Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 30: Feuer frei! ----------------------- »Ach, Scheiße«, knurrte Micha, als er sah, wohin seine Sinne sie geführt hatten. »Das ist nicht die Elbe.« Fritz sah ihm über die Schulter. Vor ihnen tat sich wie eine Querstraße ein träge fließender Kanal auf, ebenso überdacht wie der Rest des Tunnels, und verschwand zu beiden Seiten in die Dunkelheit. Keine Lampen leuchteten über dem Wasser, keine Balustrade führte daran entlang. Es war ein unterirdischer Wasserlauf, der die Haushalte über dem Erdboden speiste. »Naja, das ist ein Teil der Elbe.« »Am Arsch.« Micha wischte sich über die Nase und wandte sich ab. »Schicht im Schacht, ich hab keinen Plan B. Hier kommen wir nie lebend raus.« So etwas wollte Fritz nicht hören. Er starrte auf das dunkle Wasser, das in den finsteren, röhrenartigen Katakomben zu beiden Seiten langsam vor sich hin floss. »Meinst du, wir sollten dem Kanal folgen? Vielleicht mündet er irgendwo in einen überirdischen Wasserlauf.« »Folgen? Du meinst mitschwimmen?« Micha lachte freudlos. »Jaja … Guck dir das mal an, da sind keine Geländer, nur glatte, schleimige Steinwände, und du weißt nicht, wie tief das ist. Vielleicht führt das nur in irgendein Speichersystem, wo man dann gar nicht mehr rauskommt. Vergiss es, da ersaufen wir nur.« »Du kannst nicht ersaufen«, erinnerte ihn Fritz. »Aber du kannst, Klugscheißer. Und ich kann sehr wohl bis ans Ende aller Tage gefreezt in irgendeinem Wasserloch unter der Erde rumschwimmen. Nee, danke.« Micha kehrte dem Wasser den Rücken und ging. Nach einigem Zögern holte Fritz ihn ein. Er war nicht bereit aufzugeben. »Gut, wir sind jetzt die ganze Zeit dem Geruch von Wasser gefolgt – richtig? Dann suchen wir uns doch einfach eine andere Spur. Wonach riecht es hier noch?« »Bestien«, murmelte Micha übellaunig. Und dann blieb er unerwartet stehen. Fritz wäre beinahe gegen ihn gelaufen. »Moment mal … Das ist eigentlich überhaupt der Plan …« Er kreuzte die Arme vor der Brust, fast so brüsk wie Eric Fish, und starrte zur erdigen Decke auf. »Die Bestien kennen doch ihre Anfluglöcher. Die arbeiten von verschiedenen Ausgängen aus, schleusen Menschen raus und rein … Wir müssen nur gucken, wo sie oft langgegangen sind.« »Ich dachte, diese Fakten hättest du die ganze Zeit schon berücksichtigt«, ließ Fritz etwas enttäuscht verlauten. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich in Krisensituationen nicht gerade einfallsreich bin … und ich bin immer noch nicht so warm, dass ich lange laufen könnte, ohne mich an der Wand festzuhalten. Mein ganzer Körper ist immer noch scheißekalt, meine Hirnwindungen sind eingefroren …« »Jaah, sehr hilfreich. Erzähl das Bock, wenn wir wieder im HQ sind, vielleicht macht er dir ’ne Wärmflasche.« Fritz ging es selbst auch nicht besser. Nur mühsam konnte er überhaupt aufrecht stehen. »Also, stütz dich an der Wand ab und führ uns dahin, wo es doll nach Bestien riecht.« Mit einem gedehnten Seufzen übernahm Micha erneut die Führung. Besonders hoffnungsvoll wirkte er nicht. Minuten später hielten sie an einer der schmutzigen Türen an, die sie beim Vorbeigehen zuvor ignoriert hatten. Eher gelangweilt schob Micha die Tür auf und spähte ins Dunkel dahinter. »Das wird nur ein Raum sein«, meinte Fritz. »Entweder mit Zellen oder mit …« »… Bedürfnisanstalten«, endete Micha, ohne die Tür loszulassen. »Wie … Toiletten?« »Ja. Ist das so überraschend?« Micha entschloss sich, hineinzugehen, und hielt Fritz die Tür auf. Fritz zögerte, da er drinnen nichts sehen konnte; er begnügte sich damit, die Tür offenzuhalten. »Schon wieder Toiletten«, murmelte er verdrossen. »Hier reingekommen sind wir auch durch eine Toilette.