Zum Inhalt der Seite

Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine Handvoll Schlüssel

Man sagt, es gibt zwei Arten von Angst.

Die erste ist die Furcht, die sich auf etwas sehr Konkretes bezieht, das sich meist – aber nicht immer – meiden lässt; man hat ein klares Bild von dem, was man fürchtet, und kann lernen, sich dieser Furcht zu stellen. Angst jedoch ist per philosophischer Definition etwas ganz anderes: Sie ist das schaurige Gefühl der völligen Alleingelassenheit, das einen überkommt, wenn man nachts aus einem traumlosen Schlaf erwacht und sich plötzlich der Sinnlosigkeit des Lebens bewusst wird. Man realisiert, wie wenig Bedeutung das eigene Leben im Lauf der Welt hat, wie klein letztere sich im Vergleich zu den Ausmaßen des Universums darstellt und dass nichts von dem, was man in seinem Leben tun kann, auch nur den kleinsten Kratzer auf der durchsichtigen Hülle von Raum und Zeit hinterlassen wird. Angst ist die Angst vor der Existenz selbst, vor der Einsamkeit im endlosen Kosmos.

Aus der Tatsache, dass es zwei Arten von Angst gibt, lässt sich folgern, dass es auch zwei Arten von Angsthasen gibt. Die erste Art weiß, dass sie feige ist, und meidet die Angst – notfalls, etwa wenn es sich um wirkliche Angst handelt, durch die Flucht in Drogen und Nihilismus. Die zweite Art ist sich zwar ihrer Angst bewusst, hält sich aber trotzdem insgeheim für mutig. Immer wieder versucht sie, über die Angst zu triumphieren und so zu tun, als gäbe es nichts zu befürchten – nur, um dann mit umso lauterem Winseln den Schwanz einzukneifen. Angst zu überwinden ist schwierig. Sich von ihr zu befreien, ohne Hilfe schier unmöglich.

Friedrich Wunderbaum wusste das.
 

»Vergiss es, Fritz!«, rief Kitty, als sie im schwarzen Morgenmantel vor ihm in der Küchenzeile stand, voller Ärger. »Du wirst nicht den Kopf in den Sand stecken! Weiß der Geier, warum du plötzlich solche Angst vor der MIU hast – vorgestern war ja noch alles in Ordnung! Komm mir jetzt nicht wieder mit einem von diesen Aber-die-sind-gemein-zu-mir-Theatern. Ich dachte, das hätten wir hinter uns!« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Kitty, du weißt nicht, was da los ist!«, beharrte er, die Arme in die Luft werfend. Haareraufen und Händeringen hatte keinen Eindruck auf sie gemacht, und langsam gingen ihm die bedeutsamen Gesten aus. »Du könntest deinen Ehemann in Einzelteilen wiederkriegen! Die legen sich da mit Leuten an, die – ! Die – ! Oh mein Gott, Kitty, ich kann da nicht weitermachen!«

»Wollen wir wetten?«, gab sie keifend zurück. »Und wenn ich dich zur Tür rausprügeln muss, du wirst gefälligst zur Arbeit gehen!« Drohend nahm sie einen Kochlöffel aus dem Abtropfgitter.

Fritz wich zurück. »Du hast ja keine Ahnung!«, betonte er noch einmal, doch mittlerweile war ihm klar, dass er verloren hatte. Wenn er wirklich der MIU heute fernbleiben wollte, dann musste er es ohne ihr Wissen tun. Und ihr hinterher irgendwie seine Entlassung erklären.

Kitty schlug ihm mit dem Kochlöffel auf den Bauch, einmal, zweimal, bis er sich aus dem Zimmer bewegte. »Du wirst jetzt ins Auto steigen!«

»Ist ja schon gut! Du hast gewonnen!«

Also fuhr er los. Er nahm den Weg, der nach Alfeld führte, und wusste, dass Kitty dem Ford nachsah, bis er nach der ersten Biegung aus ihrem Blickfeld verschwinden würde. Danach folgte er der Straße immer noch. Er folgte auch weiterhin der Ausschilderung ›Alfeld (Leine)‹. In seinem Kopf war es leer; irgendetwas in ihm wollte nicht vom Schema abweichen, traute sich nicht, etwas Ungeplantes zu tun. Schließlich passierte er das Ortsschild Alfeld/Leine. Landkreis Hildesheim.

