Rad der Zeit von Autorentraining ([Jahreskalender 2012]) ================================================================================ Kapitel 1: JANUAR ----------------- Informationen: Thema: Januar Autor: Fandom: Eigene Serie Wortzahl: ~ 4.2oo Worte -- Wenn wir einsam sind... Dann blicken wir hinauf zum Mond. Wir sehen dieses Leuchten in der Nacht und dann wissen wir, dass wir nicht allein sind. Wir alle sind Teil eines Rudels, unserer Familie und wenn wir unsere Stimmen erheben, dann weil wir wissen, wir werden gehört und sind getröstet. So ist es normalerweise, so soll es sein. Und man sagt, ein Wolf, der der Einsamkeit verfällt, der wird seinen Verstand verlieren. Er wird zu einer Bestie und ehe er schließlich stirbt, wird er in seinem Wahnsinn töten. Solche verlorenen Seelen waren es, die die Menschen fürchteten, denn wir halten uns von ihnen fern. Niemand aber weiß, was geschieht, wenn ein Wolf nicht etwa der Verbannung unterliegt, der schlimmsten Strafe, die wir kennen, sondern wenn er dem Rudel aus eigenem Willen den Rücken kehrt. So etwas ist unmöglich, das gab es nie... Warum also stehe ich dann hier? Ich weiß keine Antwort. Wenn ich jetzt zum Mond schaue, dann fühle ich mich nicht mehr getröstet. Ich fühle Schuld und Schmerz, ich fühle Sehnsucht und eine Einsamkeit, die mich langsam auffrisst. Ich widersetze mich meiner Natur, sicherlich nicht ohne Grund, und doch... Was kann jemals Grund genug sein? Nicht mehr und nicht weniger, als das Leben meiner Familie, die ich verlassen habe, um sie zu retten. Sie, die Welt, in der wir leben und vielleicht sogar den Mond, dem wir unsere Lieder singen. Sie waren seltsame Wesen, diese Zweibeiner. Janar brauchte nicht lange, um das zu erkennen, doch war es eine Erkenntnis, die jedes lebende, denkende Wesen in wenigen Augenblicken des Beobachtens erlangen konnte. Es gab eine Zeit, und auch wenn er sie nur aus den Liedern Legenden kannte, so hatte er doch keinen Zweifel daran, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach, da waren sie vor Furcht erzittert, wenn sie ihre Lieder vernahmen, die Schatten seiner Ahnen die Nacht durchstreiften. Zeiten, die lange vorbei waren. Heute waren es die Wölfe, die sich fürchten mussten, fliehen und bangen, wenn sie die Witterung der blassen, langgliedrigen Wesen aufnahmen. Doch als er sie nun betrachtete, näher, als er sich je zuvor herangewagt hatte, schienen sie ihm nicht bedrohlich, nur merkwürdig und im Gegenteil sogar beinahe bedauernswert. Sie hatten kein Fell, dass sie vor Kälte und Nässe schützen konnte und so stahlen sie es von anderen. Ihre Krallen und Zähne waren stumpf und taugten nichts, so hatten sie welche aus Stahl und Stein, die sie benutzten. Und Janar wusste, dass auch ihre Sinne stumpf waren. Beinahe taub und nicht in der Lage eine Witterung aufzunehmen. Nicht fähig, den Wind zu schmecken, den Boden unter ihren Füßen zu erspüren. Und selbst ihre Augen waren blind für so vieles. So lang und unproportioniert waren sie, schienen ihre Gliedmaßen kaum unter Kontrolle zu haben. Sie liefen auf zwei Beinen, doch kamen sie nicht weit damit und auch nicht schnell voran, so stahlen sie auch das von anderen. Wie konnte es nur sein, dass ein solch benachteiligtes Wesen eine solch große Bedrohung war? Es gab viele davon, sehr viele, auch wenn sie selten mehr als einen Welpen warfen, doch auch Wölfe hatte es einst viele gegeben, vor Beginn der Jagd, der Feindschaft, die die Menschen ihnen geschworen hatten, und deren Gründe niemand kannte. Sie hatten die Menschen nie gejagt und es gab Legenden, so alt, dass sie selbst für die Ältesten im Rudel nur Lieder vergangener Zeiten waren, da hatten sie mit den Menschen Seite an Seite gelebt und gejagt. Nun jagten die Menschen sie und niemand erinnerte sich mehr. Der junge Wolf lag ganz still, um sich nicht zu verraten. Er hielt sich im schneebestäubten Gebüsch verborgen, verschmolz auf diese Weise mit der Umgebung, doch er wollte kein Risiko eingehen, während er beobachtete, das tat er seit den frühen Morgenstunden. Es gab noch andere Lieder, solche, an die die Wölfe nicht mehr glaubten, die keine Legenden waren, sondern nur Geschichten, aber Geschichten voller Hoffnung. Sie erzählten von Menschen, die anders waren, Menschen, in deren Adern das alte Blut lebte und sang. Sie hatten Augen, die den ihren glichen, Sinne, die wacher waren, Herzen, in denen rein das Licht der Wildnis klang. Einen solchen Menschen zu finden, das war der Grund, warum er hierher gekommen war. Ein solcher Mensch, der der Schlüssel war, zu der Magie alter Zeit, der Schlüssel zur Rettung der Seinen. Es war ein weiter Weg, den Janar gegangen war. Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war, wieviele Wechsel von Tag und Nacht an ihm vorbeigezogen waren, während ihn seine Pfoten im ewig gleichen Takt über schneebedeckten Untergrund trugen. Der Winter hatte die Welt im Griff, so lange schon, hielt die Natur in eisigem Schlaf gefangen und das Rudel litt. Mussten nicht auch die Menschen leiden? Sie hatten die heißen Flammen, deren Geruch in seiner Nase biss, und die selbst noch viel beißender waren, doch konnten sie kaum mehr Nahrung haben als das Rudel. Sie waren ungeschickte Jäger und es gab keine Beute, keine Nahrung für Beute, gab nichts, selbst das Wasser war erstarrt. Er war mager, wie sie alle es waren, hatte während seines Laufes noch weniger zu Essen gehabt als schon zuvor, doch Kraft aus seiner Hoffnung geschöpft. Hoffnung, die verzweifelt war, Hoffnung, die er in einen Menschen setzen musste, eine andere Geschichte. Die Gedanken an die seinen, ihr Leid, hatten ihn weiter getragen, wenn seine Pfoten schmerzten, wenn Müdigkeit ihn übermannen wollte, an seine Geschwister, die kleinen, flaumigen Welpen, die hungrig nach der wenigen Milch fiepten, die seine Mutter bei der kargen Kost hervorbringen konnte, die bald mehr brauchen würden, Fleisch brauchen würden, um zu wachsen und zu überleben. Sie alle würden mehr brauchen, viele der Alten waren schon hinter den Nebeln verschwunden, die Jungen durften ihnen nicht folgen. Doch würde es geschehen. Die Wölfe würden das Tal nicht verlassen, konnten es nicht verlassen. Es gab nicht mehr viele Orte fern der Zweibeiner, sichere Orte, wie das Tal es immer gewesen war... Bis der Winter kam und blieb, so lange, dass Janar selbst nicht mehr wusste, dass es je einen Frühling gegeben hatte. Das wussten nur die Älteren. Nun war er hier, wo der Wind so voll war vom fremdartigen Geruch der Menschen, dass er fast niesen musste davon. Ihre Höhlen waren aus Stein, wie die der seinen, doch auch aus Holz und nicht natürlichen Ursprungs. Sie hatten große und kleine dunkle Schlünde, die sich öffnen und schließen ließen, und durch die der dunkle Qualm der heißen Flammen quoll. So sahen all die Siedlungen aus, die er schon gefunden hatte. Er beobachtete sie, die Kleinen, die Großen, die zwischen diesen Häusern umherliefen, und Dinge taten, die Janar nicht verstand. Niemand entdeckte ihn, doch auch er fand nicht, was er suchte und das Herz wurde ihm schwer. Bald schon würde die Zeit beginnen, die einmal den Namen "Wolfsmonat" gehabt hatte, die Zeit des Wechsels, wenn die Grenzen der Zeit verschwammen und durchlässig wurden, die Zeit, in der es möglich war, die andere Seite zu erreichen, doch nicht allein. Den Ort, auf dem all seine verzweifelte Hoffnung ruhte. Irgendwann musste die Müdigkeit seinen Willen besiegt haben. Er wusste noch, dass er das seltsame Verhalten der Menschen beobachtet hatte, jeden von ihnen betrachtet in der Hoffnung in einem davon das zu sehen, was er suchte, wenngleich Janar gar nicht wusste, wie er es erkennen konnte. Danach schlug er irgendwann die Augen auf und die Sonne war längst versunken, der Mond verbarg sich hinter einem Schleier aus Wolken, als könnte er das Leid nicht