Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 13: Die vereinte Gruppe ------------------------------- Hallo ihr Lieben! Ich habe immer noch nicht mein früheres Tempo erreicht, aber immerhin sind die Kapitel wieder etwas regelmäßiger geworden :) Großer Dank wegen dieses Kapitels gilt meiner besseren Hälfte, Lisa, weil ich dank ihr wieder ordentlich von der Muse geküsst wurde, was diese Geschichte angeht und sie mir geholfen hat, meinen zwischenzeitlichen Hänger zu überwinden. Deswegen ist das Kapitel auch ihr gewidmet ;) Viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende für euch alle! ______________________________________ »Ok, also... ihr geht miteinander aus...«, sagt Anjo langsam, nachdem ich ihm stockend und mit roten Wangen erzählt habe, was Gabriel am Tag zuvor gesagt hat. »Äh... ja? Weiß nicht? Oh Gott...«, gebe ich zurück und verberge das Gesicht in den Händen. Anjos Mundwinkel haben während meiner verwirrten Erzählung oftmals gezuckt und ich habe ihm aus Versehen auch von meinen peinlichen Gedanken bezüglich des Gegenseitig-Waffeln-mit-Puderzucker-Fütterns berichtet, um ihm mein Elend zu verdeutlichen. Mein bester Freund scheint meine schwierige Situation allerdings nicht als solche zu erkennen, sondern amüsiert sich offenkundig über mein beknacktes Verhalten. »Wie funktioniert sowas? Das ist ein komisches Konzept! Ich kenn das nur aus Hollywoodfilmen und da scheint’s mir immer besonders bescheuert zu sein. Soll ich ihn anrufen? Was erwartet er von mir? Gibt’s irgendwelche Regeln, die man beachten muss? Oh Mann, ich bin fürs echte Leben einfach nicht zu gebrauchen...«, brassele ich zusammenhanglos vor mich hin und raufe mir die Haare. Wir haben uns nicht zum Abschied geküsst. Nicht mal umarmt. Gabriel hat mich nur angestrahlt und sich mit einer Handbewegung verabschiedet. Was bedeutet das? Ist das normal? Heißt das, dass es mies war? Wo gibt es eine Beratungsstelle für Menschen wie mich, die in der echten Welt mit allem überfordert sind und die Vorstellung, beim Mann ihres Interesses anzurufen, so furchtbar finden, dass eine Panikattacke durchaus nicht auszuschließen wäre? »Bisher macht er mir nicht den Eindruck, als würde er irgendwas von dir erwarten. Zumindest nicht, ohne es dir mitzuteilen«, meint Anjo ruhig. Er strömt wieder diese friedfertige Aura aus, die mich immer ganz gut beruhigt. Ich atme tief durch. »Ja. Er sagt dauernd, was er denkt. Und fühlt. Ein Alptraum!«, gebe ich zurück. Anjo gluckst heiter. »Ich find es eigentlich ziemlich nett. So weißt du auf jeden Fall immer, woran du bist«, entgegnet er und hat selbstverständlich sehr Recht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht überfordert sein kann. »Aber ich kann das nicht!« Ich wimmere nicht. Auf keinen Fall. Es war ein total männliches Verzweiflungsgeräusch, das ich da von mir gegeben habe. Jawohl. »Das musst du ja auch nicht. Bislang hat er sich nicht bei dir beschwert, oder? Ihm ist sicher klar, dass nicht jeder Mensch sein Herz auf der Zunge mit sich herumträgt«, erklärt Anjo ganz ruhig und legt eine schlanke Hand auf meinen Unterarm. Ich starre die Hand an und frage mich, ob ich jemals mit Gabriel Händchen halten werde, oder ob er vorher Reißaus nimmt. Um Himmels Willen. Jetzt denke ich schon übers Händchen halten nach. »Was mache ich jetzt? Ist es zu früh, um ihm eine SMS zu schreiben? Wir sehen uns übermorgen beim Training. Vielleicht nerv ich ihn auch...