Dark Night's Kiss von Darklover ================================================================================ Kapitel 7: 7. Kapitel --------------------- „Möchtest du was essen? Ich hab zu viel für mich allein gemacht.“ „Hm?“ Ein wenig desorientiert konnte Emma erst nach zwei Sekunden auf Kathy reagieren, die mit einem Teller Nudeln in der Wohnzimmertür stand und sie mit einem Blick musterte, den man am ehesten als ein wenig besorgt bezeichnen konnte. „Oh. Nein, danke. Ich hab keinen Hunger.“ Emma hörte das „Okay“ ihrer Mitbewohnerin gar nicht mehr wirklich, als diese sich ebenfalls vor den Fernseher setzte und anfing ihre Nudeln zu essen. Hin und wieder warf Kathy einen Seitenblick auf Emma, die allerdings schon wieder alles um sich herum vergessen hatte und über den Rand ihrer Kakao-Tasse ins Leere starrte.   ***   „Also, ich bin spätestens um zwei wieder da und da Mr. Calmaros nächster Termin erst um halb drei ist, dürfte es keine Probleme geben. Gehen Sie einfach nur ans Telefon, wenn es klingelt, und seien Sie auf dem Sprung, falls er etwas braucht. Ich komme so schnell wie möglich wieder.“ Stella schnappte sich ihre Handtasche, kramte darin herum, bis sie ihre Schlüssel fand, und blickte Emma dann noch einmal ernst an. „Und vergessen Sie nicht: von 12:00 bis 13:00 Uhr keine Störungen, sonst könnte Ihnen Schlimmeres als eine Kündigung blühen.“ Mit diesen Worten rauschte Stella davon, um ihren Arzttermin einhalten zu können, auch wenn ihr nicht ganz wohl dabei war, die Neue nach erst einer Woche alleine im Büro zu lassen. Wenn auch nur für wenige Stunden.   Kurz vor zwölf legte Cayden die Kritiken zur Seite und zog eine Schublade an seinem massigen Schreibtisch auf, die lediglich ein paar Büroklammern, Post-its, ein Tintenfässchen und diverse andere Schreibutensilien enthielt. Plus einer kleinen schwarzen Fernbedienung. Er nahm das kleine Ding heraus, das regelrecht in seiner großen Hand verschwand, und drückte einen Knopf, woraufhin die lichtdichten Rollos vor den großen Fenstern hinunterfuhren. Erst als es vollkommen dunkel in seinem Büro war, nahm er seine Brille ab, löste seine Hemdknöpfe an den Ärmeln und stand schließlich auf. Ein weiterer Knopfdruck und aus verborgenen Lautsprechern begann ein leises Stakkato an völlig unüblichen Geräuschen den Raum, zu erfüllen. Das Zirpen von Grillen. Blätter die raschelten. Sanfter Regen. Nachtvögel. Der ferne Schrei einer Raubkatze. Fledermausecholots und noch diverse andere Tiere, für die der Tag wie bei Cayden normalerweise in der Nacht begann. Cayden legte die Fernbedienung auf den Tisch zurück, stellte sich in die Mitte seines Büros gerade hin und verschränkte seine Arme auf dem Rücken, ehe er die Augen schloss und in völliger Regungslosigkeit verharrte. Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Er rührte keinen Muskel. Langsam fiel das Büroleben von ihm ab. Die unzähligen Gedanken, die er an diese Firma, diese Fassade einer Persönlichkeit und dem allen drum herum hängte, lösten sich auf, während er den Geräuschen des Waldes lauschte, die denen seiner Kindheit so ähnlich waren. Er liebte es, sie zu hören. Und er brauchte es, einmal am Tag vollkommen zu versinken. Es war eine Art Meditation, die er benötigte, um die knappen fünf Stunden Schlaf aufzuwiegen, die er sich jede Nacht gönnte. Diese Stunde erfrischte ihn nicht nur körperlich, auch sein Geist benötigte immer wieder einmal vollkommene Ruhe, um nicht zu viel Stress in sich aufkommen zu lassen. Denn umso mehr Stress sein Körper hatte, umso mehr Blut benötigte er auch, um die dadurch verursachten Schäden zu reparieren. Und er bekam dadurch Klarheit, um seinen Fokus nicht aus den Augen zu verlieren. Ohne diese Meditation hätte er vielleicht schon vor Jahren oder Jahrhunderten den Verstand verloren. Denn niemand konnte so lange Leben, ohne dass die Zeit ihre Spuren hinterließ, auch wenn man sie körperlich nicht sehen konnte.   