Trust me von Flordelis (Eternal Chronicles) ================================================================================ Prolog: Initialisierung ----------------------- [[BILD=7927903.jpg]] Es war frustrierend. In seinem zweifellos langen Leben hatte er bereits viele solcher Erfahrungen gemacht, aber selten in einem solchen Ausmaß. Eine Niederlage trotz eines errungenen Sieges, trotz des Todes ihres Widersachers, ohne jegliche Möglichkeit, diese abzuwenden, war mehr als frustrierend. Er hatte versprochen, alles zu regeln und in Ordnung zu bringen, aber er musste schweren Herzens zugeben, dass ihm die Hände gebunden waren. Das Programm zum Neustarten des Zeitbaums war von der Log Domain abgekoppelt worden, ob nun von Et Ca Repha oder durch irgendetwas anderes verursacht. Was auch immer das war, es sorgte dafür, dass er keinerlei Zugriff darauf bekam und es somit weder aufhalten noch ändern konnte. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben als zuzusehen, was nach dem Neustart geschehen würde – in einem Zeitbaum ohne ihn, ohne Edega, ohne Etle... ohne Et Ca Repha, die glaubte, man müsste Menschen wie kleine Kinder behüten, sie einsperren und ihnen Wissen vorenthalten. Und auch in einem Zeitbaum ohne Narukana, sie hatte den Ort verlassen, der aus ihrer Macht heraus erschaffen worden war, um sie einzusperren, um sich auf die Suche nach demjenigen zu machen, der sie eingesperrt hatte. Deswegen musste er diesen Faktor nicht weiter bedenken. Er müsste nur dasitzen, abwarten und - Ein erschreckend lautes Geräusch riss ihn aus der Ruhe und ließ ihn sich verwirrt umsehen. Es erklang noch einmal und versicherte ihm, dass es ein Warnsignal war. Fragte sich nur, wovor es ihn warnen sollte. Vor seinen Augen erschienen Schriftzeichen, die jedem anderen nur wie fantasievolle Hieroglyphen vorgekommen wären, Zeichen, vor denen man ratlos saß und sich fragte, ob sie überhaupt dazu gedacht waren, einen Sinn zu ergeben. Aber für ihn erschloss sich die Bedeutung sofort, wenngleich er nicht verstand, wie das hatte geschehen können. Es dürfte eigentlich nicht sein – aber eigentlich dürfte der Neustart für ihn auch nicht unabwendbar sein. „Ein Virus?“ Er runzelte seine Stirn, während seine Worte in dem leeren Raum widerhallten, in dem sich außer ihm niemand befand. „Die Signatur ist...“ Mit den Augen suchte er hastig nach der Signatur des Virus, um herauszufinden, wer dafür verantwortlich war und wie er dem am besten entgegenwirken konnte – doch als er die entsprechende Zeile erreicht hatte, stutzte er verwirrt. „Yurushi? Aber das ist unmöglich, das kann gar nicht sein.“ Er hatte selbst beobachtet, wie Nozomu und Nozomi sie vernichtet hatten, sie war fort, explodiert, aufgelöst in- „Mana...“ Natürlich, warum war ihm das nicht zuvor aufgefallen? Ihr Mana hatte sich mit dem dieses Ortes verbunden, fraß es auf und manipulierte es, das erklärte die schwere Atmosphäre, die er bislang auf seine Anspannung geschoben hatte. Sie war also dafür verantwortlich, dass er keinen Zugriff auf das Programm bekam, sie wollte einen Neustart – und ein Blick auf den Monitor, auf dem sich inzwischen allerlei Dinge ereigneten, verriet ihm auch sofort, weswegen. „Sie ändert Dinge...“ Die Änderungen geschahen zu schnell als dass er sie wirklich alle mit seinen Augen registrieren konnte, aber sie gingen vonstatten und sie waren falsch so viel wusste er selbst in den kurzen Bruchteilen von Sekunden, in denen es ihm möglich war, etwas zu lesen. Reimei: 899-83311-02786819 Kouki: 899-83311-02786819 „Koordinaten... das muss Nozomus Heimatwelt sein. Wenn die Shinken dort sind, werden sie es auch sein.