« Anjo schüttelt lächelnd den Kopf und seufzt. »Er findet dich offensichtlich ziemlich toll. Ich meine... er hat dich jetzt schon mehrmals gefragt, ob du nach dem Training noch Zeit hast, dann wollte er wissen, ob du auf Männer stehst, und dann hat er dir verkündet, dass euer letztes Treffen ja dann als erstes Date zählen kann. Wenn das nicht riesige Leuchtreklame dafür ist, dass er den Kontakt mit dir sucht, dann weiß ich auch nicht, wie man es noch deutlicher ausdrücken könnte«, antwortet er und drückt mir mein Handy in die Hand, das ich neben mir aufs Bett gelegt habe. Für den Fall, dass ich eine SMS bekomme. Von jemandem. Zum Beispiel Gabriel. »Aber was soll ich denn schreiben?«, klage ich peinlich berührt und bekomme sofort schwitzige Hände, als ich die SMS-schreibe-Funktion des Handys öffne und das leere Display anstarre. Mein Herz schlägt ein paar Saltos. Oh Gott, ich bin so dermaßen am Arsch, es ist unglaublich. Ein Herzinfarkt steht kurz bevor. So schlimm hab ich mich bei Anjo nie gefühlt. Wann genau zwischen ein paar Trainingsstunden, Waffeln und bösen Blicken ist es passiert, dass ich so eine üble Verknalltheit entwickelt hab? Ich weiß es wirklich nicht. »Schreib doch, dass du‘s gestern schön fandest und ihn gern wieder treffen würdest«, schlägt Anjo fort. »Aber ist das nicht zu aufdringlich? Wie gesagt, wir haben uns erst gesehen und sehen uns in zwei Tagen wieder und dann klingt es vielleicht so, als wollte ich ihn heute schon wieder treffen! Nicht, dass ich das nicht eventuell wollen würde, aber man muss es ja auch nicht übertreiben. Und außerdem ist er ein vielbeschäftigter Typ und...« Anjos schmale Finger legen sich sachte auf meinen Mund und er sieht mich so streng an wie ein Babyhund, der auf den Arm genommen werden will. Trotzdem verfalle ich in Schweigen. »Dann schreib ihm nur, dass du es schön fandest und hoffst, dass er einen tollen Tag hat«, meint er. Ich seufze gegen seine Hand, bevor Anjo sie von meinem Mund wegzieht. Mein Blick richtet sich aufs Display und ich fange mit fahrigen Fingern an zu tippen. »Hey! Ich hoffe du hast einen schönen Tag. Danke für gestern, es war toll.« Ich starre auf die Worte hinunter und versuche mir vorzustellen, was ich denken würde, wenn Gabriel mir so eine SMS schreiben würde. Ich würde vermutlich allein deswegen vor Freude ausrasten, weil er mir überhaupt geschrieben hat. In diesem Moment vibriert mein Handy und ich lasse es vor Schreck auf den Boden fallen. Anjo gibt es unterdrücktes Schnauben von sich, das wohl ursprünglich ein Lachen war. Toll. Lach mich ruhig aus, kein Problem. Ich hebe das Handy wieder auf, schließe die SMS und öffne die Nachricht, die ich gerade bekommen hab. »Ich muss die ganze Zeit an dich denken.« Ein Herzstillstand ereilt mich und ich lasse mich rücklings aufs Bett fallen. »Was ist los? Alles ok? Du bist ganz rot im Gesicht!«, sagt Anjo und beugt sich über mich. Ich muss unweigerlich daran denken, wie Anjos Nähe mich noch vor ein paar Monaten unheimlich nervös gemacht hat. Aber jetzt beruhigt er mich einfach nur noch und stattdessen bin ich ein Nervenbündel wegen der SMS, die noch auf meinem Display zu sehen ist. Ich halte Anjo das Handy hin und er lächelt strahlend. »Wie schön. Siehst du, du nervst ihn nicht«, meint er und tätschelt mir die Schulter. Ich lege das Handy auf meinen Bauch und sehe mit leerem Blick und hämmerndem Herzen hoch zur Decke. Um Himmels Willen. »Jetzt weiß ich erst recht nicht mehr, was ich schreiben soll«, krächze ich und versuche mich zu beruhigen. »Du könntest ihm natürlich schreiben, dass du auch an ihn denkst«, flötet Anjo unschuldig und ich möchte ihn ein wenig schütteln. »Bist du des Wahnsinns?