Der fremde Freund von Nugua ================================================================================ Milly Ashford, Part II ---------------------- Die Zeit des Redens ist vorüber. Die Zeit der Zweifel ist vorüber. Die Zeit des Zauderns ist vorüber. Die Zeit des Sterbens ist gekommen. Das Schwert singt sein tödliches Lied. Der Tyrann lächelt dem Tod entgegen. Die Welt hält den Atem an. --- Es geschah ungefähr eine Stunde später, als sie auch ihre restlichen Einkäufe erledigt hatten und gerade auf dem Weg zur Straßenbahn waren. Milly erklärte in aller Ausführlichkeit, was sie alles tun würde, wenn sie erst einmal Schulrätin wäre – und natürlich auch, was Lelouch als ihr Stellvertreter zu tun hätte – während Lelouch schicksalsergeben neben ihr herlief und sich damit abmühte, hinter ihren euphorisch großen Schritten nicht zurückzufallen. „-und dann sollten wir ein jährliches Schulfest veranstalten! Ich bin mir noch nicht über den Termin und das Programm sicher, aber ich habe schon eine Menge Ideen. Wenn wir das alles per Mind Map zusammentragen, werden wir bestimmt-“ Ihr Redeschwall brach jäh ab, als sie um eine Ecke bog und auf der gegenüberliegenden Straßenseite vier Teenager erblickte, die auf zwei andere Jungen im Teenageralter einprügelten. „Was zum-“ Milly setzte schon automatisch einen Schritt nach vorn, blieb aber stehen, als Lelouch ihr von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Er betrachtete die Szene ausdruckslos. „Japaner“, sagte er leise. „Was?“ „Die Jungen, die dort verprügelt werden, sind Japaner.“ Natürlich. Der Anblick hatte sie so sehr abgelenkt, dass ihr die wüsten Beschimpfungen der Schläger gar nicht aufgefallen waren, aber jetzt, wo sie darauf achtete, waren sie klar und deutlich zu hören. „Ihr dreckigen Elevens!“ Einer der Angreifer hatte sein Opfer zu Fall gebracht und trat ihm nun immer wieder in den Bauch, wobei er bei jedem Tritt das Wort „Elevens“ wiederholte. „Elevens! Elevens, Elevens, Elevens!“ Milly spürte, wie etwas in ihrem Inneren gefror. Auch der andere Eleven war inzwischen zu Boden gefallen und wurde von seinen Angreifern bespuckt, verhöhnt und mit Tritten traktiert. „Warum unternimmt denn keiner was?“ Sie blickte sich auf der Straße um – sie war zwar nicht besonders belebt, aber auch nicht völlig leer; sechs weitere Passanten liefen auf dem Bürgersteig entlang und schenkten der Szene nicht die geringste Beachtung. „Das fragst du noch?“ Lelouchs Lachen war freudlos und rau. „Das sind Japaner – Elevens. Das sagt doch schon alles.“ Lelouchs Worte drangen nur undeutlich zu ihr durch; es war als wäre sie von einem Schleier umhüllt, der seine Worte dämpfte. Nur das „Elevens“-Gegröle der Britannier war klar und deutlich zu hören. „Halt das mal!“ Bevor sie überhaupt wusste, was sie tat, hatte sie ihm auch schon ihre Einkäufe in die Hand gedrückt, nur einen einzigen Beutel behielt sie für sich selbst. Sämtliche Verhaltensregeln, die sie von ihrer Mutter als junge Dame lernen hatte lernen müssen, waren vergessen, als sie wie ein wütendes Rhinozeros zur gegenüberliegenden Straßenseite stampfte. „Hey!“ Sie blieb vor den Teenagern stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. “Was tut ihr da?!” Aus der Nähe kamen ihr die Schläger plötzlich viel älter und größer vor als vorher, doch ihre Wut erstickte die Furcht bereits im Keim. „Hä?