er auch niemanden antraf, bis er schließlich den großen, kahlen Raum betrat, welcher als Besprechungszimmer diente. Dort saß ein schmaler Mann mit dünnem Bart und glatten, blonden Haaren, die eher nachlässig zu einem Pferdeschwanz vereint waren, über das so vielgepriesene Lockstück gebeugt und studierte es in aller Einsamkeit aufmerksam – vermutlich nicht zum ersten Mal. Da Fritz’ unbeholfenes Auftreten alles andere als leise war, sah er sofort auf und widmete Fritz einen fragenden Blick. Er hatte auffällig helle Augen, die in diesem Moment aber nicht allzu erfreut aussahen. »Ja?«

»Oh, äh«, begann Fritz, der völlig vergessen hatte, dass die MIU immer noch Besuch hatte. »Du musst Pol– … äh, Olli sein.«

»Oliver Pade. Dann sind Sie wahrscheinlich Friedrich Wunderbaum, der Neue. Man hört, dass Sie seit Monatsanfang schon mehr erlebt haben als mancher Kollege während seiner ganzen Laufbahn.« Der Musiker sprach sehr deutlich, und endlich schaute er Fritz aufmerksam an.

»Ach, bisher bin ich eigentlich allen nur ein Klotz am Bein«, lachte Fritz verlegen. »Äh, naja. Wie geht es denn voran mit dem … hmm?« Fritz nickte vage zu dem Papier hin, das vor dem Blonden lag.

»Oh, ja«, antwortete Oliver, »das ist … nicht so einfach. Sackpfeifen sind nicht mein Spezialgebiet, ich verstehe mich besser auf Saiteninstrumente.« Kurz huschte so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln über sein Gesicht. »Wenn in den nächsten Stunden wirklich Vampire angreifen, muss ich mir wohl schnell was einfallen lassen. Der Rest von Faun kommt wahrscheinlich morgen, frühestens.«

Diese Mitteilung fand Fritz nicht gerade trostreich; das hätte Polly sich sparen können, fand er. »Kannst du … kannst du die Vampire denn auch alleine besingen? Zur Not?«

Oliver nickte etwas widerstrebend. »Ja, schon. Mit diesem Lockstück hier zwar nicht –« Er tippte mit dem Finger auf das vergilbte Papier. »– aber mit einem, das ich kenne und spielen kann, ja. Allerdings … Sie haben wahrscheinlich von dem Abnutzungseffekt gehört. Gegen einen Vampir, der so alt ist wie Paul Frais, kann ich nicht viel ausrichten. Deshalb hoffen wir ja, dass dieses Lockstück hier älter ist als er.«

»Und ihn hypnotisiert.«

»Ja. Das ist der Plan.«

»Hast du Erfahrungen mit Vampiren, die so alt sind?«

Oliver zögerte. »Naja … Man weiß oft nicht, wie alt Vampire sind, wenn man ihr Geburtsdatum nicht kennt. Anhand der erlernten Fähigkeiten lässt sich das Alter nur sehr grob ableiten. Bei Frais wissen wir, dass er alle Fähigkeiten hat, die wir bisher kennen: Wände Hochgehen. Abkömmlinge Erschaffen. Der Schrei. Eine gewisse Pfählungsresistenz. Zähigkeit gegenüber den Einwirkungen eines Vexecutors. Alea ist sehr effizient, wenn man seine Erfolgsquote mit der früherer Vexecutors vergleicht, aber Frais lebt immer noch. Außerdem hat er eine simple Methode entdeckt, Alea vom Töten abzuhalten.«

Fritz dachte: Wenn Frais wüsste, dass es jetzt gar nicht mehr nötig ist, Alea die Stirn zu bedecken … »Aber – aber Frais ist im Moment relativ unschädlich, glaube ich … Das Lied, mit dem er Menschen durch Schallwellen tötet, ist der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich, und über das Wikingerblut wissen alle Geheimdienst-Vampire bescheid. Für Vampirgräuel scheint er jetzt auch keine Zeit zu haben, uns wurden seit Tagen keine gemeldet.«

»Hoffen wir, dass das so bleibt«, sagte Oliver bedeutsam. Dann, ganz unvermittelt, fragte er offen: »Herr Wunderbaum, glauben Sie an Zauber?«

Fritz schluckte. »Äh – ich? Also … nein, eigentlich nicht. Du?« Er kam sich reichlich dumm dabei vor, dem Locksänger immer wieder das Du anzubieten, während dieser partout nicht darauf einging.

