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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Heimkunft

Ned, Conall Cernach und das menschliche, schwammige Etwas, das Fritz im Geiste Entendicki getauft hatte, schienen die einzigen Handlanger Frais’ zu sein, die zum Unschädlichmachen der nutzlos gewordenen Ausgebrochenen abkommandiert worden waren. Unerwartet schnell hatten sie sich von dem Schrecken erholt, den Micha ihnen mit dem Bioethanol eingejagt hatte, und erneut die Verfolgung aufgenommen. Fritz fühlte sich einigermaßen imstande, den langen Weg bis zum HQ durchzuhalten; zwar hatte er kaum Gefühl in seinem Bein, doch immerhin tat es nicht mehr weh und blutete auch nicht. Die ständige Angst erhielt zudem seinen Kreislauf so weit aufrecht, dass er ohne Hilfe gehen konnte, lediglich beeinträchtigt durch einen dunklen, pulsierenden Fleck im Sichtfeld. Ja, sein Körper ließ alle Warnlampen blinken – seine Brust fühlte sich beengt an, als lägen eiserne Fesseln um die Rippen, und er hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen – doch im Moment war er noch nicht ganz bei Null, er würde sich weiterquälen, solange es sein musste. Es war zudem völlig unbedeutend, in welchem Zustand er und Micha die Sicherheit des MIU-Unterschlupfes erreichen würden; sie mussten nur dort ankommen. Im Stützpunkt war Sicherheit. Dort waren Kollegen, Kampfgefährten … und vor allem: Ärzte.

Durchhalten, dachte er verbissen.

Micha hielt die halbleere Spiritusflasche noch immer in der Hand, jederzeit bereit, sie einzusetzen. Sein erschöpfter Blick glitt ständig von einer Seite zur anderen. Andauernd leckte er sich die Lippen, und Fritz sah seine Fangzähne blitzen. Wieso bloß hatte er die Dinger ausgefahren? Was bedeutete das?

Hinter ihnen erklangen in großzügigem Abstand die raschen Schritte und das leise Tuscheln der Verfolger. Als Fritz seinen Blick wieder geradeaus richtete, durchflutete ihn jäh Erleichterung: Der ungeflieste, erdige Tunnel endete, und über ihnen tauchte der schwarze Nachthimmel auf. Fritz hätte nicht geglaubt, je wieder Sterne zu sehen.

»Micha! Die Baugrube! Das ist sie! Wir – wir sind in der Albertstadt, in der Marienallee! Ich glaube, ich kann uns den Weg nach Hause suchen!« Als Micha ihn nur fragend ansah, erklärte er: »Als Falk und die anderen Alea und mich gerettet haben, sind wir hier auch rausgekommen!«

»Aaah! Geil, Fritz. Wir schaffen’s. Wirst schon sehen, wir kommen hier raus!« Micha drehte sich um; im Tunnel war es dunkel, aber anders als Fritz konnte der Vampir vermutlich sehen, wie Ned, Conall und Entendicki sich leise fluchend in schnellere Bewegung brachten. Drohend streckte er den Brennspiritus von sich. »Kommt doch, ihr Pisser! Ich hab keine Angst vor Feuer!«

Lügner, dachte Fritz. Nachdem er jetzt wusste, dass Micha bereits seine Erfahrungen mit dem heißen Element gemacht hatte, war ihm vollkommen klar, dass der Vampir sich sehr wohl vor Feuer fürchtete, vielleicht sogar noch viel mehr als die anderen. Allerdings vermochte er diese Angst zu kontrollieren.

»Ihr seid erledigt!«, hallte Neds Antwort herüber. Sie klang näher, als Fritz gehofft hatte. »In deinem Zustand schaffst du’s nie, deinen Menschen aus der Grube zu schleppen, alter Köter!«

Der triumphierende Ausdruck in Michas Miene wich Zweifel, wie es schien; genau erkennen konnte Fritz seine Züge nicht, nur die blau leuchtenden Augen spendeten ein kaltes Licht, das sein Gesicht einigermaßen lesbar machte. »Okay, Fritz, wir versuchen’s mal.« Er duckte sich und zog schnell seine Schuhe aus, ohne die sich Nähernden im Tunnel aus den Augen zu lassen. »Ich werd die Wand hochgehen und dich tragen … aber das kennst du ja schon.«

Fritz nickte abwesend. Sein Herz schlug bis zum Hals. Micha packte ihn und versuchte, ihn sich bäuchlings über die Schulter zu werfen, wie er es zu einem früheren Zeitpunkt mühelos vermocht hätte. Jetzt jedoch gaben seine Knie unter dem Gewicht nach, und mit einem überraschten Aufkeuchen zwang er sich wieder hoch und setzte probeweise einen Fuß auf die unebene, lehmige Wand. Die ganze Welt kippte um neunzig Grad – jedoch nur kurzzeitig. »Oooouh, Scheiße … Das wird nix.« Micha stolperte zurück. Mit den Zähnen knirschend ließ er Fritz wieder auf den Boden herunter und lehnte sich dann schwer atmend mit dem Rücken an die feuchte Erde. »Scheiße!«, fluchte er weiter. »Wir sind am Arsch!«

Aus dem Tunnel ertönte Entendickis keckerndes Lachen: »Naaaa, ihr Ausbrecher? Habt ihr wirklich gedacht, ihr entkommt uns? Ähihihihi!«

»Wir haben nichts zum Kämpfen!«, hörte Fritz sich piepsen.

Micha schüttelte probeweise die leere Spiritusflasche und warf sie dann einfach über die Schulter. »Stimmt.« Dann reckte er hektisch den Hals zum hohen Rand der Baugrube auf. »Vielleicht doch.« Schon holte er tief Luft und zwang sich mit einem Satz in die rechtwinklige Position, um die Wand hochzuspringen. Es kostete ihn so viel Kraft, dass er es kaum über den Rand schaffte.

