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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Tach, ihr Säcke!

Allmählich wurde es eng im MIU-Hauptquartier unter der DINZ-Baustelle. Das grau betonierte Zimmer, das einen Tisch, Stühle und sonst nichts enthielt und als Besprechungszimmer diente, war kaum groß genug für das Einsatzteam.

Versammelt waren alle, die gerade keinen Schlaf nachholten; dies beinhaltete fast sämtliche Anwesenden von Saltatio Mortis und Subway To Sally sowie Asp. In Extremo fielen aufgrund akuten Schlafmangels komplett aus. Außerdem am Tisch saßen Dr. Jan Saltz, ein munterer Klaus-Peter Schievenhöfel und erstmals nach langer Zeit wieder ein gequält dreinschauender, sehr müde wirkender Klaus Buschfeldt. In einer Zimmerecke lag Amboss auf einer staubigen Decke und kaute selig auf einem Stück Rindsleder.

»Na gut«, sagte Lasterbalk und sah auf die Uhr. »Es ist jetzt … neun Uhr siebzehn und wir wissen gerade mal, dass wir, auf gut Deutsch, völlig am Arsch sind.«

»Übertreiben wir mal nicht«, relativierte Falk sofort. »Das Wetter soll gut bleiben, Paul Frais kann frühestens heute Abend losstürmen. Wenn wir gut sind, finden wir währenddessen raus, von wo sie angreifen. Und wenn sie das machen, haben wir Locksänger … und ein omnipotentes Lockstück.«

Buschfeldt sah sich mürrisch um. »Ich sehe keins von beidem. Für das Lockstück fehlt das Instrument, für das Instrument fehlt der Musiker. Oder wollt ihr mir was anderes erzählen?«

»Ähm … tja«, fuhr Lasterbalk achselzuckend fort. »Polly sagte ›morgen früh‹, deshalb denke ich, dass er jetzt bald hier sein müsste. Und der Rest von Faun dann ja auch bald.«

»Was ist, wenn er abgefangen wurde?«, mutmaßte Alea und suchte in den Blicken der anderen nach Beruhigung. »Ich meine, kann denn hier irgendjemand mit Sicherheit sagen, dass Paul Frais nicht weiß, wer Faun sind? Vielleicht kennt er sie vom MPS.«

»Wär schon möglich«, stimmte El Silbador zu. »So viele Spione, wie es wahrscheinlich auf jedem MPS gibt, können wir ja gar nicht aussieben.«

»Aber wenn Oliver kommt«, hielt Falk hartnäckig dagegen, »dann weiß er auch, wo wir ein Taragot herkriegen und wer das spielen kann. Das ist sein Beruf.«

»Ja, aber darf ich dich an die Fußnote erinnern? Da könnte ein wichtiger Hinweis stehen, eine Information über das Instrument oder wie es gespielt werden muss, die uns nicht entgehen darf.«

Wieder hielten alle ratlos inne. Alea seufzte theatralisch und stand auf. »Ich bin mal kurz weg.«

»Wo gehst du hin?«, fragte Lasterbalk.

»Aufs Klo. Soll ich dir was mitbringen?«

»Mach bitte die Tür zu, damit die Schlafenden net von unserem Geschwätz geweckt werden.«

»Jo.« Alea zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Sobald seine Schritte verklungen waren, raunte Simon: »Birgits Mitteilung, dass unsere Helden von Schandmaul in Landau das nicht abgeholte Hyperborea eingesammelt haben und jetzt dabei sind, das ganze Zeug zu uns nach DD zu karren, finde ich sehr erleichternd. Wollte ich nur mal erwähnt haben.«

»Da bist du net alleine, Schmittchen. Nix gegen Bockm– … ääh, Buck-Up, aber ein guter Wein ist doch was viel Besseres!«

Die Vampire lächelten einander zu. Krisensituationen schweißten zusammen, wie immer.

Als Alea zurückkam, wurde das Gespräch – nunmehr zensiert um vampirische Themen – wieder aufgenommen. Alea wandte sich zum wiederholten Male an Frau Schmitt wegen Eric; die beiden Sänger waren gut befreundet und Alea konnte nicht oft genug versichert bekommen, dass Eric vermutlich noch eine ganze Weile lang in der Gefangenschaft von Fiacail Fhola durchhalten würde – auch ohne Kaugummi.

Eine Viertelstunde später schaute Lasterbalk erneut auf die Uhr und sagte stirnrunzelnd: »Tja, Polly, jetzt könntest du aber mal vorbeischneien.«

Simon hob alarmiert den Kopf. »Es kommt wirklich jemand!«, meldete er.