“ Insofern hatte er keinerlei Einwände gegen Nozomus und Satsukis erneuten Aufenthalt dort. Genausowenig wie gegen den von Zetsu, auch wenn es zu einem ungewöhnlichen Ergebnis führen könnte, wenn dem jungen Shinkenträger seine tragische Vergangenheit erspart blieb. Was ihn eher verwunderte, waren die folgenden drei Namen: Hayate: 899-83311-02786819 Aragami: 899-83311-02786819 Soukyuu: 899-83311-02786819 Diese drei hätten an jenem Ort eigentlich nichts zu suchen und er fragte sich auch, mit welchem Grund gerade sie dort sein sollten. War das alles ein vom Zufall gesteuertes Programm oder hielt 'Yurushi' die Fäden in der Hand? Und wenn ja, warum wollte sie diese drei Personen unbedingt dort haben und einige andere nicht? Obwohl er zugeben musste, dass auch die anderen dort sein könnten, manchmal verschwanden die Buchstaben so schnell wieder, dass er sie gar nicht wirklich erfassen konnte. Es würde Sinn machen, dass 'Yurushi' versuchte, alle, die für ihren Tod verantwortlich waren, dort zu sammeln. Während er noch darüber nachdachte, formte sich erneut ein Name. Aber bei diesem konnte er nicht anders als den Kopf zu neigen. Er war sich sicher, dass er noch nie zuvor damit zu tun hatte, aber dennoch reagierte sein Shinken 'Egen' darauf als würde es sich daran erinnern. Er würde herausfinden müssen, wer diese Person war, woher sie kam und was sie dort suchte, wo sie nun war – und dann würde er herausfinden müssen, was er tun konnte, um 'Yurushi' davon abzuhalten, den neu geborenen Shinkenträgern zu schaden. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich von dem Bildschirm ab und nahm stattdessen 'Egen' zur Hand, eine Waffe in Form eines Buches, in der er die gesuchte Antwort zu finden erhoffte. Der Name und die Koordinaten leuchteten derweil unvermindert weiter auf dem Bildschirm als ob außer ihnen nichts weiter von Belang wäre: Shoubi: 899-83311-02786819 Kapitel 1: Ankunft ------------------ Das leise Rascheln, als der Mann mir gegenüber hinter seinem Tisch durch die Unterlagen ging, nagte an meinen ohnehin gefährlich dünnen Nerven. Der Flug, die Zugfahrt, das überaus unangenehme Schweigen bei der anschließenden Taxifahrt... ich war nur noch müde und wollte ins Bett, aber natürlich musste vorher alles mögliche überprüft werden. Ob ich wirklich ich war – wer sollte ich denn sonst sein? – , ob ich mich im richtigen Wohnheim befand – da der Name meines Gegenübers mit dem meiner E-Mail-Bekanntschaft übereinstimmte mit Sicherheit – , ob ich überhaupt Herr meiner eigenen Gedanken war... Gut, das vielleicht weniger, aber so müde wie ich war, kam es mir wie eine gute Prüfung vor. Während Agano-san weiter in den Unterlagen blätterte, nutzte ich die Zeit, um ihn erneut im grellen Licht seines Büros zu mustern. Bevor ich in diese Wohngruppe gekommen war, hatte ich einmal mit ihm telefoniert und ihm auch mehrere E-Mails geschrieben und mir meinen eigenen Eindruck von ihm gemacht – der sich absolut nicht mit der Realität deckte. Er war kein untersetzter, alter Mann mit dicken Brillengläsern, dessen kahler Kopf rot wurde, wenn er sich aufregte – er war ein recht groß gewachsener, schlanker Mann in den Vierzigern, ohne Brille, aber dafür mit dichtem schwarzem Haar. Im ersten Moment war ich aufgrund seiner Größe ein wenig eingeschüchtert gewesen, aber das hatte sich bald wieder gelegt. Er erschien mir nicht sonderlich gemein, eher verantwortungsbewusst und das gefiel mir. Schließlich schien er endlich das richtige Formular gefunden zu haben, denn er stieß ein erleichtertes Seufzen aus und nahm einen Stift zur Hand. „Name?“ „Leana Vartanian.“ Während ich das sagte, überlegte ich, auf welche Art und Weise ein Japaner wohl versuchen würde, diese Namen zu umschreiben. Leana war kein Problem, aber Vartanian? Das war mit Sicherheit abenteuerlich. Mit einem Nicken trug er den Namen in die entsprechende Zeile ein – leider war mir von meiner Position aus nicht möglich, zu sehen, wie genau er es schrieb – und fragte mich dann auch sämtliche anderen erforderlichen Daten ab, die ich geübt herunterrasselte als ob ich nie etwas anderes tun würde. Erst bei der letzten Frage geriet ich ins Stocken: „Der Grund für deinen Aufenthalt?