»Ich bin doch wieder hier«, sagte er laut vor sich hin.

Der Morgen war klar, nicht so neblig wie der letzte. Fritz parkte dort, wo er immer parkte. Und wartete, wie auch am Morgen zuvor, bis Punkt zehn Uhr.

Möglicherweise war die Mission in Wuppertal gar nicht so schlimm, wenn man so darüber nachdachte. Buschfeldt hatte sie alle dorthin beordert, und sie würden auch ausnahmslos hinfahren – aber im Endeffekt würde Fritz nur mit einem von diesen Leuten enger zusammenarbeiten müssen. Nicht mit allen. Er musste sich nur einen rauspicken, der harmlos war und einigermaßen präzise arbeitete. Auf keinen Fall, das verstand sich von selbst, durfte es ein Vampir sein. Falk schloss das schon mal aus, egal wie freundlich er Fritz behandelt hatte.

Also galt es heute, potenzielle Partner genauestens zu prüfen. Groß war die Auswahl ja nicht, schließlich waren kaum Mitglieder der Kapellen in der Stadt. Wenn Fritz sich recht erinnerte, waren zwei Bands eigentlich sieben- und eine achtköpfig. Und sieben waren sie jetzt insgesamt, ohne ihn selbst und Buschfeldt.

Was hatte es überhaupt mit dieser seltsamen Zahl Sieben auf sich?

Naja, jedenfalls waren unter diesen sieben nur drei Menschen.
 

Der erste, den Fritz auf dem Hof antraf, war Dr. Saltz.

»Oh«, sagte der Arzt sichtbar überrascht, »wir hätten nicht gedacht, dass wir dich noch mal wiedersehen. Wir haben schon an einem Plan gefeilt, dich aufzuspüren, einzufangen und mit scheußlichen Drogen dein Gedächtnis zu löschen!«

»Ahahaha«, lachte Fritz affektiert. »Wie denn? Mit Vampirgift?«

»Ach, Fritz. Vampirgift ist nicht potent genug, um mehr zu bewirken als ein kurzes Nickerchen. Sei nicht so zickig, alle machen sich schon Sorgen um dich und haben ein schlechtes Gewissen.«

Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage wagte Fritz anzuzweifeln. »Ich geh schon mal rein und … oder, nein, Moment mal. Bock? Kannst du mir nicht … Also, ich weiß, das ist nicht fair, aber … kannst du mir nicht sagen, wer …?«

»Wer von unseren Leuten ein Vampir ist? Nein, Mäuschen.« Der Arzt schüttelte entschieden den Kopf. »Tut mir Leid, aber das darf deine Wahl nicht beeinflussen.«

Na toll. Fritz machte sich auf den Weg zum Hintereingang. Aber ich werde rauskriegen, wer ein Vampir ist! Ich bin nicht ganz unvorbereitet. Ihr werdet schon sehen!
 

Auf dem Weg durch den gelb beleuchteten Kellergang, während er eine Tür nach der anderen mit dem unfassbar schweren, laut klappernden Schlüsselbund entriegelte, hielt er erstmals an der Tür zum Büroraum, der Saltatio Mortis gehörte. Fritz betrachtete das Poster, das mit Klebestreifen unter dem leidlich dummen WER TANZT STIRBT NICHT-Spruch angebracht war, und erkannte Falk und Lasterbalk darauf, nebst fünf anderen Männern. Das Bild sah ziemlich unheimlich aus, den Hintergrund stellte ein riesiger Vollmond dar. Den unteren Rand zierte der Schriftzug ›MPS-Nicht-authentisch-sondern-phantastisch-Tour 2011‹. Nachdenklich ließ Fritz seinen Blick über die mit glühenden Augen versehenen Gesichter gleiten. Hier war jemand wirklich bestrebt gewesen, die ganze Band grotesk-schaurig in Szene zu setzen. Als Fritz noch näher hinsah, bemerkte er überrascht, dass Falk mit sichtbaren Fangzähnen dargestellt war. Und nicht nur er – auch Lasterbalk.

Der also auch, dachte Fritz enttäuscht. Neben dem hätte ich mich fast sicher gefühlt …

Sein Blick wanderte zu dem halbnackten Mann im Vordergrund. Er sah ziemlich fies aus und hatte in beschwörender Geste die Hände erhoben. Leider wurde die majestätische Ausstrahlung, die ihm offensichtlich zugedacht war, dadurch zerstört, dass ihm jemand mit schwarzem Filzstift einen Schnurrbart gemalt hatte.