Keine drei Sekunden später klopfte es an die Tür des Besprechungsraums. Die Tür war dick, und nur undeutlich klang eine vage als männlich zu erkennende Stimme herein: »Äh, hallo? MIU-Leute?«

Die Versammelten tauschten einen verwirrten Blick. »Polly? Ääh, ich meine – Olli?«, fragte Simon hoffnungsvoll.

»Na, nicht ganz. Ein anderer Konsonant vorne.« Als alle perplex schwiegen, verkündete die Stimme: »Mann, ich bin’s … Holly!«

»Holly!«, echoten alle um den Tisch. Sugar Ray, der der Tür am nächsten saß, stand auf.

»Welcher Holly ist das denn?«, fragte Elsi.

»Kann nur Holger sein, der andere Holly wohnt ja nicht in Dresden«, antwortete Silvio, ehe er die Tür aufzog, um den Letzte-Instanz-Musiker hereinzulassen.

»Ja, stimmt schon. Holly mit D.« Holly D. lächelte lässig in die Runde. »Guten Morgen! Ich stör doch nicht, oder?«

»Nein, nein!«, versicherte man ihm, und Simon bot ihm prompt einen Stuhl an.

Nur Buschfeldt musterte den Ankömmling düster. »Herr Lieberenz, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie kein Mitglied der MIU sind und deshalb eigentlich keinen Zutritt zu den Stützpunkten haben.«

»Ja, ich weiß, Herr Buschfeldt«, antwortete Holly D., wobei sein leichter Dialekt zutage trat, und lächelte weiterhin verschmitzt. »Aber darf ich Sie daran erinnern, dass wir die MIU schon oft genug mit Informationen versorgt haben, ohne vom BfV dafür bezahlt zu werden wie Sie?«

Das wirkte. Buschfeldt starrte den Dresdener an, als hätte dieser gerade ein Glas Wasser über seinem Kopf ausgekippt.

»Ja, dachte ich’s mir doch.« Holly D. grinste.

Doch Buschfeldt ließ sich nicht beirren. »Was, bitteschön, machen Sie überhaupt in Dresden?«, hakte er misstrauisch nach.

»Also, erstens wohne ich in Dresden, und zweitens haben wir am vierzehnten Oktober ein Konzert im Alten Schlachthof gespielt. Erst im Dezember geht die Tour weiter, bis dahin bin ich hier. So, und jetzt zum Thema, wieso ich euch besuchen komme. Ich hab gestern Abend mit Specki telefoniert – also, Florian, für alle, die’s nicht wissen.« Die anderen hörten aufmerksam zu. Florian Speckardt alias Specki T.D. war vor gut einem Jahr bei Letzte Instanz ausgestiegen, um als Schlagzeuger bei In Extremo Reiner Morgenroth zu ersetzen. Seinen Platz bei Letzte Instanz hatte David Pätsch eingenommen, der früher bei Subway To Sally gespielt hatte und von Simon Schmitt ersetzt worden war. Es war ein gutes Beispiel dafür, wie positiv sich unter Geheimdienstlern und befreundeten Bands der Austausch von Musikern auswirkte. »Specki hat mir was erzählt, was ihm vorher Py – also André – von InEx erzählt hat«, fuhr Holly fort. »Das Beste kommt aber noch: Der gute André hat von Coppelius eine Mitteilung bekommen, mit der er so überhaupt nichts anfangen konnte. Die mit ihrer Geheimniskrämerei, natürlich wurde wieder keiner schlau draus. Der Text war auf – Ohren spitzen! – Rumänisch. Dakorumänisch.«

»Ach!«, rief Elsi aus. »Da bin ich aber ganz Ohr!«

»Specki und Py wollten natürlich unbedingt wissen, was Coppelius geschrieben haben. Die sind ja schließlich nicht ganz ungefährlich, das Völkchen, wie wir wissen. Specki hat mich dann gefragt, ob ich nicht jemanden kenne, der jemanden kennt, ihr wisst schon. Ich hab da schließlich jemanden auftreiben können aus der Romanistik an der TU Dresden. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hab die Übersetzung bekommen und sie Specki mitgeteilt. Specki sagte, ihr wärt hier und ihr bräuchtet das für weitere Arbeiten. Das ist eigentlich alles«, meinte Holger und hob lächelnd die Schultern. »Und da ihr gerade hier seid und ich euch ja sowieso längst mal wieder treffen wollte, dachte ich, ich bringe euch das Textstück vorbei. Hoffe, es hilft euch weiter.«

»Ja, macht es!«, pflichtete El Silbador ihm ganz aufgeregt bei. »Holly, darf ich die Übersetzung mal sehen? Wenn Coppelius den Text geschickt haben, wollen die uns vielleicht was damit sagen!«

»Oh, ja, klar. Warte.« Der Letzte-Instanz-Musiker griff in die linke Tasche seiner Jeans und fischte einen zusammengefalteten Zettel hervor. »Sie haben es hier drauf gekritzelt. Typisch Linguisten, man kann’s kaum lesen. Das Rumänische steht oben und das Deutsche unten, falls das was nützt.« Er lachte und sah Elsi zu, wie dieser das Papier entfaltete, die Zunge angespannt zwischen den Lippen.