Fritz war entsetzt, als das Lachen der Angreifer lauter wurde. »Du kannst mich nicht schon wieder einfach alleine lassen!!«, brüllte er Micha panisch nach. Das war doch nicht sein Ernst! Das konnte er doch nicht ernst meinen! Fritz hatte geglaubt, dass ihre gemeinsame Notlage zumindest etwas in dem gestörten Verhältnis zwischen ihnen verändert hatte, doch für Micha war er offenbar immer noch nur Mittel zum Zweck, und das würde für ihn nun den Tod bedeuten! In seinem Kopf begann alles zu rasen. Was jetzt, was jetzt?!

»Na los, Ned«, grölte Conall, »das halbe Hähnchen kannst du nun wirklich ohne meine Hilfe platt machen.«

»Ähähä, ja!« Der rotnäsige, schniefende Vampir duckte sich und sprang vor.

In dem Moment, als er sich mit vorgestreckten Armen auf Fritz stürzte, ließ Fritz sich passiv nach rückwärts fallen und trat mit beiden Beinen aus. Der Tritt traf Ned in den Magen, bewirkte jedoch nichts außer einem kurzen Ächzen und verblüfften Innehalten. »So«, schnaufte der Vampir, »du hast also noch Power, was? Gleich nicht mehr!« Er ließ seine Zähne vorschnappen und griff erneut an – auf Fritz’ Hals zielend, wo bereits zwei mehr oder minder frische Einstichlöcher prangten. Diesmal warf das Gewicht des dürren Angreifers Fritz auf den Rücken, und er kam nicht wieder hoch. Neds Gewicht drückte ihn auf die Erde, Fritz glaubte, die Spitzen seiner langen, scharfen Zähne bereits auf der Haut zu spüren. Großer Gott, nicht schon wieder ein Biss! Das würde er niemals überleben! Fritz holte rasselnd Atem, hielt mühsam die Fänge von seinem Hals fern. Es kostete ihn alle verfügbare Kraft. Der Puls hämmerte in seinen Schläfen. Immer näher kamen die Spitzen der weichen Haut seiner Kehle. Neds Hände waren überall, kratzten ihn, tasteten an ihm herum, versuchten Halt zu finden, irgendetwas zuzudrücken. Nicht mehr lange und er würde auf die glorreiche Idee kommen, ihm den Hals zu zerquetschen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die auf ein schwarzes Ende zuging.

Dann, wie aus dem Nichts, traf Ned ein mächtiger Schlag auf den Kopf. Er stöhnte auf und fiel zurück. Sein Griff lockerte sich. Micha, der hinter ihm stand, fixierte ihn drohend, die metallene Leitbake mit der zerbrochenen gelben Lampe bereits zum erneuten Zuschlagen erhoben. Doch Ned war bereits außer Gefecht gesetzt: Blicklos starrten seine halbgeöffneten Augen ins Leere.

Fritz wimmerte. »Oh Gott … Seine Zähne gucken immer noch raus …«

»Muss nicht heißen, dass er tot ist. Wenn man K.O. ist, kommen die auch manchmal raus. Vampire durch einen Schlag auf den Kopf zu töten ist so ziemlich unmöglich.« Micha drehte sich nach Conall und Entendicki um, die ihn verblüfft angestarrt hatten und jetzt sogar jeder einen Schritt zurückwichen. »Na? Wollt ihr auch noch?«

Conall Cernach verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du und ich, du ausgehungerter Hänfling?« Er setzte sich gemächlich in Bewegung.

Rasch wandte Micha sich an Fritz. »Du reißt dich jetzt hammermäßig zusammen und benutzt den Vollidioten als Sprungbrett! Kapiert?«

Fritz nickte.

»Na dann! Vive la résistance!« Es klang wie Restdistanz.

Conall röhrte und rannte los; Micha hob die Bake und sprang auf, um ihm zu begegnen. Er hatte sich unerwartet gut überlegt, was Fritz zu tun hatte: Als Conall und Micha sich ineinander verkeilten wie zwei Hirschgeweihe, beschränkten die Wände des Baulochs ihre Bewegungen so sehr, dass Fritz einigermaßen koordiniert auf den gebeugten, breiten Rücken des bulligen irischen Vampirs aufsteigen und sich von dort aus kräftig abstoßen konnte. Mit aller Kraft griff er mitten in die Lehmbrocken, aus denen die Wände bestanden. Es ging! Sie hielten ihn! Fritz keuchte. Hochziehen! Seine Muskeln zitterten unter seinem Gewicht. Seine Füße fanden Halt. Noch einen Meter kämpfte er sich empor. Nur noch ein kleines Stückchen! Abstoßen, mit beiden Füßen, und dann – !

Nur knapp bekam er den mit wenig Gras bewachsenen Rand zu packen und krallte sich daran fest, als hinge sein Leben davon ab. Was bei näherer Überlegung wohl auch der Fall war. Strampelnd schaffte er es, sich aus der Grube zu ziehen, während Conall und Micha immer noch miteinander rangen. Fritz hörte ihr angestrengtes Keuchen, unterdrückte Wut- und Schmerzschreie. Das natürliche Ende dieses Kampfes war abzusehen und würde nicht lange auf sich warten lassen, so viel war ihm klar. Was sollte er jetzt tun? Die Leitbake taugte nicht langfristig als Waffe. Sobald Conall Raum gewann, würde er Micha in der Faust zerquetschen wie ein lästiges Insekt. Alter hin und her – es war Conall, der gerade mehr Energie hatte.

Fritz sammelte seine Gliedmaßen zusammen und reckte den Kopf. Über ihm pfiff der Wind. Lichter beschienen Fritz und eine Stille senkte sich über ihn herab, welche die Kampfgeräusche, die aus dem tiefen Loch heraufdrangen, nebensächlich wirken ließ. Da war die Straße, auf der kein Auto fuhr, links und rechts von ihr in schummriger Düsternis liegende Häuser. In der Ferne kläffte ein Hund.

Ich darf mich nicht ablenken lassen, ich hab keine Zeit zu verlieren!, dachte Fritz verbissen. Ich muss – !