»Na, Fritz?«

Er fuhr zusammen. Falk stand hinter ihm und lächelte ihn an – wahrscheinlich, denn für Fritz sah es im Licht der frisch enthüllten Tatsachen verdächtig nach jenem Lächeln aus, mit dem man eine Speisekarte bedachte. Er hatte den Vampir nicht kommen gehört.

»Das ist unser MPS-Poster von diesem Jahr. Ja, ich weiß, ganz schön kitschig.«

Fritz nahm sich zusammen. »Ist er das?«, wollte er wissen.

»Wer?«

»Der Vampirtöter!«

»Oh, der Vexecutor. Ja, das ist er.«

»Mist«, murmelte Fritz ganz leise. »Der kann Vampire kaltmachen, aber mit dem kann ich nicht in ein Team …«

»Nein, kannst du auch nicht«, bestätigte Falk, der ihn trotzdem gehört hatte, ungerührt. »Du glaubst nicht, wie anstrengend es ist, vor dem alles geheim zu halten. Unglaublich.«

»Ihr haltet ihn also wirklich dumm.«

»So weit, so gut. Müssen wir leider.«

»Hättet ihr nicht auch mich dumm halten können?«

»Dich? Denkst du, wir machen uns diese unermessliche Mühe, wenn es nicht nötig ist?« Falk fixierte ihn listig. »Na, das könnte dir so passen.«

Widerstrebend wandte Fritz sich wieder dem Bild zu. »Wenn das hier schon so lange hängt, hat er denn … nie eure Zähne bemerkt?«

»Doch, aber er hält das für einen PR-Gag. Und wir tun ja extra so, als wäre es einer. Außerdem ist er von dem Schnurrbart immer viel zu abgelenkt, um darauf zu achten, wie wir anderen aussehen.«

»Ah.« Fritz schürzte die Lippen. »Er sieht echt gefährlich aus. Muss ein kaltschnäuziger Killer sein.«

Jetzt lachte Falk laut auf. »Jaah, genau! Sei froh, dass du nicht mit ihm arbeitest. Alea ist zum Fürchten, der macht dich eisekalt!« Er kicherte weiter, während er abdrehte und den Gang hinunter schlenderte.
 

Die anstehende Reise nach Nordrhein-Westfalen missfiel, wie Fritz feststellte, nicht nur ihm. Auch die anderen Agenten, die sich extra nach Alfeld bemüht hatten, waren insgesamt eher unerfreut.

»Wuppertal, Mann!«, hörte er Simon maulen. »Ein bisschen weiter südlich, dann hätten wir sagen können: Leckt uns, das ist Schandmaul-Bereich!«

»Die haben in der Vampir-Hochburg München genug zu tun, Schmittchen«, erinnerte ihn Lasterbalk.

Fritz kam dazu und versuchte, unbeteiligt zu wirken und sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. »Sagt mal«, begann er, »habt ihr irgendwelche Vorlieben, wer mit wem …?« Er sah fragend in die Runde.

»Das überlassen wir dir, Fritz«, antwortete Pfeiffer, da es sonst niemand tat. »Wir sind da ziemlich leidenschaftslos. Sowieso werden wir ständig in engem Kontakt sein, also ist es eigentlich egal. Alle bleiben zusammen.«

Somit verabschiedete sich Fritz von der etwaigen Möglichkeit, sich vor der Entscheidung gänzlich drücken zu können, und nutzte den Vormittag – was ihn einige Überwindung kostete – dazu, die anderen genau zu beobachten. Zuerst studierte er zusammen mit Asp den streng vertraulichen Polizeibericht, den Elsi, oder wie der hieß, ihnen auf elektronischem Wege hatte zukommen lassen.

»Keine pathologisch relevanten Auffälligkeiten«, rezitierte Asp mit gefurchter Stirn.