Ungefähr eine halbe Stunde hatte Emma da gesessen, ihre Augen auf das Telefon gerichtet, und hatte gewartet. Darauf, dass es klingeln würde, dass sich die Erde auftat und auf einmal mindestens fünf Bonzen der Musikindustrie vor ihrem Schreibtisch standen, bloß um von Emma weggeschickt zu werden. Denn ihre Aufgabe war es, wie die leuchtende Retterin Mr. Calmaros Mittagspause zu verteidigen! Da aber nichts passierte, außer dass jemand anrief, um einen Termin am nächsten Morgen eine halbe Stunde nach hinten zu verlegen, wurde Emma immer ruhiger. Ihr war klar, dass es eine große Sache darstellte, von Stella den Telefondienst übertragen zu bekommen. Immerhin schien die Sekretärin geradezu mit dem Hörer verwachsen zu sein, wenn sie nicht gleichzeitig etwas notierte, aufsprang, um Calmaro etwas zu Trinken herzurichten oder Emma einen Zettel mit neuen Anweisungen in die Hand zu drücken. Emmas eigener Magen knurrte gerade, als sie anfing, eine kleine Skizze in ihr blaues Notizbuch zu zeichnen. Das Motiv würde sie für eine Hausaufgabe im Abendkurs brauchen und hatte bis jetzt noch nicht einmal damit angefangen. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam, hatte sie keinen Elan mehr, irgendetwas Anderes zu tun, als sich auf die Couch zu werfen. Der Job schlauchte wirklich ziemlich. Auch wenn es Emma gleichzeitig anfing, langsam Spaß zu machen. Immerhin konnte sie in verschiedenen Ländern herumtelefonieren, mit Bandmanagern sprechen und andere recht coole Dinge tun, wenn Stella sie das auch wirklich machen ließ. Auf ein erneutes Knurren in ihrem Bauch packte Emma knisternd ein Snickers aus und biss herzhaft davon ab. Sie liebte diese Riegel. Denn bei den vielen Nüssen konnte man sich zumindest vormachen, dass es etwas gegen den Hunger half und nicht nur für einen netten Zustrom an Glückshormonen sorgte. Die Skizze in ihrem Buch nahm Gestalt an. Was nur eins heißen konnte: Emma langweilte sich. Würde dieses Telefon denn nicht –   Als Cayden sein Büro verließ, um sich etwas zu trinken zu holen, schenkte er Emma ein freundliches Lächeln, während er an ihr vorbeiging, um sich aus der kleinen Kaffeeküche eine Flasche Mineralwasser und ein Glas zu holen. Bevorzugt trank er aus Flaschen, aber in einer Gesellschaft wie der, in der er sich oft befand, hatte er sich angewöhnen müssen, es nicht zu tun. Eine lästige Kleinigkeit, aber nicht weiter wichtig. Doch anstatt in sein Büro zurückzukehren, setzte er sich auf den Besuchersessel vor Stellas Schreibtisch und schenkte sich das Mineralwasser ein. Es war Zeit, ein bisschen mehr nachzubohren, was Emma betraf. Da traf es sich gut, dass er momentan Zeit hatte und Stella bei einer Voruntersuchung war. „Wie geht es Ihnen heute?“ Vielleicht nicht die wortgewandteste Art, um ein Gespräch zu beginnen, aber auf jeden Fall wirksam.   Das Snickers raschelte kurz, als Emma es einfach auf den Boden fallenließ und ansatzweise lächelte, bevor sie schnell weiter kaute und schluckte, bevor Calmaro mit einem Wasser aus der Küche kam und sich auf den Stuhl ihr gegenübersetzte. Es prickelte regelrecht auf Emmas Haut und sie fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Mist. Hatte sie vergessen, dass er um diese Zeit immer Wasser in sein Büro gebracht bekam? Stella hatte das nicht erwähnt. Aber das hätte sie doch bestimmt, wenn das zur Routine gehören würde. Emmas Gedanken rasten, während sie einfach wortlos in Calmaros Augen starrte, die hinter seiner getönten Brille wieder eher schlammfarben wirkten. Erst als sich die Stille zwischen ihnen am Geräusch der Bläschen erkennen ließ, die im Mineralwasserglas nach oben stiegen, blinzelte Emma sich wieder in die Gegenwart. „Gut.