»A Fhiail!«, durchzuckte jäh ein hoher Ruf die Nachtluft. »Keine Angst! Beidh mé ag cabhrú leat láithreach bonn!« Was auch immer Ríona gerade gebrüllt hatte: Es klang ungemein erleichternd. Instinktiv wusste Fritz, dass die Vampirin dabei war, zu seiner Hilfe zu eilen. Wie ein geölter Blitz kam sie angehuscht, die Zähne ausgefahren. Bei Fritz angekommen, hielt sie jedoch nicht an – sondern sprang geradewegs an ihm vorbei in die Baugrube.

Von allen Beteiligten kam ein überraschter Aufschrei, der simultan in einem Laut des Entsetzens endete; keiner der beiden Kontrahenten wusste zunächst, auf wessen Seite die neue Spielerin war. Fritz starrte hinunter ins Dunkel, sah die schattenhaften Bewegungen. Dann, nur Sekunden später, kam Micha aus dem Loch gestürzt. Er blutete – wieder einmal. Seine Hand umklammerte Entendickis speckiges linkes Handgelenk, das rechte hielt Ríona, die auf dem Fuße folgte. Kurzzeitig fragte sich Fritz, weshalb sie die Fiacail-Fhola-Sympathisantin wohl retten wollten – wie unter Blutfessel hatte sie eindeutig nicht gewirkt –, dann wurde ihm klar, was wirklich der Sinn dieser vermeintlichen Hilfsaktion war: Direkt neben dem Loch warf Micha die benebelte Frau auf die Seite und biss sie in den Hals, um hungrig ihr Blut zu trinken.

Fritz zuckte zusammen und wandte sich ab, die Augen zusammenkneifend und beide Hände auf die Ohren pressend, um die leisen, aber dennoch schauerlichen Geräusche der vampirischen Nahrungsaufnahme von sich abzuschirmen. Dieses Festsaugen und Schlürfen, es bereitete ihm stets aufs Neue eine Gänsehaut. Ríona, das hatte er gerade noch gesehen, saß ruhig neben dem Bauzaun und sah Micha ungerührt bei seiner Mahlzeit zu.

Minutenlang blendete Fritz alles aus; er befürchtete, dass Micha an Entendicki genauso lange herumnuckeln würde wie an ihm. Im Nachhinein konnte Fritz sich gar nicht mehr erklären, wie er das hatte zulassen können – sediert und mit glasigem Blick am Boden zu liegen, während lange Zähne seine Halsvene offenhielten, damit möglichst viel Blut herausfloss, das eine kalte Zunge und noch kältere Lippen aufschlürfen konnten. Es war das Ausgeliefertsein an ein parasitäres Monster, das vom Leben anderer zehrte – das musste man sich immer wieder vor Augen führen. Vampirismus war etwas hochgradig Widerliches.

Irgendwann tastete sich eine schlanke Hand seine Schulter hinauf und streichelte ihn dort zögerlich und beinahe versöhnlich. Ein Auge öffnend erkannte er Ríonas mitleidiges Gesicht dicht neben seinem eigenen. »Ich war auch mal ein Mensch«, sagte sie, als wäre das ein Trost, und knetete weiter seinen Oberarm. »Ich musste mich auch erst an Blut gewöhnen. Es ist lange her, fadó, fadó … Aber man vergisst das Menschsein nie ganz.« Fritz wusste, dass ihn die Worte beruhigen und befrieden sollten.

Kurz danach gab Micha auf. »Zu anstrengend«, keuchte er, »und zu wenig Zeit. Immerhin … ’n bisschen.« Er leckte die Bisswunde und erhob sich auf die Füße, gleichwohl sicherer und kräftiger als zuvor. Sein Blick fiel auf Ríona, die mit großen Augen zu ihm aufsah. »Sach ma … Wer bist ’n du eigentlich?«

»Eine Bekannte von Fial!«, antwortete die Vampirin stolz. »Und du bist sein Besitzer.«

Micha korrigierte diesen Irrtum nicht. Im Gegenteil. »Schon«, bestätigte er und deutete ein Lächeln an; seine Zähne und Lippen waren rot vom Blut. »Also, wickel ihn nicht so um den Finger. Ich teile keine Beute, verstehst du?« Mit dem Finger zeigte er vielsagend auf Fritz’ Hals. Als er daraufhin Fritz’ entsetztem Blick begegnete, begann er plötzlich laut zu lachen. »Ahaha! Weißt du, Fritz war mal voll der Schisser … und ich hab mal versprochen, ihn nicht zu lochen … und guck ihn dir jetzt an … was der in der kurzen Zeit alles mitmachen musste! Mit Vampiren um sein Leben kämpfen, unter der Erde gefangen gehalten werden, gebissen werden, schwer verletzt werden, abgeleckt werden … Er ist noch keinen Monat bei uns und schon ist er ’n Vampirveteran!« Er lachte noch lauter und stützte sich auf den Knien ab. »Geil, ey … nur geil!«

»Find ich nicht witzig«, knurrte Fritz und rieb sich unbehaglich über die Einstichlöcher. Ihm war klar gewesen, dass er seine Heldentat noch bedauern würde. Aber das war eine Ausnahme gewesen – ein zweites Mal würde er sicherlich keinen Vampir an sich heranlassen!

Micha beruhigte sich und streckte Fritz eine Hand hin. »Na komm, du Held. Zeig uns den Weg, bevor diese Nervensägen wieder zu sich kommen. Wir schaffen es bis zum HQ, Fritz, und zwar vor Sonnenaufgang … was wir auch müssen, denn ich hatte jetzt schon ’ne Weile kein Azathioprin. Und guck dir den sternenklaren Himmel an. Morgen scheint die Sonne, jede Wette.«

Fritz rappelte sich hoch, orientierte sich und fragte sich wieder einmal, warum er dies alles tat; dann setzte er sich zielstrebig in Bewegung.
 