»Ich weiß es oft nicht. Wissen Sie, ich bin Mediävist, ich habe viel über das gelesen, was die Leute früher für selbstverständlich hielten. Heute sehe ich, was meine Musik mit Vampiren macht. Ich weiß nicht, ob ich das mit Frequenzen erklären kann. Was ganz bestimmt niemand erklären kann, sind die Dinge, die Vampire tun können: Sich verjüngen. Wiedergeboren werden. Kein anderes Wesen der Welt kann sein Zellwachstum derart beeinflussen. Und wenn man das begreift … also, dass man so vieles, das es auf der Erde gibt, gar nicht erklären kann … dann kann man irgendwie nicht anders, als die ganze Welt und das Phänomen des Lebens für ein einziges großes Wunder zu halten. Vielleicht ist Leben ja dasselbe wie Magie … Ich frage mich das schon lange.«
 

»So, du bist also Polly begegnet«, schmunzelte Lasterbalk, als Fritz ihn wachend am Haupteingang des Krankenhauses mit Sicht auf die dunkle, stille Fetscherstraße vorfand. »Toller Typ, hm?«

»Er hat ’nen Dachschaden«, murmelte Fritz.

»Oh nein, des kannst net sagen. Polly ist ein kluger Mann. Sehr korrekt und vernünftig. Na gut, auch ziemlich ernst, manchmal ein bisschen kapriziös. Polly eben. Als Locksänger hat er uns aber noch nie enttäuscht.«

»Er weigert sich hartnäckig, mich zu duzen. Ich bin der Ältere, also hab ich’s ihm ein paar Mal angeboten, aber er nimmt es nicht an.«

»Er beklagt sich aber auch net, wenn du ihn duzt.«

»Nein, das stimmt.«

Lasterbalk lächelte ihn an. »Polly ist wertvoll für uns, Fritz, fast so wertvoll wie Alea. Also solltest du ihn net ärgern. Vor allem solltest du ihn niemals Polly nennen, wenn er dabei ist.«

»Woher eigentlich dieser blöde Spitzname? Irgendwie kriegt bei euch jeder einen verpasst, oder?«

»Lässt sich net vermeiden. Damals, als wir ihn kennen lernten, wurde er uns vorgestellt als Oliver Sa Tyr, aber die Dame sprach so undeutlich, dass wir ›Polly, der Satyr‹ verstanden haben. Vielleicht wollte sie seinen Nachnamen zuerst nennen, weiß net. Naja, seitdem ist er eben Polly, der Satyr.«

Fritz seufzte. »Tja. Ich bin jedenfalls froh, dass er nicht genauso dumm gehalten werden muss wie Alea.«

»Hmmm.« Lasterbalk sah beiseite. Seine Hände hatte er über der Brust gekreuzt und unter die Achseln geklemmt, als würde er frieren, aber er zitterte nicht in der kalten Luft. »Also, was Alea betrifft … Der hat ja nun leider Verdacht geschöpft. Aber auch wenn er eines Tages rauskriegt, was wir sind, darf er nie, nie erfahren, was wir gemacht haben – nämlich, dass wir ihn wie ’ne Kuh gemolken und sein Blut quasi verkauft haben. Am besten erfährt das überhaupt niemand.“

»Aber … Weiß denn irgendjemand in Aleas Umfeld, dass ihr Vampire seid? Weiß seine Frau das?«

Lasterbalk wirkte konsterniert. »Seine Frau? Um Gottes Willen! Na hör mal, die Zeit, für die eine Frau ein Geheimnis bewahren kann, liegt bei durchschnittlich achtundvierzig Stunden! Wir sind doch net lebensmüde!«

Fritz musste laut lachen. Er kannte ja Lasterbalks Frau nicht, falls der denn verheiratet war, aber er kannte Kitty, seine eigene, und die konnte schweigen wie ein Grab. Bevor er sie kennen gelernt hatte, war auch Fritz wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Frauen als Geheimnishüter nichts taugten. Viele Männer schienen davon auszugehen. Nun wusste er es besser und war dankbar dafür.
 