« »Und wer ist draußen geblieben, um euch runterzuspülen?« »Haa haa. Die hatten einfach eine Kabine mit dem Tunnel verbunden.« »Ist ja spannend.« Micha, mitten in dem schlecht gekachelten Raum stehend, hob die Nase und schnupperte vorsichtig. »Hier waren vor ’ner Weile noch massenweise Bestien … aber jetzt sind keine da. Hmmm, hier ist die Spur am stärksten, da muss irgendwas in der Wand sein …« Er fing an, die verkrusteten Kacheln abzutasten. Fritz wollte gar nicht wissen, was für jahrhundertealter Dreck an ihnen klebte. Würden Fiacail Fhola wirklich einen Geheimgang in einem Waschraum anbringen? Nervös begann er: »Äh, Micha … dumme Frage, aber … Müssen Vampire überhaupt aufs Klo? Eigentlich nicht, oder? Blut wird doch bestimmt direkt absorbiert?« »Ja, sehr witzig«, murrte Micha. Seine Stimme hallte nach, als wären die Wände tatsächlich hohl. »Wie kommen bloß alle darauf? Unsere Verdauung ist ja noch mieser als eure, warum sollten wir gerade Blut absorbieren können … nee. Also, nee, Blut wird natürlich verdaut. Und Blut ist eine … wie heißt das … Suspension, also, da sind Feststoffe drin, und wie man ja aus der Schule weiß, kommen Feststoffe nicht durch die Darmwand, sondern nur Flüssigkeit mit allem, was drin gelöst ist. Von Blut bleibt also immer was übrig, aber viel, viel, viel weniger als von richtigem Essen. Naja, und …« Er ging in die Knie, um auch unten an die Fliesen heranzukommen und auf alle einzeln draufzudrücken. »… die Nieren filtern ja das Blut und scheiden die Gifte aus … also müssen wir auch pis– … oh, hey, ich hab was!« Mit dem Fingerknöchel klopfte er auf eine Kachel, hinter der sich offensichtlich ein Hohlraum befand. »Komm mal her, Fritz. Ich glaub, du musst mir helfen.« Mit zittrigen Knien trat Fritz in den nach alter Seife riechenden Raum; die Tür fiel hinter ihm zu, und es war stockdunkel. Micha nahm seine Hand, zog ihn zu sich nach unten und drückte Fritz’ Finger auf die verdächtige Kachel. »Hier. Du ziehst an der einen Seite, ich an der anderen, dann verkeilt sie sich nicht. Los.« Gemeinsam lösten sie die Fliese aus der Wand. Danach wartete Fritz, der nicht einmal die Hand vor Augen sah, auf Michas Befund. »Und? Ist da ein Durchgang?« »Nee … Leider nicht.« Es klang, als würde Micha in das Loch greifen und Dinge hin und her schieben. »Fehlanzeige, hier sind nur Putzmittel. Putzmittel, ich werd bekloppt. Haben Eff Eff hier etwa Putzfrauen angestellt?« »Oder Putzvampire?«, mutmaßte Fritz. »Hmmm.« Micha nahm etwas aus dem Fach – der Geräuschkulisse nach zu urteilen –, schraubte es auf und roch daran. »Also … Dass das hier drin wirklich Glasreiniger ist, das bezweifle ich mal. Es riecht fast gar nicht … ist ein bisschen gelblich, ich kenn das Zeug nur in Blau …« Er stellte die Flasche zurück und nahm eine andere heraus. Der folgende Schnüffeltest entlockte ihm ein schwaches Aufstöhnen, das so auffällig verebbte und dem eine so dramatische Stille folgte, dass Fritz jäh panisch wurde. »Micha? Micha!« Er streckte die Hand aus und versuchte, den anderen Mann zu ertasten. Er fand ihn auf dem Boden liegend, und das gefiel ihm gar nicht. »Oh Gott, Micha, was ist?!« »Arrrr, Scheißdreck«, ächzte Micha vom Boden aus. »Nicht an der Flasche riechen, Fritz … Mach sie zu, mach sie zu …« »Aber ich weiß ja nicht, wo sie ist!