Yellow Pfeiffer ertappte sich dabei, angesichts des herrschenden Schweigens und nur auf die leisen Motorengeräusche aus dem Headset lauschend etwas eingenickt zu sein. Er schreckte hoch, als sich Schritte auf der Treppe in den Keller näherten. Die Uhr sagte ihm, dass es schon kurz vor sechs war. Heilige Scheiße, wie schnell die Nacht vergangen war!

Still wartete er, ob der Lärm sich weiterhin nähern würde – und das tat er. Keine halbe Minute später streckten seine Bandkollegen Marco und Sebastian gleichzeitig die Köpfe zur Tür herein.

»Wir sind wieder da«, raunte Sebastian. »Boris, jeh schlafen. Wir wecken den Rest und machen die Mitteilungen.«

»Geh selber schlafen«, gab Boris zurück und rieb sich die Augen. Inzwischen hatte er es aufgegeben, seine Müdigkeit verbergen zu wollen. »Ist Frau Schmitt auch da?«

»Ja, aber der Rea ist wieder abjezischt. Immerhin können wir jetzt Fírinne holen. Ick hoffe, Frais wartet noch ’n bisschen mit dem Großansturm.«

»Würde ich mich nicht drauf verlassen.« Pfeiffer fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, jetzt, wo alles wieder völlig ungewiss war, ins Bett zu gehen – doch er brauchte Schlaf, sonst würde er zu nichts zu gebrauchen sein. Dasselbe galt für seine beiden Kollegen. Die Aktion, um Micha und Eric in Fiacail Fholas Versteck zumindest aufzuspüren, war fehlgeschlagen; zwar hatten sie neue Informationen gewonnen, allerdings nur durchweg beunruhigende, und schlimmer noch, sie hatten einen weiteren Mann verloren, von dem sie nicht wussten, ob er noch lebte. Fritz könnte tot sein oder auf Frais’ Folterbank liegen – eins von beidem war sehr wahrscheinlich. Und wenn Micha wirklich verhungert war – was Boris nicht glauben wollte –, dann trennte vielleicht auch Eric nicht mehr viel vom Tod und Frau Schmitt waren nur weitere verwirrende Fehlinformationen eingepflanzt worden. Wie auch immer es um die drei Vermissten stand: Dass Fiacail Fhola schon wieder ein neues Versteck bezogen und zudem einen Angriff auf das MIU-HQ planten, bedeutete eine ganze Flut neuer Herausforderungen. »Ich gehe Elsi wecken, der soll übernehmen«, murmelte er.

»Nee, dit mach ick, du jehst pennen, wir kommen auch gleich dazu. Wenn wir Glück haben, haben die anderen schon ’nen tollen Plan ausjearbeitet, wenn wir in ’n paar Stunden uffwachen.«
 

Ríona begleitete ihr langsames Vorankommen bis zum Morgengrauen. Fritz hatte völlig unterschätzt, wie quälend lange der Weg durch Dresden dauern würde; bisher hatte er sich nur bei guter körperlicher Verfassung durch die sächsische Stadt bewegt.

»Ihr werdet es schaffen, a Fhiail, es ist ganz nah. Aber ich muss gehen, weil bald die Wolken aufbrechen werden. Tabhair aire dhuit féin! Slán go fóill!« Die rothaarige Vampirin verschwand lautlos in einer Seitengasse, ehe Fritz ihr ein paar Worte des Dankes zunuscheln konnte. Seltsam, dass sie für ihre Hilfe nichts von ihm verlangt hatte. Er vermutete, dass sie das nachholen würde, sobald es ihm wieder besser ging. Falls sie allerdings Blut wollte … Nun …

Schweigend schleppten sie sich zu zweit weiter. Am schlimmsten war der weite Umweg über die Albertbrücke, denn die Elbe trennte sie von ihrem Ziel. Fritz hinkte; die tiefe Fleischwunde fühlte sich inzwischen an, als rissen die Widerhaken erneut darin herum. Bei jedem Schritt glühte der Schmerz auf wie Nadelstiche, und diese Nadeln schienen ständig größer zu werden und tiefer einzudringen.

Durchhalten, sagte Fritz sich einmal mehr.

Tapfer schluckte er jedes Wehklagen hinunter. Micha beklagte sich schließlich auch nicht. Bei ihm wusste Fritz nicht, ob er neben der Kälte, die ihn fast zu lähmen schien, auch Schmerzen hatte. Fakt war jedenfalls, dass all die Anstrengung sie beide an den Rand der totalen Erschöpfung getrieben hatte. Vor Fritz’ Augen tanzten pulsierende, flackernde Lichtblitze, und sein Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Er wollte schlafen … nur noch schlafen.

Der Tag war bereits angebrochen, als sie taumelnd in die Fiedlerstraße abbogen. Noch hielt eine dicke Wolkenschicht die Sonnenstrahlen ab, doch am Horizont kündigte sich bereits eine deutliche Aufklarung an. Rund um das Klinikgelände waren längst Menschen unterwegs und warfen den sich mühsam vorankämpfenden Männern fragende Blicke zu. Geht’s den beiden wohl gut?, sagten diese Blicke, dieses Stirnrunzeln. Die kippen ja gleich um … Sollte man vielleicht einen Arzt holen? Doch die meisten schienen zu wissen, dass das Krankenhaus ganz in der Nähe war und sich sicher schon bald andere Leute um die beiden Verwundeten kümmern würden. Fritz ignorierte das Starren, setzte nur wie betäubt einen Schritt vor den anderen und hoffte, nicht im nächsten Moment mitten auf dem Bürgersteig zusammenzubrechen. Obwohl, schoss es ihm kurz durch den Kopf, eine schnelle Lösung wäre das schon; die Klinik war um die Ecke, man würde sie schnell dorthin bringen können … Allerdings wäre das unfair gegenüber Micha. Wenn nicht zufällig ein eingeweihter Arzt erkannte, was ihm fehlte, würden sie ihn nur auf eine Art behandeln, die ihm nicht half, sondern ihn womöglich noch weiter schwächte.