Die Nacht verlief völlig ereignislos. Weder griffen feindliche Vampire an noch verirrte sich ein streunender Hund auf das Gelände. Das einzige Ergebnis war eine allgemeine Müdigkeit am nächsten Tagesanbruch, den alle – vor allem die übernächtigten Vampire – erleichtert zum Anlass nahmen, in sorglosen Schlaf zu fallen. Frais musste nachts angreifen, es gab für ihn keine andere Möglichkeit. Offensichtlich war er mit der Organisation seines Schlages noch nicht zurande gekommen, und die MIU gewann einen weiteren Tag für die Ausarbeitung des Abwehrplans.

Fritz ging regelmäßig kleinere Strecken auf und ab, um sein heilendes Bein wieder an normale Belastung zu gewöhnen. Wenn es zur Schlacht kam, wollte er niemandem unnötig zur Last fallen.

Auch Micha war einsichtig ob des dräuenden Unheils und trank artig dreimal am Tag seinen Andorn-Enzian-Tee, obwohl er ihn überhaupt nicht mochte. »Bitter wie Arsch«, beklagte er sich.

Schievenhöfel schenkte ihm schließlich das letzte der begehrten Nussplätzchen, die seine Frau gebacken hatte, was Bock mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte: »Micha, du sollst keine unverdaulichen Kekse essen, sondern Blut trinken! Wie oft denn noch?«

»Bock, in meinem Magen ist rund um die Uhr so viel Blut, dass ein paar Kekskrümel da gar nicht auffallen, und jetzt lass mich.«

Fritz hätte nie gedacht, dass ein Team geschulter Geheimdienstler sich innerhalb einer Krisenzeit so intensiv mit dem Thema Essen auseinandersetzen würde. Doch damit ging es weiter, als sich am frühen Vormittag abzeichnete, dass nicht nur der vierköpfige Rest von Faun, sondern auch André Strugala alias Dr. Pymonte sich dem ohnehin überbevölkerten Stützpunkt zugesellen und außerdem die Sackpfeifen In Extremos mitbringen würde.

»Wir sollten die paar Stunden nutzen, solange wir noch was zu lachen haben«, fand Falk und schlug deshalb vor: »Werter Lasterbalk, du darfst uns allen was kochen, sozusagen als allgemeinen Willkommensgruß.«

»Ha! Endlich!«, frohlockte der Genannte. »Mal was anderes als diese eintönige Patientenküche wird uns ganz sicher net schaden!«

Fritz fand leidenschaftlich gern kochende Vampire mehr als seltsam. Während er selbst mit dem Essen wohl erst in Berührung kommen würde, wenn es auf den Tisch kam – Bock hatte ihn zwar von der Bettruhe entbunden, ihm jedoch strenges Nichtstun verordnet –, beteiligten andere sich aktiv am Entstehungsprozess; so etwa bot Alea sich zum Gemüseschneiden an.

»Kann ich dir ein scharfes Messer geben? Sollte ich das wohl riskieren?«, fragte Lasterbalk eher sich selbst als Alea, der mit schiefgelegtem Kopf den skeptischen Blick erwiderte.

»Klaaar. Mit Klingen kann ich umgehen, weißt du doch.«

Fritz, untätig in der Küche sitzend, lauschte abwechselnd Aleas schweigendem Geschnippel und El Silbador, Silke Volland und Oliver Sa Tyr bei ihrem leisen, ernsten Gespräch über rumänische, speziell transsylvanische Volksmusik. Das Besingen von Vampiren schien eine jahrhundertelange Tradition zu haben. Oftmals hatten die Texte – wie etwa Ai Vis Lo Lop – gar keinen thematischen Bezug zu Vampiren; die Worte, so erklärte Oliver, seien nur das Medium, um die Kraft der Sängerstimme zu übertragen, und hätten darüber hinaus nur die Funktion, das Lockstück als harmloses Volkslied zu tarnen. Eine entsprechend wirksame Instrumentierung konnte Gesang auch völlig überflüssig machen.

