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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Fremde Sphären

Als die fünf Männer die Universitätsklinik betraten, war die Frühschicht schon am Werken. Das Krankenhaus nahm seinen täglichen Betrieb auf, obwohl es draußen noch ganz dunkel war. Fritz vermutete, dass auch die Tatsache, dass es Sonntag war, keinen Einfluss darauf hatte.

Zwei Schwestern in weißen Kitteln kamen mit besorgten Mienen herbeigeeilt, als sie auf das viele Blut und vor allem auf Alea aufmerksam geworden waren, den Falk und Lasterbalk nun gemeinsam trugen, damit es nicht allzu seltsam aussah.

»Schon gut, wir haben alles im Griff«, wehrte Falk die unerwünschte Hilfe ab. »Er ist nicht verletzt, er hat nur … äh …« Er schien zu überlegen, ob er die Wahrheit sagen sollte; gleich darauf tat er es: »… was auf den Kopf bekommen.«

»Dann hat er ein Schädel-Hirn-Trauma!«, sagte die ältere der beiden Frauen streng und zeigte auf eine fahrbare Liege an der Wand. »Legen Sie ihn drauf. Und Sie setzen sich bitte hin.« Damit drehte sie sich burschikos um, und die andere Schwester folgte ihr unschlüssig.

Falk wirkte irritiert; er schien seine Kopfplatzwunde ganz vergessen zu haben.

»Mach, was sie sagt, Falk«, drängte Ingo. »Ich gehe Bock holen, bevor irgendein anderer Arzt ankommt.«

Also rollten sie die Liege zu den Warteplätzen der Notaufnahme heran und legten Alea rücklings darauf. Lasterbalk beugte sich über ihn und tätschelte sacht seine Wange. »Hallo, Rest der Welt an Alea! Willst du net mal wieder mit uns reden?« Auch ein etwas energischeres Tätscheln, das Ohrfeigen nicht unähnlich war, fruchtete nicht.

Kurz darauf kam aus der einen Richtung die jüngere der beiden Schwestern, aus der anderen Bock. Er nickte der Schwester freundlich zu; sie machte eine vage Geste zu Falk, der gehorsam auf einem der Stühle saß, und sah den Arzt fragend an, als wartete sie auf sein Einverständnis.

»Machen Sie nur, Schwester«, gestattete Bock ihr großzügig. »Ich bin sicher, es ist nur ein Kratzer.«

Während die Schwester mit ein paar kleinen Hilfsmitteln und Reinigungslösung Falks Wunde behandelte, beugte Bock sich über Alea. »Eieiei«, sagte er. »Ich sehe, angezapft wurde er nicht. Aber was ist passiert?«

»Ingo hat ihn umgeknüppelt«, erklärte Lasterbalk.

Die Schwester sah bei dieser Bemerkung von ihrer Arbeit auf, doch als niemand ihren fragenden Blick beachtete, fuhr sie schweigend fort.

Mit den Fingerspitzen betastete Bock Aleas Schläfen und Hinterkopf und suchte mit größter Vorsicht nach Frakturen; dann schaltete er ein kleines Lämpchen ein, zog mit dem Daumen Aleas linkes und dann sein rechtes Augenlid hoch und leuchtete jeweils in die Pupille. »Hm, der Lichtreflex ist jedenfalls normal.« Er fuhr fort, auch andere Reflexe zu prüfen, und diesen Tests folgte noch eine kleinere, allgemeinere Untersuchung. »Ich kann wirklich nichts finden«, schloss der Arzt, als er fertig war. »Alle Reflexe da, Puls gut, Blutdruck und Atmung normal, keine erkennbaren Verletzungen. Unserem Prinzesschen geht es prima. Eigentlich sollte er in höchstens einer Stunde wieder zu sich kommen. Kann sein, dass er dann Kopfschmerzen hat.«

»Wie sieht’s mit ’nem Filmriss aus?«, fragte Falk hoffnungsvoll. »Er hat, wie soll ich sagen, was gesehen, das er nicht hätte sehen sollen.«

Bock überlegte. »Dass sein Gedächtnis kurzzeitig aussetzt, ist recht wahrscheinlich«, sagte er dann, »aber eine rückwärts wirkende Amnesie sollte uns Sorgen machen. Warten wir’s mal ab.«

Inzwischen hatte die Schwester ihre Arbeit an Falk beendet und bat ihn im Flüsterton, am Abend des Folgetages die Wunde noch einmal vorzuzeigen. Falk versprach das, obwohl vermutlich schon im Laufe des Vormittags von der Verletzung kaum noch etwas sichtbar sein würde.