Durchhalten!, dachte Fritz zum wiederholten Male. Wie oft hatte er dieses Wort jetzt schon im Geiste wiederholt? Es war wie zu einem Mantra geworden, hielt sich tapfer an der Oberfläche seines langsam schwindenden Bewusstseins.

Das Herz sprang ihm fast schmerzhaft gegen die Rippen, als der Haupteingang in Sicht geriet. Jetzt war es nicht mehr weit! Schneller! Er musste schneller gehen!

Die Leute auf der Straße verstummten, als er zielstrebiger zu humpeln begann. Die verglaste Flügeltür der Carl-Gustav-Carus-Klinik erschien ihm jetzt wie die goldene Pforte zum Paradies.

Da rein!

Nur noch ein kurzer Weg, dann wäre es geschafft! Fünfzig Meter … neunundvierzig Meter …!

Auf einmal jedoch gab Micha ein leises gepeinigtes Stöhnen von sich, verließ den Bürgersteig und versuchte hastig, in den Schatten des Klinikgebäudes zu gelangen. Fritz sah, warum: Über ihnen glitt die Wolkendecke beiseite. Eine Flut aus Licht schwappte heran.

Oh, Scheiße!! Warum jetzt?, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen. Es ist doch nur noch ein kurzes Stück!!

Micha schaffte es nur knapp, sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Er schleppte sich hinter die Hausecke, wo der Schatten auf ihn fiel und wo er außerdem außer Sicht der Passanten war, als die Sonne über Dresden aufging. Dort, wo er ankam, brach er einfach zusammen und blieb liegen.

Fritz wandte sich von ihm ab und setzte seinen Weg fort. Er musste das letzte Stück allein bewältigen, um Hilfe zu holen. Seine Stirn pochte, die Stufen waren eine endlose Mühsal und die durchsichtigen Türen, die sich glücklicherweise von selbst öffneten, als er auf den daneben angebrachten Metallknopf drückte, verschwammen in Graustufen vor seinen Augen. Drinnen kam man ihm sofort entgegen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erklang eine sanfte, weibliche Stimme, und zwei Arme stützten ihn. »Kommen Sie mal mit. Ist gar nicht mehr weit. Haben Sie Ihre Krankenkassenkarte dabei? Sagen Sie uns einfach, wo – …«

»Nnnein, nnnein«, unterbrach Fritz anstrengt den fürsorglichen Redefluss. »Ich muss in den Keller … in das Versteck …«

»Na, das sehe ich aber nicht so. Sie scheinen ziemlich viel Blut verloren zu haben. Wie ist das mit Ihrem Bein passiert?«

»Muss … runter!«, insistierte Fritz und wehrte sich gegen die drängenden Arme, die ihn zur Notaufnahme bugsieren wollten.

»Aber hören Sie doch, Ihr Bein muss versorgt werden! Einigen wir uns darauf, dass Sie uns sagen, wen wir für Sie holen sollen, und wir machen es, okay? Aber jetzt kommen Sie erst mal mit.«

»MIU!«, schnaufte Fritz. »Holen Sie einen von der MIU … Irgendeinen!« Er hatte keine Ahnung, ob die Frau wusste, wovon er sprach; er wusste es fast selbst nicht, so sehr purzelten seine Gedanken inzwischen durcheinander. Er hatte MIU gesagt, oder? War das gut? Wussten die, was er meinte, oder war hier keiner eingeweiht? War da was mit Geheimhaltung gewesen? Er konnte sich kaum noch gerade halten. Am Arm der Frau taumelte er wie eine schlaffe Marionette.

Einen Moment später hörte er, wie die Ärztin – oder Schwester, oder wer auch immer ihn stützte – im Vorbeigehen einem weißgekleideten Mann etwas zuflüsterte, der daraufhin nickte und sich in Bewegung setzte. Kurz wurde Fritz von Angst durchzuckt. Über den Peilsender hatte Boris berichtet, Eff Eff hätten das Klinikpersonal unterwandert, um Alea erneut zu kidnappen. Was, wenn sie jetzt, da er die MIU erwähnt hatte … und sie wussten ja, wo sie sich versteckten …

Derartige Überlegungen gaben ihm den Rest. Dunkelheit waberte über ihn herein. Er hörte noch, wie seine weibliche Stütze an seinem schlaffen Gewicht verzweifelte und energisch Hilfe herbeizitierte; dann wurde alles sehr, seeeehr verwaschen, und Gedanken wie Geräusche drifteten in eine warme und weiche Dunkelheit davon …
 

Als Fritz wieder zu sich kam, lag er in einem Bett. Sein Bein pochte; es fühlte sich an, als läge es in Watte. Eine vorsichtige, prüfende Bewegung bestätigte den Verdacht, dass es dick verbunden war. Gott sei Dank, dachte Fritz erleichtert, ich habe die ganze Behandlung verpennt! Puuuh!

Er sah sich in dem Zimmer um; rechts neben ihm stand ein weiteres Bett, jedoch leer. Von der anderen Seite kam Licht. Als Fritz den Kopf dorthin drehte, sah er im Vordergrund des Fensters Falk sitzen und ihn kritisch ansehen.