«, gebe ich zurück und sehe ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei sich. Anjo schmunzelt. »Wieso? Es stimmt doch«, sagt er. »Ja, schon! Aber das kann ich nicht einfach so sagen. Und tu nicht so, als hättest du es immer einfach gefunden, Christian deine Gefühle zu erklären«, gebe ich zurück und wedele streng mit einem Zeigefinger vor Anjos Nase herum. Er nickt ergeben. »Ja, ich weiß. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht besser gewesen wäre, wenn wir öfter darüber gesprochen hätten.« Ugh. Wieso muss er immer so weise und vernünftig sein? Ich nehme das Handy wieder in die Hand und starre auf die Worte. Mein Magen kribbelt so heftig wie mehrere riesige Brausetabletten in einem Wasserglas. »Geht mir auch so.« Ich glaube nicht, dass ich das abschicken kann. Kann irgendwer mich retten? Kann sich die Erde auftun und mich verschlingen? Bitte bitte. Bevor ich mir Gedanken über meinen kurz bevor stehenden Untergang machen kann, hab ich auf Senden gedrückt und jetzt schaue ich mit Schrecken zu, wie die SMS verschickt wird. Verfluchte Scheiße. Mitteilung gesendet, verkündet mein Handy mir. Ich drehe mich auf den Bauch und vergrabe mein Gesicht in Anjos Bettdecke. Er tätschelt mich schon wieder. »Gabriel freut sich bestimmt«, versichert er mir. Es dauert keine Minute, da vibriert mein Handy erneut und ich japse ins Kissen, was Anjo erneut zum Lachen bringt. Mit einem Auge linse ich auf mein Display und öffne die Nachricht. »Jetzt kann ich den Rest des Tages mit einem Grinsen im Gesicht verbringen.« Hatte ich schon das Kribbeln in meinem Magen erwähnt? Ja? Nun, es verdient an dieser Stelle erneute Erwähnung. Ich lasse Anjo die SMS lesen. »Sag ich doch«, triumphiert er. Ich hab es nicht leicht mit mir selbst. Wirklich nicht. * Gabriel und ich tauschen in den beiden folgenden Tagen noch einige belanglose SMS, die mich trotzdem jedes Mal wieder in Aufregung versetzen, weil jeder Kontakt mit Gabriel meine Nerven zum Sirren bringt. Ich frage mich, wie ich Gabriel vorm Training begrüßen soll, aber da er mich nach unserem... Treffen... auch nicht umarmt hat, denke ich, dass ein einfaches Hallo wohl ausreicht. Trotzdem sterbe ich vielfache Tode, bin viel zu früh in der Umkleide und versuche, mir den linken Turnschuh über den rechten Fuß zu ziehen. Ich gehe zehn Minuten auf und ab und sage mehrmals hintereinander Hallo in unterschiedlichen Tonlagen, komme mir dabei wahnsinnig bescheuert vor und haue mir ein paar Mal die Hand gegen die Stirn. Meine Gedanken werden abgelenkt, als ich draußen vor der Halle laute Stimmen höre und angesichts dessen die Stirn runzele. Ich verstehe die Worte nicht, aber der Ton klingt nicht sehr freundlich und ich stapfe hinüber zur Tür, ziehe sie auf und sehe mich einem Tumult aus mehreren jungen Männern gegenüber. Drei davon kenne ich nicht, einer ist Gero. Ein Wisch aus schwarzem Haar und eine Lederjacke verraten mir, dass auch Gabriel in dem Knäuel steckt. Und dort stehen Ismail, Paul und Karol und treten unschlüssig von einem Bein aufs andere. Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber ich bin mit zwei Schritten bei dem raufenden Haufen und schiebe mich zwischen Gero und einen der Kerle, der besonders breite Schultern hat und dessen Muskelshirt seine beeindruckenden Oberarme zur Schau stellen. Aus dem Stimmengewirr höre ich nur ab und an Fetzen wie »Kleiner Pisser« und »Hurensohn«. Als sich noch mehr laute Stimmen hinzu mischen, wird mir klar, dass Dominik und Jason Gabriel und mir behilflich dabei sind, die drei Kerle von Gero wegzuziehen, der laut flucht und schimpft und um sich schlägt. Schließlich ist die komplette Trainingsgruppe dabei, die drei Jungs von Gero zu trennen. Sie sehen aus, als würden sie sich gerne richtig prügeln, aber bei acht gegen drei scheint ihnen klar zu sein, dass es böse enden könnte. Sie beschimpfen ihn noch und spucken vor uns auf den Boden, bevor sie an der Gruppe vorbei gehen und um die nächste Ecke verschwinden. Gero steht schnaufend und mit gesenktem Kopf in unserer Mitte und ich hab keine Ahnung, was eigentlich passiert ist. Alle sehen ratlos aus. Alle, außer Gabriel, der zu Gero hinüber geht und ihm die Hände auf die Schultern legt. »Hey«, sagt er leise und Gero hebt den Kopf und starrt ihn wütend an. »Was ist los?