Als die Schwester gegangen war, murmelte Ingo: »Ich gebe zu, ich habe ihn fest geschlagen. Aber nicht zu fest.«

»Das wissen wir, wir können uns gerade noch zurückhalten, dich zu fressen«, scherzte Lasterbalk. Fritz schloss daraus, dass das Gemeinschaftsgefühl zwischen den Dreien sehr stark sein musste, denn sicherlich hätte nicht jeder Alea einfach so vor den Augen seiner Bandvampire niederschlagen dürfen, wenn man Asps Ausführungen glauben konnte.

Wenig später kehrte die andere Schwester zurück – Fritz fiel auf, dass sie stark nach einem blumigen Parfum roch – und brachte einen Arzt mit. Bock nutzte die Gelegenheit und bat darum, bei Alea ein EEG machen zu dürfen. Der Arzt erlaubte es ihm.

»Ihr geht schon mal runter und legt euch aufs Ohr«, wies Bock die anderen an, »denn ihr werdet morgen stark sein müssen. Buschfeldt hat sehr schlechte Laune. Vielleicht bessert sie sich, wenn er hört, dass wir Alea wiederhaben … aber in dem Zustand … Vielleicht auch nicht.«
 

Im Kellerloch unter der DINZ-Baustelle schliefen fast alle MIU-Mitarbeiter. Nur Simon Schmitt war wach und hieß die Zurückgekehrten aufgeregt willkommen. »Die anderen haben mir gesagt, dass ihr einfach abgehauen seid! Buschfeldt hat das nicht mal mitgekriegt! Habt ihr Alea?«

»Jap, Schmittchen, die Mission war erfolgreich.«

»Puh. Dann kann ich ja jetzt pennen gehen. Ich wusste, ich kann nicht schlafen, solange ihr weg seid.«

Statt wie Simon gleich ins Bett zu gehen, zog es das Rettungsteam vor, zuerst noch eine Dusche zu nehmen. Während Fritz darauf wartete, dass er an der Reihe war, kam Bock wieder in den Keller.

»Aleas EEG ist unauffällig«, sagte er. »Die Bewusstlosigkeit ist nicht tief. Trotzdem haben sie darauf bestanden, ihn einzuquartieren. Wahrscheinlich begafft ihn gerade eine Schar kichernder Schwestern, aber das kann ich nicht ändern. Morgen früh wird er wieder munter rumhopsen, da bin ich sicher.«

Als Fritz vom Duschen zurückkam – das ohne Übertreibung mehr als ein Segen gewesen war, denn das heiße Wasser schien alle schlimmen Erinnerungen der vergangenen Nacht abgewaschen zu haben –, war nur Asp noch auf. Er saß allein im Halbdunkel an dem wackeligen Tisch, den man der MIU überlassen hatte.

»Fritz, ich würde dir gern was zeigen«, sagte er leise, um niemanden zu wecken. »Also, wenn du mich lässt.«

Fritz rieb sich müde die Schläfen. Eigentlich hatte er an diesem Morgen nicht mehr viel vor. »Von mir aus«, murmelte er, »wenn es nicht ewig dauert. Muss ich dafür irgendwas machen?«

Asp sah ihn ganz offen an. »Ja, und es wird dir nicht gefallen. Du musst mein Blut trinken.«

Schlagartig wurde Fritz wach, und es war, als hätte die Dusche rein gar nichts bewirkt. Vor Angst begann sein Herz sofort wieder hektisch zu pochen. »Spinnst du? Willst du mich jetzt auch unter Blutfessel setzen? Vergiss es! Das hatte ich schon!« Kaum zu fassen, dass ausgerechnet Asp ihm das vorschlug, wo er doch gedacht hatte, der würde ihn verstehen!