“ Sie lächelte ihn an und schob ihre rechte Hand unter ihren Oberschenkel, als sie bemerkte, wie ihre Finger leicht zitterten. „Danke, mir geht’s gut.“ Warum fragen Sie? „Und Ihnen?“ Oh Gott. Wenn sich jetzt kein Loch im Erdboden auftat, in dem sie verschwinden konnte ... „Kann ich ... was für Sie tun? Stella kommt erst in knapp einer Stunde zurück.“   Caydens Nasenflügel bebten leicht, während er weiter lächelte und Emma nicht aus den Augen ließ. „Sie sehen auch schon besser aus“, stellte er unverwandt fest, was voll und ganz der Tatsache entsprach. Emma sah tatsächlich anders aus. Mehr Farbe im Gesicht und die Ringe unter ihren Augen schienen auch kleiner geworden zu sein. Bevor er allerdings ihre Frage beantwortete, sah er sich auf dem Schreibtisch um, atmete noch ein bisschen tiefer ein, ohne dass es auffällig wurde, und neigte sich schließlich so weit zur Seite, dass er unter den Schreibtisch sehen konnte. Aha! Er hatte doch gewusst, dass er sich den Duft von Erdnüssen mit Schokolade und Karamell nicht eingebildet hatte. Da auf dem Boden lag ein halb aufgegessenes Snickers einsam und alleine noch zum Teil in der Plastikverpackung verborgen und er war sich sicher, dass es dort noch nicht lange lag. Cayden streckte sich danach aus und hielt kurz inne, als sein Vampirgehirn wie in Zeitraffer mehrere Eindrücke auf einmal wahrnahm. Kleine Füße, die in schwarzen Ballerinas steckten. Graue Stumpfhosen umhüllten wohlgeformte, weibliche Waden, die unter einem grauen Faltenrock endeten, der mehr verbarg, als er offenbarte und doch beinahe über die Knie rutschte, während seine Besitzerin mit geschlossenen Beinen da saß. Cayden hätte sich beinahe den Kopf gestoßen, als er sich von dem flüchtigen Anblick losriss und wieder auftauchte. Ohne etwas auf die eben vollzogene Aktion zu sagen, musterte er kurz den Riegel, ob irgendwelche Fussel dran waren, ehe er die Plastikhülle ganz darum faltete und ihn neben das Telefon legte, um ihn dort seinem weiteren Schicksal zu überlassen. Der Mülleimer stand einfach zu weit weg, um ihn gleich jetzt zu entsorgen. Also nahm er lieber sein Glas zur Hand und nippte einmal an dem Mineralwasser. „Danke, ich kann mich nicht beschweren“, beantwortete er endlich Emmas Frage und musterte so unauffällig wie möglich auch den Rest von ihr, wenn er schon ihren Rock im Blick gehabt hatte. An der silbernen Kette mit dem interessanten Anhänger blieb er hängen. Bestimmt sah es so aus, als würde er ihr in den Ausschnitt glotzen, weshalb er allen Vorwürfen bezüglich sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zuvorkam. „Interessanter Anhänger. Hat das Auge etwas zu bedeuten?“ Sein Blick wanderte zu Emmas Augen und blieb dort.   Emma folgte Calmaros abwesendem und dennoch irgendwie stechendem Blick mit gerunzelter Stirn und bemerkte fast zu spät, dass sie sich dabei – wie er – zur Seite gelehnt hatte. Was machte er denn da? Sofort setzte sie sich wieder gerade hin und reagierte damit nun wirklich nicht schnell genug, um auch nur etwas darauf zu sagen, als er kurz unter ihrem Schreibtisch verschwand. Lediglich ihr Puls schnellte nach oben und sie sah sich mit roten Wangen nach allen Seiten um, als sie seine Gegenwart seltsam warm in der Nähe ihres Knöchels spüren konnte. Emma machte sich schon darauf gefasst, ihrem Chef eine zu scheuern, wenn er es wagen sollte, sie auch nur irgendwie anzufassen. Umso erstaunter und auch ziemlich erleichtert weiteten sich ihre Augen, als er wieder auftauchte und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck das Snickers hochhielt. Emma wurde heiß, als ihr Chef den Schokoriegel kurz inspizierte, ihn dann einpackte und auf den Schreibtisch legte. Wie hatte er das denn –? Ob sie sich erklären sollte? Jedem konnte doch einmal etwas herunterfallen, oder? Durften sie im Büro überhaupt etwas essen? Unten in der Printabteilung war das vollkommen in Ordnung gewesen, aber hier? Bestimmt hatte sie schon mindestens 17 ungeschriebene Gesetze der Chefetage gebrochen und jetzt knurrte ihr Magen beim bloßen Anblick des Snickers schon wieder und ließ Emmas Wangen nur noch röter werden. Und Calmaro tat zu allem Überfluss auch noch so, als wäre gerade gar nichts passiert. Seelenruhig trank er einen Schluck Wasser und schien nichts weiter zu tun zu haben, als Emma ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er nicht die Welt zu retten hatte. Oder was auch immer er normalerweise nach seiner Mittagspause machte. „Interessanter Anhänger. Hat das Auge etwas zu bedeuten?“ Wollen Sie mich anmachen? Da musste er aber noch ein bisschen üben. Die Masche mit dem Schmuck war schon so alt, dass sie selbst bei Teenies nicht mehr funktionierte. „Es ist ein Glücksbringer.“ Emma nahm den Anhänger zwischen ihre Finger und drehte ihn um, damit Calmaro auch das Dreieck auf der Rückseite sehen konnte. „Angeblich schützt es vor dem bösen Blick und hilft dem Träger seinen Weg zu finden. In Wellington bei diesem Wetter nie eine schlechte Sache, finde ich.“   Cayden hätte sich vermutlich vorbeugen sollen, um sich den Anhänger näher ansehen zu können, als Emma ihn zwischen die Finger nahm und ihn für ihn umdrehte. Aber da er ohnehin gestochen scharf sah, war das überflüssig. Außerdem begann seine Wange zu kribbeln, als wolle sie ihn davor warnen, näher an etwas heranzukommen, das ihm vielleicht wehtun könnte. Da war allerdings auch die Frage, ob Emma überhaupt im Stande war, ihm wehzutun, wenn sie es wollte. „Hat es Ihnen auch schon einmal geholfen?“, wollte er so beiläufig wie möglich wissen, obwohl es ihn brennend interessierte, wie viel sie über diese Dinge wusste. „Ich meine, abgesehen bei schlechtem Wetter.“ Er lächelte und nahm noch einen Schluck.   Es hatte wieder nicht funktioniert. Emma war fast ein bisschen enttäuscht darüber, dass Calmaro ihre Scherze entweder nicht verstand oder sie absichtlich ignorierte. Vielleicht lag es auch daran, dass hier jeder, der vorbeiging, sehen oder hören könnte, dass er sich mit seiner Assistenz-Sekretärin unterhielt. Da durfte vielleicht nicht das Gefühl aufkommen, es gehe um etwas Anderes als das Geschäft. Emma hatte ja selbst gehört, wie schnell sich Gerüchte verbreiteten und in welcher kurzen Zeit man aus einer Mücke einen Elefanten machen konnte. Trotzdem fand sie es schade. Das eine Mal, das bis jetzt das Einzige geblieben war, hatte ihr sein Lachen gefallen. Es passte zu ihm. Tief und voll und trotzdem ziemlich jugendlich und offen. Irgendwie so, als spiegle es wirklich etwas, das dem Mann, der hier in seinem riesigen Büro saß und der Boss dieser großen Firma war, nicht ganz entsprach. Emma ließ den Anhänger wieder sinken und legte ihre Hände in ihren Schoß, wo ihre Fingerkuppen leicht aneinander tippten, während sie überlegte, wie sie auf Calmaros Frage reagieren sollte. Wenn sie ehrlich antwortete, würde er sie vielleicht für nicht ganz vollnehmen. Das konnte ihr jetzt auch schon passiert sein, ohne dass sie es gemerkt hatte. Immerhin dürfte ihm nicht entgehen, dass sie sich nicht wie Stella nach den besten Marken für Stil kleidete. Wollen Sie sich ... über mich lustig machen? Allein die Vorstellung ließ Emmas Augen stechend in seine blicken. Forschend sah sie ihn an und versuchte an irgendetwas zu erkennen, ob er sie aus wirklichem Interesse, aus Gründen des Small Talks oder wegen etwas Anderem gefragt hatte. Zwar kam Emma nicht dahinter, aber so eine Frage stellte niemand einfach so. Da war sie sich ziemlich sicher. „Das kommt drauf an, wie man es sieht“, begann sie vorsichtig und prüfte bei jedem Wort weiter, wie ihr Chef reagierte. Wenn sie Glück hatte und es frühzeitig bemerkte, konnte sie ihre Worte immer noch als weiteren Witz abtun. „Diese Dinge – Glücksbringer, Symbole, Halbedelsteine – haben immer etwas mit persönlichem Glauben zu tun. Das ist zumindest meine Meinung. Wenn man sich sicher ist, dass sie helfen, dann tun sie es auch.