»Na, du siehst ja noch ein bisschen schlapp aus. Fühlst du dich besser?«

Fritz schluckte; seine Kehle war ganz trocken, rau wie Sandpapier. Die Kopfschmerzen waren auch nicht besser. Schaudernd bemerkte er eine Kanüle in seinem Handrücken, über welche eine klare Flüssigkeit aus einem Infusionsbeutel in seine Blutbahn tropfte. »Oh, mein Gott«, murmelte er. »Ich muss hier weg.«

»Darfst du. Ich kann dich mitnehmen, wenn der Tropf durch ist.« Falk zeigte auf den fast leeren Beutel. »Das ist eine Flüssigkeitssubstitution, weil du viel Blut verloren hast.«

»So viel war es gar nicht.« Oder doch? Fritz versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber es tat weh. Hinter seiner Stirn schienen schwere, knirschende Räder zu arbeiten. Am Körper, das erkannte er jetzt, trug er nicht mehr seine Kleidung, sondern eines dieser albernen Krankenhausnachthemden. »Wo … Wo sind meine Sachen?«

»Unten. Alles da. Wir haben schon einen Ausruh-Platz für dich vorbereitet, Bock hat schöne, flauschige Kissen aus dem Lager zusammengeklaut.« Falk lächelte ihn an, doch das Lächeln verschwand fast sofort wieder und wich erneut einer ernsten Miene. »Du musst uns erzählen, was du im Eff-Eff-Versteck gesehen hast und wie du da rausgekommen bist. Das grenzt an ein Wunder, wenn man Ingo und dem Rest des Teams glauben darf.«

»Ich …«, murmelte Fritz und massierte sich die Schläfen. »Ich, jaah, ich …« Und dann durchzuckte ihn plötzlich die Erinnerung. Ruckartig fuhr er im Bett auf. »Micha! Falk, schnell, ihr müsst Micha holen! Die Sonne wandert!«

Falk starrte ihn verblüfft an. »Micha ist auch da? Ganz sicher?«

»Ja, ja!«, versicherte Fritz und beschrieb genau, wo Micha zurückgeblieben war. Die Detailliertheit seiner Ausführungen schien Falk zu überzeugen.

»Okay, Fritz. Ich sage jetzt der Schwester bescheid, dass ich dich mit runter nehme, und bringe dich zu Bock. Dann holen wir Micha.«
 

Bock warf nur einen ganz kurzen Blick auf den Verband um Fritz’ Bein. »Dem habe ich nichts hinzuzufügen«, sagte er, »also runter mit dir vom Tisch, damit der nächste drauf kann. Guck mal – du kannst hier bleiben.« Und er wies auf den hinteren, bisher ungenutzten Teil des schmucklosen Behandlungsraumes direkt neben dem Heizkörper, wo merklich liebevoll ein Bett bereitet worden war, das der Arzt auch beim Versorgen eines anderen Patienten ständig im Auge behalten konnte. »Eine echt praktische Sache, wir hätten schon früher darauf kommen sollen, so eine kleine … Station anzulegen. Falk?«

Der Angesprochene hob Fritz vom Tisch und trug ihn die zwei Schritte zum Krankenlager.

»Jetzt holt Micha!«, drängte Fritz, als er die Decke über sich zog. »Er ist kalt, und die Sonne …!« Sich hektisch umsehend bemerkte er Lasterbalk, der gerade den Bockshof betrat und dafür, wie immer, den Kopf einziehen musste.

»Ist ja gut, Fritz, wir können net zaubern«, sagte er und wechselte einen Blick mit seinem Kollegen. »Außerdem brauchen wir was zum Drüberlegen.«

»Stimmt.« Falk wandte sich an Bock. »Hast du irgendwas da?«

»Natürlich!«, bejahte der Arzt, der bereits den Kopf in einen der wenigen großen Schränke zur rechten Wand steckte. »Nierenschalen, Abdecktücher … Ah!« Mit beiden Händen zerrte er eine leicht staubige graue Decke aus dem untersten Fach. »Die sollte zuverlässig abdunkeln.«

»Dann sind wir jetzt kurz weg. Bis gleich.« Falk nahm die Decke entgegen und verließ mit seinem Vampirkollegen im Schlepptau das Zimmer.
 

»Schnuckeliges Wetter«, kommentierte Lasterbalk, als sie auf das sonnenüberflutete Außengelände hinaustraten.

»Jaah, allerdings. Ich hoffe, es bleibt so. Dann kann uns Frais nicht angreifen.«

»Der wird nachts kommen. Wenn schön alle schlafen und nur wenige Leute Nachtdienst haben. Ich seh’s kommen.«

An der von Fritz beschriebenen Stelle warf die Sonne noch immer einen schrägen, schmalen Schlagschatten neben die Hauswand. Die beiden Männer sahen sich kurz um und vergewisserten sich, dass niemand sie beobachtete; dann huschten sie hinter das Gebäude und fanden dort Michael zusammengekauert liegen. Er war fahlblass, sein Haar blutverschmiert, und er öffnete nur matt ein Auge, als er die bekannten Stimmen hörte.

»Er sieht furchtbar aus«, murmelte Lasterbalk. »So in etwa hab ich mir des vorgestellt.«

»Alles in Ordnung, Micha, du bist in Sicherheit«, sagte ihm Falk und breitete vorsichtig die Decke über seinem Körper aus.

»Er hat keine Schuhe an«, stellte Lasterbalk fest. »Ich ahne, wo die zwei rausgekommen sind.«

Zu zweit hoben sie den Sänger mitsamt der Decke, die ihn vor der Sonne schützte, auf und trugen ihn zügig Richtung Haupteingang. Natürlich gafften die Leute. Was tragen die da? Eine Leiche? Ein totes Tier? Oder lebt das noch? Ist das ein Mensch? Einige Schaulustige folgten ihnen sogar bis zur automatischen Tür.

Falk, der Michas Oberkörper hielt und voranging, tat so, als bemerkte er die Starrerei nicht. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet, sodass er Lasterbalk dirigieren konnte, der aufpassen musste, mit Michas Beinen nirgends anzuecken. Einen Knochenbruch brauchte der arme Mann nicht auch noch.

»Vorsicht, Stufe«, brummte Falk, dann tauchten sie wieder in den Schatten des Klinikgebäudes, und mit dem selbstständigen Schließen der Tür verstummte auch das aufgeregte Tuscheln der Menschen, die draußen zurückblieben.
 

Als Falk und Lasterbalk zurückkamen, hatte Fritz gerade Bock, Asp und Klaus-Peter Schievenhöfel erzählt, was passiert war. Kaum jedoch hatten die beiden Vampire mit dem halb bewusstlosen Micha auf den Armen den Raum betreten, scheuchte der Arzt alle Gesunden augenblicklich hinaus.