»Was Micha gemacht hat, war hinterfotzig«, sagte Asp unerwartet direkt. »Aber mit Vampirblut kann man viel mehr machen, als nur einem Menschen den Willen aufzwingen. Micha hat es vermieden, dich anzufassen, richtig? Das hat einen Grund.« Noch immer sah er Fritz unverwandt an. »Ich werde dich bestimmt nicht drängen, dich darauf einzulassen. Ich biete es dir nur an.«

»Und wer garantiert mir, dass du mich nicht auch für irgendwelche Zwecke fernsteuern willst?«, grummelte Fritz. Ihm gefiel die Sache nicht.

»Tja, niemand. Ich kann dir nur mein Wort geben. Du müsstest mir einfach vertrauen.«

Diese Antwort war nicht, was Fritz hatte hören wollen. »Und wenn ich das nicht will?«

»Dann lassen wir’s und gehen ins Bett.« Asp hob die Schultern.

Fritz haderte mit sich. Ein Teil von ihm wollte Alexander Spreng nur zu gerne vertrauen, aber andererseits hatte er auch Micha vertraut und war schwer enttäuscht worden. Eine Weile lang kaute er unschlüssig auf seiner Unterlippe; dann schließlich rang er sich zu einer Entscheidung durch. »Gut«, sagte er widerwillig, »ich mache es. Aber wenn du irgendwas mit mir machst, dann vertraue ich nie wieder einem von euch Bluttrinkern!«

Asp lächelte breit. »Das ist dein gutes Recht.«

»Aber das mit dem Befehle Geben …«

»Ich werde dir nichts befehlen«, versprach Asp.

»Du musst mir befehlen, mich nicht zu übergeben. Ich hasse Blut … du weißt schon.«

»Sieh an! Ich staune, wie mutig du bist. Keine Angst, du wirst etwas sehen, das nur ganz wenige sehen.«

»Dafür sollte es sich lohnen, dir zu vertrauen.«

»Ich muss vor allem dir vertrauen, Fritz, und gleich weißt du auch, warum.« Asp zückte ein kleines spitzes Messer. Fritz fiel auf, dass er noch nie bei ihm gesehen hatte, wie er die Zähne auswarf. Tat er das überhaupt jemals? Jetzt jedenfalls bemühte er das Messer, um sich die äußere Handkante leicht zu ritzen. Fritz überwand sich dazu, den Blutstropfen mit dem Finger aufzunehmen und seinen Lippen zu nähern. Eigentlich sträubte sich alles in ihm dagegen, je wieder Vampirblut aufzulecken. Doch nach kurzem Zögern tat er es mit aller Überwindung.

»Übergib dich nicht«, sagte Asp, als Fritz sich mit einem Würgen auf die Tischplatte sinken ließ. Der Brechreiz verschwand, doch das widerliche Gefühl der Willenlosigkeit war das gleiche wie beim ersten Mal.

Asp stand auf, ging zum Lichtschalter und löschte das schummrige Licht im Raum, sodass seine Silhouette nur noch aus dem Nebenzimmer beschienen wurde. Dann hielt er Fritz die Hand hin. Ohne einen Befehl zu geben. Fritz griff zu.

Und erschrak, als jäh alles in Licht aufging.

Sobald sie sich berührten, zuckte ein grünes Gleißen durch Fritz’ Blickfeld, und sofort ließ er die Hand des Vampirs wieder los. »Wa-was war das?«

»Nachtsichtigkeit«, erklärte Asp und hielt ihm wiederum die Hand hin.

Fritz packte erneut zu. Sofort tauchte die Welt wieder in Farbe ab. Alles stellte sich in einem seltsamen Grünton dar, doch er konnte jede Kontur erkennen. Es war wie der Blick durch ein Nachtsichtgerät. Indes er diese Sinneswahrnehmung noch staunend bewunderte, spürte er zunehmend etwas anderes, das seinen Geist zu infiltrieren schien, wenn auch nicht gewaltsam; es waren Gedanken, die nicht ihm gehörten, fremde Gedanken, und sie machten ihm ein wenig Angst.