« Noch während Fritz das sagte, hatten seine tastenden Finger die Plastikflasche gefunden. Als er sie hochhob, entströmte ihr ein stechender, süßlicher Geruch, und ihm wurde ganz schwindelig. Sterne blinkten in der Dunkelheit vor seinen Augen auf, und seine Muskeln kündigten an, ihre Tätigkeit demnächst einzustellen. Schnell drehte er mit zitternden Fingern den Deckel zu, ehe er platt gegen die Wand sank und dort erst mal halb liegen blieb. Irgendwann ging die Benebelung vorüber. »Was war das?«, fragte Fritz schwach. »Chloroform«, antwortete Micha und rappelte sich hörbar auf. »Nett … Wir haben Eff Effs Drogenschrank gefunden.« »Wieso haben die das Zeug nicht mitgenommen?« »Die holen das bestimmt noch. Aber vielleicht können wir ja was davon gebrauchen.« Fritz wartete unruhig, während Micha wieder zu suchen anfing. Er hörte, wie der andere sagte: »Hm, jaah, hier ist ausnahmsweise mal das drin, was draufsteht … AHK Spiritus – Angenehm riechender, hochwertiger Bioalkohol.« Auf diese Feststellung folgte ein Geräusch, das Fritz entsetzte. »Hast du gerade draus getrunken?!«, quietschte er. War der Mann noch zu retten? »Keine Panik, ich vertrag das«, war Michas lapidare Antwort. »Es schmeckt nur scheiße.« »Mann! Und was bringt uns das?«, fragte Fritz ungeduldig und verstummte jäh, als im Tunnel laute, schnelle Schritte ertönten. Schritte von mindestens drei Personen. »Ei, ei, ei – wo seid ihr, Ausbrecherkönige? Wenn ihr denkt, ihr könnt mich noch mal verarschen, dann seid ihr auf dem Holzweg, ähähä!«, ertönte ein gehässiges Lachen hinter ihnen. »Das ist dieser Ned!«, zischte Fritz und rückte instinktiv näher dorthin, wo Micha hockte. »Wieso ist der nicht verblutet?!« »Weil man als Vampir nur schwer verbluten kann. Aber keine Angst, der Wichser wird uns nicht aufhalten.« »Was machen wir?!« »Ruhig bleiben.« »Ned, hier sind sie nicht«, quäkte eine weibliche Stimme. »Mit deinem chronischen Schnupfen wirst du sie nie finden!« »Halt’s Maul, fette Kuh!«, grunzte Ned zurück. Die Schritte kamen näher und verstummten schließlich direkt vor der Toilettentür. »Scheiße, sie haben sich ausgerechnet hier versteckt! Conall?« Unmittelbar auf diese Aufforderung folgte ein lautes Krachen, und Licht brach in den Raum, als der vollbärtige, hulkähnliche Vampir namens Conall mit einem lauten Schrei die Tür eintrat. Micha packte Fritz und riss ihn hoch; sie sprangen an dem muskulösen Körper vorbei ins Freie, wobei ihre drei Widersacher nur lachten und Conall spöttisch fragte: »Was, ihr wollt schon gehen?« Ein leises Pfeifen ertönte, ein Geräusch, das Fritz augenblicklich mit grausamer Angst erfüllte, passte es doch überhaupt nicht in diese hektische Situation. Etwas hinter ihnen zischte durch die Luft. Ehe Fritz sich umdrehen konnte, packte das Etwas sein Bein, etwas, das dort gleißend scharfe Schmerzen verursachte und ihn mit einem Ruck zu Boden riss. »Neeeeeeein!«, schrie Fritz in kopfloser Panik. Seine Hände griffen nach vorn, tasteten hilflos über die glatten, kalten Fliesen. Schmerz! Noch größeres Grauen überkam ihn, als er den Kopf drehte und sah, dass Conall ein Seil in der Hand hielt, an dessen Ende eine Art Anker mit metallischen Widerhaken prangte – und letztere steckten in Fritz’ Unterschenkel! Panisch schrie er erneut auf, zappelte wie ein Fisch an der Angel, kämpfte besessen und vergeblich. »Na, zeig mir mal deine Fangzähne, falscher Vampir!«, höhnte Conall, während Ned und die speckige Frau ihn anfeuerten. »Glaubst du, du kannst uns ewig verarschen?