“ Da die Organisation dieser ganzen Sache von meinen Eltern übernommen worden war, bis auf wenige Mails und einen Anruf, der meine ersten Schritte nach dem Landen beinhaltete, wusste ich nicht so recht, was ich antworten sollte. Mir waren die verschiedensten Gründe genannt worden, je nachdem wann und wen ich gefragt hatte. Eine Bildungsreise sollte es sein, hatte mein Vater zuerst gesagt. Eine Ablenkung von den tragischen Ereignissen des letzten Jahres, war von meiner Mutter erwidert worden. Eine Taktik, um Gras über die Sache wachsen zu lassen, war nach wiederholtem Nachfragen von meinem Vater gekommen. Eine Stütze für meinen ansonsten verkorksten Lebenslauf, hatte meine leicht genervte Mutter nach dem unzähligsten Nachbohren geantwortet. Meine Schwester Rosette wiederum war der Meinung, dass es eine Mischung aus all diesen Gründen war. Nicht, dass ich mich beschweren würde, Japan konnte unmöglich schlimmer sein als good old England in den letzten Monaten. Immerhin war ich hier weit fort von allen, die mich kannten und über meine Vergangenheit Bescheid wussten. Damit blieben mir weitere dumme Sprüche oder Getuschel hinter meinem Rücken erspart. Warum es gerade Japan geworden war, erschloss sich mir aber nicht im Mindesten. Ein anderes englisch-sprechendes Land wäre doch auch gut gewesen, selbst um mich ans andere Ende der Welt zu schicken. Australien, zum Beispiel. Aber nein, stattdessen war ich in einen Intensivkurs geschickt worden, damit ich zumindest Japanisch verstehe und Hiragana und Katakana lesen kann – und selbst das gelang mir nur mit Müh und Not. Ich wollte gar nicht daran denken, wie ich versagen würde, sobald Kanji dazukamen. Da mir auffiel, dass Agano-san mich inzwischen abwartend ansah, räusperte ich mich hastig. „Eine Bildungsreise, um Abstand zu gewinnen.“ Das war eine Mischung aus allen Gründen, genau wie Rosette gesagt hatte. Er nickte verstehend und trug etwas auf dem Formular ein. „Die meisten Jugendlichen, die zu uns kommen, brauchen diesen Abstand und neue Erfahrungen. Du befindest dich also in bester Gesellschaft.“ Wie toll, dachte ich trocken, ließ mir nach außen hin aber nichts anmerken und wartete darauf, dass er endlich alles erledigte, damit ich ins Bett konnte. Ich war inzwischen nicht einmal mehr hungrig so wie noch zuvor. Ich atmete erleichtert auf, als Agano-san das Formular unterschrieb, mich bat, dasselbe zu tun und es dann in einem Ordner verschwinden ließ, den er gleich im Anschluss in einem Schrank verstaute, ehe wir beide aufstanden. „Ich zeige dir dann mal dein Zimmer, du bist mit Sicherheit müde.“ Ich folgte ihm nach einem Nicken auf den Gang hinaus, der mit dunklem Holz ausgelegt war, weswegen das dämmrige Licht noch finsterer schien und mir kaum Gelegenheit ließ, irgendwas zu erkennen. Die vorherrschende Stille schien mir beinahe unnatürlich, so als ob Geräusche jeder Art nur von irgendwas unterdrückt werden würden. Ich fragte mich, ob sonst niemand hier war oder ob sie alle bereits schliefen. Ich war noch nicht dazu gekommen, meine Uhr umzustellen, das würde ich am nächsten Tag nachholen. Unterwegs erklärte Agano-san mir, wo die wichtigsten Räume waren, wann es die Mahlzeiten gab und dass neben mir aktuell eine Griechin und ein Spanier auf meinem Stockwerk leben würden – und ich mir keine Gedanken machen sollte, wenn die beiden sich zu streiten anfangen würden. Ich konnte nicht anders als mich zu fragen, was das für seltsame Dinge waren, um sie einem Neuankömmling zu erzählen. Aber vielleicht war er auch aus Erfahrung