Der junge Mann überflog den Text. »Ha! Das ist er. Der gleiche Text wie in der Fußnote! Ich hab die Buchstaben so lange angestarrt, das sind hundertprozentig die gleichen! Typisch Coppelius. Sie wollen es uns auf keinen Fall zu einfach machen.« Stumm las er die Übersetzung und nickte dann gewichtig. »Jap. Interessant.«

»Was denn?«, fragte Alea ungeduldig. »Was steht denn da zum Thema Taragot?«

»Hollys Übersetzung hier sagt: Wirkt noch besser, wenn stattdessen leicht abgewandelt mit Cimpoi gespielt

»Das ist natürlich eine sinngemäße Übersetzung«, räumte Holger ein, »keine wörtliche.«

»Und wieso ist das Wort cimpoi nicht übersetzt?«

»Hab ich auch gefragt. Das ist ein Eigenname, wurde mir erklärt. Ein Musikinstrument.«

Prompt erhob sich am ganzen Tisch ein Choral bühnengerechten Stöhnens.

»Statt das Lockstück mit dem einen Instrument zu spielen, das wir nicht kennen, sollen wir es jetzt mit einem anderen Instrument spielen, das wir nicht kennen!«, seufzte Falk. »Wieso gibt es überhaupt so wichtige Lockinstrumente in Rumänien, ohne dass wir es wissen?«

»Ohne dass du es weißt«, neckte ihn Elsi und zog sich am langen Arm Boris’ Laptop heran. »Wartet, ich geb das mal ein. Also, C-I-M-P-O-I …« Er drückte die Entertaste und starrte auf den Bildschirm.

Holly D. saß noch immer mit hinter dem Nacken gekreuzten Armen am Tisch und sah entspannt aus.

»Ah! Es ist ein Sack!«, rief El Silbador aus. »Der Sack, viel genauer. Die rumänische Spielart der Sackpfeife, mehr nicht. Hätten wir vielleicht wissen sollen, aber ich kann leider kein Rumänisch.«

»Wir sollen das Stück auf einem Sack spielen?« Lasterbalk blickte kritisch drein. »Ah je, auch das noch. Glaub net, dass das geht, da sind Folgetönte drin und so.«

»Also geht es um ein Musikstück, ja?«, erkundigte Holly D. sich neugierig. »Gut, dann deuten wir doch einfach mal das ›leicht abgewandelt‹. Ihr müsst …« Er hob den Finger. »… das Lied umschreiben. Für Dudelsack. Also, das würde ich da jedenfalls reininterpretieren.«

»Guter Gedanke«, pflichtete Falk ihm bei. »Elsi, Säcke sind dein Métier. Du übernimmst das.«

»Geht klar.« El Silbador war keinesfalls überrascht. »Aber ich würde das lieber mit ’nem anderen Sackprofi zusammen machen.« Er wandte sich an den fortwährend grinsenden Gast. »Holly, die Kollegen von In Extremo schlafen alle. Ich kann Dr. Pymonte privat nicht erreichen, aber kannst du’s über Specki versuchen?«

»Ja, sicher«, nickte Holger Lieberenz. »Ich krieg’s hin, dass André sich noch vor dem Mittag mal bei dir meldet, versprochen.«

»Versprich lieber nix«, bat ihn Lasterbalk mit schiefem Grinsen. »In letzter Zeit haben uns viele Leute versprochen, sich zu melden oder irgendwann irgendwo zu sein … und dann hören wir doch nix von ihnen.«

»Verstehe. Auf wen wartet ihr denn?«

»Oliver Sa Tyr von Faun.«

»Ah.« Holly zählte Eins und Eins zusammen. »Soso. Olli … Polly …. Ahahahahaha

Die Umsitzenden lächelten nervös und trauten sich nicht ganz, in das von großem Amüsement zeugende Gelächter mit einzufallen.
 