mehr ertragen, das der Winter der Welt bescherte. Janar hob den Kopf und betrachtete die vagen Umrisse der silbernen Scheibe, doch statt Trost fühlte er Sehnsucht, fühlte Furcht und die Last, die auf seinen Schultern ruhte. Wenn ihm nicht gelang, was niemand für möglich hielt, dann war nicht nur er, dann war das Rudel zum sterben verdammt. Er schüttelte sich und funkelnde Eiskristalle lösten sich aus seinem Fell, bestäubten die Luft und glitzerten wie Wassertropfen im Sonnenlicht. Er fühlte sich steif und unbeweglich, als er sein Versteck verließ, doch nach wenigen Metern schon, nachdem er in Trab gefallen war, erwärmten sich seine Muskeln, wurden die Bewegungen fließend und kraftvoll. Stille hatte sich über die Siedlung gelegt, sich über die ganze Welt gelegt und er vernahm nur das Knirschen des Schnees unter seinen Pfoten, sah nur die hellen Wolken seines Atems in der Nacht. Vorsichtig, ganz vorsichtig schlich er sich näher an die Siedlung heran, so als gäbe es dort etwas, das ihm am Tage verborgen geblieben war. Zwischen den Höhlen lagen viele der seltsamen Menschendinge herum, aber auch Vertrautes. Felle, von Kaninchen, von Wild, doch er roch, dass sie alt waren. Wann hatten die Menschen zuletzt solche Beute gemacht? Während er sich umsah, entdeckte Janar etwas, das seine Aufmerksamkeit weckte. Er spitzte die Ohren und reckte den Kopf. Da war ein Lichtschein. Nicht das natürliche Leuchten, dass Sonne, Mond und Sterne ihnen gewährten, sondern das flackernde, grelle Glühen der heißen Flammen, das Licht der Menschen. Das Seltsame war nur, dass es nicht aus den Höhlen in der Siedlung stammte, es kam aus der Ferne, aus dem Wald. Janars Ohren zuckten nervös. Was sollte das bedeuten? Er hatte gehört, es habe einmal einen großen Brand gegeben, als die Menschen nicht auf ihre Flammen achteten. Feuer war unersättlich in seiner Gier und so war es der Kontrolle seiner langgliedrigen Herren entflohen und hatte ganze Wälder zerfressen mit allem Leben darin. Hatte alles erstickt und nur Staub zurückgelassen. Feuer bedeutete Schrecken und Schmerz, doch Feuer bedeutete auch Menschen und Janar nahm all seinen Mut zusammen und trabte auf die andere Seite des Waldes zu. Es war viel ferner, als er zunächst geglaubt hatte und wieder wusste er kaum noch, wie lange sein Lauf währte, wie weit er die Menschenhöhlen bereits hinter sich gelassen hatte, als ihm das Beißen in die Nase stieg. Jetzt war er endlich nahe und wurde langsamer, schlich durch den Wald, als pirschte er sich an eine aufmerksame Beute heran. Diese Flammen waren klein. Sie brannten nicht im Inneren einer Höhle, sondern nur von ein paar Steinen umgeben unter Bäumen. Es schien nur ein Mensch dort zu sein, einer der nicht mehr klein, aber auch noch nicht ganz groß war. So in Felle gehüllt, dass Janar nicht gleich erkannte, ob es ein Männchen oder ein Weibchen war. Das ließ sich nur durch die spärlichen Reste dessen sagen, was vielleicht einmal ein Fell hätte sein sollen. Menschen trugen es nur auf dem Kopf und oft hingen Schmutz und andere Dinge darin. Bei den Männchen wuchs es oben und unten, bei den Weibchen nur oben am Kopf, meistens jedenfalls. Aber erst, wenn ihre Welpenzeit vorbei war. Der Mensch saß so nahe am Feuer, dass es ihn fast biss und starrte scheinbar in die lodernden Flammen, dass ihm die Augen schrecklich schmerzen mussten. Janar zog sich lautlos zurück und zog einen weiten Kreis um die Stelle, um alles genau zu beäugen. Was mochte das bedeuten, dieser Mensch hier allein? Wenn sie auch mit Wölfen sonst nicht viel gemeinsam hatten, nicht mehr, waren Menschen doch ebenso Rudeltiere und sie mieden die Nacht und die Wildnis, wenn sie es konnten, gerade dann, wenn sie allein waren und schwach. Das verstand Janar nicht, aber vielleicht hatte es etwas zu bedeuten. Wenn dieser Mensch sein Rudel so verlassen hatte wie er seines, dann war das vielleicht, was er suchte? An einer anderen Stelle schlich er sich vorsichtig wieder näher heran. Der Mensch war ganz zusammengesunken, vielleicht schlief er? Wusste er nicht, dass es gefährlich war, so allein und ohne Schutz? In den Wäldern lauerte gefährlicheres als Wölfe und war nicht weniger hungrig. Aber wenn er schlief, dann konnte Janar ihn vielleicht etwas genauer betrachten. Wenn das hier war, was er suchte, musste es doch irgendetwas geben, woran er das erkennen konnte. Ganz behutsam setzte er eine Pfote vor die andere, damit kein Laut ihn verriet. Das Feuer flackerte, schien ihm drohen, ihn vertreiben zu wollen und er legte die Ohren an, ging jedoch stur weiter. Der Mensch regte sich nicht und Janar spürte, wie sein Herz klopfte. Das Feuer stank, so konnte er nicht viel riechen, es knisterte, knackte und zischte wie eine wütende Wildkatze, so konnte er auch nicht gut hören. War der Mensch vielleicht tot? Trotz der Flammen in der Kälte erfroren? Verhungert? Jetzt war er so nahe, dass er den Menschen fast mit der Schnauze anstupsen konnte. Die Ohren angelegt, den Kopf vorgereckt und ein Bild gespannter Aufmerksamkeit. Dennoch zuckte er nicht zurück und floh nicht, als der Mensch sich plötzlich doch bewegte, er wollte, wollte ganz sicher, weil Menschen gefährlich waren und es das Klügste, einzig Richtige gewesen wäre, aber er konnte nicht, so als wären seine Pfoten plötzlich am Boden festgefroren, in jenem Augenblick, als die Augen des Menschen auf die des Wolfes trafen. Sie sahen nicht aus wie Wolfsaugen. Sie sahen aus wie Menschenaugen. Sie waren schmal und mandelförmig, es war viel weiß darin und die Pupille dunkel und klein. Aber er verstand trotzdem, was gemeint war. Es war nicht die Form, es war das Glühen, das in ihnen lag. Und es war die Farbe, die er gesehen hätte, wäre er in der Lage gewesen, sie zu erkennen. Der Ring rund um die Pupille war golden beinahe schon gelb, so wie die Augen vieler Wölfe es waren. Wenn auch nicht Janars, den seine waren hellblau. Der Mensch, es war ein Weibchen mit zotteligem dunklem Fell, schien ähnlich gebannt. Und da war etwas, das Janar nicht zu deuten wusste, ein ganz merkwürdiges Gefühl irgendwo in seinem Inneren. Man konnte nicht sagen, dass es sich schlecht anfühlte, aber es verwirrte ihn und er winselte. Das Gefühl erinnerte ihn an die Mondnächte, in denen er mit dem Rudel gesungen hatte, gejagt hatte, mit ihnen gelaufen war. Im Empfinden des Wolfes schien seither eine Ewigkeit vergangen. Doch was hatte es mit ihr zu tun? Sie war ein Mensch, sie hatte mit dem Rudel nichts zu tun. Seitdem das Weibchen den Kopf gehoben hatte, hatte es sich nicht mehr geregt. Als hätte Janars Winseln einen Zauberbann gebrochen, blinzelte sie jetzt, tat aber weiter nichts und schien den Wolf nicht weniger verwirrt zu betrachten, als er sie. Ein langbeiniges Tier, noch jung und mager, wie es zu dieser Zeit zu erwarten war. Ein Teil seines Felles war hell, vielleicht weiß, doch nicht so weiß, wie der leuchtende Schnee. Hauptsächlich der Bauch, ein Teil der Pfoten und die Schnauze. Der Rest wirkte rötlich war dunkler. Seine hellen Augen glühten wie Sterne in der Nacht. Er war... schön. Eanáir hatte noch nie einen Wolf gesehen und sie hatte eine reißende Bestie erwartet. Riesig, mit scharfen Zähnen und geifertropfendem Maul. Eine Bestie mit tödlichen Klauen und glühenden Augen zwar, doch nicht einen solchen. Da leuchtete nicht Mordgier, keine Wut oder ähnliches. In diesen Augen lag dieselbe Furcht, die auch sie spürte, die selbe verwunderte Frage, als nähme der Wolf das selbe wahr wie sie. Tat er es vielleicht? War er deshalb zu ihr gekommen? Oder sie zu ihm? Eanáir schluckte. Was sollte sie tun? Sie wollte ihn nicht vertreiben. Sie war gen Norden gezogen um einen Wolf zu finden, obwohl es nur noch so wenige gab, und nun stand einer vor ihr, viel früher, als sie je gehofft hatte. Und sie stellte fest, dass sie in ihren Plänen nie