Asp entging das nicht. »Wir nennen es Teilen«, erklärte er. »Du kannst meine Empfindungen wahrnehmen, solange du mein Blut im Körper hast. Allerdings nur, wenn wir uns berühren. Micha wird das ganz bewusst verhindert haben.«

Er hatte Recht; Micha hatte sich, sobald er Fritz sein Blut aufgezwungen hatte, sofort von ihm losgemacht. »Oh, ja … Aber d-… das ist ganz schön unheimlich.«

»Du solltest vermeiden, dass unsere Gedanken sich zu sehr vermischen. Ich denke, du bist mental stark genug, um zwischen deinen und meinen zu unterscheiden.«

Fritz fühlte sich durchaus in der Lage dazu; er fühlte sich nicht bedrängt von der Präsenz des anderen, auch wenn es sich zugegebenermaßen ein kleines Bisschen zu intim für ihre doch eher kurze Bekannftschaft anfühlte. Er verdrängte diesen leichten Anflug von Scham und versuchte nicht, sich zu verstecken. Sie waren in diesem Moment beide dem anderen exponiert, und sicher waren ihre basalen Empfindungen einander gar nicht so unähnlich. Nach kurzer Zeit erwachte Fritz’ Neugier erneut, und diesmal gab sie ihm einen seltsamen Impuls.

»Lass noch nicht los. Ich will was ausprobieren.«

»Mach nur. Wir haben Zeit.«

Okay, tun wir’s. Zaghaft lenkte Fritz seine Gedanken in eine Richtung, die ihm für gewöhnlich gar nicht gefiel: Er dachte an Blut.

Kurz spürte er Asps Geist erschauern – nicht jedoch seinen eigenen, und das bestätigte seine Vermutung. Asp pflegte Abstinenz von purem Blut, aber dennoch begehrte er es, und Fritz verspürte augenblicklich nur ein dumpfes Echo jenes alles verschlingenden Gemisches aus Angst und Ekel, das Blut normalerweise in ihm auslöste. Innerhalb von Sekunden fanden ihre Gedanken wieder zueinander und einigten sich überraschend schnell darauf, dass Blut … angenehm war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Teils überrascht, teils fasziniert setzte Fritz seine Theorie einem weiteren Test aus, indem er Asps Hand losließ.

Blut ist widerlich!, dachte er sofort, heftig schaudernd, dieses klebrige rote Zeug, das … Dann griff er wieder nach den Fingern des Vampirs. … so voller Leben und Energie ist und … Er ließ los. … das grässliche Flecken macht und aus lauter schleimigen Zellen besteht und … Er fasste wieder zu. … das beim Trinken von innen wärmt und so gut nach Butter und sauberem Metall schmeckt …

Fritz spürte ein Kribbeln in den Wangen und merkte, wie sein Mund wässrig wurde. Er wusste jetzt nicht mehr, ob er selbst derjenige war, der das verursachte, oder Asp.

»Das ist verstörend, oder?«, fragte der Vampir ihn ohne Umschweife.

»Etwas«, gab Fritz zu.

»Jetzt kannst du dir vorstellen, wie es in uns aussieht.«

»Ich denke schon.« Fritz zögerte. »Würde ich denn Blut jetzt auch … vertragen?« Es erstaunte ihn immer noch, dass dieser Gedanke ihn nicht zum Würgen brachte, sondern seinen Speichelfluss nur noch verstärkte.

Es war Asp, der hörbar schluckte. »Also … Es lassen sich leider keine anderen Fähigkeiten durch Teilen übertragen. Du kannst durch meine Augen sehen und auf meine Sinne zugreifen, was ein Vorteil ist … aber du kannst keine Wände hochlaufen oder Ähnliches. Und nein, du kannst kein Blut trinken …«

»Verstehe.« Die enge Verwobenheit ihrer Empfindungen wurde Fritz unangenehm, daher ließ er Asp los und rückte von ihm ab. »Okay, das … war sehr interessant. Und lehrreich.«

Asp war unverändert entspannt; der Vorgang schien ihn kaum zu beeindrucken. »Ich hoffe, das hat dir ein wenig die Angst genommen. Teilen kann nützlich sein, aber man sollte sich nie darauf einlassen, wenn man dem anderen nicht hundertprozentig vertraut. Das gilt für beide Beteiligten.«

»Das kann ich hundertprozentig nachvollziehen.« Fritz gähnte verhalten. Nach diesem mehr als merkwürdigen Erlebnis war er unsäglich müde. »Gute Nacht.«

»Bis morgen.«

Sie bogen in verschiedene Richtungen ab.