Nachdem Holly D. nach überschwänglichen Dankesbekundungen und einer Tasse Kaffee mit besten Wünschen verabschiedet worden war, brachte Dr. Saltz aus der Oberwelt eine neue frohe Botschaft mit. Diese verbreitete sich von Ohr zu Ohr wie ein Lauffeuer im Kellerversteck, wobei sie genau einen nicht erreichte, und das war Alea.

»Euch sage ich es auch noch«, grinste Bock, als er ein paar Stunden später wieder zu Fritz und Micha ins Lazarett kam. »Wir kriegen Blut

»Hurra«, murmelte Micha, der nun wieder wach war, aber trotzdem noch müde aussah, in eher mattem Ton. »Und woher, so aus dem Nichts?«

»Anonymer Selbstausschuss einer gut besuchten Blutspendeaktion im Mensagebäude. Jaja, alle paar Monate wieder.«

»Wie, das war gar kein Witz?« Micha machte große Augen.

»Nein!«, frohlockte der Arzt und hob Michas nackten, schlaffen Arm, um ihm das Fieberthermometer in die Achselhöhle zu klemmen. »Wir kriegen es heute Nachmittag, wenn alles sortiert ist.«

»Das ist so ziemlich das Geilste, was ich in letzter Zeit gehört habe.«

»Ja, nicht wahr?« Bock summte weiter gut gelaunt vor sich hin, als er sich zu Fritz ans Bett setzte. »Und du fühlst dich besser?«

»Denke schon«, erwiderte Fritz zögernd. »Ich hatte … komische Träume. Lauter Farben … als wär mein Kopf ein Kaleidoskop … und …« Er wurde rot. »… merkwürdige Gefühle …«

»Oh ja, ganz klar Nachwirkungen des Vampirgifts«, beruhigte ihn der Arzt mit vielsagendem Grinsen.

»Ah, gut … ich wurde ja vorgewarnt.«

Bock stand noch einmal auf und kehrte dann zurück, wobei er Fritz nebst einem Glas Wasser eine Vielzahl von Tabletten auf der Hand hinhielt. »So – Paracetamol gegen die Schmerzen, ein Eisenpräparat, Vitamin C, Vitamin B12 … oh, äh, die mit der Bruchstelle bitte nicht schlucken, das ist Azathioprin, die ist für Micha.«

Fritz nahm die vier Pillen ein, während der Arzt Micha das Thermometer unter dem Arm hervorzog und großzügig bekundete: »Du hast noch unter fünfunddreißig Grad, aber dafür, dass du vor kurzem fast Zimmertemperatur hattest, ist das schon ganz gut. Mit dem Spenderblut und Heilkräutern werden wir dich schnell wieder aufpäppeln.« Damit nahm er ein kleines braunes Papiertütchen aus einem der Schränke und griff hinein, um ein paar der getrockneten Kräuter hochzuhalten. »Andorn und Gelber Enzian! Die bewährte Mischung nach Aushungerungsphasen. Regt den Appetit an und hilft, den Nahrungsrhythmus wiederherzustellen. Also, dreimal täglich einen Teelöffel mit einer Tasse kochendem Wasser übergießen, zehn Minuten ziehen lassen und den Tee trinken. Alles klar, Schätzchen?«

»Ich bin nicht blöd«, gab Micha genervt zurück; dann machte er sogleich Anstalten, aufzuspringen und sich davon zu machen.

Dr. Saltz hatte das kommen sehen und reagierte präventiv. »Nichts da, du bleibst hier, bis die Hungersymptome weg sind, hast du gehört?«, befahl er sofort und schob seinen Patienten zurück in eine vertikale Position. »Fritz, du bleibst, bis du ohne Tabletten schmerzfrei bist.«

»Ja, ja.« Fritz war das ziemlich egal. Das MIU-Versteck glich so oder so einem Kerker.

Nachdem Bock Micha erneut mit aufgewärmtem Buck-Up gefüttert hatte, ging er wieder, und augenblicklich stürmte der muntere Rest von In Extremo den Bockshof. Die drei hatten erst jetzt erfahren, dass ihr Sänger wieder wohlbehalten zum Team gestoßen war, und verliehen ihrer Erleichterung darüber geradezu ungestüm Ausdruck. Das Gewusel heiterte Micha sichtbar auf, er grinste seine Freunde breit an und erklärte, alles sei halb so wild gewesen. Anschließend verlangte er zu wissen, was es Neues gab, und so standen Basti, Boris und Marco weiterhin plaudernd um die Liege herum und erzählten abwechselnd, was sich während der Abwesenheit der beiden zugetragen hatte.

Schließlich scheuchte Bock sie alle aus dem Zimmer. »Beim Verbändewechseln müsst ihr hier nicht alle rumstehen. Bis später!« Als er sich jedoch zu Micha umdrehte, hatte der bereits wieder beide Beine über den Rand der Liege geschwungen.