« Micha warf sich über Fritz und packte das Seil; als ein scharfer Ruck nicht genügte, es Conall aus der Hand zu ziehen, warf er aus und versuchte, den Strick durch einen mühsamen Biss und Reißen an den Enden zu kappen. Offensichtlich war das Seil absichtlich aus einer Faser gedreht, die nur schwer durchzubeißen war. Conall Cernach lachte und ruckte das Seil mühelos aus Michas klammernden Fängen. In Fritz’ Bein kreischte immer noch der Schmerz. Er sah, wie Micha die Widerhaken packte und aus der Wunde zu winden versuchte, was Fritz aufschreien und die Feinde noch lauter lachen ließ. »Jetzt gib ihnen schon den Rest, wir wollen nicht so viel Zeit mit den beiden verplempern«, sagte Ned. »Der eine redet nicht und der andere ist gar kein Vampir, also leg sie einfach beide um.« »Mit Vergnügen«, dröhnte Conall und riss, zu Fritz’ Entsetzen, fest an dem Seilende. Die Haken rissen sein Fleisch auf und kamen frei. Blut spritzte auf wie eine heiße Fontäne. Fritz spürte, wie sein rasanter Herzschlag es sprudeln machte. Er hatte kaum Kraft, so laut zu schreien, wie es eigentlich nötig wäre, und verlor vor Qualen beinahe das Bewusstsein; nur ganz am Rande seiner Aufmerksamkeit bekam er mit, wie Micha den blutigen Haken packte, erneut in das Seil biss – und es scheinbar aus dem Nichts entzündete. Feuer? Feuer! Ned schrie auf, Conall fluchte und die dicke Frau quiekte wie eine Gummiente. Jetzt hatten sie Angst, und das wohl nicht zu knapp. Rasend schnell fraßen die Flammen die spröde Faser, sodass der Anker zu Boden schepperte. Und Micha war noch nicht fertig; er nutzte den Schreckmoment seiner Gegner, um einen weiteren Schluck Brennspiritus zu nehmen, dann griff er nach dem Haken und biss auf das Metall. Seine Kiefer schlugen zu, das Gift spritzte aus seinen Fangzähnen in die leere Luft, und sowie er einen kräftigen Atemstoß hinterher gab, verwandelte sich die scharfe Flüssigkeit jäh in einen gleißenden Feuerball. Fritz kauerte sich zusammen, als die Hitze über seinen liegenden Körper hinwegrollte. Im gleichen Moment ließ Micha sich so schnell er konnte zu Boden fallen, weil die Flammen zurückschlugen und ihn um ein Haar selbst erwischt hätten. Der Effekt war jedoch absolut lohnend: Die Entenfrau schrie gellend, und die beiden Vampire sprangen panisch aus dem Weg. Fritz wurde klar, dass nicht nur Menschen, sondern auch Blutsauger offenbar riesige Angst vor Feuer hatten. Micha sah den Fliehenden nach, wischte sich wie geistesabwesend mit dem Handrücken Speichel und Spiritus vom Kinn und spuckte die Reste davon aus. »Die kommen garantiert wieder. Wir müssen uns beeilen.« Fritz konnte sich nicht beeilen. Ihm fiel es schwer genug, einfach nur hyperventilierend auf dem Boden zu liegen. Schmerzen durchzuckten rhythmisch seinen rechten Unterschenkel. Er fühlte, wie Micha das verletzte Bein packte und festhielt. »Eigentlich bin ich kein Wundenlecker, aber weil du eh schon knapp mit Blut bist, mach ich ’ne Ausnahme. Halt still.« »Nein! Lass das! Das ist eklig!«, kreischte Fritz und strampelte; der Lohn war nur weitere Pein, und Micha ließ nicht los. »Mann, der beschissene Haken hat eine Schlagader aufgerissen! Wenn du nicht stillhältst, verblutest du, also lass den Scheiß!« Sein Griff wurde noch unnachgiebiger. Fritz schauderte, als er die raue, kalte Zunge spürte. Genauso eisig war der heilende Speichel, der tief in sein Fleisch zu dringen schien wie ein Frostbiss. Es fühlte sich an, als würde die Wunde mit gefrorenem Stickstoff vereist – eine Erfahrung, die Fritz als Kind einmal gemacht hatte. Scheiße, er hätte nicht gedacht, dass Micha durch das Hungern so drastisch unterkühlt war – immer noch. Fritz lief ein eisiger Schauer nach dem anderen über den Rücken, und er vermied es, bei der Behandlung zuzusehen. »Schmeckt es wenigstens?«, würgte er mühsam hervor. Micha zögerte. »Naja, du hast Angst. Es ist herb, wie ein … Jever.