“   Cayden konnte unmöglich an Emmas stechendem Blick vorbei. Dafür kannte er die Menschen und die Art, wie sie sich ausdrückten nur zu gut. Er hatte sie skeptisch gemacht und das mit so einer simplen Frage. Das würde offenbar sehr viel schwerer werden, als er angenommen hatte, vor allem, weil er nicht wusste, warum genau sie skeptisch war. Dafür könnte es viele Gründe geben, anstatt nur dem einen, dass sie ihm ihr Geheimnis vorenthalten wollte. Daher lehnte er sich in einer Art stummen Rückzug gemütlich im Sessel zurück und drehte das Glas mit dem Wasser in seinen Händen, unterbrach allerdings nicht den Blickkontakt, so als hätte er aufgegeben. Sie mochte ihr Geheimnis vielleicht hüten und daher darüber Bescheid wissen, aber das alleine wäre noch keine Gefahr. Darum wagte er sich noch einen Schritt weiter nach vor. „Soweit ich weiß, ist auch die Wissenschaft ihrer Ansicht. Immerhin ist der Plazeboeffekt in der Medizin schon weitestgehend bekannt. Genauso wie man selbsterfüllende Prophezeiungen nicht unterschätzen sollte. Wenn man sich nur lange genug krank redet, wird man es auch eines Tages sein. Ich denke, mit Glücksbringern und diesen Dingen, dürfte es das gleiche sein, wobei meiner Meinung nach die Gegenstände an sich kaum eine Wirkung haben müssen. Aber ich kenne mich damit zu wenig aus, um das wirklich sagen zu können.“ Cayden zuckte mit seinen breiten Schultern und schob sich seine Brille wieder ein Stück weiter die Nase hinauf, die gerne dazu neigte, ab und an einen Abstieg zu wagen, vor allem, wenn er sich lange Zeit über seinen Schreibtisch beugte, um zu arbeiten. „Sie hatten auf dem Banana Orange Konzert ebenfalls ein interessantes Schmuckstück dabei.“ Er lehnte sich noch weiter aus dem Fenster. Das wusste er. Aber er täte es nicht, wenn er sich nicht des Risikos bewusst gewesen wäre. „Das könnte zwar nur eine Annahme von mir sein, aber es scheint mir, als würden Sie sich näher mit diesen Dingen beschäftigen, anstatt sie einfach nur als hübsche Schmuckstücke abzutun. Interessieren Sie sich für Geschichte?“   Emma sah ihm stumm in die Augen. Ohne auch nur zu zucken, bohrte sich ihr Blick in seinen und in diesem Moment konnte Mister Calmaro sich glücklich schätzen, dass er ihr Boss war. „Ja, ich interessiere mich dafür.“ Ihre Stimme war splitternder Stein, an dem er entweder abrutschen oder sich schneiden konnte. Das Rauschen in Emmas Kopf war wieder da und es zog ihren Blick fast unaufhaltsam zu Calmaros Wange. Zu dem Fleck, der jetzt perfekt und ebenmäßig war. Emma sah die Haut an der Stelle aufplatzen. Aus einem winzigen Schnitt oder Kratzer quoll nicht mehr als ein Tropfen Blut hervor. Dunkel. Kalte Finger schienen ihr vom Nacken auf den Hinterkopf zu kriechen und Emma hatte das gleiche Gefühl, das sie nachts überfiel, wenn sie keuchend aus einem der Albträume erwachte. „Aber an diesem Abend hat mir der Anhänger ja nachweislich nichts genutzt.“ Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie wollte … sich nicht erinnern. „Vermutlich haben Sie also recht mit Ihrem Placeboeffekt. Manchmal haben solche Symbole eben nur eine begrenzte Wirkung. Nur auf mich persönlich und nicht auf ...“ ... irgendeinen Scheißkerl, der beschließt, mich auf einer Toilette zu vergewaltigen.   