klug geworden und warnte mich lieber vor. Mein Zimmer schlussendlich war wirklich nur ein kleiner, quadratischer Raum, gerade groß genug, um einen kleinen Tisch unterzubringen und einen Futon, um sich schlafen zu legen, an einer der Wände war ein Waschbecken und ein Spiegel angebracht. Aber mir reichte das vollauf. Ich besaß ohnehin nicht sonderlich viele Sachen, die ich allesamt in meiner Reisetasche herumtrug, und die würde ich ohne Probleme im Wandschrank unterbringen können. Agano-san wünschte mir eine gute Nacht, nachdem er erklärte, dass ich morgen früh geweckt werden würde und ging dann wieder hinaus. Endlich allein, ließ ich erst einmal meine Tasche auf den Boden fallen, ehe ich ans Fenster trat und hinausblickte. Zwar es bereits stockfinster, aber ich wollte dennoch herausfinden, wie die Aussicht war. Auf der anderen Straßenseite konnte ich einen kleinen Park erkennen. Die hellen Straßenlaternen, die ein farbloses Licht ausstrahlten, schienen alles andere um sie herum in tiefschwarze Dunkelheit zu tauchen. Es sah richtiggehend unheimlich aus, diese schwarzen Flecken zwischen den hellen Lichtkegeln. Unwillkürlich erinnerte ich mich an diesen einen Film, in dem eine Zahnfee sich in der Dunkelheit Menschen griff und sie grausam zugrunde richtete, ich schauderte bei dem Gedanken. Glücklicherweise war das hier kein Film, kein verrücktes Videospiel und nicht einmal ein Buch, also würde hier so etwas bestimmt nicht geschehen. Das da unten war nur ein Park, ein im Dunkeln unheimlicher, aber normaler Park, dem ich bereits viel zu viele Gedanken und Adjektive gewidmet hatte. Aber es fiel mir dennoch schwer, den Blick abzuwenden, als ich eine Person unter einer der Laternen entdecken konnte – eine Person, die direkt in meine Richtung starrte, zumindest kam es mir so vor. Für einen Moment fiel es mir schwer, zu denken, zu atmen oder mich gar zu bewegen. Meine Ohren fühlten sich dumpf an, als ob ich gerade unter Wasser getaucht wäre und vergessen hätte, wieder aufzutauchen, was auch meine Unfähigkeit zu atmen erklärt hätte. Aber das alles war doch unmöglich. Die Person war so weit weg, dass ich keinerlei Einzelheiten außer ihres weißen Haares wahrnehmen konnte, mit Sicherheit sah sie nicht mich an, sondern nur das Gebäude an sich, verwundert darüber, dass hier noch jemand wach war. Mit aller Macht verdrängte ich die Gedanken hastig wieder und wandte mich endlich ab – nur um aus dem Augenwinkel plötzlich ein seltsames Blitzen wahrzunehmen. Sofort blickte ich wieder zum Fenster, aber es war nichts mehr zu sehen. Kein weiteres Blitzen und auch die Person von zuvor war verschwunden, vermutlich in einem der schwarzen Felder zwischen den Lichtkegeln. Vielleicht hatte ich mir das aber auch nur eingebildet, ja, das musste es sein, ich war einfach nur übermüdet und litt noch unter dem Jetlag. Was sollte eine Person auch mitten in der Nacht schon im Park machen und ein Wohnheim anstarren? Komplett verrückt. Mindestens genausosehr wie am Fenster dieses Wohnheims zu stehen und in den Park hinauszustarren. Wegen der immer noch anhaltenden Müdigkeit beschloss ich, mir keine Gedanken mehr zu machen und mich stattdessen endlich bettfertig zu machen. Als ich dann endlich auf dem Futon lag, dauerte es zu meinem Glück nicht lange, bis ich einschlief. Zuvor hatte ich befürchtet, dass Gedanken, Sorgen und Ängste mich wachhalten würden, aber stattdessen war ich weg, kaum dass ich meine Augen geschlossen hatte – und zu meinem Glück träumte ich auch nicht. Er hatte 'Egen' bereits lange vor Frustration geschlossen. Das Buch beinhaltete Geschichten von Welten, von deren Erschaffung bis zu ihrem Untergang – aber die gesuchten Informationen über 'Shoubi' hatte er nicht erfahren können. Also hatte er den Träger des Shinken manuell