auch nur bis zu diesem Moment gekommen war, geschweige denn darüber hinaus. Einen Wolf finden, aber was dann? Den Winter beenden, doch wie? Die junge Frau versank in den Augen des Tieres. Ein stolzes Wesen. Sie mussten stark sein, um zu überleben, wo sie so gehasst und verfolgt wurden. Waren sie nicht im Grunde wie die Menschen, die gleichsam ums Überleben kämpften? Um die Jagd, die Nahrung. Sie dachte an die Geschichten ihrer Großmutter, wünschte zum hundertsten Mal, sie hätte besser zugehört, damals, vor so vielen Jahren, doch sie hatte die Erzählungen nie für etwas anderes gehalten, als einen Versuch des Trostes. Nicht, ehe die Verzweiflung so groß geworden war, dass Eanáir alles geglaubt hätte, nur um etwas tun zu können. Menschen mit Augen wie den ihren vermochten mit den Wölfen zu laufen, ihre Lieder zu teilen. Vor unendlich langer Zeit waren die Wölfe ihrem Volk heilig gewesen, waren die Führer zur anderen Seite. Es hieß, dass das Heulen eines Wolfes die bösen Geister vertreiben konnte und auch den ewigen Winter, der ihre Welt zum Siechtum verdammte. Ein Wolf kannte den Weg, doch allein konnte er ihn nicht gehen. "Ich... habe dich gesucht", sagte sie leise, ganz leise. Der Wolf bewegte die Ohren, verharrte unsicher, doch wenigstens lief er nicht fort. Er lauschte der Stimme des Weibchens, die ein ungewohnter Klang in seinen Ohren war. Janar konnte sie mit nichts vergleichen, das er kannte, aber er wusste, dass es die Art der Menschen war, sich mitzuteilen. Sie versuchte nicht, ihn anzugreifen oder zu vertreiben, sie versuchte, mit ihm zu sprechen... Der junge Wolf schöpfte Hoffnung. Bedeutete das...? Hätte er nur gewusst, was sie ihm sagen wollte... Suchend blickte er in die Augen, die nicht Mensch, nicht Wolf und doch beides zugleich waren, als läge dort die Antwort. "Jedenfalls... Glaube ich das. Vielleicht hast du ja auch mich gesucht..." Er wusste mit den Lauten nichts anzufangen, sie ergaben keinen Sinn, aber der Ton verriet ihm etwas. Sie war unsicher, nervös, vielleicht ebenso ängstlich wie er. War auch sie auf der Suche? Jagte den Legenden hinterher? "Ich... Die Sache ist die, weißt du, es gibt da so eine Geschichte. Und naja wahrscheinlich ist es verrückt, sich Hoffnungen zu machen, noch verrückter, als hier zu sitzen und mit einem Wolf zu reden... Aber du siehst nicht so aus, als ob du mir gleich die Kehle würdest durchbeißen wollen... oder? Wie auch immer... Wenn dieser Winter nicht endet, werden wir alle verhungern. Und auch wenn du vermutlich kein Wort verstehst... Du musst mich führen. Bitte führe mich zur anderen Seite, damit der Frühling erwachen kann." Das Tier schien verzweifelt bemüht, sie zu verstehen. Wunschdenken, da war Eanáir sich Recht sicher. Aber was sollte sie tun? Das alles war sowieso verrückt. Einen Wolf finden, auf die andere Seite gehen. Das alles, weil es in einer Geschichte hieß, dass jene, die aus eigener Kraft die andere Seite fanden, einen Wunsch freihatten. Verrückt, völlig verrückt. Aber alles, was sie hatte. und sie hatte jetzt einen Wolf. Sollte das denn Zufall sein? Oder ein Zeichen... Für ihre Großmutter wäre es ein Zeichen gewesen. Er hätte nicht sagen können, wieso und warum. Es ergab keinen Sinn, nichts ergab in diesem Augenblick Sinn. Nicht, dass er blieb, statt zu fliehen, nicht, dass er lauschte, als ob er verstehen könnte. Und im Grunde auch nicht, dass er sich von diesem fremdartigen Wesen irgendeine Art von Hilfe erhoffte. Sie redete viel, so schien es ihm zumindest, aber vielleicht war sie einsam. Er war es. Ihre letzten Worte jedoch, da war etwas in ihm, dass sich regte. Ein Wissen, ein Instinkt. Immer dort verborgen, ihm jedoch nie bewusst, nicht bis zu jenem Augenblick. Führe mich... Führen... Wohin? Führe mich zur anderen Seite... Janar hätte nicht sagen können, dass er verstand. Da war etwas in ihm, das verstand. Aber er wusste nun, was zu tun war, er wusste nun, dass sie es war, der Mensch, den er gesucht hatte. Egal ob die Legenden wahr waren, ob es Hoffnung gab, hier begann der Weg. Es kam Leben in den Wolf, er stieß einen kläffenden Laut aus und begann unruhig umherzulaufen, doch er entfernte sich nicht weit, ehe er umkehrte, zu ihr lief, kläfte, und das Ganze wiederholte. Eanáir betrachtete das Ganze ungläubig. Hatte... er sie verstanden? Ob sie wohl träumte? Ob es die Kälte war, die tückisch herangekrochen war und ihren Geist verwirrte, während sie das Leben aus ihren Knochen sog? Im ersten Augenblick konnte sie sich nicht rühren, weil ihr Verstand nicht in der Lage war, zu begreifen. Oh ja, sie war auf die Jagd nach dieser Legende gegangen, sie hatte gehofft, aber sie hatte nicht geglaubt, nicht wirklich. Doch das hier... Schließlich kam sie auf die Beine. Noch immer ganz benommen löschte sie das Feuer, nahm das wenige, das sie besaß und musste sich beeilen, um den Wolf einzuholen, der plötzlich voller Leben schien. Das alles war zu seltsam, um dem mit Worten gerecht zu werden. Der Weg führte zurück. Doch nicht dorthin, wo das Tal lag, nicht zum Rudel, nein weiter, viel weiter nach Norden, dorthin, wo die Kälte so tödlich war, dass es kein Leben mehr gab, kein Wachstum, nur die ewige Stille. Dorthin, wo die Lichter am Himmel sangen. Zeit verlor die Bedeutung und trieb sie doch. Irgendwann wurde es nicht mehr Tag, blieb ewige Nacht und doch brachte jede Stunde sie dem Wolfsmonat näher, jener Zeit, in der sie die Grenze passieren konnten, um ein weiteres Jahr der Kälte zu verhindern. Sie liefen, kletterten, rannten, jagten. Sie teilten das Wenige, was sie an Wasser und Nahrung fanden, teilten die Wärme in der Nacht, kämpften füreinander, wenn es nötig wurde. Im Menschen schien der Wolf, im Wolf der Mensch zu erwachen. Etwas geschah, etwas, das Worte nicht fassen, nicht beschreiben konnten. Da war etwas, etwas zwischen ihnen, das wuchs und stärker wurde, stark genug, um den Weg in den Norden zu meistern. Ein Weg über glatte, steile Pfade, durch tiefsten Schnee und eisige Wasser, die sich nicht trinken ließen, sondern salzige und verdorben, aber tückische Ströme waren. Es wurde kälter, je weiter sie gingen, wurde karger, irgendwann gab es keine Nahrung mehr. Sie gingen weiter, auch wenn Eanáir sich bang fragte, ob sie je zurückkehren würden, oder aber hier draußen sterben. Janar kannte solche Gedanken nicht. Sein Geist war wie besessen, von dem Weg, den er gehen musste, den sie nur gemeinsam zu gehen vermochten. Es war die Nacht zwischen den Jahren, die Nacht des Wechsels in der der Wolfsmonat begann, in der sie ihr Ziel erreichten. Jenseits eisiger Klippen erstreckten sich dunkle Wogen so weit, dass kein Auge, so scharf es auch sei, das Ende hätte erblicken können. Eine sternenklare Nacht spannte sich mit samtschwarzem Himmel über ihnen und dort oben leuchtete ein Meer aus Farben, schlängelte sich in prachtvollen Bändern über das Firnament. Blau und Grün, Rot, Golden, alle Farben des Regenbogens und noch mehr wie es schien. Am Fuße des Hanges lag eine dunkle Gestalt. Schwach und fiebrig vor Hunger und Erschöpfung hatten Eanáirs Beine nachgegeben. So kurz vor dem Ziel hatte sie ihre Grenzen erreicht, lag dort zusammengerollt im Schnee und spürte die lähmende Kälte Besitz von ihrem Körper ergreifen. Janar stand neben ihr, stupste sie an, winselte, knurrte, zerrte mit den Zähnen an ihren Kleidern, um sie auf die Beine zu bringen, während die eigenen ihn selbst nur zitternd trugen. Eanáir streckte die Hand aus, es kostete unendlich viel Kraft denn Kopf des Wolfes zu berühren, in die hellen Augen zu blicken, die das Licht des Himmels spiegelten. "Ich kann nicht weiter", flüsterte sie, so leise, sie konnte sich selbst kaum verstehen, "geh du für mich, für uns beide, geh und bitte hol den Frühling zurück." Janar verharrte. Hatte der Wolf sie nicht verstanden? Noch immer nicht? Jetzt legte er