Irgendwann kam gut gelaunt Simon, der draußen Ausschau gehalten hatte, hinzu und wurde von Lasterbalk mit einem bedeutsamen »Da ist noch ein Messer, Schmittchen« zum Mithelfen aufgefordert. Kaum hatten Alea und der junge Vampir eine Zeitlang nebeneinander Zucchini und Paprika geschnitten, als Alea auch schon leise fluchend das Messer beiseite legte und seinen Daumen in den Mund steckte; sowie er ihn wieder hervorzog und kritisch beäugte, quoll rasch ein dunkelroter Tropfen aus dem Schnitt in der Kuppe.

Es klickte leise.

»Hä, was war das?«, fragte Alea verblüfft und sah sich irritiert um.

»Nischtsch«, nuschelte Simon, der sich die Hand auf den Mund presste und krampfhaft seine Zähne verbarg.

»Ähm … Alles okay?«, wollte der Sänger wissen und beugte sich noch näher zu Simon.

»Ja!«, beeilte dieser sich nickend zu bestätigen. »Hab mir nur auf die Lippe gebischen.«

»Hm.« Alea musterte ihn kurzzeitig verwirrt, lenkte dann jedoch ein: »Na, wenn du meinst.« Erneut leckte er das Blut ab – wobei Simon ihn ganz betroffen anstarrte –, doch es half nichts, sofort kam neues. »Ach, Mist.«

Alarmiert blickte nun auch Fritz hoch zu Lasterbalk, der ihm aufgrund der Enge sehr nahe war, und sah, wie sich dieser rasch vom Herd abwandte und hinter sich blickte, wobei seine Nasenflügel sich kaum merklich blähten. Vexecutor-Blut, dachte Fritz. Das Zeug muss duften wie heiße Schokolade! Er hielt den Atem an, als Lasterbalk mit zwei großen Schritten auf Alea zuging und dessen blutende Hand packte. »Das hat mir gerade noch gefehlt!« Dann allerdings inspizierte er Aleas Arbeitsplatz und stellte lediglich fest: »Ah, okay, ich dachte schon, du hättest mir mein Gemüse vollgeblutet.« Er lachte und hielt Aleas verletztes Köperteil hoch. »Ja, guckt euch das an! Mit solchen Händen kann das ja nix werden!«

»Das ist die Hand Gottes, ja? Lámh Dé!«, protestierte Alea mit halbem Grinsen und entwand seine Hand dem Griff des Älteren, um wieder den Daumen in den Mund zu stecken und erneut das Resultat zu betrachten. »Mmpf, ich brauch ’n Taschentuch, das hört nicht auf.«

»Hier hast eins. Und net die Zwiebeln kontaminieren! Die sind nämlich als nächstes dran. Hätte mir ja denken können, dass du dich schneidest. Da gibt man dir einmal ’n scharfes Messer. Tsss.«

Lasterbalk lenkte Alea erfolgreich von Simon ab, der sich kurz darauf wieder voll im Griff hatte. Für ihn als jüngsten Vampir der MIU war es immer wieder aufs Neue eine harte Probe, wenn Alea blutete. Bei allen anderen Menschen war das nicht so schlimm – schließlich sprach nichts dagegen, einen Vampir das Blut auflecken und damit die Wunde reinigen zu lassen – doch der Vexecutor durfte keine Fangzähne sehen, nicht das Zittern der Finger und die Gier in den Augen des Vampirs bemerken. Doch Simon wurde besser. Wieder einmal war es gut gegangen.

Den Daumen in ein Taschentuch gewickelt fuhr Alea vorsichtig und augenscheinlich arglos mit dem Schneiden fort. Fritz hätte um Kitty gewettet, dass keiner der beiden anwesenden Vampire wirklich etwas dagegen gehabt hätte, wenn Aleas Blut dem Gemüse als besondere Würzung beigefügt worden wäre.
 

Als nahezu alle Anwesenden zum Essen versammelt waren, wollte Alea als erstes wissen: »Was ist eigentlich mit Micha? Das hab ich immer noch nicht kapiert.«

»Er … hat sich total überanstrengt«, sagte Bock, was ja nicht einmal wirklich eine Lüge war. »Morgen oder übermorgen wird das vorbei sein. Er bekommt Heilkräuter … Das hilft ihm, mehr zu essen.«

»Achso.« Alea musterte zweifelnd seinen Teller. »Und wieso isst er jetzt nichts?«

»Naja …« Der Arzt zögerte und sah sich hilfesuchend um, sobald Alea beiseite blickte.