»Ich frag mich, was die sich davon erhoffen, dass wir da aufschlagen.« Fritz beobachtete, wie sich die bläulichen Lippen des anderen Mannes beim wiederholten Lesen bewegten. »Ich meine, was können wir rausfinden, was die nicht rausfinden?«

»Das wirst du schon sehen, Fritz«, antwortete Asp. »Wir haben unsere eigenen Methoden.« Er bedachte Fritz, wie schon so oft, mit einem halb besänftigenden, halb spöttischen Lächeln; dann hielt er plötzlich inne und legte den Kopf schief, Fritz eingehend musternd. »Nanu«, sagte er und schnupperte interessiert. Fritz wich zurück, aber Asp hatte schon die Hand ausgestreckt und in die Brusttasche seines Hemdes gegriffen. »Ach.« Er zog die Knoblauchzehe heraus und betrachtete sie wie etwas, das er noch nie gesehen hatte. »Fritz, wirklich, was hat denn das zu bedeuten?«

Fritz war selten zuvor so um Worte verlegen gewesen. »Ääh … hmm … also, nach gestern … Es ist …«

»Du weißt jetzt«, fiel ihm Asp ins Wort, wenn auch in geduldigem Ton, als spräche er mit einem Idioten, »dass wir alle sehr nette Vampire sind. Also … Brauchst du den noch?« Er warf den Knoblauch in die Luft und fing ihn wieder auf.

»Äh, nein … Du … kannst ihn haben …«

»Oh, danke. Ich liebe Knoblauch.« Er sah Fritz bedeutsam an.

»Ähm … Achso?«

»Fritz, ich habe gesagt: Ich liebe Knoblauch

»Äh, ja …«

»Muss ich noch konkreter werden?«

»N…nein.« Fritz schluckte hart. »Das heißt wohl … Knoblauch stört Vampire nicht.«

»Nicht per se. Wenn Menschen Knoblauch essen, sollte man die nächsten Stunden nicht aus ihnen trinken. Er verdirbt den Geschmack des Blutes. Aber ansonsten, ja, ein wundervolles Gemüse, man kann einfach alles damit würzen. Nur eben Menschen nicht.« Wieder versuchte Asp ein entwaffnendes Lächeln. In Fritz’ Augen wirkte es keinesfalls.

Er hat es niemals nötig, mir Knoblauch wegzunehmen, dachte Fritz, der das diskrete Outing sehr wohl verstanden hatte. Scheiße! Warum immer die, die nett zu mir sind?! »Also … kann man vermeiden, von euch gebissen zu werden, indem man Knoblauch isst?«

»Schon, aber einen wirklich hungrigen Vampir hält das auch nicht ab.« Asp lachte, als er Fritz’ Miene sah. »Du machst es dir selber unheimlich schwer, weißt du das?«

»Jaah … Ich weiß.« Fritz seufzte, verabschiedete sich mit einem Nicken und zog von dannen.
 

Simon Schmitt machte zunächst einen guten Eindruck; er wirkte motiviert und verhielt sich liebenswürdig. Jedoch, und das fiel Fritz ziemlich schnell auf, hatte er sichtbar keinen Plan. Er verwirrte sich selbst, als er versuchte, Fritz eine militärische Landkarte zu erklären.

»Warte, warte … Hm, nee, so war das nicht … Also, wenn mein Wehrdienst nicht schon so lange her wäre … Ähm … Egal, normalerweise funktioniert das irgendwie …«

Fritz lehnte sich zurück und rieb sich die Schläfen.

Ingo Hampf kam dazu und tat so, als würde er die erfolglose Mühsal seines Bandkollegen nicht zur Kenntnis nehmen. »Wollt ihr euch nicht mal um den logistischen Kram kümmern? Wir müssen ’ne Menge Zeug mitschleppen. Sollten vor allem an Azathioprin und Hyperborea denken.« Er sprach die beiden für Fritz immer noch mysteriösen Worte mit besonderer Betonung aus und sah ihn dabei eindringlich an.

Der traut mir kein Stück, dachte Fritz. Der weiß genau, was wie gemacht wird … und dass ich keinen Schimmer habe.

Er hörte Simon neben sich tief durchatmen. »Hyperborea«, sagte dieser mit merkwürdig verklärtem Unterton. »Ja … oh, ja, daran müssen wir denken …« Hampfs wissenden Blick über seinen Kopf hinweg schien der junge Mann nicht zu bemerken.

»Neuer, ich will dir Tacheles auftischen«, fuhr Ingo fort und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, um sich näher zu Fritz zu beugen. »In fünf Minuten wird Buschfeldt dich rausschicken. Wieso? Weil die Vampire Hunger haben. Und weil er sie nicht diskriminieren darf, indem er sie zwingt, sich dir zu offenbaren.«

»W-was? Hunger?« Fritz spürte neues Entsetzen in sich anwachsen. »Was heißt das, sie haben …?«

»Komm mit«, sagte Hampf und ging, ohne auf ihn zu warten.
 