sich nieder, als wollte er sie wärmen und Eanáir hätte weinen mögen. War es umsonst? Oder hatte es nie ein Ziel gegeben? Ein seltsamer Laut drang an ihre Ohren und sie erstarrte. Es klang so unwirklich... Und sie war so müde, konnte nicht denken... Doch irgendwann, die Grenzen der Zeit waren völlig verschwommen, begriff sie, dass es das Heulen des Wolfes neben ihr war. Nein, nicht das Heulen. Er heulte nicht, er sang. Und dieser Gesang hallte in ihrer eigenen Seele wieder. Eanáir begann sich leichter zu fühlen, freier. Sie öffnete die Augen wieder, die ihr zugefallen waren udn der Himmel schien näher. Etwas schien sich zu spiegeln, dort oben hinter dem Schleier aus Farben. Vielleicht gab es da wirklich eine andere Welt? Wenn sie nur die Hand ausstrecken könnte, vielleicht würde sie sie erreichen. Dann schwebte sie, ganz leicht und frei. Aus Kälte war Wärme geworden, die Erschöpfung war fort. Da waren die Farben, überall, hüllten sie ein, und da war der Wolf, hatte die Erschöpfung verloren, die Kraftlosigkeit. Er sprang von irher Seite voraus, wie ganz zu beginn, kläffend, hechelnd und in Eanáir stieg ein Lachen auf, als sie ihm folgte. Um sie herum tönte noch immer der Gesang. Der Wolfsmonat war einige Wochen vergangen, als der Griff des Winters sich allmählich von den Landen zu lösen begann. Neue Kraft schien die Sonne zu erfüllen und zum ersten Mal seit Jahren befreite sie den Boden gänzlich von der Last des Schnees, nahm die erdrückende weiße Decke hinfort. Junges, helles Grün wagte sich aus der braunen Erde heraus und nach und nach, ganz behutsam kehrte das Leben zurück. Unter Wölfen und unter Menschen begann man sich eine Geschichte zu erzählen und niemand wusste, woher sie gekommen war. Die Geschichte eines Wolfes und eines Menschen, die ausgezogen waren, um im Wolfsmonat den langen Winter zu beenden. Es heißt, seit jener Zeit sei ein neues Sternbild am Himmel zu erspähen, das Bild eines Wolfes, der zwischen den funkelnden Gestirnen läufte, das Bild eines Menschen, der ihm folgt. Ein Bild, das nicht alle Menschen zu sehen vermögen, vielleicht nicht alle Wölfe. Doch die, die es können, vernehmen in stillen Mondnächten das Lied der Wölfe und sie spüren, wie das Lied auch in ihrer Seele singt. Kapitel 2: MÄRZ --------------- Informationen: Thema: März Autor: Fandom: Eigene Serie Wortzahl: ~ 3oo Worte -- Immer wieder kommt ein neuer März Ihr kennt das sicher auch, dass ihr euer Leben normal lebt und dann – ganz plötzlich, wie nach einem Fingerschnips – bemerkt ihr, dass sich etwas geändert hat. Dass ihr für euren Lebenspartner keine Gefühle mehr habt, dass eure Arbeit euch nicht mehr ausfüllt und ihr eigentlich etwas anderes machen wollt. Oder ähnliche lebensbewegenden Dinge. Nun, bei mir war es nicht ganz so lebensbewegend. Denn eigentlich habe ich am Ende des Februars gemerkt – Achtung! – dass der Frühling begann. Ja. Erstaunlich aber wahr. Eigentlich hatte ich zu der Zeit noch auf den ersten richtigen Schnee in diesem Winter gewartet. Und dann habe ich auf dem Weg zum nächsten Supermarkt die Schneeglöckchen im Park gesehen. Beim ersten mal nur vereinzelte, als ich aber ein paar Tage später noch einmal denselben Weg ging, hatte sich die Schneeglöckchenpopulation bereits sichtlich vergrößert. Außerdem gesellten sich zu den Schneeglöckchen jetzt auch Krokusknospen. Durch die Frühlingsblumen aufmerksam geworden, achtete ich in den nächsten Tagen verschärft auf Anzeichen des Frühlings. Neben den Klausurvorbereitungen für die Fachhochschule fielen mir vor allem die Gesänge der Vögel am Morgen auf. Meiner Meinung nach, das schönste am Frühling. Vielleicht einfach, weil man merkt, dass die Natur nach dem Winter wieder erwacht. Außerdem klingt es schön. Abends hat das Vogelgezwitscher übrigens einen ganz ähnlichen Effekt auf mich, wie ich gerade feststelle. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Bürgersteige um diese Zeit schon hochgeklappt waren. Weil Kälte und Dunkelheit. Heute ist es um dieselbe Zeit noch hell und auf den Straßen vor unserem Haus hört man die Menschen reden und lachen. Was zu guter letzt vermutlich auch an der Zeitumstellung liegen mag. Zumindest bei den Menschen. Die Vögel kümmern sich ja schließlich nicht um die Uhren. Und inzwischen riecht die Luft auch nach Frühling und Sonne. Vor allem, nach einem warmen Frühlingstag wie heute. Man merkt einfach, dass der Winter jetzt endgültig auf dem Rückzug ist. Ich mag den Frühling. Kapitel 3: APRIL ---------------- Informationen: Thema: April Autor: Fandom: Eigene Serie Wortzahl: ~ 1.9oo Worte -- Unberechenbar wie das Wetter im April 1. April 7:15 Uhr Ihr Wecker klingelte. Müde befreite sie ihren Arm von der Decke, um dem Geräusch ein Ende zu bereiten. Doch der Übeltäter war nicht an seinem üblichen Ort. Mit immer noch geschlossenen Augen tastete sie ihren Nachttisch ab. Das Piepsen des Weckers bereitet ihr bereits Kopfschmerzen, als sie endlich die Augen öffnete und den Übeltäter auf der anderen Seite des Raumes lokalisierte. Ein müdes Seufzen verließ ihren Mund. Sie schälte ihre Beine aus der Decke und fragte sich, bestimmt schon zum millionsten Mal, warum es in ihrer Wohnung morgens immer so kühl war. Als endlich der Feind bezwungen war, beeilte sie sich mit Anziehen. Sie musste zur Arbeit, sie musste pünktlich sein, sie musste noch frühstücken und sie musste - „Morgen, Elly!“, wurde sie fröhlich von ihrem Mitbewohner in ihren Gedanken unterbrochen. „Müsstest du nicht schon in deinem Zug sitzen?“, fragte Eleonore Bastian verwirrt. Sein Grinsen war breit und unverschämt. „Nur weil dein Wecker geklingelt hat, ist heute nicht Montag. April April mein Hasenfurz.“ Seine grauen Augen leuchteten, seine blonden Haare sahen wie üblich gekämmt aus, obwohl er gerade erst aufgestanden war. In ihrem Kopf ratterte es und es ratterte. Dann ganz plötzlich schrie sie auf: „Du Idiot! Das ist nicht witzig! Ich wollte ausschlafen! Es ist Sonntag! Wie alt bist du denn, dass du so einen Scheiß baust?!“ „Lass mich kurz überlegen? Ach ja, immer noch ein Jahr älter als du.“ Mit den Worten drehte sich Bastian einfach um, ging in sein Zimmer und sie vermutete stark, dass er nun auch wieder schlafen würde. Etwas, das Eleonore ganz sicher nicht mehr konnte. 16:23 Uhr Ellis strich sich durch seine dunklen Haare. Die Buchstaben wollten einfach nicht an ihrem Platz bleiben. Mal wurden sie größer, dann wieder kleiner und plötzlich verschwammen sie. Er saß hier in der großen Buchhandlung seiner Eltern und las eins der Bücher, die er morgen wieder verkaufen würde. Er liebte die ruhige Zeit an diesem Ort. Er liebte es sonntags in dieser Oase zu verweilen. Doch irgendwas war falsch. Nicht etwa der Regen, der unaufhörlich gegen die Scheibe plätscherte oder die kleine Lampe, die immer wieder flackerte. Nein, es waren seine Augen. „Das ist doch ein verfluchter Aprilscherz von dir, oder?“, sprach er wütend gen Himmel und wusste gleichzeitig, Gott würde nicht antworten. Das angefangene Buch klappte er vorsichtig zu und stellte es zurück ins Regal, dann rieb er sich über die Augen. „So ein Mist!“ Er erhob sich von dem Stuhl, der in der Romanecke stand und ging in Richtung der Treppe, welche zum Privatbereich führte. Zur Wohnung seiner Familie über der kleinen Buchhandlung. „Oh Ellis, Schätzen, da bist du ja. Ich habe Kuchen gebacken.“ Seine Mutter, eine Frau, die für ihr Alter noch recht jung aussah, zwinkerte mit den Augen. Ihre Wangen hatten eine leichte natürliche Bräune, ihre freundlichen Augen waren von demselben Braun wie die seinen. „Hast du noch die Nummer des Augenarztes?“, entgegnete er. Sie fischte ihre kleine Brille aus ihren Haaren, wo sie sich eigentlich immer befand und setzte sie sich auf ihre Nase. „Natürlich, aber ich müsste sie heraussuchen. Soll ich sie dir morgen raus legen?