aufgespürt, überrascht festgestellt, dass es ein Mädchen war und sie sich fernab von allen anderen Shinkenträgern aufhielt – zumindest anfangs. Während er noch überlegt hatte, woher er sie kannte, waren ihre Koordinaten plötzlich verändert worden und nun befand sie sich bei allen anderen. Aber selbst ihr Name Leana Vartanian half ihm nicht, sich zu erinnern, woher er sie kennen sollte. Unschlüssig war er vor dem Bildschirm gesessen, sich fragen, was er nun tun sollte – als er plötzlich eine Stimme hatte hören können. Normalerweise war das nicht ungewöhnlich für ihn, er hörte oft die Stimme seines Shinjuu Great Wisdom, aber dieses Mal war es nicht seine. Es war eine Frau und zu seiner erneuten Verwunderung, kam sie ihm bekannt vor. Die Stimme jedenfalls, es war ihm nämlich nicht möglich, sie zu sehen, egal wie sehr er sich umblickte, um sie irgendwo zu entdecken. „Es ist nicht nötig, mich zu sehen“, sagte sie als ob es ihr möglich wäre, seine fruchtlosen Bemühungen zu erkennen. Er gab also auf und blickte wieder auf den Bildschirm, um so zu tun als würde er sich mit diesem unterhalten, denn trotz allem kam es ihm doch seltsam vor, mit der Luft zu sprechen. „Es ist wichtig, dass Ihr mir zuhört“, wiederholte sie ihre ersten Worte an ihn noch einmal. Er nickte. „In Ordnung. Sagt mir, was ich wissen soll.“ Natürlich interessierte er sich dafür, wer diese Person war, woher sie ihn kannte und warum er das Gefühl hatte, sie ebenfalls kennen zu müssen – aber da war auch diese Eingebung, die ihm verriet, dass sie ihm keine dieser Fragen beantworten würde, also beschloss er, lieber aufmerksam zuzuhören. „Die Überreste von Yurushi no Yaga verbergen sich in den Schatten dieser Welt, um die Shinkenträger zu verschlingen und wieder vollständig zu werden. Es ist wichtig, dass die Träger gegen diese Gefahr kämpfen, aber...“ „Es ist nicht möglich, Shinken in dieser Welt zu beschwören“, beendete er ihren Satz nach ihrem Zögern. „Der Versorgungsturm dieser Welt ist mit einer Art Barriere versehen, die das verhindert.“ Das war ihm aufgefallen, als er versucht hatte, sich dorthin zu begeben. Da sein Shinjuu nicht über die entsprechende Teleportationsmöglichkeit verfügte, wie es bei Monobe der Fall gewesen war, hatte er es über den Versorgungsturm versucht – aber lediglich eine Fehlermeldung erhalten. Da er nicht dorthin reisen konnte, überlegte er bereits, wie er sie von außen unterstützen könnte, aber dann war ja die Stimme erklungen. „Das ist richtig. Aber es gibt eine Möglichkeit, diese Barriere zu umgehen.“ Aufmerksam lauschend saß Salles plötzlich aufrecht. „Und wie sieht diese Möglichkeit aus?“ „Das werde ich Euch verraten, sofern Ihr mir versprecht, nicht zu viele Fragen zu stellen und Leana zu unterstützen.“ Das mit den Fragen hatte er aufgrund seines Gefühls ohnehin nicht umsetzen wollen, aber er musste zugeben, dass er, um die Sicherheit seiner alten Kameraden zu gewährleisten, möglicherweise auf Leanas Schutz verzichtet hätte. Aber wenn diese Frau darauf bestand, dass er ihr half und er im Gegenzug verraten bekam, wie er seinen Kameraden helfen konnte, würde er genau das tun. „Das werde ich tun.“ Er glaubte, ein erleichtertes Aufatmen zu hören, aber möglicherweise entstammte das nur seiner Vorstellung, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Laut nicht zu dieser Frau passen würde. „Die einzige Möglichkeit, diese Barriere kurzfristig zu umgehen, ist...