« Gott, auch noch ein Biervergleich! Das war ja nicht auszuhalten! Stöhnend wandte Fritz sich der weißen, reizlosen Wand zu und wartete ab. Glücklicherweise stellte der Vampir kurze Zeit später das Lecken ein und warf Fritz einen kritischen Blick zu. Er sah so erschöpft aus wie Fritz sich fühlte. »Tut’s noch weh?« »Nein …« »Gut. Glaubst du, wir können uns jetzt verpissen? Du musst selber laufen, aber die Wunde wird erst mal zu bleiben.« »Einen Versuch ist es wert«, räumte Fritz ein und stemmte sich auf die Unterarme. Ja, es ging. Der Schmerz war komplett betäubt. An seiner Stelle war nur Kälte, die jedoch langsam verflog. »Was sollte das gerade mit dem Feuer? Wieso haben die Angst davor … und du nicht?« »Ich arbeite auf der Bühne mit Feuer und brennendem Zeugs, schon ewig. Ich darf keine Angst davor haben. Zwar machen Subway das auch seit ’ner Weile, das Feuerspucken – aber nicht die Vampire.« »Aber wie … wie hast du es gerade gemacht?« »Ist leicht … Man muss nur Schlummifix mit ’nem Brandbeschleuniger mischen und dann das Ganze stoßartig in Bewegung bringen. Eine schöne Spiritusfahne reicht sogar. Gibt viel, viel Feuer.« Warnend fügte er hinzu: »Aber nicht nachmachen, nicht mit Spiritus, echt nie, der Flammpunkt von dem Zeug ist viel zu niedrig. Damit Feuer spucken machen nur Vollpfosten, und danach machen sie’s nie wieder … Aber gut, ich bin ein Vampir, ich hab schnelle Reflexe.« Kurz erhellte so etwas wie Triumph seine fahlen Züge. »War doch gut, oder?« Fritz konnte diese Begeisterung im Moment nicht teilen. Er spürte immer noch die Hitze auf der Haut. »Vielleicht solltest du damit vorsichtiger sein, sonst verbrennst du dich irgendwann noch«, sagte er übellaunig. »Verbrennungen sind übel, das sollen die schlimmsten Schmerzen der Welt sein!« Über Michas Gesicht huschte augenblicklich ein Schatten. »Erzähl mir was Neues«, murrte er und wandte sich ab, um aufzustehen. Fritz nahm die dargebotene Hand und zog sich daran hoch. Fragend suchte er Michas Blick. »Also, du … du hast dich schon mal verbrannt, oder?« »Total schlimm sogar.« »Aber du hast dich doch bestimmt sofort wieder erholt?« »Nee. Eben nicht. Das hab ich gedacht. Ich bin da rausspaziert und dachte, okay, das ist jetzt schlimm, das ist scheiße, aber wird schon wieder, in ein paar Stunden ist das geheilt … Oh Mann, lag ich daneben. Dabei hätte ich es wissen müssen. Warum sonst sollte das eine sichere Methode sein, Vampire zu töten? Verbrennungen machen uns genauso kaputt wie euch, das sind keine normalen Wunden, das sind … die beschissensten Wunden der Welt. Will ich nie, nie wieder erleben. Aber deshalb haben Vampire eigentlich Angst vor Feuer. Ich auch … aber ich hab sie mir abtrainiert. Musste sein.« Er atmete tief durch und wandte sich erneut dem Fluchtweg zu. »Komm, wir hauen ab.« Es war durchaus möglich, Dresden innerhalb weniger Stunden zu Fuß zu durchqueren. Des Nachts waren die Straßen hell erleuchtet, aber leer; die Straßenbahnen verkehrten durchgehend, wenn auch nur stündlich, was nicht gerade hilfreich war. »Wo sind wir und wo haben wir die blöde Karre gelassen?«, fauchte Ingo ins Dunkel. Basti und Marco, die mit genauso schnellen, aber möglichst unauffälligen Schritten weiter hinter ihm gingen, hielten den Mund. Hektik würde nur Aufmerksamkeit erregen. Ein schneidender Wind fegte am Elbufer entlang und kühlte den nur langsam trocknenden Schweiß in ihrer Kleidung gefühlt bis unter den Gefrierpunkt. »Scheißen wir doch auf dit Auto und jehn zu Fuß. Wir sind doch eh fast da, oder nicht?« »Ihr seid noch mindestens ’ne halbe Stunde entfernt«, belehrte ihn Boris durch den Ohrknopf postwendend, »und von der Stelle, wo ihr den Dark Knight habt stehen lassen, kaum weniger.