“ Ihr Blick war verwirrt. Ellis hatte nie über Probleme mit den Augen geklagt. „Danke, ich könnte jetzt wirklich Kuchen vertragen.“ Dieser Satz entlockte seiner Mutter wiederum ein weiteres Lächeln. „Na, da kommst du ja genau richtig, mein Junge“ Wortlos folgte er der Frau, der er immer schon vertraut hatte, in die Küche. 5. April 14:56 Uhr „Komm schon, Bastian! Tu es für mich, bitte.“ Mit großen Augen schaute sie ihn an. Sie wartete auf eine Antwort. Bastian überlegte lange. Zu lange für ihren Geschmack. „Nein, ich werde keine Ostereier mit dir blasen und anmalen.“ Seine Stimme war ruhig. Zu Ruhig. „Auch nicht, wenn ich verspreche das Wochenende nach Ostern bei meinen Eltern zu verbringen, so dass du hier alleine bist und einladen und tun könntest, wen und was du wolltest?“, verzweifelt versuchte Eleonore nicht vielsagend mit den Augenbrauen zu wackeln. Bastians Augen wurden größer, sein Mund stand leicht offen. Er sah aus wie eine Frau, der man sagte, Zalando wäre nur ein Blumengeschäft. „Das ist Erpressung.“ Während er also nur Tatsachen wiederholte, wirkte er wie ein Karpfen, der den Mund auf und zu machte. „Ach und das fällt dir jetzt auf. Du weißt doch, dass Erpressung mein zweiter Vorname ist. Ich kam zur Welt und das Erste, das ich tat, war meinen Bruder zu erpressen“, antwortete Eleonore trocken. „Hey, bei eurer Geburt hättest du Leonardo fast umgebracht, also ist das nicht lustig.“ Wieder fragte sie sich, ob er ihr ein schlechtes Gewissen machen wollte oder einfach nur auf ihren Zwillingsbruder stand. „Ist doch jetzt auch egal! Ich packe jetzt alles zum Eierblasen aus und du holst die Eier aus dem Kühlschrank!“ 8. April 13:00 Uhr „Mama! Ich bin zu alt zum Ostereiersuchen!“, maulte Ellis, konnte sich aber gegen den bittenden Blick seiner Mutter nicht wehren. Mit einem Seufzer des Ergebens ließ er sich auf seine Knie sinken und kniff die Augen zusammen in der Anstrengung, ein Schokoladenei oder einen Osterhasen von Milka zu orten. Plötzlich freute er sich richtig auf die Brille, die er nach Ostern beim Optiker seines Vertrauens abholen konnte. Auch wenn er sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet hatte, wirklich mit einem solchen Nasenfahrrad herum zu laufen. Sein kleiner Bruder wuselte fröhlich umher und schob ihm ab und zu einen seiner Schockladenhasen zu. Es war doch eindeutig ein Armutszeugnis von einem Fünfjährigen beim Ostereiersuchen übertrumpft zu werden. „Mach dir nichts draus, Ellis, letztes Jahr habe ich auch fast nichts gefunden.“ Frech zwinkerte ihm sein anderer Bruder zu. Divon war mit seinen sechzehn Jahren auch schon ein ganzes Stück jünger als Ellis, aber im Altersunterschied zu dem kleinen Jonah war das nichts. „Jetzt lass den Kleinen doch mal Ruhe, Deborah“, flüsterte sein Vater ihrer Mutter zu. Ellis musste an eine Zeit denken, in der seine Mutter, die aus Israel stammte und Jüdin war, nie viel von diesen Traditionen gehalten hatte. Ihr hatten die drei Jungen auch ihre hebräischen Namen zu verdanken. Ellis und seine Brüder waren getauft und somit auch Christen, doch erzogen wurden sie sowohl mit christlichen Feiertagen als auch mit jüdischen. Langsam hatte Ellis jedoch das Gefühl, dass seine Mutter sich in die von ihrer Schwiegermutter aufgedrängte Christlichkeit eingelebt hatte. 13. April 17:36 Uhr Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie fuhr hier vom Hauptbahnhof los und musste sechs Stationen und damit verbundene 39 Minuten später wieder aussteigen. So stand es zu mindestens im Fahrplan. Wahrscheinlicher war, dass sie 45 Minuten unterwegs war. „Jetzt mal im Ernst!“, fauchte Elly in ihr Handy, „wenn ich sehe, dass Leo nicht zu Hause ist, habe ich bald keinen Mitbewohner mehr. Es hat ja seine Vorteile, dass Bastian schwul ist, aber muss er sich unbedingt an meinen Bruder hängen?“ Jenny versuchte sie vom anderen Ende der Leitung zu beruhigen. Sagte Sachen wie, Bastian wäre doch gar nicht so schlimm und Leo würde doch trotzdem gut zu ihm passen. „Nicht mal du kannst mir da helfen! Das einzig Gute ist, dass ich meine süßen Katzen wieder sehen kann. Ich schwöre dir, wenn Bastian meinen Bruder anrührt, dann nehme ich meine Katzen mit in unsere Wohnung und er kann an seiner Allergie ersticken!“, mit diesen freundlichen Worten legte Elly auf. Sie seufzte schwer und stöpselte sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Im Takt zur Musik flog die Landschaft an ihr vorbei. Ihre Augen waren auf die Fensterscheibe geheftet. Müde sah sie den Bäumen zu, die am Rande der Gleise standen, bis sich ihr Blick auf etwas anderes heftete. Es war eine einfache Fensterspieglung, doch es ließ sie lächeln. Ein junger Mann saß auf dem Platz ihr Gegenüber, ebenfalls am Fenster. Das eckige schwarze Brillengestell ließ sein Gesicht wirken, als gehörte es zu einem ernsten Börsenmakler. Seine dunklen Haare fielen ihm leicht über die Ohren und einzelne Strähnen verirrten sich in sein Sichtfeld. Seine braunen Augen waren von langen, viel zu langen für einen Jungen, Wimpern umrahmt. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihn nun direkt musterte und nicht mehr nur durch die Scheibe. Er blickte von seinem Buch auf und ihr direkt in die Augen. Sein Hautton hatte etwas leicht Exotisches. Doch sie konnte nicht fassen, was es war, vielleicht ein besonderer Goldton. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wollte einfach nicht mehr verschwinden. 17:51 Uhr Ellis war der glückliche Besitzer einer neuen Brille. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich seine Augen an die Gläser gewöhnt hatten. Somit hatte er auf dem Heimweg sofort angefangen zu lesen. Doch er konnte sich einfach nicht in der Geschichte so wie sonst verlieren. Er konnte die Umwelt einfach nicht ausblenden, was nicht zuletzt an dem Prickeln in seinem Nacken lag, welches er immer verspürte, wenn er beobachtet wurde. Sein Blick fuhr hoch und er fühlte sich, als würden ihn die grünen Augen auseinander nehmen, die ihn so unverschämt musterten. Es war die junge Frau, die vorhin noch aufgebracht telefoniert hatte. Er hatte nicht zuhören wollen, doch es war nicht zu vermeiden gewesen Wörter wie, mein Bruder, Mitbewohner und schwul zu hören. Ihre kastanienbraunen Haare fielen ihr in leichten Wellen bis über die Brust. Ihre Haut war hell und rosig. Die richtige Beschreibung wäre: Ihre Wangen waren errötet. Sie war nicht auffällig hübsch und auch nicht hässlich. Eigentlich war sie so ziemlich der Durchschnitt, auch wenn man diese grünen Augen nicht als Durchschnitt bezeichnen dürfte. Auch ihr Lächeln war nicht gerade Durchschnitt. Er konnte sich nicht wehren und seine Mundwinkel hoben sich ebenfalls. Er räusperte sich verlegen. Es war ihm immer wieder aufs Neue unangenehm, beobachtet zu werden. Doch anstatt irgendetwas zu sagen, nahm sie nur ihre Ohrstöpsel aus den Ohren und blickte ihn an. Es war 18:09 Uhr, kurz vor der Station, bei der er aussteigen musste, als sie den Blickkontakt unterbrach, kurz schluckte, ihn wieder ansah und dann endlich etwas sagte: „Hey, ich finde deine Brille cool.“ „Danke, habe ich erst seit heute.“ Sie verwirrte ihn und er wusste nicht, was er tun sollte. „Ich heiße Elly“, hauchte sie und ihr Lächeln war nicht verschwunden. „Ich heiß Ellis. Fährst du öfters mit dem Zug?“ War die Frage genau so bekloppt wie sie sich anhörte? „Ja, immer wenn ich meine Eltern besuchen fahre und du?“, ein Lachen lag in ihrer Stimme. „Es geht, nur wenn ich etwas Außergewöhnliches in der Stadt besorgen muss. Hier ist auch meine Station.“ Warum tat es ihm jetzt so Leid aufzustehen? Ihr Blick wirkte auch enttäuscht. Dann fragte sie etwas, womit er nicht gerechnet hätte: „Musst du vielleicht am Sonntag so um 16:54 Uhr etwas Außergewöhnliches besorgen?“ Er lächelte. „Mal sehen, ob ich diese Bahn bekomme.