« »Das geht dich ‘nen Scheiß an!«, presst Gero zwischen den Zähnen hervor. Und dann passiert etwas Furchtbares. Gero sackt in sich zusammen und bleibt mitten auf dem Fußweg sitzen, das Gesicht in den Händen verborgen. Das Beben seiner Schultern kann nichts anderes heißen, als dass er weint. Scheiße. Alle stehen ratlos und unangenehm berührt herum, Passanten starren fragend und misstrauisch zu uns herüber und mir ist klar, wie es aussehen muss. Eine Gruppe aggressiv aussehender Jugendlicher, die um einen schmächtigen Jungen herum stehen, der weint. Aber niemand kommt zu uns herüber. Wir sind alle angsteinflößend. Ausgestoßene, missratene Parasiten der Gesellschaft, mit denen sich keiner näher beschäftigen will. Keiner außer Christian. Ich bin sehr froh und dankbar darüber, dass niemand Gero auslacht. Letztendlich wissen wir alle, dass die anderen auch ein Scheißleben haben und es vermutlich genug Gründe für einen Nervenzusammenbruch gibt. »Komm, wir gehen in die Umkleide«, sagt Gabriel leise und zu Gero hinunter gebeugt. Es dauert einen Moment lang bis Gero in Bewegung kommt. Er sieht niemanden an und Gabriel geht mit ihm voran in die Umkleide, ich direkt hinter ihnen, und die anderen folgen uns allmählich. Niemand denkt daran, sich umzuziehen. Ich hab meinen rechten Schuh noch nicht zugebunden, doch ich achte nicht darauf und setze mich neben Gabriel und Gero auf den Fußboden. Zögernd, als würde das Sich-dazu-Setzen einem Vertrag gleich kommen, dessen Bedingungen man nicht kennt, lassen sich auch die anderen nieder. Wir sitzen völlig verstreut und nicht so, wie Freunde eng beieinander sitzen würden. Ich war mir eigentlich sicher, dass ich niemals eine der Geschichten erfahren würde, die sich um meine Mitstreiter ranken. Ich hätte auch nicht gedacht, dass Gero von allein anfangen würde zu reden. Seine Augen sind rot und geschwollen und seine Miene sieht so hoffnungslos aus, ich spüre, wie mein Brustkorb sich vor Mitleid zusammen zieht. »Meine Eltern sind Zeugen«, murmelt er. Karol runzelt die Stirn. »Jehovas?«, fragt er. Ich habe einen Moment lang Schiss, dass er eine abfällige Bemerkung macht, doch als Gero nickt, sagt Karol nichts weiter und umschlingt seine Knie mit den Armen. »Meine Mutter ist ziemlich schwer krank. Braucht ‘ne neue Niere... Ich hab ihr hundertmal angeboten, dass sie eine von meinen haben kann...« Stille. Ich runzele ebenfalls die Stirn und bin nicht sicher, was genau das eine mit dem anderen zu tun hat, bis Paul sich meldet. Paul, der Musterschüler. »Zeugen Jehovas dürfen weder Bluttransfusionen noch Organtransplantationen durchführen lassen«, sagt er leise. Gero nickt erneut und schluckt. Es sieht aus, als würde es ihn alle Kraft der Welt kosten nicht wieder in Tränen auszubrechen. Plötzlich ergibt es Sinn. Kein Wunder, dass Gero wütend auf die Welt ist. Und auf seine Mutter. Womöglich auch auf seinen Vater. Und sehr wahrscheinlich auch auf diesen Gott, der es seiner Mutter verbietet, wieder gesund zu werden. »Mein Vater sagt nur immer, dass Jehova das so will«, zischt Gero und ich sehe, wie seine Hände sich zu Fäusten ballen, sodass seine Knöchel weiß hervor treten. Ich kann mir kaum vorstellen, wie wütend ich an seiner Stelle wäre. Ich lasse unauffällig den Blick durch die Runde schweifen. Karol sieht Gero schweigend an, mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht. Es sieht fast so aus, als würde er ganz genau verstehen, wovon Gero redet. »Heißt das...