Sie betraten die Küche. Ingo bückte sich und zog eine Klappe im Fußboden auf, die Fritz vorher gar nicht aufgefallen war. Darunter fand sich – sehr zu Fritz’ Erstaunen – ein tiefer, dunkler Raum, in den eine kleine Stiege hinabführte. Reihen dunkelgrüner Flaschen schimmerten bis zu ihnen hinauf.

»Ein Weinkeller?«, ächzte Fritz.

»Das ist besonderer Wein. Er wird in Landau in der Pfalz extra für uns hergestellt – teils in einem Winzerunternehmen, teils in einem Labor. Er heißt Hyperborea, nach einem mythologischen Land im Norden Griechenlands.« Ingo fixierte ihn aufs Neue mit seinem kritischen Blick und fuhr fort: »Ich will dir gar nicht erst irgendeinen Scheiß erzählen, deshalb sag ich’s dir: Der rote Trank in den Flaschen besteht zu mindestens achtzig Prozent aus Menschenblut.«

Etwas in der Art hatte Fritz befürchtet. »Und das«, würgte er, »werdet ihr gleich trinken …«

»Die von uns, die Vampire sind. Es macht das Beißen von Menschen natürlich unnötig.« Hampf ließ die Klappe wieder zufallen. »Jetzt weißt du bescheid. Ich halte nichts davon, dich mit Samthandschuhen anzufassen. Du willst einer von uns sein, also komm damit klar.«

Seltsamerweise führte dieses neue Wissen dazu, dass Fritz sich eine winzige Kleinigkeit besser fühlte. Er starrte immer noch auf die Klappe im Boden, als Hampf schon wieder gegangen war. MIU-Vampire wichen also auf ein eigens für sie hergestelltes Getränk aus, um ungefährlich zu sein. Wenn das nicht irgendwie erleichternd war …
 

Auf Buschfeldts Aufforderung hin verließ Fritz den Keller und wanderte ein wenig in den Arbeitsräumen der Fabrik umher. Er war ins Grübeln gekommen. Der Lärm der Stanze und das geschäftig herumlaufende Personal, dem er ständig im Weg zu stehen schien, lenkten ihn ein wenig ab. Er ließ Revue passieren, was er herausgefunden hatte: Falk, Lasterbalk und Asp waren Vampire. Aber wer war der vierte? Es blieben noch Simon, Ingo und Yellow Pfeiffer. Und theoretisch Bock, aber der war viel zu begeistert von Vampiren, um selber einer zu sein. Die anderen dagegen verhielten sich alle verdächtig unauffällig in dieser Hinsicht. Also, wer von den dreien war es? Die Bilanz sah so aus, dass sie alle nicht gerade für eine enge Zusammenarbeit in Frage kamen. Simon zog Chaos an, Ingo hielt nicht viel von Fritz und Pfeiffer übernahm das Supervising von seinem Laptop aus, wobei er kaum jemals den Blick vom Bildschirm wandte.

Aber ich kann nicht mit einem Vampir arbeiten, dachte Fritz fieberhaft, ich kann nicht! Was mache ich nur?!
 

Buschfeldt wartete auf ihn, als er wieder hinunter ging.

»Und?«, fragte er ungeduldig.

»Ich brauche noch Zeit.« Fritz mied den Blick des Direktors.

»Na schön, Friedrich«, seufzte dieser, »um halb acht schließe ich den Keller ab und fahre. Bis dahin treffen Sie Ihre Wahl, damit wir den Einsatz vorbereiten können. Ist das klar?«

»Ja …«

»Gut.«

Fritz warf einen Blick in den Aufenthaltsraum, fing kurz die Blicke der anderen auf und machte ratlos wieder kehrt. Er ging den Flur ein paar mal hin und her, las die Sprüche auf den Türen und betrachtete die Bilder. Darauf sah er Musikinstrumente, die er nicht kannte, und Szenen im hellen Tageslicht, die er sich nicht erklären konnte.
 

Als es dämmerte, verließ er die Fabrik und trottete über den leeren Hof an der Vorderseite des Gebäudes. Gepflegte Hecken schirmten den Blick auf die Straße ab. Fritz setzte sich auf eine der beiden betonierten Stufen vor dem Eingang und starrte vor sich hin. Es war still; die Fabrik war bereits geschlossen. Nur ein leises Summen aus dem Inneren der riesigen Betonzylinder ließ erahnen, dass einige Maschinerien noch arbeiteten.