»Hier, legt ihn auf den Tisch!« ordnete er sogleich an. »Ja, genau. Falk, nimm mal die Decke … Danke. Okay, Schätzchen, lass dich mal ansehen …«

Micha schien immerhin zu wissen, wo er war. Besser ging es ihm dadurch aber nicht; er wand sich auf dem Tisch und würgte trocken, seine Finger krallten sich in den Kunstlederbezug des Polsters. Energisch drehte Bock ihn wieder auf den Rücken.

»Falk, Balki, haltet ihn mal fest. Ich kann so nichts abtasten.«

Die beiden gesunden Vampire leisteten sofort Gehorsam. Falk fixierte Michas verkrampfte Arme, Lasterbalk ergriff seine Fußgelenke. Micha stöhnte.

Erst vorsichtig, dann etwas beherzter drückte Bock Finger und Handballen in den weichen Bauch des Vampirs. »Hm. Der Magen ist jedenfalls leer.«

»Er hat vor ein paar Stunden Blut getrunken«, erklärte Fritz, »und nicht wenig, wie ich finde.«

»Mag sein, aber Aushungerung ist nicht so schnell reversibel. Er hat einen stark erhöhten Energiebedarf, weil sein Körper enorme Regenerationsarbeit leisten muss. Wir sagen nicht umsonst ›Fünf Tage runter, fünf Tage rauf‹ … So lange, wie ein Vampir gehungert hat, muss er auch deutlich mehr essen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

»Oh.« Fritz verstand endlich; allerdings war diese Erkenntnis nicht gerade ermutigend. »Also wird Micha noch fünf Tage krank sein?«

»Nein, das wohl nicht«, beruhigte ihn der Arzt, »wir können die Rekonvaleszenz natürlich unterstützen, also wird es schon etwas schneller gehen. Ich kümmere mich darum.« Er nickte Falk und Lasterbalk zu. »Ihr könnt euch jetzt trollen. Aber bleibt in Bereitschaft, vielleicht brauche ich euch gleich noch mal.«

»Ruf dann einfach«, erwiderte Lasterbalk, und damit gingen die beiden hinaus.

Bock wandte sich dem Brutschrank zu, den er so sehr schätzte und dessen Digitalanzeige über der Tür 37°C anzeigte, und nahm eine Schüssel heraus, in welcher er mit einem Schneebesen zu rühren begann.

Fritz glaubte, die Schüssel wiederzuerkennen, und verzog das Gesicht. »Du willst ihn mit Buck-Up füttern?«

»Wenn du keine bessere Idee hast, ja.«

»Mit wasss?«, nuschelte Micha und blinzelte kraftlos.

Bock rührte weiter, während er wieder an den Tisch trat. »Ersatzvampirnahrung, die ich selber zusammengemischt habe. Die Vampire nennen sie Bockmist und denken, ich merke das nicht. Ich gebe zu, geschmacklich gibt es noch einiges zu verbessern, aber ich hab in den letzten Tagen intensiv daran gearbeitet. Seitdem ich Fructose – ha! – zugefügt habe, wird es ganz gut angenommen. Zumal wir jetzt kein Blut mehr haben. Keinen Tropfen.«

Micha murrte ein bisschen über diese Mitteilung, aber als Bock ihm einen Becher der körperwarmen, hellrötlichen Flüssigkeit anbot, nahm er ihn sofort und trank gierig. Fritz beobachtete, dass er deutlich mehr als die normale Tagesmenge von einem halben Liter schluckte. Erst, als er satt war, begann der Arzt, ihn genauer zu untersuchen. Am Handgelenk den Puls fühlend, stellte er fest: »Na, der galoppiert ja ordentlich. Ein gutes Zeichen.« Die gemessene Temperatur hingegen entlockte ihm nur eine schiefe Grimasse und Stirnrunzeln. »Das freut mich weniger. Da müssen wir nachhelfen. Ist es in Ordnung, wenn ich dir eine warme Infusion gebe? Das hilft schnell.«

»Och, nee«, stöhnte Micha, »bei so viel Wasser muss ich nur dauernd pissen … Ich will einfach … ’ne Wärmflasche … oder so.«

»Hmmm.« Bock überlegte. »Ich weiß was Besseres.« Er öffnete die Tür und hielt den Kopf in den Korridor. »Falk! Ich brauche dich doch noch mal!«

»Jaah?«, kam die Antwort ganz aus der Nähe.

»Bitte greif dir einen der Aufsichtsärzte. Ich brauche eine Wärmelampe!«

»Wärmelampe? Na, wenn du die angeschlossen kriegst … Gut, ich sehe mal, was wir kriegen können. Einen Moment.«

Kaum zehn Minuten später brachte ihnen der Saltatio-Mortis-Musiker tatsächlich einen Rotlichtstrahler zum Aufhängen, wie Fritz ihn bisher nur in Fernsehreportagen über Aufzuchtstationen gesehen hatte.

»Das Kabel ist ziemlich kurz«, befand Falk, als er es mit wenigen Handgriffen entheddert hatte. »Langt nicht bis zur Steckdose.«

»Im Schrank sind Verlängerungskabel!«, strahlte Bock. »Man hat uns nicht ganz im Stich gelassen, wie man sieht. So, steck’s mal rein.«

Die Lampe sprang an. Dem intensiven roten Licht ausgesetzt, kniff Micha die Augen zusammen. »Scheiße, das ist viel zu hell …«

»Das bleibt nicht lange an«, versicherte ihm der Arzt. »Mach es dir einfach so bequem wie möglich.« Dann wandte er sich wieder Fritz zu. »Na, wie fühlst du dich jetzt?«

Fritz horchte in sich hinein. »Immer noch irgendwie schwindelig. Kopfschmerzen … müde. Ist das immer noch das Vampirgift?«

»Nein, das ist der Blutverlust. Du leidest unter Volumen- und Eisenmangel. Als Micha dich gebissen hat, war er kurz vor dem Verhungern. Er hat mehr als einen halben Liter getrunken, vielleicht fast einen ganzen. Sei ihm nicht böse.«

»Bin ich nicht«, erwiderte Fritz großzügig.