»Bock, jetzt mal ehrlich: Ich werd’ so oder so abhauen, wenn du mal nicht hinguckst.«

»Ich ahne es«, knirschte der Arzt.

»Ich bin ganz vorsichtig, okay? Guck mal. Ich bewege mich … nur … in Zeitlupe.« Der Sänger platzierte beide Füße auf dem Boden und stand kerzengerade. »Alles geht. Ich trinke den Tee und bin ganz brav. Komm schon. Jetzt entlass mich!«

Bock seufzte wieder. »Hach, dann verschwinde halt. Irgendjemand wird dich schon wieder herschleppen, falls du umfällst.«

»Wenn ich mich bewege, werde ich schneller warm«, insistierte Micha. »Außerdem will ich duschen und mich rasieren. Ich seh ja aus wie’n Gangster.«

»Da muss ich dir allerdings Recht geben. Also bitte.« Bock machte eine Geste zur Tür. »Dann kann ich mich ja jetzt ganz deinem Partner widmen.«
 

Als Micha aus der Tür spaziert war, beugte Bock sich über Fritz’ Bein, um den Verband zu wechseln. Fritz warf nur einen ganz vorsichtigen, widerstrebenden Blick auf die freigelegte Wunde – doch was er sah, war überraschenderweise gar nicht so schlimm. Die Wundränder waren ordentlich vernäht und nicht einmal gerötet.

»Da staunst du«, sagte der Arzt, während er frische Wundauflagen mit einer klaren, gelblichen Salbe bekleckste. »Micha hat dich gut erstversorgt … was er sonst eigentlich nicht macht. Die meisten Vampire fühlen sich zu blutenden Wunden natürlich hingezogen und haben alles andere als ein Problem damit, sie auszulecken – eigentlich haben damit viel eher die betroffenen Menschen ein Problem –, aber Micha lässt sich nur höchst ungern auf seine Hämatophilie reduzieren. Bei seinen Freunden würde er’s wohl machen, aber ganz bestimmt nicht bei jemand anderem.«

»Er hat es gemacht, weil mein Bein so stark geblutet hat«, berichtete Fritz nachdenklich. »Vorher habe ich mich von ihm beißen lassen … Das war mir mindestens genauso zuwider wie ihm das Lecken, und das weiß er. Ich habe ihn gerettet … dann hat er mich gerettet, und jetzt … sind wir im Prinzip quitt.«

Bock zuckte die Schultern. »Klingt nach dem Best Case Scenario. So, ich bin auch schon fertig.« Gerade als er damit begann, seine Sachen wieder in den Schränken unterzubringen, klopfte jemand zögerlich an die geschlossene Tür. »Ja, bitte? Die Praxis hat wieder geöffnet!«

»Wir sind’s nur«, sagte Alea und trat ein, wobei er mehr gedrängt und geschoben wurde, und zwar von Lasterbalk und Falk. »Also, wen’s interessiert: Oliver ist jetzt da. Vor etwa fünf Minuten ziemlich genervt eingetroffen.«

»Oh, ich muss ihn begrüßen!«, frohlockte der Arzt, und seine Miene erhellte sich sichtlich.

»Ähm – jetzt net, Bock«, wehrte Lasterbalk ihn zwar lächelnd, aber mit Nachdruck in der Stimme ab. »Das hat ja Zeit bis nachher, oder? Eigentlich wollten wir, dass du mal mit Alea redest.«

»Jaah, genau«, pflichtete ihm Falk bei.

Alea wandte sich unbehaglich nach den beiden um. »Ich weiß wirklich nicht, was mir ein Gespräch mit Bock bringen soll. Ich ändere meine Meinung nicht, ganz bestimmt nicht.«

»Abwarten«, hielt Lasterbalk dagegen. »Sprich dich einfach genauso schön aus wie bei mir gerade, lasst euch Zeit, und so …«

Fritz war klar, dass es hier in Wirklichkeit nur sehr marginal um ein Problem Aleas ging; tatsächlich wollten die Vampire ihn nur außer Sicht haben, um etwas vermutlich sehr Vampirisches zu tun. Dabei musste es um mehr als das Trinken von Buck-Up gehen, denn gerade erst hatte Flex grinsend erzählt, dass Alea die rötliche Suppe erfolgreich als Bio-Erdbeer-Shake verkauft worden war; demnach konnten die Vampire das Getränk einnehmen, ohne sich vor ihm verstecken zu müssen. Was also hatten sie vor?