Nachdem er etwa eine Viertelstunde mit reglosem Schweigen zugebracht hatte, waren Schritte auf dem Asphalt zu hören. Sie näherten sich zielstrebig und hielten genau vor Fritz an, sodass er gezwungen war, aufzublicken.

Fritz sah den Ankömmling wenige Meter neben sich im Halbdunkel stehen, die Hände in den Taschen und ihn unverwandt ansehend. Seine Augen bemühend erkannte er den blonden Mann, der auch am ersten Tag da gewesen war und dem Falk das EINHÖRN-Schild zugeschoben hatte.

»Hallo«, sagte Fritz.

»’n Abend«, sagte Einhorn. »Was’n los?«

»Nichts.« Fritz lächelte zynisch; Diplomatie war ihm vergangen. »Nur, dass ich morgen nach Wuppertal fahre, mit lauter Vampiren. Oh Mann … Ich hasse Vampire. Ich habe sie schon immer gehasst, seit meine Frau diese ganzen Bücher liest.« Er schnaubte leise, doch es half nichts.

»Ja, Vampire sind schon manchmal doof«, stimmte ihm Einhorn zu. »Also haben sie dir heute die ganze Story aufgetischt?«

»Ja … haben sie. Ich soll mit einem der anderen zusammenarbeiten … Aber ich weiß nicht, mit wem.«

»Ja, das sieht man. Du siehst echt verzweifelt aus.«

»Na hör mal … Ich weiß erst seit gestern, dass es Vampire gibt!«

»Jaja, schon gut.« Einhorn schob mit der Schuhspitze ein kleines Steinchen beiseite. Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen; er nahm die Hände aus den Taschen und ging wortlos in die Fabrik.

Nun saß Fritz wieder alleine im Dunkeln. Nur über ihm schien der Mond kühl vor sich hin. Fast voll war er. Hatten Vampire nicht irgendetwas mit Vollmond zu tun? Ach nein, erinnerte er sich, das waren Werwölfe.

Fünf Minuten später kam Einhorn zurück.

»Ich bin Micha«, sagte er ohne Einleitung.

»Ich bin Fritz.«

»Jaja, das hab ich mitgekriegt.« Er setzte sich neben Fritz auf die Stufe und holte etwas unter seiner Jacke hervor. »Hier, hab dir was mitgebracht. Scheinst du gebrauchen zu können.«

Fritz nahm die Bierflasche entgegen. Sie hatte einen Bügelverschluss. »Flensburger.«

»Das ist aus dem Vorrat von Asp, aber wir teilen uns das Versteck. Buschfeldt hat was dagegen.«

»Gegen Alkohol am Arbeitsplatz?« Fritz ploppte die Flasche auf.

»Nö, nur gegen Bier. Ey, wir sind Rockmusiker … Ohne Alkohol am Arbeitsplatz arbeiten wir nicht.« Micha grinste und hielt ihm seine eigene Flasche zum Anstoßen hin.

»Danke für das Bier«, murmelte Fritz und folgte der Aufforderung. Das leise Pling durchschnitt die nächtliche Stille.

»Du tust mir Leid«, antwortete Micha, als müsste er die Geste erklären. »Hoffe, das tröstet dich.«

Sie tranken schweigend. Fritz horchte auf vorbeifahrende Autos und versuchte, am Geräusch des Motors unterscheiden, ob es ein Diesel oder ein Benziner war.

Schließlich begann er vorsichtig: »Ich weiß mittlerweile von drei Leuten, die hier sind, dass es sich um Vampire handelt … aber Boris hat gesagt, es wären vier.«

»Na, ich sag dir bestimmt nicht, wer der vierte ist«, erwiderte Micha ungerührt.

»Aber du weißt es.«

»Na klar.«

Fritz kämpfte gegen die neuerlich aufsteigende Beengung in seiner Brust. »Ich habe solche Angst«, gestand er, und seine Stimme brach fast, als die Bangigkeit wieder in ihm aufstieg. »Du musst mir sagen, wer es ist, bitte! Ich – ich ertrage den Gedanken nicht, dass ich vielleicht einen ständig um mich hätte … einen, der das Blut von Menschen trinkt … bitte, du musst es mir sagen, bitte!« Selbst in seinen eigenen Ohren klang das Flehen erbarmungswürdig.