»Du kriegst Eisentabletten und Vitamine zum Einnehmen. Davon haben wir immer was vorrätig. Bald geht’s dir besser.«

Fritz nickte und rang sich ein Lächeln ab. Dann wanderten ihre Blicke wieder zu Micha. Der Vampir lag ruhig; er war, sobald er die Augen zugemacht hatte, unter dem Rotlicht erschöpft eingeschlafen. »Sieh an … Jetzt pennt der einfach.«

»Er hat es wohl bitter nötig«, folgerte Bock. »Ihr habt da draußen einiges mitgemacht, wie mir scheint.«

»Du machst dir ja keine Vorstellungen.« Fritz’ Zunge war noch immer trocken und ihn überkam Übelkeit, wenn er an das zurückdachte, was ihm auf der Flucht durch das unterirdische Versteck widerfahren war. Niemals wollte er wieder etwas Derartiges erleben. Dass er und Micha überhaupt entkommen waren, erschien ihm im Nachhinein wie ein Wunder. Sie hatten so unverschämtes Glück gehabt … »Micha, wir sollten den anderen erzählen, was passiert ist. Du kannst später schlafen. Hast du gehört? He, Micha!« Der Vampir beachtete ihn nicht, sondern reckte nur ein wenig das Kinn hoch, damit das wärmende Licht seinen Hals besser bescheinen konnte. »Micha!«, versuchte Fritz es in strengerem Ton.

Bock brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Lass ihn, Fritz. Die Berichterstattung kann warten. Er soll ruhig unter der Lampe schlafen, wenn er das mag, die Wärme tut ihm gut. Ich denke, ich gehe jetzt mal zu den anderen und höre mir an, was die jüngste Besprechung ergeben hat. Du solltest auch ein bisschen schlafen.«

»Schlafen«, wiederholte Fritz irritiert. »Nach all der Aufregung soll ich wirklich schlafen?« Ruhe? Wirklich, endlich Ruhe? Das war irgendwie fast zu schön, um wahr zu sein. »Und Micha lassen wir da einfach liegen?«

»Ja, das schadet ihm nicht. Vampire haben eine Vorliebe für Wärme. Wenn sie aushungern, sinkt ihre Körpertemperatur, wir nennen das …«

Fritz unterbrach ihn murmelnd: »Kalt werden.« Ihn schauderte, als er an die eisige Berührung des Bisses zurückdachte. Kalte Finger, die seinen Kopf packten, kalte Zähne, die in seinen Hals fuhren … Alles so verdammt kalt! Kein Wunder, dass Vampire in Geschichten immer eiskalte Haut hatten. All diese sagenumwobenen Berichte beruhten auf Begegnungen mit sehr, sehr hungrigen Vampiren. Vor Hunger kalt geworden, hatten sie vermutlich sämtliche Sicherheitsgewohnheiten abgelegt, hatten bezirzt, verführt, bedroht und gejagt, um sich endlich, endlich zu nähren. Um der Kälte zu entkommen, die normalerweise ganz und gar nicht Teil ihres Körpers war …

Bock indes nickte. »Ja. Kalt werden. Dank Azathioprin habe ich herausgefunden, dass die meisten Vampire es genießen, in der prallen Sonne zu liegen. Sie empfinden die Wärme als angenehm. Viele mögen es auch, in der Sonne zu schlafen, was ja ihrem Nacht-Wach-Rhythmus entsprechen würde … aber ihre Allergie gegen UV-Strahlung hält sie davon ab. Das muss ein Fehler der Natur sein, Fritz … Das ergibt einfach keinen Sinn.« Er zuckte die Schultern; dann wandte er sich der Tür zu. »Also, wir sind um die Ecke. Wenn was ist, einfach rufen. Ruht euch schön aus, ihr zwei.« Dann ging der Arzt zusammen mit Falk leise hinaus und überließ seine Patienten der Stille.

Fritz brauchte einige Zeit, ehe er sich entspannen konnte. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem Vampir, der auf dem Behandlungstisch und halb unter der grauen Decke friedlich schlummerte. Es musste viele Tage her sein, dass Micha ohne Angst und Schmerzen und vor allem satt hatte schlafen dürfen. Mit innerlichem Seufzen musste Fritz sich eingestehen: Er hatte Micha unterschätzt. Und zwar gewaltig.

Aber nicht nur ihn. Auch sich selbst. Was er jüngst durchgestanden hatte, hätte er sich in seinem früheren feigen Agentenleben niemals zugetraut. Nur die sichersten, harmlosesten Einsätze waren seine gewesen. Eine Geiselnahme? Undenkbar! Folter? Wunden? Wilde Fluchten? Nicht mal in seinen kühnsten Alpträumen!

Und trotzdem war er wieder hier. Wieder in Sicherheit. Nicht gesund und auch nicht munter, zugegeben, aber er hatte überlebt, war aus den Fängen des Feindes geflohen und hatte – ja! – so nebenbei seinen Partner gerettet. Das war ohne Zweifel mutig gewesen. Fritz hatte Tapferkeit bewiesen. Er war kein Feigling.

Jedenfalls nicht mehr so wie früher.

Micha regte sich im Schlaf. Kurz zuckten seine Lippen, als wollte er zum Drohen die Zähne entblößen. Dann jedoch atmete er tief und entspannte sich wieder.

Fritz kuschelte sich samt seiner dicken Decke an die warme Heizung und beobachtete den Vampir, während ihm langsam ebenfalls die Augen zufielen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Beidh mé ag cabhrú leat láithreach bonn. = Ich werde dir sofort helfen!

Tabhair aire dhuit féin! = Pass auf dich auf!

Slán go fóill! = Auf wiedersehen! Komplett anzeigen

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