Bock hatte den Faden jedenfalls ergriffen. »Ich hab Zeit für dich, Mäuschen. Und Fritz langweilt sich auch zu Tode. Worum geht es denn?«

Fritz befürchtete, dass Alea in seiner Anwesenheit vielleicht eine Antwort verweigern würde, doch der Sänger schloss ihn offenbar in den Kreis vertrauenswürdiger Personen mit ein, denn er sagte unumwunden: »Ich hab einfach das blöde Gefühl … dass mich ein Vampir gebissen hat.« Forschend suchte er den Blick des Arztes.

Bock lächelte ihn breit an. »Du hast keine Löcher, reicht dir das nicht?«

»Ist mir klar. Ich bin mir aber absolut sicher, dass ein Vampir mein Blut getrunken hat. Vielleicht sogar mehrere«, hielt Alea an seiner Behauptung fest. »Ich hab’s Elsi schon erzählt, und der hat auch versucht, es mir auszureden. Es ist aber ganz egal, wie sehr ich mir einrede, dass es keinen Unterschied macht. Paul Frais hat auf jeden Fall mein Blut getrunken, und wer weiß, wer noch … und wenn das so ist, dann … kann ich keine Vampire mehr töten. Weil ich … sozusagen zu einem Teil von ihnen geworden bin. Als wäre ein Teil von mir jetzt selber … untot. Ja, das klingt doof, ich weiß, ist aber so. Ende der Geschichte.« Er machte eine Geste, die diese finalen Worte unterstrich.

Fasziniert beobachtete Fritz die Mienen der anderen; sie sahen ernsthaft besorgt aus, Bock jetzt ebenfalls.

»Seitdem«, fuhr Alea unsicher fort, »frag ich mich dauernd, ob … Vampire nicht doch so was wie eine Seele haben.«

Sofort sagten Falk und Lasterbalk unisono: »Nein!«

»Und warum nicht?«

»Weil es Monster sind«, antwortete Falk behutsam. »Sprich darüber mit Bock und Fritz. Wir beratschlagen uns mit Polly und … räumen ein bisschen auf.«

»Lasst euch Zeit«, betonte Lasterbalk noch einmal und schloss dann hinter sich und Falk leise die Tür zum Bockshof.

Alea schielte ihnen nach, und seine Körperhaltung verriet Widerwillen. »Keine Ahnung, was das soll«, murrte er.

Bock bedeutete ihm, sich auf den Tisch zu setzen. »Alea, Schätzchen. Du weißt, dass dir die psychotrope Wirkung des Ketamins vielleicht Gedanken in den Kopf gesetzt hat, die du jetzt für, naja, wirkliche Erinnerungen hältst. Vielleicht hast du etwas gehört oder gesehen, das gar nicht real war.«

»Ich weiß«, seufzte Alea, mit hängenden Schultern auf dem Tisch sitzend. »Diese Albträume waren schlimm, die werde ich wohl nie vergessen. Und ich hab was ziemlich Beunruhigendes geträumt, das mir irgendwie keine Ruhe lässt.«

»Erzähl«, forderte Bock ihn auf. Offensichtlich hatte auch er kein gutes Gefühl. Hatte Alea womöglich doch bis in die Ketamin-Narkose hinein irgendetwas gemerkt? Es gab schließlich einen Grund dafür, warum man auch in der Gegenwart Bewusstloser darauf achten sollte, was man sagte …

»Ich hab geträumt«, begann Alea und sah beiseite, »dass … naja, dass … Falk und Lasterbalk Vampire wären … und Buschfeldt hätte mich dazu aufgefordert, beide hinzurichten.«

»Oh. Das … nun.«

»Ich sollte sie nicht deshalb töten, weil sie was Böses getan hätten«, fuhr Alea gefasst fort, »sondern einfach nur, weil sie Vampire waren. Und zwar schon die ganze Zeit, ohne dass ich das wusste. Diese beiden Typen, mit denen ich seit über zehn Jahren Musik mache und die mir noch nie ein Haar gekrümmt haben, sollten auf einmal blutrünstige Mörder sein. Das hat mich ziemlich geplättet.« Alea befeuchtete sich die trockenen Lippen, ohne aufzusehen. »Der Chef sagte, ich soll mir aussuchen, mit wem ich anfange. Und ich … guck mir die zwei an … und sie gucken zurück … ganz bestürzt …« Er wurde leiser. »… und mir war völlig klar, dass ich das nicht konnte. Ich weiß nicht, es … geht einfach nicht mehr.«

Bock beobachtete ihn aufmerksam. »Und jetzt willst du keine Vampire mehr töten.«

»Mann, Bock! Jaah, haltet mich doch für ’nen Waschlappen, aber man kann doch niemanden für das töten, was er ist!«, stöhnte Alea gequält.