Auf dem Weg in sein Zimmer wäre Fritz beinahe Amboss, der zusammengerollt auf einer Decke im Flur lag, auf den Schwanz getreten. Insgeheim hoffte er, dass Micha und Eric noch möglichst lange bei den irischen Vampirjägern bleiben würden. Er wusste absolut nicht, was er machen sollte, wenn er Micha wieder begegnete.
 

Michael hatte nicht nur schrecklichen Hunger, er war auch völlig übermüdet. Rauchen half gegen beides nicht, und er warf die Kippe ärgerlich weg, während sie durch den Regen eilten. Fast die ganze Nacht lang hatten diese irischen Amateure betend und händeringend daran gesessen, eine Erklärung für Fiacail Fholas Aktionen zu finden. Eric hatte sich zunächst lebhaft beteiligt, doch Micha hatte bemerkt, wie auch der andere Sänger zunehmend des Diskutierens müde wurde; daran konnte der viele schwarze Tee auch nichts ändern.

Jetzt befanden sie sich auf dem Weg zum Universitätsklinikum, nachdem man sie an der Albertbrücke südlich der Elbe wieder abgesetzt hatte, und hielten, lethargisch einen Schritt nach dem anderen machend, auf die nördliche Johannstadt zu. Sie hatten keine Lust zu streiten, und erstmals gab es auch keinen Anlass dazu.

Micha hoffte, dass sie im HQ etwas anderes zu trinken hatten als dieses suspekte Wikingerblut. Er war noch nie zuvor so hungrig gewesen, aber er war viel zu stolz, Eric das mitzuteilen. Letzterer hatte immerhin aus den Keksen, die Niklas Löhse am Tisch herumgereicht hatte, genug Energie gewinnen können, um diese qualvolle Besprechung zu überstehen. Manchmal war es wirklich gemein, ein Vampir zu sein.

Außerdem, und das ließ sich nicht beiseite schieben, machte Micha sich große Sorgen um Fritz. Er hatte verdammt noch mal verpeilt, jemanden damit zu beauftragen, diesen Anfänger aufzulesen. Allerdings – damit beruhigte Micha sein schlechtes Gewissen – hatte Fritz nur einen kleinen Tropfen Blut geschluckt, und die Wirkung konnte nicht länger als eine halbe Stunde angehalten haben. Wahrscheinlich war er einfach, sobald die Blutfessel abgefallen war, mit der nächsten Straßenbahn zurückgefahren. Fritz war ein Idiot, aber nicht weltfremd. Er konnte sich in einer fremden Stadt orientieren. Ganz bestimmt. Buschfeldt würde kotzen, aber das war Micha egal; Hauptsache, Fritz war unversehrt bei den anderen, wenn sie gleich in der Klinik ankamen.

Erst viel später wusste er, dass sie gar nicht dort ankommen würden.

Michas Sinne waren so eingetrübt, dass er die Attacke nicht kommen sah; eben noch wanderten sie in der Stille am Käthe-Kollwitz-Ufer entlang, da fiel wie aus dem Nichts ein junger Mann sie an. Das heißt, er fiel zuerst Eric an, und zwar so überraschend, dass diesem keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Völlig perplex sah Micha seinen Kollegen bewusstlos umfallen, obwohl der Fremde ihn nur kurz gepackt, aber nicht einmal geschlagen hatte.

»Jetzt bist du dran!«, verkündete der Angreifer, wobei seine Stimme näselnd klang, als wäre er stark verschnupft. Micha sah jetzt, dass er ein Taschentuch umklammert hielt.

Was zur Hölle? Und woher wussten Eff Eff, dass wir hier sind?