“ „Die Brille steht dir übrigens ziemlich gut“, sie zwinkerte ihm zu, dann stieg er aus. 18:19 Uhr Mit schwitzenden Händen und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht verließ Eleonore eine Station später auch die Bahn. Ellis. Er hatte einen Namen, sah gut aus, wirkte freundlich und war der Grund, weshalb sie nicht sauer war, als sie zu Hause ankam und ihre Eltern freundlich erklärten, dass Leonardo bei einem Freund schlafen wollte. Sie schnappte sich eine ihrer Katzen, kraulte sie und fühlte sich wie ein kleines verliebtes Mädchen. Nichts war geschehen und es würde wahrscheinlich auch nichts geschehen, doch manchmal reichte die Hoffnung auf etwas, um einen in eine Euphorie zu stürzen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass der April der Monat werden würde, in dem sich ihr Bruder outen würde und sie wohl mehr Zeit in der Bahn verbringen würde, als jemals zuvor. Der April tat was er wollte, während Elly sich in einen Jungen verliebte, der seine Nase lieber in Bücher steckte, als das Leben zu leben. Kapitel 4: MAI -------------- Informationen: Thema: Mai Autor: Fandom: Eigene Serie Wortzahl: ~ 1.4oo Worte -- Mai 01.05.1232, 01:32 Uhr Hanno hatte lange überlegt, was er tun sollte, damit sie sah, wie ernst er es meinte. Denn Martas Vater würde niemals die Zustimmung zu einer Heirat geben, wenn Marta selber nicht wirklich wollte. Nun stand er hier, mit dem Prachtexemplar einer Birke. Sie war schlank, hoch und hatte eine volle Krone. In die Blätter hatte er rote und gelbe Stoffstreifen gebunden. Marta liebte Pflanzen und bunte Farben, also war dies doch das perfekte Präsent! Fasst hätte Hanno sich selbst dafür auf die Schulter geklopft, als er sah wie der Baum – mehr recht als schlecht – an ihrem Haus aufgestellt war. Ihn hier zu befestigen war eine richtige Nacht und Nebel Aktion gewesen, das hatte zu mindestens sein bester Freund Hagen behauptete, der ihm geholfen hatte und nun neben ihm stand und den Baum ebenfalls im Dunkeln bewunderte. 01.05.2030 „Heute tritt offiziell das Gesetz in Kraft, dass es zu unterlassen sagt, Bäume zu fällen und sie als Liebesbeweis am ersten Mai aufzustellen. Es soll dem Umweltschutz dienen, nachdem wir letztes Jahr die kritische Grenze der Emissionen überschritten haben.“ Diese Pressmitteilung verbreitete sich rasend schnell im Land. Das Volk war entsetzt, einer so alten Tradition beraubt zu werden. Doch viele waren auch damit einverstanden, da die Situation es erforderte. „Es wird ein trauriger Jahrestag für uns ab heute“, seufzte Thomas betrübt. Mit seinen stolzen 29 Jahren Lebenserfahrung war er bereits Vater eines zweijährigen Sohnes. „Wie kann unser Hochzeitstag für dich nur traurig sein?“, empörte sich seine Ehefrau Larissa. Innerlich spürte sie trotzdem den gleichen Schmerz wie ihr Mann. 05.05.2031 „Die Wiedersetzung der Jugendlichen, welche in der Nacht auf den ersten Mai illegal Bäume fällten, um sie aufzustellen, wird nun strenge Folgen haben“, gab ein Pressesprecher von sich. „Um solche Wiedersetzungen weitestgehend zu verhindern wurden hohe Strafen auf das Stellen von Bäumen ausgesetzt.“ Das Wort 'Maibaum' wurde strategisch umgangen. Politiker wollten es nicht mehr hören. „Sie sagen es zwar nicht direkt, aber ich habe gehört, das nachdem Gina über Maitraditionen geredet hatte, plötzlich die Polizei fadenscheinige Gründe fanden, um sie für alles Mögliche dran zu bekommen!“, hauchte Larissa entsetzt ihrem Mann entgegen, als dieser mit Kim, ihrem kleinen Sohn wieder zur Tür herein kam. „Denkst du, die wollen uns jetzt auch noch verbieten, es zu erzählen?! Soll Kim etwa nie wissen, wie seine Eltern sich verliebten oder wie ich dir einen Antrag gemacht habe?!“, während Thomas sich aufregte, wurde sein Gesicht ganz rot. Kim schaute nur verwundert zwischen seinen Eltern hin und her, konnte die Aufregung gar nicht verstehen. 01.05.2066, 16:34 Uhr Charlotte war recht gescheit für ihre sieben Jahre. Immer stellte sie Unsinn an und lachte fröhlich. John, ihr Bruder, war dagegen ein recht stilles Kind. Mit seinen fünf Jahren saß er gerne auf dem Schoß seines Großvaters und lauschte dessen Geschichten. „Ich will eine Geschichte hören, die du noch nie erzählt hast!“, forderte Charlotte und setzte sich vor ihrem Großvater auf den Boden. „Oh ja!“, hauchte John, während er seinem Großvater aus großen grünen Augen entgegnen blickte. Thomas musste nicht lange überlegen. Er warf einen heimlichen Blick zu seiner Frau nur um mitzubekommen, dass sie gerade beschäftigt war. Larissa erklärte ihrer Schwiegertochter die alte Kunst des Strickens. „Okay, aber passt auf diese Geschichte gut auf, sie ist ein Schatz!“, verschwörerisch blitzten seine Augen. Beide Kinder nickten. „Es ist schon lange vergessen, aber früher, zu meiner Jugend gab es eine großartige Tradition. Niemand weiß so genau, wann oder wie sie entstanden ist, aber eines war gewiss. Es war für jeden Jungessellen, der seiner Herzensdame zeigen wollte, wie sehr er sie liebte, schon beinahe Pflicht ihr einen Maibaum zu stellen.“ „Maibaum?“, fragte Charlotte verwundert, die sich unter diesem Begriff rein gar nichts vorstellen konnte. „Ja, das ist, war, meist eine Birke, die man frisch gefällt vor dem Haus seiner Liebsten aufstellte und sie mit bunten Bändern oder Herzen schmückte“, erklärte Thomas etwas wehmütig. „Aber es ist doch verboten Bäume zu fällen!“, hauchte John entsetzt. „Ja, aber damals in meiner Jugend war das noch nicht so. Ich kaufte also eine gefällte Birke am Abend vor dem 1. Mai und schmückte sie bunt. In der Nacht halfen mir meine besten Freunde das Prachtexemplar eines Baumes am Haus, wo eure Großmutter damals wohnte, zu befestigen. Sie hat eine Woche gebraucht, bis sie herausfand, dass der Maibaum von mir war. Ich brauchte dann bloß noch eine Woche, bis sie unsterblich in mich verliebt war.“ Die Erinnerungen ließen den alten Thomas leise in sich hinein lachen. Larissa war zwar widerspenstig gewesen, aber ihr Herz verlor sie dennoch an ihn. „Was erzählst du da den Kindern?“, fragte Kim geschockt der gerade an seinem Vater und seinen zwei Kindern vorbei ging. „Nur die Wahrheit.“ Eine steile Falte bildete sich zwischen Thomas Augen. Diese Falte erinnerte Kim schnell daran, dass der alte Mann nun einmal sein Vater war und vor dem hatte man Respekt zu haben. „Was hat er denn wieder erzählt?“, fragte Larissa gutmütig, als sie sich mit Jule zu ihnen wandte. Von Jule hatte der kleine John diese grünen Augen. „Er faselt von Maibäumen“, antwortete Kim. „Wie bitte?! Thomas, du weißt genauso gut wie ich, dass das sehr gefährlich ist!“ Larissas Worte waren nur ein wütendes Zischen. „Ich für meinen Teil habe lang genug geschwiegen! Der Staat kann mir doch nicht verbieten über solche wunderbaren Sachen zu reden! Ich habe dir damals einen Heiratsantrag gemacht mit einem Maibaum, an dem ein Herz mit der Frage hing! Willst du etwa nie wieder darüber reden?“ Larissas Blick wandert zum Fußboden. Ihre Antwort kam tonlos: „Erzähl es nicht mehr den Kindern, bitte.“ 01.05.2079, 2:03 Uhr John war erst fünf gewesen, als er die Geschichte mit den Maibäumen von seinem Großvater gehört hatte. Damals war es das erste und letzte Mal gewesen. Erst jetzt verstand er, was sein Großvater für ein Risiko eingegangen war. Nur an Maitraditionen zu denken war schon kriminell. Das hatte er bei gezielten Nachforschungen im Gesetz festgestellt. Doch heute, im Jahr 2079, war es unlogisch geworden. Die Natur hatte sich mehr noch als nur regeneriert. Die Wissenschaft hatte neue Antriebe hervorgebracht und inzwischen überwucherte der Wald beinahe jede Stadt. Die Wälder gehörten zu den Städten. Was würde da eine Birke ausmachen? Genau dieser Gedankengang hatte John dazu veranlasst, seine Schwester zu überzeugen ihm zu helfen. Nur weil Charlotte zwei Jahre älter war, war sie nicht gleich vernünftig. Sie war eine elende Träumerin und Romantikerin. Klarer Verstand hin oder her, Träumer blieb Träumer. Somit war sie ungemein angetan von der Idee, dass John einem Mädchen einen Maibaum stellen wollte. Sie hieß Kira und war nur ein Jahr jünger als er selbst. Mit ihrem Lächeln hatte sie ihn sofort gewonnen, doch anscheinend nahm sie ihn nicht war. Das Herz, auf dem 'Ich liebe dich, Kira' stand, hing weit oben in der Krone. Gut sichtbar zwischen den bunten Bändern aus anorganischen Stoffen. „Großvater wird stolz auf dich sein, wenn er das heute Abend in den Nachrichten sieht.