Cayden wurde instinktiv wachsam, als er den dezenten Geruch von Angst wahrnehmen konnte und vermischt mit dem Blick, der ihn trotz aller Zurückhaltung wohl am liebsten erdolchen würde, war klar, dass Emma dank seiner Worte sehr angespannt war. Genau, wie er erwartet hatte. Was er allerdings nicht erwartete, war sein beschleunigter Pulsschlag, als sein Körper auf Emmas Angst reagierte. Nicht wie ein Jäger auf sein verschrecktes Opfer reagierte, aber auch nicht wie etwas, das ihm sehr vertraut gewesen wäre. Cayden schob es zur Seite. Viel wichtiger war die Frage, was Emma mit ihrem letzten Satz gemeint hatte. Oder besser gesagt, wen sie damit gemeint hatte. Wusste sie vielleicht doch etwas über Vampire? Selbst wenn, zumindest schien sie nicht zu wissen, dass einer direkt vor ihr saß. Denn dann hätte sie anders reagiert. Oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin und bekam es nicht wegen dieser einen Nacht mit der Angst zu tun, sondern weil er ihr vielleicht langsam auf die Schliche kam? Es war wirklich schwer einzuschätzen. Nachdenklich strich er sich mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der sich ein Amulett von ihrem Armband förmlich hineingebrannt hatte und dachte mit leerem Blick an jene Nacht zurück. Vielleicht war es an der Zeit in die Offensive zu gehen. Wenn sie wusste, was er war, würde er höchst wahrscheinlich so am schnellsten eine verräterische Reaktion aus ihr hervorholen und wenn nicht, wäre es doch zumindest interessant, was sie über jenen Abend noch alles wusste. „Sie haben der Polizei nicht gesagt, dass ich den Täter ebenfalls gesehen habe. Warum?“ Cayden nahm die Hand runter und sah Emma direkt an.   Emma konnte sehen, wie er sich mit den langen Fingern, den manikürten kurzen Nägeln über den blutenden Riss strich. Wie sich seine Finger veränderten, seine Nägel dreckig und ungepflegt wurden, der Riss wuchs und stärker blutete. „Was?“ Das Raunen wurde immer lauter, baute einen seltsamen Druck in ihrem Hinterkopf auf, der ihre verheilte Wunde zum Pochen brachte. Emma wurde heiß. Sie fühlte, wie sie begann unter ihrem Pullover zu schwitzen und trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von Calmaros Mundwinkel ... Wange ... Sie bekam dröhnende Kopfschmerzen. Als würden sich zwei Kräfte in ihrem Kopf gegeneinander stemmen und dabei einen Krach veranstalten, als stünde Emma neben einem Presslufthammer. Sie griff sich an die Stirn und drückte drei Finger fest gegen den Punkt, der mit ihren Augen ein rechtwinkliges Dreieck bildete. Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Emma sah trotzdem sehr angespannt in Calmaros Augen. Schlammfarben waren sie nun und nicht grün, wie sie ihr gerade noch erschienen waren. Auch weniger ... gefangennehmend. Scheiße. Redete sie der Mann gerade in einen Nervenzusammenbruch? „Warum haben Sie’s denen denn nicht selbst gesagt? Immerhin mussten sie sich keine Kopfwunde nähenlassen!“ Ihre Stimme war laut geworden und Emma musste sich zwingen, sich wieder weniger aggressiv hinzusetzen. Der Mann war ihr Boss zum Teufel!   Sie wusste es nicht. Emma konnte vielleicht noch so gut schauspielern, aber ihre Reaktionen waren zu echt, um gefälscht zu werden. Der Angstschweiß, das Adrenalin. Ihr rasender Herzschlag und die Art, wie sie sich den Kopf hielt, sich versteifte und auf Angriff überging. Das war nicht gespielt. Es war echt. Emma wusste nicht, dass er oder der Angreifer ein Vampir war. Sie schien einfach nur Angst wegen des Überfalls zu haben. „Ich verstehe“, sagte er in einem ruhigen Tonfall, ohne auf ihre Frage einzugehen. Cayden hätte ihr Gründe nennen können, um sie ihr zu beantworten. Sogar plausible Gründe, doch er hielt es mit Lügen so, dass er sie vermied, wo es ging und sich ansonsten dicht an der Wahrheit hielt, wenn ihm keine andere Wahl blieb. Denn das waren die wirksamsten Lügen. „Aber wissen Sie, was ich glaube?