Micha konnte sich von so einem Clown nicht niederstrecken lassen, also zwang er seinen protestierenden Körper in Abwehrposition. Sobald der Fremde auf ihn zusprang, verpasste Micha ihm einen Hieb gegen die Schläfe, und der Mann fiel lang ins Gras. Dort blieb er liegen.

»Schöne Scheiße«, knurrte Micha und trat zu Eric. Dieser sah nicht aus, als würde er in naher Zukunft wieder erwachen. Umständlich schob Micha seine Arme unter Erics Schultern und versuchte, ihn hochzuziehen. »Verdammt, Hecht!«, presste er hervor. »Warum musstest du dir so viel Winterspeck anfuttern!« Es würde ewig dauern, Eric zum HQ zu schleifen, aber er hatte keine Wahl. Wenn er den anderen hier liegen ließ, würde man ihn garantiert einen Kopf kürzer machen. Falls ihn dieser Sugar Ray nicht vorher in Stücke riss. Oder Ingo Hampf ihn pfählte.

Als Micha seine Bemühungen fortsetzte, sah er aus den Augenwinkeln, wie der scheinbar außer Gefecht gesetzte Fremde die Augen aufschlug und dann mit einer fließenden Bewegung auf die Füße sprang.

Vampir!, dachte Micha alarmiert. Ich bin schon so am Arsch, dass ich nichts mehr raffe!

Er ließ Eric fallen und ging zum Gegenangriff über. Hämisch grinsend schwang sein Gegner das Taschentuch, und an dem süßlichen Geruch, der die Luft erfüllte, erkannte Micha, dass es sich bei der Flüssigkeit, mit der es benetzt war, nicht um Vampirrotz handelte.

»Riech mal, Menschlein, riecht das nicht wie Chloroform?«, lachte der Spacken und sprang schon wieder mit vorgestrecktem Taschentuch auf Micha los.

Menschlein, ja?, dachte Micha und wusste plötzlich, was los war: Dieser Vampir erkannte ihn nicht als Artgenossen, weil er ihn durch den Schnupfen nicht wittern konnte. Jetzt pass mal auf, du Fotzenlecker, und ich zeig dir, wer hier ein Mensch ist! Sein Gegenangriff lief jedoch ins Leere. Micha bemerkte entsetzt, wie benommen er bereits war. Der Schurke nutzte jede Möglichkeit, ihm mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumzuwedeln. Allmählich lief es darauf hinaus, dass Micha vollauf beschäftigt war, sich der Wirkung des Chloroforms zu entziehen. Seine Bewegungen wurden zusehends langsamer, während er immer wieder versuchte, sich von dem Übelkeit erregenden Geruch abzuwenden.

In der Ferne waren jetzt Schritte zu hören. Jemand rief: »Warum dauert das so lange, Ned? Du sollst die beiden nur ausschalten, nicht sezieren! Jetzt mach endlich, wir wollen los!«

Scheiße, da waren mehrere! Micha spürte eine kurze, aber starke Welle von Verzweiflung durch seine Mitte fluten. Plötzlich hatte er nur noch vor, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Als er schon wieder mit dem Taschentuch traktiert wurde, hielt ihn nur eine spontane Eingebung davon ab, die Zähne auszuwerfen. Sie wissen nicht, dass ich ein Vampir bin. Sollte er sie auf diesen Irrtum hinweisen? Er konnte nicht entkommen. Nicht jetzt. Vielleicht war es wirklich schlauer, eine Gelegenheit abzuwarten, wenn sie ihre scheinbar harmlosen Gefangenen unbewacht ließen. Falls sie das vorhatten. Falls sie sie nicht sofort beide töteten. Chloroform war nicht nur narkotisierend, sondern auch giftig.

Die Entscheidung wurde Micha mehr oder weniger abgenommen, als jäh sein Richtungssinn sich verabschiedete und er vornüber auf die Knie sackte. Schon war der Angreifer wieder bei ihm, packte ihn am Kopf und drückte ihm das Taschentuch fest auf Mund und Nase. »Jetzt fall endlich um, du alter Köter!«, keifte er. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

Micha nahm alle Kraft zusammen und unterdrückte den Impuls, ein letztes Mal gegen den Zwang aufzubegehren. Es war unglaublich schwer. Alles in ihm schrie dagegen an, sich einfach betäuben zu lassen. Aber er durfte nicht länger die Luft anhalten. Wenn er das tat, würde er in Freeze fallen und sich verraten – und außerdem erst durch einen starken Reiz überhaupt wieder erwachen. Es gab einfach keine Argumente gegen die Kapitulation, so vehement sein Geist auch danach suchte, er musste aufgeben, die Waffen strecken, um später mit etwas Glück wieder die Oberhand zu gewinnen.