“ Die Angreifer drehten sich alle gleichzeitig zu ihr um und musterten sie verwirrt, dann bemerkten sie ihre Schuluniform. Einer von ihnen, offenbar der Anführer, grinste auf eine Art, die er anscheinend für cool hielt. „Hallo Kleine! Wir räumen hier nur ein bisschen auf.“ „Das sehe ich! Wie wär’s, wenn ihr die beiden jetzt in Ruhe lasst und verschwindet?“ Das aufgeblasene Grinsen entwich aus dem Gesicht des Anführers wie Luft aus einem Ballon. „Was bildest du dir ein? Nur, weil du ein Mädchen bist, heißt das noch lange nicht-“ „Wenn ihr nicht sofort verschwindet“, rief Milly aufgebracht, „schreie ich so laut, dass euch davon noch wochenlang die Ohren klingeln!“ „Jetzt krieg dich mal wieder ein! Das sind nur Elevens!“ „Ihr sollt verschwinden!“ Milly griff in ihren Beutel und zog eine Pistole heraus. Es war keine echte Pistole, sondern eine harmlose Wasserpistole, die auf den ersten Blick aber ziemlich echt aussah – und Milly wollte diesen Idioten nicht die Gelegenheit bieten, einen zweiten Blick darauf werfen zu können. Sie hob die Pistole und begann, wie eine Verrückte zu kreischen. Ihre Schreie schienen Wunder zu wirken - alle Passanten, die bisher völlig teilnahmslos an ihnen vorbeigelaufen waren, blieben wie angewurzelt stehen und warfen ihnen entsetzte Blicke zu. Zuerst sah es so aus, als wollten sich die Angreifer gemeinsam auf Milly stürzen, doch die Aufmerksamkeit der vielen Menschen schien sie zu verunsichern und die Art, wie Milly schrie und mit der Pistole herumfuchtelte, zehrte noch zusätzlich an ihren Nerven. Nach einigen Sekunden – Millys Herz schlug so schnell, dass sie hinterher unmöglich einschätzen konnte, wie lange es wirklich gedauert hatte – kamen sie zum dem Schluss, dass es wirklich besser wäre, zu verschwinden. Sie wirbelten alle gleichzeitig herum, als hätte jemand ein geheimes Startsignal gegeben, und rannten davon. Milly wartete, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwanden, dann hörte sie auf zu schreien und steckte zitternd die Pistole weg. Sie fühlte sich so aufgeputscht, dass sie am liebsten laut gelacht hätte und hatte gleichzeitig das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Ha! Milly Ashford packt sie alle! Sie wandte sich den Elevens zu, die gerade dabei waren, sich aufzurappeln, und hielt dem Jungen, der ihr am nächsten war, mit einem Lächeln die Hand hin. Er hatte Nasenbluten und Schürfwunden im Gesicht, weitere Verletzungen konnte sie im Moment nicht erkennen. „Seid ihr in Ordnung? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Es tut mir wirklich leid, nur weil ihr Elevens seid-“ Es war ein Fehler, dieses Wort zu verwenden, aber als Milly das begriff, war der Schaden bereits angerichtet. Noch vor dem Bruchteil einer Sekunde hatten die Jungen sie nur verwirrt angesehen, vielleicht sogar ein wenig erleichtert und dankbar. Diese Emotionen verloschen jedoch unmittelbar, nachdem sie das Wort „Elevens“ ausgesprochen hatte. „Elevens?!“ Ein leises, bedrohliches Zischen. „Wir sind keine Elevens!“ Nun um einiges lauter und unverkennbar wütend. Der Junge schlug ihre Hand weg und stand selbstständig auf. „Es tut mir leid!“ Milly wich reflexartig vor ihm zurück, die kalte Wut in seinen Augen erschreckte sie mehr als die brutalen Schlägertypen, die sie gerade erst verscheucht hatte. „Es ist nur-“ „Ihr Britannier seid doch alle gleich! Ganz egal, was ihr tut, ihr denkt alle, ihr wärt was Besseres als wir! Wo wir auch hingehen, überall heißt es „Elevens, Elevens, Elevens!“, aber wir sind keine Elevens, wir sind Japaner! Und dieses Land ist nicht Area 11, es ist-„ „Nippon.