«, sagt Dominik und bricht mitten im Satz ab. Als hätte er Angst zu fragen. Oder als wäre es ihm peinlich, Interesse zu zeigen. Gero schaut auf und sieht ihn beinahe trotzig an. Er sieht aus wie ein kleiner Junge. »Dass sie bald stirbt. ‘nen Monat hat sie noch.« Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Gabriel die Augen schließt. Das ist eine Situation, in der einen niemand trösten kann. Man kann nichts sagen. Niemand achtet auf die Uhr. Wahrscheinlich sind wir schon alle zu spät und müssen später extra Runden laufen, aber was macht das schon. Vielleicht ist das der Zeitpunkt, um Geschichten auszutauschen? Ich meine... wer versteht einen besser als andere kaputte Menschen, die genauso viel Scheiß durchgemacht haben, wie man selber? Ich schaue unsicher in die Runde und mein Herz schlägt bis zum Hals. Wahrscheinlich will niemand irgendwas sagen. Keiner wird anfangen. Tief durchatmen, Benni. »Mein Erzeuger hat früher meine Mutter verprügelt. Als sie ihn verlassen hat, wollte er anfangen, meine kleine Schwester zu verprügeln, aber ich hab ihn nicht gelassen. Also hat er mich zusammengeschlagen.« Sieben Augenpaare sind auf mich gerichtet und ich denke einen Moment lang, dass gleich irgendwer entnervt stöhnt und sagt, dass er auf diesen sentimentalen Bullshit keinen Bock hat. Aber niemand tut irgendwas in die Richtung. Ich weiche Gabriels Blick aus. Zugegeben, ich hatte es mir anders vorgestellt, ihm irgendwann davon zu erzählen. Aber jetzt ist es raus und ich hoffe Gabriel packt mich von jetzt an nicht in Watte deswegen. »Man, kein Wunder, dass du immer so auf den Boxsack eindrischst, wenn du dir deinen Alten vorstellst«, sagt Jason und zieht seine Schultern hoch. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, also starre ich den Umkleidenboden an und warte darauf, dass mein Herz aufhört zu hämmern. »Ich hab keine besonders tragische Geschichte«, erklärt Paul und klingt, als müsste er sich dafür irgendwie rechtfertigen. »Ich hab gute Noten, meine Eltern verprügeln mich nicht und schreien mich nie an. Eigentlich reden sie gar nicht mit mir. Es sei denn, es geht um die Schule.« Er zuckt mit den Schultern und verschränkt die Arme vor der Brust, als würde er erwarten, dass gleich jemand abfällig schnaubt. »Vielleicht hätt ich dann auch was angezündet«, meint Dominik. Zustimmendes Gemurmel. Paul sieht überrascht aus und löst seine Arme aus der Verschränkung. Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Ein Zittern kriecht durch meinen Körper, das nichts mit Kälte zu tun hat. Manchmal habe ich das, wenn ich besonders lange Gespräche mit Jana führe. Es ist ein komisches Gefühl, aber auch gut, irgendwie. »Meine Ma bringt jeden zweiten Tag ‘nen anderen Tag mit heim, seit mein Vater abgehauen ist. Ich glaub, sie interessiert sich ‘n Scheiß für mich. ‘n paar von denen bleiben auch ein paar Wochen und meinen dann, sie dürften mir irgendwas vorschreiben. Sind meistens Scheißkerle. Zwei oder drei haben mir auch schon mal eine runter gehauen«, murmelt Jason leise. »Wann ist dein Vater abgehauen?«, fragt Gabriel. Jason denkt kurz darüber nach. »Vor drei Jahren, glaub ich. War auch nicht der beste Vater... aber...