“ Kapitel 2: Der erste Tag ------------------------ Es schien mir als wären gerade einmal ein paar Sekunden vergangen, als ein lautes Geräusch, ähnlich einer knallenden Tür, mich wieder aus dem Schlaf riss. Lediglich das einfallende Sonnenlicht verriet mir, dass es bereits Morgen war, obwohl ich mich noch genauso müde fühlte wie vor dem Schlafen. Dennoch widerstand ich der Versuchung, den Kopf wieder auf das Kissen sinken zu lassen, die Augen zu schließen und noch für ein paar Minuten weiterzuschlafen. An meinem ersten Tag wollte ich den bestmöglichen Eindruck schaffen und das wäre als Erstes mit frühem Aufstehen erreicht. Während ich also aufstand, um mich anzuziehen, hörte ich noch einmal, wie jemand mit einer Tür knallte – und gleich danach konnte ich einen lautstarken Streit aus dem Nebenraum vernehmen. Was genau das Thema war, konnte ich nicht verstehen, aber dass ein Junge und ein Mädchen sich in zwei vollkommen unterschiedlichen Sprachen gegenseitig anschrien war mir direkt klar. Zumindest die Sprache des Jungen konnte ich als Spanisch wiedererkennen, also musste das Mädchen griechisch sprechen. Ich fragte mich, ob die beiden überhaupt in der Lage waren, sich gegenseitig zu verstehen, wenn sie sich in unterschiedlichen Sprachen stritten, beschloss aber, das vorerst nicht herausfinden zu wollen. Um nicht daran verwickelt zu werden, sah ich erst einmal nach draußen auf den Gang, um sicherzugehen, dass sie ihren Streit nicht nach dort verlegt hatten, ehe ich mein Zimmer verließ, um das Bad aufzusuchen. Konflikte am Morgen war ich bereits gewohnt, nur war zu Hause ich immer im Mittelpunkt davon gewesen – aber natürlich nicht mit meiner Familie, eher mit Mitschülern – hier würde ich dem allem hoffentlich aus dem Weg gehen können. Deswegen war ich ja nach Japan gekommen, mit dem Entschluss, mich vorbildlich zu benehmen, damit ich bald wieder zurück nach Hause könnte. Vorerst würde ich aber gute Miene zum bösen Spiel machen und versuchen, mich einzugliedern. Als ich in neuer Frische schließlich wieder aus dem – glücklicherweise sehr sauberen – Bad kam, stellte ich fest, dass der Streit inzwischen verstummt war. Dafür war diese unheimliche Stille der letzten Nacht zurückgekehrt, die mich dazu führte, besonders leise aufzutreten, um keine verdächtigen Geräusche zu erzeugen. Die meisten Türen im Gang waren schlichte Holztüren auf denen kleine Plastikplaketten angebracht waren, in die man Papierstreifen mit Namen stecken konnte. Aber die meisten von ihnen waren leer und zeigten damit, dass der Raum dahinter verwaist war. Bei der ersten Tür mit einem Papierstreifen blieb ich wieder stehen, um die Gelegenheit zu nutzen, die Namen meiner Zimmernachbarn zu lernen. Ich kniff die Augen zusammen, um die Zeichen besser lesen zu können. ソルラスカ Ein wenig irritiert neigte ich den Kopf, während ich innerlich versuchte, diese Katakana in westliche Buchstaben umzuwandeln. „Sorurasuka?“ Ich bemerkte gar nicht, dass ich leise vor mich hinzumurmeln begann. „Nein, ich darf nicht vergessen, dass man damit ein ausländisches Wort umschreibt. Außerdem haben die kein L, also vielleicht... Sol Lasker? Aber nein, das klingt ja idiotisch. Vielleicht ist es auch gar kein Name, sondern-“ „Sorluska“, hörte ich plötzlich eine genervte Stimme neben mir. Erschrocken wandte ich den Kopf und entdeckte einen Jungen, ungefähr in meinem Alter, die Arme in die Hüfte gestemmt, das braungebrannte Gesicht recht genervt und auch ein wenig wütend. In seinem schwarzen Haar, das in seinem Nacken zu mehreren kurzen Zöpfen gebunden war, konnte ich ein rotes Büschel in seine Stirn fallen sehen. „Uhm... excuse me?“ Perplex wie ich war, fragte ich das auf Englisch, statt dem eher angebrachten Japanisch, wenn wir uns schon in Japan befanden. Zu meiner Überraschung wandelte sich sein Gesicht plötzlich, der wütende Ausdruck verschwand, dafür lächelte er sogar, als er weiter auf Japanisch sprach: „Sorluska, das ist mein Name und das steht da auch.“ Einen solch seltsamen Namen hatte ich noch nie zuvor gehört, aber ich kommentierte das nicht, immerhin konnte er mit Sicherheit nichts für diesen Namen, sondern nickte stattdessen verstehend – und blickte dann überrascht auf seine Hand, die er mir entgegenhielt. „Du musst Reana sein.