Der blonde Mann warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das wäre aber echt unfair von mir, weißt du.«

»Ich sage keinem, dass du es mir verraten hast! Bei dreien weiß ich es doch sowieso schon! Es geht nur noch um einen, den ich meiden muss!«

»Du sollst aber keinen von uns meiden, das ist doch die pointe daran.« Es klang wie Po-Ente; mit der französischen Aussprache schien er so seine Probleme zu haben. »Mann, Mann. Bei wem bist du denn sicher?«

»Falk, Lasterbalk … und Asp.«

»Na, herzlichen Glückwunsch, da hast du ja schon ’ne ganz gute Beobachtungsgabe. Also, bei Asp, das sieht ja ’n Vollidiot, aber die anderen … schon nicht schlecht.« Seinem Blick ausweichend, nahm Micha einen weiteren Schluck Bier.

»Wer ist der letzte?«, drängte Fritz weiter. Gleich hatte er ihn soweit, das wusste er. »Ist es Ingo? Oder Boris?«

Micha setzte die Flasche ab und leckte sich die Lippen. »Nee. Es ist Schmitti«, sagte er dann. »Das Simon-Ding. Scheiße, ich kann nicht fassen, dass ich dir das verrate.« Schnell trank er weiter.

»Simon«, wiederholte Fritz sinnend. »An den hätte ich zuletzt gedacht.«

»Ist auch nicht leicht, die Typen zu erkennen. Nicht mit Tarnlinsen.«

Jetzt, da er die Wahrheit kannte, beruhigten sich Fritz’ Nerven. Das Bier tat sein Übriges; er war fast entspannt. »Wie schafft ihr es, vor Buschfeldt Bier zu verstecken?«

»In einem Schrank, den er nicht aufschließen kann.«

»Ach ja? Aber ich kann alles aufschließen. Ich bin der Schlüsselwächter.« Fritz griff in seine Tasche und holte den schweren, polternden Schlüsselbund hervor.

Als Micha das Monstrum sah, lachte er laut. »Pass auf«, sagte er und griff selbst in die Jackentasche. Als er die Hand öffnete, lag darauf ein einziger Schlüssel. »Den hab ich Buschfeldt vor Jahren mal abgezogen. Ein Universalschlüssel. Der schließt nicht nur alle Schlösser im HQ auf, sondern auch alles andere, wo ich ihn reingesteckt kriege.« Grinsend ließ er den Schlüssel wieder verschwinden. »Na gut, Fritz. Ich bin eigentlich nur hier, um Boris abzuholen. Aber ich komme morgen mit nach Wuppertal. Wird ja vielleicht interessant.« Er erhob sich umständlich und schob die leere Flasche wieder unter die Jacke. »Mach dir keinen Kopf wegen der Vampire. Und unsere Leute, also… die sind alle prima. Naja, Ingo solltest du vielleicht nicht gerade nehmen, der mag keine Küken. Nimm am besten Lex … Ich meine Asp. Hammertyp. Der gibt zwar manchmal Sachen von sich, die ’n bisschen gruselig sind, aber eigentlich ist das ein ganz toller Kerl.«

»Ich weiß«, seufzte Fritz, »aber ein Vampir.«

»Ach, denk da einfach nicht daran. Wir sehen uns morgen.«

Als Micha wenig später mit Yellow Pfeiffer plaudernd gegangen war und auch die anderen nach und nach verschwunden waren, saß Fritz noch immer auf der Stufe und dachte nach. Eine ganze Weile grübelte er noch – so lange, bis er glaubte, die bestmögliche Lösung gefunden zu haben.
 

»Herr Wunderbaum, ich fahre jetzt«, sagte Buschfeldt, und seine Stimme verriet, dass er am Ende seiner Geduld war. »Wer soll denn nun mit Ihnen den Fall bearbeiten?« Er klappte seinen Taschenkalender auf, in dem er schon den ganzen Tag über Notizen festgehalten hatte, zückte einen Kugelschreiber und sah Fritz streng an.