“ Charlottes Stimme kam gedämpft aus der Dunkelheit. John nickte bloß. Vielleicht brachte diese alte, irgendwie doch neue, Tradition auch ihm Glück. 02.05.2079 „Immer noch gehen die Bilder dieses Baumes, der in der Nacht auf den ersten Mai aufgestellt wurde durch alle Medien!“, erzählte eine Pressesprecherin voller Bewunderung. „Der Aufsteller dieses Prachtbaumes soll angeblich festgenommen werden, doch wir haben nachgeforscht. Maibäume zu stellen war vor fast fünfzig Jahren noch eine gängige Tradition. Bis das Gesetz vom ersten Mai 2030 in Kraft trat. Das Verbieten dieses Brauchtums sollte den Umweltschutz und das Überleben auf diesem Planeten sichern. Nun frage ich mich und auch die ganze Bevölkerung, haben wir nicht lang genug ausgeharrt? Die tat eines mutigen jungen Mannes hat mich und ein paar weitere Leute wachgerüttelt. Ist dieses Gesetz nicht überflüssig geworden?“ Vor dem Monitor saß Thomas. Ein selbstzufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Bist du immer noch sauer, dass ich es ihnen damals erzählt habe?“, fragte er leise seine Frau. Ihr Bild stand neben der Urne, die ihrer Asche beinhaltete. Fast hörte er ihr Lachen. Wie sie tadelnd sagte: „Du alter Sturkopf!“ 01.05.1232, 12:14 Uhr „Danke Hanno. Die Birke ist wundervoll.“ Marta hauchte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. Wie konnte Hanno in diesem Augenblick ahnen, dass seine feixe Idee solche Wellen schlagen würde, dass das Aufstellen von Maibäumen eine Tradition wurde? Er war einfach glücklich mit sich und der Welt. Kapitel 5: SEPTEMBER -------------------- Informationen: Thema: September Autor: Fandom: Eigene Serie Wortzahl: ~ 2.2oo Worte -- Tag der Engel „Weißt du, was heute für ein heute Tag ist?“, die helle Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Mehrere Minuten lang hatte der junge Mann ganz still gestanden und die einzige Bewegung war der Wind gewesen, der mit den dunklen Strähnen seines Haares spielte. Haar, das ein wenig zottig wirkte, zu lang und wirr, um einer Frisur zugeordnet zu werden. Er blickte auf und sah ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das vor ihm stand, strahlend zu ihm empor lächelte, eine Zahnlücke offenbarend. Die Kleine trug ein blau-weißes Kleidchen und passende Schleifen im blonden Haar, auch ihre Augen leuchteten blau, so wie der Septemberhimmel über ihnen, den heute kaum eine Wolke zierte. Ihr rundes Gesicht war mit Sommersprossen regelrecht übersäht und auch ihre Kleidung wies an paar Flecken auf, als wäre sie beim Spielen nicht vorsichtig gewesen. Er blinzelte, ganz überrascht, weil ihm zuvor nicht aufgefallen war, dass sich noch jemand an diesem Ort befand und wie die meisten Kinder war auch die Kleine nicht sehr geduldig, sondern fuhr munter fort, noch ehe er sich eine Antwort überlegen konnte. Wahrscheinlich konnte er ganz froh darüber sein. Er hätte wohl nichts zu sagen gewusst. „Heute ist Tag der Engel“, erklärte das Mädchen stolz und er blickte sich unauffällig um, ob nicht die Mutter oder der Vater irgendwo zu entdecken wären, aber nein, da war weit und breit niemand zu sehen... „Aha...“, murmelte der Dunkelhaarige daher notgedrungen und fuhr sich mit einer Hand durch den zerzausten Schopf, weil er nicht recht zu wissen schien, was mit dem Kind anzufangen war. Was suchte sie hier? Sollte er sie einfach fortschicken? Oder sie ignorieren? Ihm war nicht danach, mit jemandem zu sprechen, doch Kinder beachteten solche Stimmungen wohl nicht. Das Mädchen runzelte die Stirn bei dieser nichtssagenden Reaktion und das Zahnlückenlächeln verblasste. Doch auf ihrem Gemüt schien die kurze Irritation wie eine Wolke am Himmel zu sein, vom Wind bald wieder fortgeweht, denn sie versuchte es erneut. „Glaubst du denn nicht an Engel?“, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf. Sie war klein, reichte ihm kaum zur Hüfte, aber vielleicht waren das alle Kinder, damit kannte er sich nicht aus. Er fühlte sich unwohl unter ihrem Blick. Scheinbar hatte das Mädchen vor, ihn so lange anzustarren, bis er sich zu einer Antwort erbarmte. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich und schien sie so erneut zu verwirren. „Wie kann man das nicht wissen?“, erkundigte sich das Mädchen verwundert. „Meine Mama hat gesagt, dass man den September auch Engelmonat nennt, weil am Tag der Engel den Erzengeln gehuldigt wird.“ Sie stolperte ein wenig über das vorletzte Wort des Satzes und er war ziemlich sicher, dass sie keine wirkliche Vorstellung von seiner Bedeutung hatte. Aber das war wohl so unerheblich wie die Information, die sie ihm gab. Nutzloses Wissen, wie Kinder es angeblich liebten. „Das ist schön“, erklärte er neutral und suchte erneut nach einem Menschen, der ihm helfen könnte. Natürlich hätte er einfach fortgehen können, aber das wollte er nicht. Und er brachte es auch nicht über sich, die Kleine grob zu behandeln, damit sie weglief. „Wo ist denn deine Mama?“, fragte er schließlich in der Hoffnung es werde irgendwohin führen. Doch das Mädchen zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Sie ist nicht hier, aber sie hat gesagt, dass ich auf sie warten soll. Sie hat mir versprochen, dass ich einen neuen Schal bekomme, für den Winter, einen blauen.“ Wieder dieses Lächeln, sie strahlte mit der Sonne um die Wette, wegen solch einer Kleinigkeit. Der Mann runzelte die Stirn, wer überließ denn ein Kind in diesem Alter einfach so sich selbst? An so einem Ort? Das schien ihm doch recht unverantwortlich. „Hat sie auch gesagt, wann sie wiederkommt?“ „Nein. Also ich glaube an Engel. Mama hat gesagt, dass sie oben im Himmel wären und auf die Menschen aufpassen würden und dass sie alle sehr schön seien, mit weißen Gewändern und Federflügeln, so wie Vögel. Aber das glaube ich nicht.“ „Nicht?“, fragte er, weil sie das zu erwarten schien, nicht, weil es ihn interessierte. Sie setzte sich jetzt auf die Kante der Bank, die sich keine zwei Schritte entfernt von der Stelle befand, an der er stand. Ihre Beine waren so kurz, dass sie den Boden nicht ganz berührten, so ließ das Mädchen sie baumeln und betrachtete wie es schien kurz seine Schuhe. Blaue Schuhe auf Stoff, ebenfalls mit Schleifen. Er fragte sich ob das alles der Jahreszeit wirklich angemessen war. Der Tag war warm, weil die Sonne schien, aber am Abend würde die Kleine sicherlich frieren. „Nein. Es müsste doch ziemlich langweilig sein, da oben auf den Wolken und mit weißen Kleidern wäre man ständig voller Flecken.“ Sie schüttelte das kleine Köpfchen so heftig, dass die blonden Korkenzieherlocken von einer Seite zur anderen flogen. „Ich glaube, dass Engel gar nicht so viel anders sind, als andere Menschen, deshalb erkennt man sie auch nicht, wenn sie herumlaufen, aber sie sind da und helfen den Leuten, das hat sogar in der Zeitung gestanden.“ „Soso“, murmelte der Mann und hätte doch beinahe gelächelt. Er schüttelte den Kopf. „Wer weiß das schon? Ein paar Engel mehr könnten vermutlich nicht schaden.“ Nun betrachtete die Kleine ihn wieder so, als wollte sie ihm direkt in den Kopf hineinschauen und unbehaglich wandte er den Blick ab und wünschte, er hätte geschwiegen. Er war nicht hierher gekommen, um zu reden... „Du bist traurig, richtig?