« Ich verstehe ihn. Meine Mutter hat Jana und mich im Stich gelassen und ich bin trotzdem nicht im Stande, ihr böse zu sein. Es ist leichter, wütend auf den Erzeuger zu sein, weil er sie dazu gezwungen hat zu gehen. »Mein Vater ist auf meinen kleinen Bruder nicht klar gekommen. Der ist autistisch und der beste Mensch auf der Welt. Aber mein Vater ist ein Loser und hat sich aus dem Staub gemacht und uns sitzen lassen. Und weil der Arsch weg ist, hat meine Mutter angefangen zu saufen«, sagt Dominik und reiht sich ein in die Sparte derjenigen, die von einem Elternteil verlassen wurden. Manchmal denke ich, dass Menschen sich nicht wirklich Gedanken darüber machen, was es heißt, Kinder zu kriegen. Und dann, wenn es hart wird, oder wenn sie im Stress sind, dann lassen sie es an den Kindern aus, oder rennen weg. »Was heißt autistisch?«, fragt Karol und es ist das erste Mal, dass er was sagt. Bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob er seine Geschichte erzählt. Sein Gesicht ist schon die ganze Zeit verschlossen, aber er ist auch nicht aufgestanden und gegangen. »Das heißt, dass sein Gehirn einfach anders funktioniert als bei anderen Leuten. Er kommuniziert anders und wenn man sich nicht die Mühe macht ihn zu verstehen, dann hat man ihn auch nicht verdient. Er ist total schlau und hat ein krasses Gedächtnis, er kann nur nicht so gut mit anderen Menschen umgehen«, sagt Dominik und ich brauche kein Psychologiestudium, um zu wissen, dass Dominiks kleiner Bruder für ihn – genau wie Jana für mich – der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Ein Mitstreiter auf der Großen-Bruder-Front, der alles für sein kleines Geschwisterkind tun würde, aber an der Verantwortung ein wenig erstickt und keinen anderen Ausweg wusste, als es an anderen Leuten auszulassen. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und als ich aufschaue, sehe ich Christian im Türrahmen stehen. Er fängt meinen Blick auf und wir sehen uns einen Herzschlag lang an, dann verschwindet Christian schweigend, ohne irgendwas darüber zu sagen, dass wir alle in der Umkleide sitzen, obwohl wir eigentlich Training haben. »Ich hab nichts zu erzählen«, sagt Gabriel und klingt kleinlaut. »Leute haben dich fertig gemacht, weil du schwul bist«, entgegne ich automatisch. »Wieso sollte das nicht zählen?« »Und wahrscheinlich auch schon, weil du nich weiß bist, oder?«, wirft Ismail ein und Gabriel blinzelt erstaunt. »Ja, schon«, sagt er. Ismail zuckt die Schultern, als wäre damit alles klar. »Die meisten Leute hier sind ganz ok, aber ich muss mir auch dauernd beschissene Fragen anhören, ob ich meine Schwester killen würde, wenn sie ‘nen Deutschen heiraten will. Als wär ich kein Deutscher, nur weil ich Muslim bin«, fährt Ismail fort. Gabriel nickt. »Ich wurd schon oft genug Jackie Chan genannt«, sagt er und grinst schief. Die anderen lachen, auch wenn es eigentlich nicht lustig ist und wir das wohl alle kapiert haben. »Manchmal scherzen Leute, ob mein Vater meine Mutter in Thailand gekauft hat«, gibt er zurück und seine Miene verfinstert sich. »Mal ganz abgesehen davon, dass meine Mutter nicht aus Thailand kommt, würd ich am liebsten jedem eine reinschlagen, der so einen Scheiß fragt...« »Menschen sind scheiße«, sagt Jason und es geht ein zustimmendes Murmeln um. »Hast du ‘ne kleine oder ‘ne große Schwester?«, fragt Dominik Ismail. Der verzieht das Gesicht und man hat sofort das Gefühl, dass Dominik in ein Wespennest gestochen hat. »Ich hab vier kleine Geschwister«, antwortet Ismail mit finsterem Gesichtsausdruck und fummelt an seiner goldenen Halskette herum. Er sieht unschlüssig aus, ob er seine Geschichte erzählen will und auch Karol schaut drein, als würde er sich in die Enge getrieben fühlen, weil nur noch er und Ismail nichts von sich preis gegeben haben. »Mein Alter hat das Zeitliche gesegnet und meine Mutter kriegt seit Monaten keinen Job, deswegen arbeite ich jetzt zwei Jobs und es reicht trotzdem kaum...« Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen. Was würde ich tun, wenn ich allein für Jana sorgen müsste? Nicht jeder hat so ein Glück wie ich und wird von einer Familie wie der von Christian aufgenommen. Wenn ich mehr Geschwister hätte und niemanden, der uns finanziell helfen kann... »Ich will nicht drüber reden«, verkündet Karol trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust. Niemand sieht deswegen sauer aus. Ich finde es immer noch überraschend, dass fast alle ihre Geschichte erzählt haben. »Musst du ja auch nicht«, meint Gabriel. Karol wirft ihm einen Blick und seine Augen bleiben an Gabriel haften. Sie starren sich an und ich frage mich, was in Karols Kopf gerade vor sich geht. Ich erinnere mich noch daran, wie sehr er angewidert drein geblickt hat, als Gabriel erklärt hat, dass er auf Männer steht. Es scheint, als würde sich die Luft aufladen und ich kann das angespannte Knistern in der Luft förmlich spüren. »Weißt du, du bist ganz ok für einen Homo«, sagt Karol dann. Ich blinzele verwirrt und auch Gabriel sieht aus, als wüsste er nicht, wie er darauf reagieren soll. Aus Karols Mund ist das womöglich beinahe eine Liebeserklärung. Vermutlich beschließt Gabriel, Karols Bemerkung ebenso aufzufassen, denn er schmunzelt amüsiert. »Wow, danke«, meint er mit einem leicht ironischen Unterton und nun muss selbst Karol widerwillig schmunzeln. Ein plötzlicher Anflug von Verwegenheit ergreift mich und ich merke kaum, wie sich mein Mund öffnet. »Nur um das klarzustellen, ich steh auch auf Männer.« Sieben Augenpaare richten sich auf mich. Karol schnaubt und starrt an die Decke. »Ich hab’s nicht wirklich vermutet, macht aber Sinn«, sagt er. Ich werfe Gabriel einen verwirrten Blick zu. »Wieso?«, will ich wissen. »Weil du den da immer fast auffrisst mit deinen Augen«, Karol gestikuliert zu Gabriel hinüber und ich laufe knallrot an, stammele ein paar unzusammenhängende Worte und würde bei dem Lachen, das nun durch den Kreis geht, am liebsten im Boden versinken. »Aber du bist auch ok«, fügt Karol hinzu. Es sieht aus, als würde die Erkenntnis darüber, dass er mittlerweile drei Kerle kennt, die auf Männer stehen, und die nicht schrecklich sind, sein Weltbild ordentlich zum Wanken bringen. Ich sehe überall hin, nur nicht zu Gabriel, der mich garantiert beobachtet. Vielleicht sollte ich ein bisschen weniger auffällig mit meiner Begeisterung für Gabriel sein, aber es ist nicht so einfach. »Sollen wir in die Halle gehen?«, fragt Gero leise und ein zustimmendes Murmeln geht um. Es macht Sinn. Jetzt können wir die Abregung sicherlich besonders gut gebrauchen. Ich bin der Einzige, der fertig umgezogen ist und warte, bis die anderen fertig sind, dann gehen wir geschlossen in die Halle. Chris sitzt im Trainerbüro und studiert ein paar Unterlagen, die Boxsäcke hängen, bereit, geschlagen zu werden, mitten in der Halle. Er sieht auf, als wir herein kommen, steht auf und betritt die Halle. Ich erwarte ein Donnerwetter, oder Extra-Runden, aber... »Zehn Runden zum Aufwärmen«, ruft er kommentarlos und grinst uns zu. Wir werfen uns verwunderte und teilweise erleichterte Blicke zu, dann laufen wir geschlossen los. Gabriel rennt diesmal nicht vor. Wir sind nicht mehr einfach nur noch ein zusammen gewürfelter Haufen gebrochener Seelen. Wir sind eine Gruppe geworden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)