Oder was er isst!, fügte Fritz im Geiste zynisch hinzu. Er fand, dass der Sänger maßlos übertrieb. Würde sich jemand endlich die Mühe machen, ihm den Unterschied zwischen kultiviertem Vampir und Bestie zu erklären, müsste Alea jetzt nicht derart an sich selbst verzweifeln. Der ganze Aufwand der Geheimhaltung … nur, weil alle befürchteten, Alea würde, wenn er die Wahrheit kannte, überhaupt keine Vampire mehr töten wollen. Dabei passierte genau das jetzt offenbar von ganz allein! Was also sollte der Schwachsinn noch?

»Hm.« Bock verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. »Nein, eigentlich kann man das nicht.«

»Ich kann’s einfach nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, ein lebendes Herz anzuhalten. Eins, das genauso schlagen will wie meins.«

»Alea …«, begann Bock, doch der Sänger unterbrach ihn.

»Nein, ich will gar nichts mehr davon hören! Ich weiß, dass ihr denkt, dass ich emotional und weinerlich bin und was nicht noch alles. Aber ihr wisst nicht, wie es ist, nur mit Gedanken ein schlagendes Herz zu zerdrücken. Für mich ist das Thema durch.« Alea machte dicht – und zeigte das auch, indem er eine abwehrende Haltung einnahm und sich abwandte. Überhaupt hatte er, wie Fritz fand, eine starke Körpersprache; es reichte, ihn gut zu beobachten, um ungefähr zu wissen, was ihm gerade durch den Kopf ging.

Erst nach mehreren Minuten des Schweigens wandte Alea sich mit dem Bemühen um bessere Stimmung an Fritz. »Lass uns mal über das reden, was du erlebt hast. Ich hab die Geschichte bisher nur in Fetzen aus dritter Hand gehört. Magst du sie mir noch mal erzählen?«

»Ich …? Oh, ähm – ja!«, antwortete Fritz, etwas überrumpelt, aber tapfer lächelnd. Er stand nun vor der großen Herausforderung, eine vampirfreie Version seiner Erlebnisse zu entwerfen, die sich mit dem, was Alea schon aus den Berichten der anderen wusste, möglichst deckte. Zum Glück würde er dabei auf den Stille-Post-Effekt verweisen oder behaupten können, der Stress habe sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt. Die gut verheilende Bisswunde an seinem Hals war schließlich auch für Alea sichtbar, also würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um sie glaubhaft zu erklären. Auf das Beste hoffend, machte er sich ans Werk – und nicht nur Alea, sondern auch Bock lauschte mit nachsichtigem Lächeln.
 

Asp hatte für die gierige Hektik der anderen Vampire kaum mehr als ein spöttisches Stirnrunzeln übrig. Ihm bereitete das von Fiacail Fhola verfälschte Wikingerblut bisher keinerlei Probleme. Nicht nur, dass es seinen Blutdurst befriedigte und ihn auf emotionaler Ebene gänzlich in Ruhe ließ; man musste dem roten Trank sogar einräumen, dass er vorzüglich schmeckte. Darüber, worauf dieser Umstand zurückzuführen war, konnte Asp nur mutmaßen: gute Verarbeitung, feinfühlige Würzung und besonders erlesenes Blut rangierten ganz oben auf der Liste der Denkbarkeiten. Vielleicht lag es auch an den Hormonen, wer konnte das schon sagen? Jedenfalls war der Sänger froh, weder Buck-Up trinken noch so ungeniert hungrig auf Spenderblut warten zu müssen. Alea, so schien es, war wieder einmal von der Bildfläche geschafft worden, damit nun endlich wieder reines, vollwertiges Blut auf den Speiseplan durfte.

»Es ist ja so frisch!«, schnurrte Falk, als er, Lasterbalk und Sugar Ray sich in der primitiven Küche, die ja ohnehin nur aus einem Paar Kochplatten, einem Wasseranschluss und einem Tischchen bestand, daran gemacht hatten, einige der erst jüngst versiegelten 500-Milliliter-Beutel wieder zu öffnen und das duftende, dunkelrote Blut in einen großen Suppentopf zu schütten. Den größten Teil des Ausschusses hatte die Blutbank der Klinik freundlicherweise in ihren Kühlfächern untergebracht, da das MIU-Versteck diese Möglichkeit nicht bot.