»Weil er schläft«, griff Asp ein. »Wir heben ihm was auf. Ist ja nicht das erste Mal.«

»Ah, okay.« Alea gab sich zufrieden und aß ohne neugierige Fragen weiter.

Fritz glaubte, das erleichterte Seufzen, das allen in den Kehlen steckte, hören zu können. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Sänger von Saltatio Mortis sich nicht länger für dumm verkaufen lassen würde, da war er sicher. Natürlich war dies wahrscheinlich eine Standardsituation, wie sie schon oft mit Alea vorgefallen war, doch nun schienen sich solche Zwischenfälle zu häufen.

Nach dem Essen wurde Fritz den übrigen Locksängern Niel, Fiona, Rüdiger und Margarete alias Rairda von Faun vorgestellt. Mit den vielen neuen Gesichtern und Namen war er überfordert, doch sie begegneten ihm sämtlich höflich. Energisch machten sie sich ohne weiteren Zeitverlust an die Arbeit, auf den mitgebrachten Instrumenten ein paar Lockstücke abzustimmen. Einen Cimpoi hatten sie nicht dabei; ohnehin dauerte die Arbeit an dem Stück, das eigentlich für Taragot gedacht war, weiter an. Mit ›Py‹ war ein weiteres Mitglied In Extremos hinzugestoßen, und Fritz fand den molligen, etwas raubeinigen, aber sichtbar gutherzigen Mann überaus sympathisch. Zusammen mit El Silbador fiel André die Aufgabe zu, Coppelius’ hoffnungstragendes Geschenk ›sacktauglich‹ zu machen.

»Es ist eigentlich komisch«, stellte Dr. Pymonte fest, »dass kaum ein Locksänger bisher nur ’ne Sackpfeife zum Bezirzen benutzt, obwohl Vampire das Gedudel unwiderstehlich finden. Da sollten wir uns mal Gedanken machen, das könnte zukunftsweisend sein.«

»Da geb ich dir Recht«, bekundete Elsi.

Er und Py, die sich unter anderem auf das Bauen von Dudelsäcken verstanden, versuchten die nächsten Stunden lang, an der Melodie zu schrauben und sie zunächst einmal dem Marktsack anzupassen, ohne sie dabei grundlegend zu verfälschen. Die ersten Ergebnisse wurden von Oliver Pade, der ihnen als Lockstück-Experte rege zuarbeitete, eher skeptisch aufgenommen.

»Es wird schwierig, das Stück zu testen. Keiner eurer Vampire ist auch nur annähernd so alt, wie Paul Frais vermutlich ist.«

»Ich hab da ’nen Vorschlag für dich«, teilte André ihm mit. »Was hältst du davon, wenn wir versuchen, den Effekt –« Er ahmte Olivers wohlsortierte Sprechweise nach. »– durch Quantität zu maximieren?« Vielsagend grinste er den Locksänger an.

Dieser verstand sofort und hob die Brauen. »Du meinst, mehr als ein Musikant?«

»Elsi und ich dachten an so was wie … eine Armee.«

»Eine Armee … aus Dudelsäcken?«

»Ja«, antwortete Py nickend, »eine Armee aus Dudelsäcken.«

Oliver blieb skeptisch. »Diese Idee ist mir noch nicht gekommen.«

»Naja, die Rechnung ist einfach: Viel Sack, viel laut. Viel Druck aufs vampirische Trommelfell. Wir drücken ihnen die hypnotische Melodie einfach mit noch mehr Kraft ins Hirn. Wenn mehr Instrumente gleichzeitig spielen, müsste sich doch die Wirkung um denselben Faktor vergrößern. Es wäre ja, als wenn man einen Zauber sozusagen mehrmals spricht. Als würde man nicht nur einen Stein ins Wasser werfen, sondern viele gleichzeitig – dann läuft’s viel schneller über.«

»Klingt plausibel«, räumte der Locksänger ein. »Einen Versuch ist es wert. Aber von uns kann nur Fiona eine Sackpfeife gut genug spielen. Die Melodieführung ist recht schwierig.«

»Ja, gebe ich zu, aber wir haben hier noch mehr Leute am Start, die Säcke spielen. Und wir können noch mehr holen.«

»Du darfst die Vampire, die es können, nicht mitzählen. Die würden sich selbst in Trance spielen. Nur Menschen können in diese … Armee, wenn wir es mal spaßeshalber so nennen wollen.«

»Naja«, lächelte Py, »einigen wir uns mal darauf, dass ›Armee‹ ’n ziemlicher Euphemismus ist.«

El Silbador, der mit Py und Polly zusammen saß, hatte genau zugehört und mehrmals den Wunsch, etwas ins Gespräch einzuwerfen, unterdrückt. Irgendwie klärte sich gerade schon alles von selbst, sodass er zu seinem Leidwesen rein gar nichts beisteuern konnte.