Dieser holte tief Luft. »Sehen Sie es mir nach, aber ich kann nicht mit einem Vampir arbeiten. Jedenfalls jetzt noch nicht.« Buschfeldt starrte ihn weiter wartend an, also fuhr er fort: »Ich brauche jemand Normales, für den Anfang. Das mit den Vampiren wird schon noch, ja, ich gewöhne mich bestimmt daran, aber erst mal möchte ich keinen ständig in der Nähe wissen. In Ordnung?«

»Ich will einen Namen, Herr Wunderbaum – weiter nichts.« Nun war Buschfeldts Ungeduld beinahe greifbar. Die Spitze des Kugelschreibers verharrte nur Millimeter vom Papier entfernt.

»Okay, dann geben Sie mir Einhorn«, sagte Fritz. »Ich glaube, mit dem kann ich ganz gut.«

Buschfeldt wollte das gerade notieren, hielt jedoch kurz vor dem Losschreiben inne und sah Fritz an, als hätte der nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ist das Ihr Ernst, Friedrich?«

»Ja … Warum denn nicht?«

»Weil …« Buschfeldt begann freudlos zu grinsen, während er den Namen aufschrieb. »… weil das eine kuriose Wahl ist.«

»Aber wieso denn?«

»Nun ja … Michael Rhein ist ein Vampir.«

Stille trat ein. Man hätte, da war sich Fritz im Nachhinein sicher, ein Staubkorn fallen gehört.

»Er ist …«, begann Fritz, aber die Töne gingen in Krächzen unter. Sein Hals war rau wie ein Reibeisen.

»Der älteste Vampir, den die MIU hat«, fuhr Buschfeldt fort. »Seltsam, dass Sie das nicht wissen, wo Sie doch den ganzen Tag so detektivisch herumgespürt haben. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, sehen Sie … Sie erzählen mir, dass Sie mit Vampiren nicht können, aber mit dem wollen Sie arbeiten – mit einem stolzen, alten, bockigen Vampir. Wie witzig.« Er lachte kein bisschen.

Fritz erholte sich nur schwer von dem Schrecken. »Er ist – … Aber ich, ich – ich habe mit ihm Bier getrunken!«

Buschfeldts missvergnügtes Grinsen verschwand augenblicklich. »Ach, wirklich? Er weiß, dass ich das verboten habe. Bier tut Vampiren nicht gut. Da Sie das jetzt wissen, können Sie solch einem ignoranten Verhalten ja entgegenwirken.« Grimmig ließ er den Kalender verschwinden. »Sie beide melden sich also morgen früh um halb neun bei mir.«

»Aber – !«, begann Fritz entsetzt.

»Nichts aber, Friedrich. Sie hatten bis heute Abend Zeit und haben Ihre Wahl getroffen. Morgen um halb neun. Gute Nacht.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hardfail, was die Auswahl betrifft. Mehr kann man da wohl nicht sagen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Zeku
2016-02-16T14:15:28+00:00 16.02.2016 15:15
Ich brech ab vor Lachen. x,D Es macht so Spaß, das zu lesen und in den Hirnwindungen nach den Musikern zu suchen ,die sich hinter deinen Beschreibungen verstecken. Und die kleinen Insideranspielungen, z.B. bei ASPs Namen. x3 Köstlich. Natürlich habe ich auch nach dem erwähnten MPS Plakat schauen müssen, das du eingebaut hast. Die ganze Story dazu .. Alea? Der hält das für nen PR-Gag. *höhö .. Allerliebst. Alle Daumen hoch von mir. Ich freue mich gerade noch mehr auf die nächsten Kapitel. ^.^
Antwort von:  Zeku
16.02.2016 15:55
Ach und btw. hab ich mich 2009 mit einigen sehr netten "Vampiren" ablichten lassen. :D *hihi Das war ein schöner Abend .. ^^ sfz*

http://galerie.lotgdforum.de/showfull.php?photo=20536
http://galerie.lotgdforum.de/data/872/152.jpg
Antwort von:  CaroZ
16.02.2016 20:35
N’Abend!

Schöne Fotos hast du da! Die Herren sind aber auch fotogen … du allerdings auch, muss ich sagen! Ich hab noch nie so ein Foto gemacht …

Danke für das Lob und den Eifer beim Nachforschen.^^ Ich seh schon, deine Kommentare zu lesen wird immer überaus unterhaltsam sein. xD Ich hoffe, du entdeckst noch viele kleine Easter Eggs. Hab mir Mühe gegeben!

Yay, danke noch mal, hoffentlich gefällt es dir weiterhin. ;)

Liebe Grüße
Caro


Zurück