« Seit die Verbindung außerhalb des unterirdischen Kanalsystems wieder zurückgekehrt war, schien er seinen Arbeitsplatz vor dem virtuellen Stadtplan kein einziges Mal verlassen zu haben und lotste die drei so direkt wie möglich zurück zum Uniklinikum. Dass alle anderen im HQ längst schliefen, schien ihm egal zu sein; er weigerte sich auch hartnäckig, seine Schicht an El Silbador abzutreten. Nein, das hier war jetzt sein Einsatz, und er wollte der Erste sein, der eine gute Neuigkeit verkünden würde. Der Erste, der wissen würde, dass es seinen Freunden gut ging. Nützlich zu sein war gerade schwer genug, niemand würde ihm jetzt diese Position streitig machen. Eine halbe Stunde war viel, wenn man nicht wusste, wo überall Vampire durch die Schatten schlichen. Die Mitglieder des menschlichen Außenteams konnten nicht umhin, immer wieder forschend um sich zu blicken, um eventuelle Angreifer rechtzeitig auszumachen. Es versetzte sie in helle Aufruhr, als sich aus der nächtlichen Stille plötzlich Motorengeräusche näherten, deren Erzeuger auf sie zuhielt. Das Auto, ein silbernes, älteres Jeep-Modell, jagte um die Ecke und holte die Männer rasch ein. Wie es ihnen bereits in Fleisch und Blut übergegangen war, sprangen die drei auseinander, jeder in eine andere Richtung, und setzten zur Flucht an – das Fahrzeug jedoch bremste ab, schob sich mit den Vorderrädern über den Bordstein und blieb stehen. Die Tür wurde aufgestoßen. »Hey, nicht weglaufen! Kommt her!«, rief ihnen eine männliche Stimme mit starkem englischem Akzent nach. Lange drehte sich als erster um. »Is dit … Rea?« »Ja, ich bin’s, jetzt kommt endlich! Springt alle hinten rein! Ich hab jemand dabei, die euch auch gerne sehen möchte!« Die eigentlich Flüchtigen kehrten in tiefer Erleichterung zu dem silbernen Auto zurück. Rea Garvey winkte sie hektisch näher. Vom Beifahrersitz aus reckte jemand den Arm ebenfalls winkend über seine Schulter; die langen, schlanken Finger gehörten eindeutig einer Frau. »Silke!«, rief Hampf sichtlich erfreut. »Tut verdammt gut, dich zu sehen!« Der Jeep war geräumig genug, sodass sie auf der Rückbank alle Platz hatten. Noch während die Steckzungen der Gurte in den Schlössern einrasteten, lenkte Garvey das Fahrzeug wieder auf die Straße und gab Gas. »Ich hab eure Frau Schmitt in die Südvorstadt aufgegabelt. Sie wollte zu euch, ich auch, also … da sind wir.« Frau Schmitt wandte sich um und deutete sich vielsagend auf ein Ohr. »Seid ihr verwanzt?« »Ja, und verpeilsendert«, gab ihr Ingo zur Antwort. »Olle Pfeiffer hört mit. Also, raus damit: Wo ist das neue Versteck?« Silkes Miene verdüsterte sich. »Ich … ich weiß es nicht mehr. Ich wusste es, aber …« Sie hob hilflos die Schultern. »… Paul Frais hat mich erwischt, als ich nach Eric gesehen habe. Er hat mir lächelnd mitgeteilt, dass ich sowieso die ganze Zeit schon sein Blut getrunken hätte … Woran hätte ich das merken sollen? Mist! Er hat mir befohlen, zu vergessen, welchen Weg wir genommen haben. Einer seiner Lakaien hat mir die Augen verbunden und mich zum Hörsaalgebäude der Technischen Universität gebracht. Frais hat ein Spiel mit mir gespielt! Ich weiß nicht, wie viele Runden wir sinnlos durch die Stadt gefahren sind … Ich durfte die Augenbinde nicht abnehmen. Blutfessel ist … grauenhaft«, fügte sie erschauernd hinzu. »Aber da muss an t-Uasal Mister Frais ja was für dich übrig haben, was? Er hätte dich einfach den Kopf abbeißen können«, murmelte Garvey. »Echt mal, Silke«, bekundete Hampf ganz aufgelöst seine Anteilnahme, »da scheinst du ja noch mal mit ’nem blauen Auge davon gekommen zu sein.