Fritz indes verfolgte die ruhige und sachliche Diskussion zwischen den Musikern aufmerksam. Je näher der nächste Sonnenuntergang rückte, desto nervöser wurde er; die Vampire hatten über den Tag ein wenig Schlaf nachgeholt, doch ihre Munterkeit war nicht dieselbe wie in der Nacht zuvor. Außerdem liefen sie, wie sie es nannten, ›untertourig‹. Blut war ein ständiges Problem, sogar im Keller eines Krankenhauses. Fritz hasste es, derart viel über Blut nachdenken zu müssen, aber ständig brachte es jemand aufs Tapet oder erinnerte die anderen daran.

»Es ist einfach Mist, dass Vampire so große Mengen Nahrung brauchen!«, beschwerte er sich während des alltäglichen Verbandswechsels bei Bock.

Nicht bereit, ihm zuzustimmen, schüttelte der Arzt den Kopf. »Große Mengen? Das stimmt nicht, Fritz. Blut hat etwa achtzig Kalorien pro hundert Gramm, so ähnlich wie Rotwein, das ja in Hyperborea reingemischt wird. Also enthält ein halber Liter Blut oder Hyperborea so etwa fünfhundert Kalorien, und der Tagesbedarf eines normal ernährten, also nicht ausgehungerten Vampirs ist mit allerhöchstens sechshundertzwanzig Kalorien am Tag gedeckt. Bei Menschen dagegen geht man von einem Grundumsatz von zweitausend Kalorien aus. Zweitausend, Fritz. Das ist mehr als das Dreifache. Verglichen damit sind Vampire äußerst genügsam. Sie machen viel Kraft aus wenig Nahrung, weil sie alle Energie rausholen können, die drin ist. Keiner weiß, wie das funktioniert.« Bock tätschelte das frisch verbundene Bein. »Ich weiß, es ist leicht, den Bluttrinkern für alles die Schuld zu geben, aber das ist völlig unangebracht. Du wirst schon noch verstehen, was ich meine.«

Wieder einmal fragte sich Fritz, wann auch er zu einem derart verständnisvollen Vampirfan mutieren würde, wie beispielsweise Bock, Ingo Hampf oder Eric Fish es offensichtlich waren.
 

»Gib mir die Hand«, forderte Paul Frais lächelnd.

Eric gehorchte; er musste sowieso gehorchen. Seit ununterbrochen das Blut des alten Vampirs durch seine Eingeweide sickerte, hatte seine Fähigkeit zu eigenmächtigem Handeln sich schockierend reduziert. Ungemein dankbar dafür, nur von Handlangern gehandhabt und ständig in schwere Ketten gelegt zu sein, statt willenlos Befehle auszuführen, hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass Paul Frais ihn nur zur Sicherheit unter der Blutfessel hielt. Nun jedoch stieg in ihm die Angst auf.

Leise summend löste Frais die schweren Eisenreifen mit Leichtigkeit von Erics Handgelenken. Einen nach dem anderen. »Nicht bewegen«, befahl er ruhig.

»Was willst du von mir?«

»Und nicht reden.« Die Ketten rasselten lärmend, als Frais sie achtlos beiseite warf. Eric stand nun völlig frei in dem fensterlosen, unheimlich stillen Raum, der seit unbestimmter Zeit sein jüngstes Gefängnis gewesen war. Der Vampir kreuzte die langen, sehnigen Arme vor der Brust und musterte den Sänger prüfend. »Nun ja, ich kann mich im Grunde nicht beschweren: Meine Leute haben ihre Sache gut gemacht und dich bei Kräften gehalten. Aus deinem Werdegang weiß ich, dass du nicht nur ein passabler Musiker, sondern auch – ganz im Geheimen – ein recht talentierter Vampirkämpfer bist.« Frais’ Zähne blitzten, als erneut ein breites Lächeln sie entblößte. Er war charismatisch, ohne Zweifel, und das Vergnügen in seinen Augen war echt – wäre da nicht der grausame Zug um seinen Mund, den die Jahrhunderte als Bestie, die Menschen auflauerte und sie gnadenlos zu Tode hetzte, dort hineingefräst hatten.