Erst ewig später, so kam es Micha vor, schaffte er es, seinen rasenden Widerstand unter Kontrolle zu bringen. Alles oder nichts. Es gab keinen anderen Weg. Zitternd inhalierte er die benebelnden Dämpfe.

»Na endlich, Mann«, hörte er den verschnupften Vampir murren, als seine Muskeln erschlafften und die nächtliche Dunkelheit endlich von einer weit größeren Finsternis aufgesaugt wurde.
 

Ein strahlender Morgen brach über Dresden an.

Im Krankenhauskeller, den kein Sonnenstrahl erreichte, verschliefen die MIU-Vampire den Vormittag, während Klaus-Peter Schievenhöfel früh aufstand und Amboss seinen morgendlichen Spaziergang verschaffte. Er dachte auch daran, für seinen Vorgesetzten, der niemals länger als bis acht Uhr schlief, Kaffee aufzusetzen, bevor er ging. Wenn der gemütliche dicke Mann bei der MIU etwas gelernt hatte, dann, wie man Buschfeldt zufrieden stellte.

Der nächste, der aufstand, war Dr. Saltz, vor allem deshalb, weil er sich von Aleas erwartetem Erwachen überzeugen wollte. Seine Beunruhigung war groß, als er den Sänger von Saltatio Mortis unverändert ohne Besinnung in seinem Bett auf der Station vorfand. Verständnislos ließ Bock sich die Erlaubnis für ein Langzeit-EEG erteilen – seine Autorität als Geheimdienstler wurde auch diesmal nicht hinterfragt – und begann immer noch kopfschüttelnd und grübelnd damit, Aleas Stirn und Schläfen mit Messelektroden zu bekleben.

Als er von dort zurückkehrte, saßen Yellow Pfeiffer, Sugar Ray, Simon und Fritz bereits in dem, was man nicht als Aufenthaltsraum bezeichnen konnte, und tranken Kaffee. Fritz erzählte gerade, welcher Art von Tests er und Alea im Versteck von Fiacail Fhola unterzogen worden waren, und Bock setzte sich interessiert dazu.

»Wir hatten Kaugummi in den Ohren«, murmelte Fritz und errötete, als wäre ihm das peinlich. »Aber so konnten wir die Musik nicht hören.«

»Interessant«, kommentierte Pfeiffer. »Hast du gar nichts gehört, oder weißt du ungefähr, was für Musik das war?«

Fritz schüttelte den Kopf. Er sah noch immer ganz schön platt aus, fand der Arzt. »Ich kenne mich mit dieser Art von Musik nicht genug aus. Ich höre zu Hause nur Klassik und Jazz.« Um ihn herum wurden vielsagende Blicke getauscht.

»Tja, die einzige Musik, die Elsi und ich auf wirklich allen Datenträgern gefunden haben, ist das Debütalbum dieser Wuppertaler Studentenband – Snowine. Das Album heißt The Sable Dream. Wir haben es ein paar Mal durchgehört. Es ist qualitativ wirklich schlecht, aber nicht so unterirdisch, dass wir daran gestorben wären.« Boris zuckte die Schultern und nippte an seiner Tasse. »Alles sehr merkwürdig.«

»Genauso merkwürdig ist«, warf Bock ein, »dass Alea immer noch schläft.«

Alle sahen betroffen auf.

»So’n Mist«, bekundete Simon.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dem Chef das erklären soll. Wo ist der überhaupt?«

»Läuft auf dem Gelände rum. Meinte, er müsste mal raus.«

Eigentlich gar kein so schlechter Gedanke, fand Bock. Aber es gab Wichtigeres zu tun.
 