« Frau Schmitt schnitt eine Grimasse und nickte. »Ich befürchte, dass er dadurch das Katz-und-Maus-Spiel mit uns für sich persönlich interessanter macht. Denn eins hat er mich nicht vergessen lassen: Er weiß, wo der MIU-Stützpunkt ist. Und zwar schon lange.« Sie holte tief Luft und sah ihren Bandkollegen hilflos an. »Ingo«, wisperte sie dann, »er wird angreifen.« Sofort horchten alle im Fahrzeug auf. »Frais will ein Krankenhaus angreifen?«, echote Flex erschrocken. »Oh ja.« »Wann?« »Sobald das neue Versteck gesichert ist. Er hat jetzt genug Menschen und Vampire, auch aus den Nachbarländern, um unser Team zehnmal zu überrennen.« »Wat für ’ne Bestie!«, grollte Sebastian. »Wir sollen wir denn die janzen hilflosen Leute verteidijen? Kann der nicht auf neutralem Grund kämpfen wie’n Kerl? Muss der unbedingt ’nen verdammten Krieg anfangen?« »Ich glaube, auf faires Kämpfen hat er schon lange keine Lust mehr. Er ist extrem frustriert, weil Eric immun gegen The Viking’s Blood ist.« »Jegen wat?« Frau Schmitt erklärte: »In der Zeit seit damals, während der er uns nicht unter die Nase geraten ist, hat Paul Frais an einem zweiteiligen Plan gearbeitet. Erstens: die Vampire von MIU, Fírinne und anderen ihn störenden Geheimdiensten unschädlich zu machen. Seine Wissenschaftler haben ein Blutgemisch so stark mit Stresshormonen versetzt, dass Vampire nach dem Trinken unberechenbar werden.« »Wikingerblut. Wissen wir. Der Plan ist fehlgeschlagen«, sagte Flex. Garvey murrte: »Zum Glück war sogar ich clever genug, den nicht anzurühren, als Mícheál es mir geschenkt hat … Er war misstrauisch. Rightly so.« »Ich habe gehofft, dass unsere Leute es nicht bedenkenlos trinken würden«, atmete Silke auf, »und sie haben mich anscheinend nicht enttäuscht. Zweiter Teil des Plans war, auf subtile und undurchschaubare Art Terror unter die Menschen zu bringen. Frais hat eine Nachwuchsband aus Wuppertal an sich gebunden, damit sie ein Lied für ihn komponierten … und für die erste Testphase wurde das Stück mit Infraschall und anderen kritischen Tonfrequenzen unterlegt.« »Sodass es innerhalb von Sekunden tödliche Panik auslöst«, folgerte Ingo. »Richtig. Das Stück ist ein Hidden Track auf dem Album der Band, das man online über einen versteckten Link auf der Fachschaftsseite der Uni runterladen kann. Konnte«, korrigierte sie sich. »Ja, Pfeiffer hat es weggehackt. Scheint aber auch ein Fail gewesen zu sein, dieser Teil des Plans, denn es sterben ja nicht alle Opfer an dem Dreckslied – oder?« Frau Schmitt schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Vor allem einer stirbt partout nicht an dem Lied«, sagte sie, »und das ist Eric.« Wieder verstummten alle im Auto; bestürztes Schweigen breitete sich aus. »W-Wie jetzt«, stotterte Marco bestürzt, »Frais hat nichts Besseres zu tun, als Eric permanent mit den tödlichen Frequenzen zu beschallen?« »Ich kann euch beruhigen, es geht Eric gut«, beeilte sich Silke. »In den ersten Testphasen haben sie die Frequenzen ein paar Mal modifiziert, aber die Möglichkeiten erschöpfen sich langsam. Und im Moment haben sie keine Zeit, sich darum zu kümmern. Paul Frais glaubt – weil Alea, als sie mit ihm die gleichen Tests gemacht haben, auch keine Reaktion gezeigt hat –, dass Eric auch diese besondere Fähigkeit besitzt, die nur nicht trainiert ist.« »Och nee … Der Idiot?«, grunzte Basti. Ingo schnaubte. »Was für’n Schrott. Alea hatte ’n durchgekautes Pfefferminzkaugummi in den Ohren.« »Oh ja.« Silke lachte nervös. »Jedenfalls glaubt Frais, dass, wenn er die richtige Frequenzkombination knackt, sodass Eric daran stirbt, er auch jeden anderen Menschen – auch Vexecutors, seine Todfeinde – mit dem Lied aus dem Weg räumen kann. Ein Lied ist eine nicht zu unterschätzende Waffe, Jungs.