Eric bekam die Lippen nicht auseinander. Also gab er auf. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die Blutfessel aufzulehnen, also versuchte er stattdessen, Fassung und Ruhe zu bewahren. Ähnliche Situationen hatte er in seinen früheren Missionen als Vampirjäger bereits erlebt, deshalb wusste er, worauf es ankam – doch Blutfessel, so selten es vorkam, war stets aufs Neue eine furchterregende Erfahrung. Nie konnte er ahnen, wozu er gezwungen werden würde. Da zählte letztlich nur noch das Wesentliche. Wenn er eins nicht wollte, dann vor Paul Frais den Kopf und die Würde verlieren. Sein Feind hatte Recht: Er war ein Vampirkämpfer. Kein Vexecutor wie Alea, kein Pfähler wie Ingo, kein Armbrustschütze wie Flex der Biegsame – aber immerhin so wehrhaft, dass ihn noch nie ein Vampir gebissen hatte, dem er es nicht ausdrücklich gestattet hatte.

Jetzt endlich hatte Frais Lust, ihn zu quälen. Das sadistische Funkeln in seinen Augen zeugte von wilder Erregung, Lust darauf, Beute zu misshandeln. Er würde es tun. Mit Genuss.

»Hier, a chara. Nimm doch einen guten Schluck, es ist ein wirklich edler Tropfen.« Frais hielt ihm einen Weinkelch an die Lippen und kippte ihn. Er enthielt Wein, einen kräftigen roten, den das prickelnde Vampirblut noch zusätzlich scharf aromatisierte. »Gut. Noch einen. Ich kann nicht sagen, wann wir wieder Zeit dazu haben werden, ein Gläschen zu teilen.« Er plauderte mit Eric wie mit einem guten alten Freund. Ein irritierendes, verunsicherndes Verhalten. Das Glas immer noch in der Hand, betrachtete Frais seinen Gefangenen erneut eingehend und rieb sich mit der freien Hand unschlüssig das glattrasierte Kinn. »Hmmm. Ich habe überlegt, ob ich dich beiße. Einfach so, um zu kosten. Aber irgendwie ist das reizlos, wenn du dich nicht wehren kannst. Wie bei Lámh Dé. Mit dem hatte ich noch viel mehr vor. Aber gut, das holen wir alles nach.« Die schlanke Hand des Vampirs fuhr in seine weite Manteltasche und zog etwas daraus hervor. »Kennst du das?«

Eric nickte. Den Revolver mit dem vergoldeten Griff hatte er seit seiner Installation bei der MIU jeden Tag am Gürtel getragen – auch auf der Bühne. Sonnenauge war so etwas wie sein persönlicher Bodyguard.

»Ah, na dann – bitte schön.«

Eric nahm die ihm hingehaltene Waffe mit zitternden Fingern entgegen. Sie lag schwerer in seiner Hand als gewöhnlich, ein kaltes Gewicht, das er am liebsten fallen gelassen hätte.

Paul Frais ließ nunmehr von allen Umschweifen ab. »Wir greifen das lächerliche Rattenloch an, in dem deine MIU-Freunde sitzen. Du begleitest uns. Tu nichts, was du später bereust. Ich werde dich genau instruieren. Jetzt komm … Ich will sehen, was du kannst, außer Vampire mit Natron zu blenden. Vielleicht bist du noch nützlicher, als ich es mir ausmale. Wer weiß?«

Zitternd folgte Eric dem noch immer lächelnden, spöttisch kichernden Vampir, der ihm voran aus dem Raum schlenderte. Als körperlich freier Mann trat er an den herumliegenden Ketten vorbei, die ihn bis jetzt kontrolliert hatten. Nun lag nur noch sein Geist in Ketten. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller, raste mehr Hitze durch seine Muskeln. Er wusste nur zu genau, welche Rolle Frais ihm zugedacht hatte.



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