“ „Leana“, korrigierte ich, während ich seine Hand schüttelte, um ihn nicht mutwillig zu verärgern. Er lachte amüsiert. „Ah, also ist es tatsächlich ein L. Hier kann man sich ja nie wirklich sicher sein, was?“ Ich nickte ein wenig irritiert über seinen plötzlichen Stimmungswandel und drehte mich um, als ich hinter mir Schritte hören konnte. Ein Mädchen stand da und blickte mich direkt an, während sie sich selbst Zöpfe in ihr langes braunes Haar zu flechten versuchte, ihr Gesicht wirkte ein wenig als würde sie schmollen, auch wenn ich nicht wusste, weswegen sie das tun sollte. „Yo, Thalia, das ist Leana“, übernahm Sorluska meine Vorstellung, wobei er meinen Namen auf eine ganz merkwürdige Art und Weise betonte, die ich noch nie zuvor so gehört hatte. Thalia verzog die Mundwinkel ein wenig. Nicht weit genug, dass man es als Lächeln bezeichnen konnte, aber doch, dass man sah, dass sie nicht schlecht gelaunt war. „Guten Morgen.“ Als ich auch ihre Stimme hörte, war mir direkt klar, dass die beiden sich zuvor gestritten hatten – und nun so taten als wäre nichts gewesen, vielleicht weil ich hier war oder weil sie das immer taten, das konnte ich natürlich nicht sagen. Ich erwiderte den Morgengruß und erklärte dann auf ein Nachhaken von Sorluska, dass ich am Abend zuvor sehr spät angekommen war und dementsprechend noch ein wenig müde war. Er nickte verstehend, dabei grinste er, was zwei äußerst scharf aussehende Eckzähne enthüllte, fast so als wäre er ein Raubtier... was aber natürlich lächerlich war. „Wir gehen frühstücken“, meinte Thalia. „Am besten, du kommst gleich mit, dann müssen wir dir nicht extra erklären, wie das alles hier funktioniert.“ Ich war mir nicht sicher, ob sie auf eine unglückliche Art versuchte, freundlich zu sein oder ob sie nur höflich sein wollte, nickte aber ohne nachzuhaken und folgte den beiden in den Speisesaal. Da dieser Ort wohl eine Art Hostel war, war der Speisesaal ziemlich groß – aber auch verlassen, an keinem der zahlreichen Tische saß jemand. Es gab wohl nicht sonderlich viele Leute hier oder sie waren noch nicht wach, da es immerhin Sonntag war. Sorluska bestätigte mir, dass es aktuell außer uns tatsächlich niemanden hier gab. „Gibt wohl nicht sonderlich viele Eltern, die ihre Kinder loswerden wollen und sie dafür ans andere Ende der Welt schicken.“ Er grinste bei dem Gesagten, aber es war diese Art von Grinsen, das verriet, dass man es nur aufsetzte, um nicht in Tränen auszubrechen... es bedrückte mich ein wenig. Deswegen war ich erleichtert, dass Thalia nun wieder das Wort ergriff, um mir zu erklären, wie das mit den Mahlzeiten ablief. Normalerweise war es offenbar wie in jeder Kantine, dass man sich an einem Buffet in einer Schlange einreihte und sich das Gewünschte heraussuchte, aber da wir nur zu dritt waren, durften wir unser Essen direkt in der Küche einnehmen. Mein Blick fiel dort sofort auf die metallene Arbeitsplatte, wo jemand bereits Schalen mit Suppe, Reis und gebratenem Fisch angerichtet hatte. Direkt daneben war dickes Toastbrot und Marmelade bereitgestellt worden, was mir am frühen Morgen ein wenig sympathischer erschien. Wir setzten uns auf die dastehenden Stühle und beobachteten im nächsten Moment, wie eine Frau durch eine weitere Tür hereinkam. Sie trug neben einer weißen Schürze auch ein weißes Tuch auf dem Kopf, um ihr schwarzes Haar zurückzuhalten. Als sie eine Kanne, aus der es herrlich nach grünem Tee roch, zum Frühstück dazustellte, lächelte sie uns freundlich an. „Guten Morgen.“ Wir erwiderten den Gruß fast einstimmig, dann richtete sie ihren Blick auf mich. „Du musst Leana sein.“ Sie gab sich hörbar Mühe, meinen Namen korrekt auszusprechen und ich quittierte das mit einem leichten Lächeln und einem angedeuteten Nicken. „Das ist richtig.