« Dies war nicht zu bezweifeln. Niemand – schon gar kein argloser Konsument – rechnete damit, dass ein Musikstück töten konnte. Nur wenige Menschen kannten sich überhaupt mit der Wirkung niedrigfrequenten Schalls aus. »Also stimmt es, was wir vermuten«, brummte Ingo. »Er will mit dem Lied selektiv Leute ausschalten. Leute, die ihm im Weg sind. Mit dem Wikingerblut hetzt er das Volk gegen friedliche Vampire auf, vor allem gegen diejenigen, die ihm das Handwerk legen können: Polizei, Geheimdienste. Er setzt zwei Waffen simultan ein. Seine eigenen Leute kann er verstecken, die sind nicht auf bluthaltige Getränke angewiesen … und mit dem verfickten Lied wird er ziemlich schnell alles im Griff haben. Er kann damit drohen, es heimlich in Schulen abzuspielen … in Regierungshäusern … ach, egal wo! Wo Leute sind, die hören können, verleiht es ihm eine Scheiß-Macht!« »Ja«, seufzte Frau Schmitt und starrte beiseite. »Genauso ist es.« »Fragt Silke, ob sie wenigstens so was wie einen … Schlachtplan hat«, forderte Boris Pfeiffer die Wanzenträger auf. »Weiß sie, zu welcher Tageszeit und auf welche Art Frais die Uniklinik angreifen wird?« Marco gab die Frage weiter. Frau Schmitt verneinte seufzend. »Frais hat mich nur genau das wissen lassen, was er auch euch wissen lassen will. Er gibt uns … eine Chance. Das macht es für ihn … attraktiver. Er genießt das Ringen um die Oberhand.« »Jaah, weil wir es nicht tun«, grunzte Ingo und zog die Nase hoch. »Mann, ich hasse diesen blöden Sack!« Auf die Scheiben des Autos begann Regen zu trommeln; erst wenige Tropfen, dann ein immer dichter werdendes Stakkato aus Wasser. Garvey fuhr jetzt ruhiger. Die Fetscherstraße war fast erreicht. »Hört mal«, begann der irische Sänger, »ich bringe euch nur hin, aber ich kann nicht bleiben. Ich … hab es erst vor kurz geschafft, Fío meine Tochter wegzunehmen. Jetzt bin ich feckin’ paranoid, versteht ihr? Ich … kann sie nicht lange alleine lassen. Ich … bin raus aus die Nummer.« Keiner kommentierte dieses Geständnis. »Aber die Präsidentin ist noch da, und sie hat Leute um sich. Mein Teil von das Abmachung mit Frais war, alle Iren aus Deutschland zu entfernen … Aber nur weil Frais keine Iren sieht, heißt das ja noch lange nicht, dass keine da sind …« Er brachte so etwas wie ein triumphierendes Lächeln zustande, zumindest die vage Ahnung davon. »Ich gebe euch die Nummer von Niklas Löhse, damit ihr Fírinne anfordern könnt, wenn Frais angreift.« Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen im Innenraum des Jeeps. »Haick dit jetzt richtig verstanden? Frais hat dich erpresst, indem er deine Tochter entführt hat?«, fasste Sebastian das Desaster zusammen. Seine Miene spiegelte Fassungslosigkeit, wie auch die der anderen. Rea schluckte. »Ja.« »Das … das ist ja …!« Marco ballte wütend beide Fäuste. »Was für ein Scheißkerl ist dieser Typ bloß?!« »Ein verdammt alter Vampir«, seufzte Ingo. »Ihr wisst so gut wie ich, dass denen irgendwann alles egal ist.« »Ich habe versucht, alles irgendwie zu retten«, beeilte sich Garvey fortzufahren. »Wie gesagt, ihr holt euch Fírinne, die sind nur abgetaucht, aber die stehen sozusagen zu eure Verfügung. Wenn Frais also angreift … tja, dann zöger nicht.« Die Männer auf der Rückbank sagten nichts mehr; sie tauschten nur noch entschlossene Blicke, die erkennen ließen, dass sie es ein weiteres Mal mit Fiacail Fholas Bedrohung aufnehmen würden. Jetzt mehr denn je. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)