“ Milly zuckte zusammen, als dicht hinter ihr eine Stimme ertönte, und drehte sich um. Lelouch! Sie hatte ihn in ihrer Aufregung total vergessen, aber jetzt war er plötzlich da. Lelouch trat noch ein paar Schritte nach vorne, sodass er zwischen ihr und den Elevens stand. Fast so, dachte sie in einem überdrehten Anflug von Belustigung, als wollte er mich schützen. Die Elevens – Japaner, korrigierte sie sich in Gedanken – waren anscheinend genauso verdutzt wie sie selbst, doch bevor sie die Gelegenheit hatten, etwas zu sagen, redete er weiter. Millys Verwirrung stieg, denn sie konnte kein einziges Wort verstehen. Das allerdings schien bei den Japanern anders zu sein. Sie hörten Lelouch aufmerksam zu und schienen alles zu verstehen, auch wenn ihnen ihre Überraschung – und Angst? – immer noch deutlich anzusehen war. Und dann fiel es Milly wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Er spricht Japanisch! Ihre Muttersprache! Es war so offensichtlich, dass sich Milly wegen ihrer Begriffsstutzigkeit am liebsten in den Hintern gebissen hätte. Sie hatte diese Sprache noch nie in ihrem Leben gehört, weil Britannia den Japanern nach ihrer Niederlage im Krieg verboten hatte, weiterhin Japanisch zu sprechen – genau, wie es ihnen verboten wurde, sich selbst „Japaner“ und ihre Heimat „Japan“ zu nennen. Aber das bedeutete selbstverständlich nicht, dass die Japaner ihre Muttersprache innerhalb der kurzen Zeit einfach vergessen hatten. Und Lelouch kannte die Sprache logischerweise auch noch, weil er sie schon vor der Invasion von Britannia lernen musste, als er und Nunnally als politische Geiseln an Japan verkauft wurden. Was auch immer Lelouch sagte, es verfehlte seine Wirkung nicht. Schon nach kurzer Zeit traten die Japaner ihren Rückzug an, allerdings drehten sie sich dabei immer wieder um und warfen ihnen unsichere Blicke zu, als könnten sie kaum glauben, was sie gerade erlebt hatten. Nun, das konnte Milly ihnen nachfühlen. „Wir sollten auch gehen, Milly“, sagte Lelouch. Milly war so durcheinander, dass sie seine Worte zuerst gar nicht registrierte. Mit einem ungeduldigen Seufzen ergriff er ihre Hand und zog sie hinter sich her. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass die Einkaufstüten verschwunden waren. „Wo willst du hin? Wir müssen in die andere Richtung! Was hast du mit unseren Einkäufen angestellt?“ „Hmpf, ist das alles, woran du denken kannst? Als würde ich das Zeug wegwerfen und riskieren, dass du mich ein zweites Mal zu einer Einkaufstour mitschleppst. Nein, ich habe schon alles im Taxi abgeladen. Ja, es kam gerade ein Taxi vorbei und ich habe den Fahrer mit einem großzügigen Trinkgeld davon überzeugt, dass es besser wäre, zu warten“, fügte er hinzu, als er ihren Blick bemerkte. „Wir sollten so schnell wie möglich fort von hier. Du hast ziemlich viel Aufmerksamkeit auf dich gelenkt ... wäre doch unschön, wenn meine Identität auffliegt, weil die Polizei die ganze Gegend nach einem Amok laufenden Schulmädchen mit Pistole absucht.“ Dieser Vergleich ließ sie erröten. „Ich wollte doch nur helfen!“ „Ich weiß. Aber es war trotzdem unnötig leichtsinnig. Du hättest dich vorher mit mir absprechen sollen. Uns wäre bestimmt eine sicherere Methode eingefallen, um diese Schlägertypen zu vertreiben, als sie mit Wasserpistolen zu bedrohen. Sei in Zukunft ein bisschen vorsichtiger, wenn du dich unbedingt in solche Streitigkeiten einmischen musst – viele Japaner verhalten sich gegenüber Britanniern nicht minder feindselig als umgekehrt.