“, fragte sie plötzlich und er kam nicht umhin verblüfft aufzublicken, sein Blick eine einzige Frage. Die Augen des Mannes waren braun. Ziemlich dunkel, wie auch sein fast schwarz wirkendes Haar. Sein Gesicht wirkte hager und war mit unregelmäßigen Stoppeln bedeckt. Scheinbar hatte nicht nur seine Frisur ein wenig Pflege nötig. „Wie kommst du darauf?“ Die Antwort bestand zunächst nur in einem Schulterzucken und die Kleine schaute nach oben zum Himmel, wo die Wolken weiterzogen, dem Horizont entgegen. „Weil das hier ein Ort für traurige Menschen ist“, erklärte sie dann. „Die kommen her, weil sie traurig sind und werden dann noch trauriger. Ich glaube sie warten auch auf jemanden, nur dass der andere nie kommt. Ich weiß nur nicht, ob das daran liegt, dass sie nicht lange genug warten, oder dass die anderen gar nicht wissen, dass sie warten. Vielleicht haben sie es ja vergessen?“ Erst jetzt traf ihr Blick wieder seinen. „Wartest du auch auf jemanden?“ Der Dunkelhaarige räusperte sich mit einem komischen Gefühl. Vermutlich weil er hier herumstand und sich mit einem Kind unterhielt, dass er nicht kannte. Und weil er nicht wirklich wusste, warum er das tat. „Nein, ich will nur jemanden besuchen“, murmelte er und schien im nächsten Augenblick selbst erstaunt über die Antwort zu sein. Das Mädchen wirkte verständnislos. „Hier? Wen denn?“, erkundigte sie sich neugierig und nun war sie es, die sich umblickte. Etwas entfernt konnte man jetzt eine ältere Frau mit einer Gießkanne entdecken, sie humpelte leicht beim Gehen, bewegte sich am Rand einer Wiese entlang von ihnen fort. Das Gras dort wirkte ein wenig kränklich, hatte sich wohl noch nicht von der Hitze des Sommers erholt und es wurde schon von den ersten Blättern des Herbstlaubes bedeckt, die im Sonnenlicht rot, gelb und braun schimmerten, wenn der Wind sie über die Wiese jagte. „Ja hier“, sagte er leise und blickte auf den Boden zu seinen Füßen. An dieser Stelle wuchs kein Gras, sondern es zog sich ein heller Sandweg über das Gelände. „Einen sehr guten Freund von mir.“ „Und warum ist er hier?“, fragte sie wiederum. Immerhin war es ein Ort, der Menschen unglücklich machte, da gab es doch sicherlich bessere Treffpunkte, oder nicht? „Er war sehr krank“, antwortete der Mann leise und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er bemerkte es gar nicht, wie das Mädchen aufstand, aber das musste sie getan haben, denn plötzlich umfassten ihre Hände seine, so gut sie das angesichts der Größenverhältnisse vermochte. Sie stand wieder vor ihm, blickte zu ihm hoch. Scheinbar merkte die Kleine instinktiv, dass es ihm nicht gut ging, sie verstand nur nicht, warum das so war. „Aber jetzt geht es ihm besser?“, fragte sie arglos. „Das bleibt wenigstens zu hoffen“, murmelte der Dunkelhaarige und seine Stimme klang ein wenig rauer als zuvor. „Aber so genau kann das wohl keiner sagen.“ Ihr Blick glich einem Fragezeichen, als er eine seiner großen Hände aus ihrer winzigen löste um ihr kurz über den blonden Schopf zu streichen. „Bestimmt“, bekräftigte sie da und hielt nun seine andere Hand umso fester. „Und dann freut er sich bestimmt auch über Besuch. Es ist langweilig krank zu sein und dann ist es gut, wenn jemand kommt und einem davon erzählt, was passiert, solange man nicht dabei sein kann. Das ist dann fast so, als wäre man doch da gewesen.“ „Ja“, sagte er leise und musste nun doch lächeln. Es tat irgendwie ein bisschen weh, aber das war ein guter Schmerz, die Art, die man nach einem langen Augenblick der Leere spürt und die die Dinge wieder realer macht, wenn sie wie ein Traum erscheinen. „Das ist wohl so.“ Die Kleine wirkte plötzlich ziemlich zufrieden, als sie das Lächeln erwiderte, inklusive Zahnlücke und Sommersprossen. Dann hob sie den Kopf, als würde sie etwas hören. „Ich glaube, da kommt meine Mama!“, rief sie glücklich und ließ seine Hand los. Er blickte auf, sah sich um, doch konnte er noch immer niemanden entdecken. Der Friedhof lag ganz still da, die alten Bäume warfen Schatten auf die Grabsteine in all ihren Form- und Farbschattierungen auf die Blumen und Bilder, die Kreuze und Kränze und all die Gaben, mit denen die Lebenden die Toten näher zu holen suchten. Er verengte die dunklen Augen ein wenig, weil die Sonne ihn blendete und da entdeckte er doch jemanden. Eine Frau in einem grauen Herbstmantel, die mit langen Schritten den Sandweg entlang eilte. Sie wirkte ein wenig gehetzt, ein wenig bleich. Ihre Stiefel waren staubig, das lange helle Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Die Frau war jünger, als er es erwartet hätte, jünger, als er selbst es war, wenngleich nur ein oder zwei Jahre und sie vermittelte einen guten Eindruck davon, wie das Mädchen einmal aussehen würde, wenn es erst erwachsen war. Etwas aber wunderte den Mann. Sie blickte sich gar nicht um, als wüsste sie, wo ihre Tochter zu finden wäre, was nicht sein konnte, denn sie lief ja zielstrebig an ihm vorbei. Der Mann wollte etwas sagen und bemerkte plötzlich, dass die Kleine fort war. Sie musste weggelaufen sein, als er nicht mehr auf sie achtete, vielleicht zum Treffpunkt? Aus keinem besonderen Grund verspürte er den Drang, der Frau zu folgen und deshalb tat er es, auch wenn er sich ein wenig seltsam dabei fühlte. War es doch nicht die Mutter der Kleinen? Er hätte die Ähnlichkeit beschwören können... Aber die schlanke Blondine war an einem Grab stehen geblieben und der Ausdruck tiefen Kummers auf ihrem schmalen Gesicht war ihm vertraut. Er kannte die Leere, die ein Mensch hinterlassen konnte sehr genau und er hatte selbst gerade erst einen Eindruck davon bekommen, dass man diese Leere vielleicht irgendwann würde füllen können. Auch hier war das Mädchen nicht zu sehen und etwas durcheinander wollte der Dunkelhaarige sich zurückziehen, damit er nicht störte, als die junge Frau etwas aus ihrer Tasche zog und auf das Grab legte. Der Anblick ließ ihn verwirrt stehen bleiben, denn es handelte sich um einen Schal, einen himmelblauen Schal, der inmitten all der Naturtöne auf dem Grab hell leuchtete. Er vernahm ein ersticktes Schluchzen aus Richtung der Frau und plötzlich verließ sie beinahe fluchtartig das Grab, eilte an ihm vorbei, so dicht, dass sie ihn fast berührte und schien ihn dabei doch gar nicht wahr zu nehmen. Mit einem ganz seltsamen Gefühl trat er etwas näher an das Grab mit dem Schal. Es war ein Kindergrab, zwischen den bunten Blumen fand sich Spielzeug, der Grabstein war ein Engel aus hellem Marmor und die gefalteten Hände des Himmelswesens bargen ein Bild, das Foto eines kleinen blonden Mädchens, das mit einer Zahnlücke breit in die Kamera grinste, einen Teddybären umklammernd. Ein Mädchen, dass vor ungefähr einem Monat gestorben war. Er las die Inschrift des Grabes und war dabei doch unfähig, das Ganze zu begreifen. Doch erinnerte er sich daran, dass etwas in der Zeitung gestanden hatte. Sie war in der Fußgängerzone überfahren worden, von einem Betrunkenen, während sie vor einem Laden auf ihre Mutter gewartet hatte... Ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar. Heute ist Tag der Engel... Ich glaube, dass Engel gar nicht so viel anders sind, als andere Menschen, deshalb erkennt man sie auch nicht, wenn sie herumlaufen, aber sie sind da und helfen den Leuten... Einem Impuls folgend, wandte auch er sich ab, lange Schritte trugen ihn von den Reihen der Gräber fort, in die selbe Richtung, in die die Frau gelaufen war. Sie hatte sich nicht weit entfernt, denn scheinbar war ihre Tasche heruntergefallen und der Inhalt hatte sich verstreut. Der Dunkelhaarige bückte sich, um ihr behilflich zu sein, als er nach einem der Gegenstände griff, berührten sich zuerst ihre Hände, in der nächsten Sekunde ihre Blicke. Vielleicht gab es tatsächlich so etwas wie Engel... In jedem Fall gab es Menschen. Und manchmal verlor man sie, manchmal fand man sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)