Simon rührte mit einem Schneebesen in der roten Flüssigkeit, welche sich auf der Kochplatte nur langsam erwärmte, und sah ungemein zufrieden aus. Micha stand an der Wand, die Hände in den Taschen, und bemühte sich offensichtlich nach Kräften, nicht zu sabbern – wenig erfolgreich. Seinetwegen hatten sie mehr Blut in den Topf geschüttet, als fünf Vampire eigentlich sättigen würde.

Als Sebastian, Marco und Ingo – ein Teil des Teams, das sich kurz zuvor mit Oliver Sa Tyr und den rumänischen Instrumenten beschäftigt hatte – neugierig hinzukamen, fand ein fliegender Wechsel stand.

»Ihr übernehmt? Gut, dann tauschen wir jetzt auch schnell ein Wörtchen mit Polly, damit’s net komisch aussieht«, ordnete Lasterbalk an. »Alea ist noch im Bockshof und bleibt da hoffentlich noch ’n bisschen. Also – …«

»Wieso macht ihr dit Blut warm?«, fragte Basti argwöhnisch. »Schmeckt dit dann besser?«

»Ja, das ist ja wohl logisch.«

»Suppe schmeckt warm ja auch besser«, erinnerte Micha seinen alten Freund nachsichtig.

»Ja, hast ja Recht«, lenkte Basti sofort ein. »Lass mich ma rühren, Schmittchen.«

Simon reichte ihm den Schneebesen und ging dann zu Falk und Lasterbalk, die wiederum Micha mit einem unsicheren Blick bedachten, doch der ältere Vampir machte keine Anstalten, sie zu begleiten. »Also, wir sind dann weg. Bis später.«

Mit diesen Worten überließen die drei den Menschen das Feld und gingen einer nach dem anderen hinaus. Amüsiert beobachtete nur noch Micha, wie die drei mit einer Mischung aus Faszination und Unsicherheit die warm werdende Flüssigkeit in Bewegung hielten.

»Sie vertragen es besser, wenn es warm ist«, erklärte Ingo in die aufkommende Stille hinein. »Auf Körpertemperatur ist es am bekömmlichsten. Viel wärmer darf es auch nicht werden, sonst flocken die Eiweiße aus. Lange, du musst ständig rühren, sonst gerinnt’s! Das ist Frischblut, da sind keine Dispergatoren oder EDTA drin wie in Hyperborea. Auf den Stabilisator haben sie auch verzichtet.«

Basti und Marco tauschten einen Blick. »Irgendwie schon komisch … Wir rühren in einem Topf auf dem Herd, der voller Blut ist …«

»Jo … ’n bisschen eklig is dit schon, wa?«

»Aber wirklich.«

Hampf widersprach sofort: »Blut ist nicht eklig. Man sagt nicht eklig zu was, das ’n anderer isst.« Auf die verlegenen Blicke hin fügte er leiser hinzu: »Sagt doch so was nicht, Mann. Das tut den Vampiren weh. Die Schmähungen vom Boss haben schon genug Wunden gerissen, findet ihr nicht?«

Basti seufzte und sah entschuldigend zu seinem Sänger. »Der olle Streithammel hat ma wieder Recht.«

Micha schaute nur belustigt drein; ihm war herzlich egal, was andere von seinen Essgewohnheiten hielten. Ungeniert leckte er sich die Lippen. »Ist das jetzt bald mal fertig?«

»Micha, dit sind drei Liter. Wie schnell soll’n dit warm werden? Jeh zu Polly und hör dir dit Jelaber über die Säcke an.«

»Das interessiert mich überhaupt nicht. Hat mich noch nie interessiert. Ich hab Hunger. Und sowieso müssen die mit dem Umschreiben auf André warten, weil der Saltatio-Junior ja nichts alleine kann.« Oha, Micha war offenbar doch angefressen, wenn er an seinen MIU-Kollegen herumätzte. Hunger konnte Menschen und Vampire gleichermaßen unausstehlich werden lassen.

»Sei nicht so biestig, Rhein«, verwies Ingo ihn mürrisch.

»Sonst was?«

»Sonst kriegst du nüscht zu essen.« Hampf wollte sich nicht streiten, das war offensichtlich.

Doch Micha ließ nicht locker: »Sonnenscheinchen würde bestimmt nett gucken, wenn er mich hungrig sieht.«

»Boah! Prima, Schachmatt. Jetzt halt die Klappe!« Mit einem ärgerlichen Blick machte Ingo Michas Versuch, ihn zu provozieren, erneut zunichte.

Als Micha merkte, dass kein neuer Disput ihn von seinem Hunger ablenken würde, trat er endlich stoisch den Rückzug an. »Sagt mir bescheid, wenn’s warm ist«, murrte er und ging.



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