“ Seine Stimme war sanft und er lehnte sich ein kleines Stück nach vor. „Zusammen mit Ihrem Kampfeswillen hat Ihr Armband Ihnen die nötige Zeit verschafft, die Sie brauchten. Ich würde das Schmuckstück also nicht vollkommen verkennen. Es mag vielleicht nur ein Symbol sein, aber es hat geholfen.“ Und das nur zu gut, wie er am eigenen Leib hatte feststellen können. Warum allerdings band er ihr das auch noch auf die Nase, anstatt darüber einfach zu schweigen? Vielleicht weil er ihre Angst nicht länger wittern wollte, da der Geruch ihn unruhig machte und seine Instinkte aufweckte. Schon jetzt konnte er spüren, wie sich seine Muskeln langsam anspannten, als erwarte er jeden Moment hinterrücks angegriffen zu werden, oder als müsste er jeden Moment vor Emma springen, um sie vor einem Angriff zu beschützen … Seltsam. Sie war ein Mensch und noch dazu einer, der einen starken Willen hatte, warum sollte er also auch nur im Geringsten das Verlangen verspüren, sich vor sie zu werfen oder dem Vampir dieses Mal den Hals umzudrehen? Cayden verstand es nicht. Aber er wusste, dass es an seiner anerzogene Schwäche den Menschen gegenüber liegen musste. Sie waren einfach so schwach, dass der Jäger, Krieger und Beschützer in ihm, immer etwas für sie übrig haben würde.   Ihre Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass das Blut vollkommen aus ihnen wich und sie sich weiß färbten. Emmas Augen fingen an zu brennen und ihr Hals kratzte so stark, dass sie nicht verdrängen konnte, was los war. Wenn er nur noch ein Wort sagte. Nur ein Wort, das nett gemeint war und ihr auch noch Zuspruch gab, würde sie losheulen. Das kannte Emma schon. Da mochte man ihr sonst was an den Kopf werfen, sie beleidigen oder herausfordern. Sie würde immer zuerst ihre Krallen ausfahren. Aber wenn man sie rührte, brachen die Dämme schneller, als sie 'Taschentuch' sagen konnte. Was sollte denn das Ganze bloß? War das irgendein verdrehtes Psychoexperiment, bei dem er sie vor der gesamten Chefetage auf ihre Tauglichkeit für den Job testen wollte? Wenn es so war, hätte er sie einfach nur fragen können und sie wäre gegangen. Ohne sich diesen Mist anhören und sich verunsichern lassen zu müssen! Weiterhin starrte sie ihn an, unfähig sich wirklich zu rühren. Denn noch war die Gefahr nicht gebannt, dass ihr doch noch die Selbstbeherrschung abhandenkommen würde. Selbst wenn sie es vor Calmaro ganz und gar nicht zulassen wollte. Er sollte sich einfach nur in sein Büro verziehen.   Er erwiderte lange ihren Blick, ohne etwas zu sagen. Eine lange Zeit, in der sie sich nur anschwiegen und doch soviel Unausgesprochenes zwischen ihnen stand, dass es kein angenehmes Schweigen war. Schließlich seufzte er, senkte den Blick, nahm sein Glas und die Mineralwasserflasche und erhob sich. „Sie sollten darüber sprechen. Egal mit wem. Sprechen Sie darüber und lassen Sie es ziehen.“ Er schob den Stuhl zurecht. „Wenn Sie es zu verdrängen versuchen, wird es Sie irgendwann einholen. Womöglich zu einer Zeit, wo Sie anderes zu tun haben, als sich damit zu beschäftigen.“ Er ging zu seinem Büro und öffnete die Tür, blieb aber noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme wurde kalt. Gefährlich. „Er wird Ihnen nichts mehr tun.“ Das war kein hohles Versprechen oder eine beruhigende Beteuerung. Es war Fakt. Eine Tatsache. Noch in dieser Nacht würde Cayden dafür sorgen, dass es auch zur Wahrheit wurde. Doch im Augenblick musste er wieder in die Rolle des Geschäftsmannes schlüpfen, so einengend ihm dieser Anzug mit allem Drum und Dran bisweilen auch erscheinen mochte. „Und drucken Sie mir bitte, die E-Mail von Mr. Tombosko aus, sobald sie eintrifft.“ Er verschwand in seinem Büro. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)