“ Sie bogen um die Ecke, wo auch schon mit geöffneten Türen ihr Taxi wartete. Lelouch ließ ihre Hand los und bedeutete ihr mit einer Geste, hinten einzusteigen, bevor er schließlich neben dem Fahrer Platz nahm. Die Fahrt verlief schweigend. Keiner von ihnen wagte es, das Thema in Anwesendheit des Fahrers fortzuführen und Milly hatte auch nicht die Nerven, gleich auf solch banale Themen wie Schulfeste umzuschwenken. Erst, als sie 20 Minuten später mit Tüten überladen vor den Eingangstoren der Ashford-Akademie standen, stellte sie die Frage, die ihr unter den Nägeln brannte. „Die Japaner wirkten ziemlich entsetzt. Was hast du zu ihnen gesagt?“ Ein unwilliger Ausdruck trat in sein Gesicht. „Das musst du nicht wissen.“ „Ich bin aber neugierig.“ „Deine Neugier wird dir eines Tages noch zum Verhängnis werden. Manchmal ist es gesünder, sich nicht überall einzumischen.“ „Lelouch! Du weißt ganz genau, dass ich keine Ruhe gebe, bis du es mir verraten hast. Also gib lieber gleich auf!“ „Vielleicht habe ich ihnen gesagt, dass sie sich besser nicht mit dir anlegen sollten, weil du sie sonst einfach zu Tode quasseln würdest.“ „Lelouch!“ Sie boxte ihm mit einem unterdrückten Lachen spielerisch in die Seite. „Also gut!“ Der Gedanke "Sei geduldig mit dem nervtötenden, Amok laufenden Schulmädchen!" stand ihm regelrecht auf der Stirn geschrieben. „Um es kurz zu fassen: Ich habe ihnen gesagt, dass sie ihre Zeit nicht damit verschwenden sollen, unschuldige Mädchen anzupöbeln und dass sie stattdessen etwas gegen ihre Besetzer selbst unternehmen sollten, wenn sie wirklich etwas an den Missständen in ihrem Land ändern wollen.“ „Lelouch!“ Ihre gerade erst wiedererlangte gute Laune war dahin. „Bist du wahnsinnig? Wie kommst du nur auf die Idee, sie gegen Britannia aufzustacheln? Du weißt genau, wie brutal das Militär die Widerstände der Japaner immer wieder niederschlägt, du schickst diese Jungen doch nur in den sicheren Tod!“ Sie starrte ihn an und hatte für einen kurzen Augenblick das grauenhafte Gefühl, dass er gleich in schallendes Gelächter ausbrechen würde – aber der Augenblick währte nicht lang, nach einem Wimpernschlag war er vorüber und plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich das vielleicht nur eingebildet hatte. Als Lelouch sprach, war seine Stimme eindringlich und ruhig. „Milly, glaubst du wirklich, ich hatte das ernst gemeint? Ich habe bloß irgendwas dahergesagt, um sie zu schockieren und von dir abzulenken, das ist alles. Diese Kinder würden sich sowieso niemals gegen Britannia auflehnen. Sie hatten genug Mumm, um ein einzelnes Mädchen zu bedrängen, das war aber auch schon alles.“ „Wirklich? Aber ich dachte ... es ist nur ... ich weiß, dass du deinen Vater hasst, und ...“ Milly strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um das Durcheinander aus ihrem Kopf zu vertreiben. Dann atmete sie einmal tief durch und lächelte. „Du darfst mir nicht noch einmal so einen Schrecken einjagen, hörst du?“ „Ich werde mir Mühe geben, obwohl ich das gleiche auch von dir verlangen könnte.“ Lelouch erwiderte ihr Lächeln; es war das erste offene Lächeln, das sie an diesem Tag und seit langer Zeit von ihm zu sehen bekam. „Versprochen?“ „Ich verspreche es.“ Milly wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Lelouch absolut miserabel darin war, Versprechen einzuhalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)