Gegen Mittag, als auch alle Nachteulen ausreichend Schlaf nachgeholt hatten, fand ein allgemeiner Informationsaustausch statt. Wie erwartet reagierte Buschfeldt höchst ungehalten, als die frohe Botschaft, dass seine Geheimwaffe wieder im Hause war, durch die Nachricht ihres Defekts zunichte gemacht wurde. »Was soll ich mit einem schlafenden Vampirhenker?«, grollte er. Noch zorniger allerdings machte ihn die Tatsache, dass eine weitere Meldung von Eric, Michael und Fírinne lange überfällig war. »Auf diese Iren kann man sich nicht verlassen! Die machen einfach, was ihnen passt! Ich hasse dieses Volk!« Weitere allgemeine Schimpftiraden wurden von den Mitarbeitern geflissentlich ignoriert. Wenn Buschfeldt sauer war, dann war er eben sauer.

»Ich stelle fest«, sagte Lasterbalk leise, als alle außerhalb von Buschfeldts Hörweite versammelt waren, »dass wir nix anderes machen können, als zu warten. Ja, liebe Leute. Warten. Wir kennen das Versteck, aber wir können es net platt machen. Wir wissen net, wie groß es ist. Wir haben Eff Eff völlig unterschätzt. Die haben anscheinend mehr Leute als wir Live-Auftritte. Vampire und Menschen aus jeder verdammten Ecke. Scheint eine Massenbewegung zu sein. Eine Bewegung, deren Ziel wir net kennen. Darüber hinaus haben wir nix anderes zu trinken als das hier.« Er stellte eine Flasche Wikingerblut auf den Tisch; sie trug auf dem Etikett das kleine Fangzahn-Symbol. »Ich hab überall nach was anderem gesucht, aber es gibt wirklich kein Hyperborea mehr. Vielleicht sollten wir rausfinden, was das zu bedeuten hat. Von Chefchen können wir keine Unterstützung erwarten, das ist wohl klar. Also, wenn ihr nix dagegen habt, mache ich jetzt ein paar Vorschläge zur Aufgabenverteilung.«

Alle sahen ihn erwartungsvoll an.

Lasterbalk befeuchtete sich die Lippen und traf Anordnungen: »Elsi, Boris, ihr versucht, irgendwelche Anhaltspunkte über das Versteck rauszufinden. Eff Eff müssen irgendwie kommunizieren, und wir müssen wissen wie. Bock, bastel weiter an Alea rum. Fritz, Alex … Ihr seid die Einzigen, außer Micha und Eric, die sich das Album von Snowine noch net angehört haben. Wenn Bock gerade Zeit hat, euch im Auge zu behalten, holt das nach. Ähm – Falk und ich werden mal forschen, was in der Weinkelterei unseres Vertrauens so los ist, dass die uns kein Hyperborea mehr mixen. Und der Rest … ich sage mal, wenn ihr net sinnlos rumsitzen wollt, dann versucht, was über diese Wuppertaler rauszukriegen. Snowine, meine ich. Irgendwas muss ja über die bekannt sein. Okay, das ist alles.«

»Das ist aber ein lahmer Schlachtplan, Wertester, da hätte ich mehr erwartet«, kritisierte Falk.

»Sag mal, hast net zugehört? Wir können net rausgehen, solange die uns einfach ummähen würden! Nach der Aktion gestern werden die so was von auf der Hut sein! Wir können nur hoffen, dass die net wissen, wo wir uns verstecken!«

»Ich mag meine Aufgabe, und ich fange jetzt an«, sagte Pfeiffer entschlossen. »Wenn uns was garantiert nicht voranbringt, dann Gezanke. Ein provisorischer Plan ist besser als gar keiner. Ich werd’ das Versteck von Eff Eff schon knacken, und dann können wir mit der harten Keule kommen. Vorher nicht.«

Damit war alles gesagt, und auch die Übrigen wandten sich schließlich mehr oder weniger hoffnungsvoll ihrer Arbeit zu.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Gähn ... Meine Güte, wenn kommt hier endlich mal wieder Action? *scroll* ... *scroll* ... Irgendwie vorerst gar nicht ... Mal sehen, ob ihr die Dürre übersteht. Komplett anzeigen

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