“ Sie stellte sich mir als die Köchin Takase vor und sie schien recht froh zu sein, dass wir nur noch zu dritt waren, da es ihr die Arbeit erleichterte. Ich sagte nichts dazu, obwohl ich zugeben musste, dass es mir auch ganz recht war, dass nicht so viele Leute hier waren. Das verringerte immerhin schon die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit jemandem in Streit geraten würde. Takase-san überließ uns dem Frühstück, während sie sich dem bereits entstandenen Abwasch widmete. Thalia und Sorluska machten sich gierig über den Reis und den gebratenen Fisch her, während ich mich lieber dem Toast und der – doch viel zu süßen – Marmelade widmete. In der entstandenen Stille hörte ich ein Radio, dessen Standort ich nicht ausfindig machen konnte, aber mich irritierte auch mehr das, was gesagt wurde: „Heute Morgen wurde die Leiche eines Schülers der Monobe-Akademie im Fukui-Park gefunden. Die näheren Umstände der Tat wurden noch nicht bekanntgegeben, im Moment sucht die Polizei nach Augenzeugen.“ Gedankenverloren kaute ich meinen Toast. Der Fukui-Park war jener auf der anderen Straßenseite, dort, wo ich in der Nacht zuvor diese Person beobachtet hatte. Einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, das der Polizei zu melden, verwarf ihn allerdings fast sofort wieder. Ich hatte absolut nichts gesehen, was mit der Tat im Zusammenhang stand, es gab keinen Grund, der Polizei irgendetwas zu melden. „Nach dem Frühstück zeigen wir dir alles Wichtige im Haus“, begann Thalia plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Und nach dem Mittagessen zeigen wir dir alles in der näheren Umgebung. Wenn du gestern im Dunkeln angekommen bist, wirst du kaum etwas gesehen haben.“ Ich nickte schweigend, um mich einverstanden zu erklären. Der Rest des Frühstücks ging schweigend vonstatten, wir bedankten uns noch einmal bei Takase-san für die Mahlzeit und liefen dann durch das Gebäude, damit ich alles davon zu sehen bekam. So wirklich wichtig war davon allerdings nichts. Sie zeigten mir den Gemeinschaftsraum, in dem es neben einem Sofa, mehreren Sesseln und einem Tisch auch ein Radio und einen Fernseher gab. Für den Fall, dass es doch mehr Schüler gab und man diese alle auf einmal versammeln musste, gab es sogar einen bestuhlten Saal mit Bühne, allerdings hatten weder Sorluska noch Thalia je eine solche Versammlung mitbekommen. Hinter dem Gebäude gab es noch einen Hof, in dem sich Katzen um eine Mülltonne versammelt hatten und schliefen. Als wir an ihnen vorbeikamen, blickten sie träge auf, ehe sie sich genüsslich streckten und dann weiterschliefen. Dann gab es noch das Büro von Agano-san, das ich nach dem gestrigen Abend aber bereits zur Genüge kannte und natürlich das Bad und die Toiletten, alles Dinge, die ich bereits wusste. Das üppige Mittagessen, das wieder aus Fisch, Reis und Suppe bestand – und nun war mein Magen auch bereit dafür – nahmen wir im Speisesaal ein. „Wie lange seid ihr eigentlich schon da?“, fragte ich, in einem Versuch, ein wenig Konversation zu betreiben und normal zu sein. Beide neigten nachdenklich die Köpfe. „Also ich war zuerst hier“, erinnerte Sorluska sich. „Ich bin vor fast drei Monaten angekommen.“ Thalia nickte zustimmend. „Ich kam dann vor anderthalb Monaten an. Damals waren noch vier andere da, die aber nach und nach abgereist sind. Dann waren Sor und ich allein.“ Sie klang nicht wirklich bedauernd und da sie ihn sogar mit Spitznamen ansprach, standen die beiden sich wohl recht nahe. „Warum haben sie dich denn hergeschickt?“, fragte Sorluska neugierig. „Ich bin in einige Schlägereien mit Mitschülern geraten. Das hat den Gönnern der Privatschule, die ich besuchte, nicht geschmeckt und meine Eltern beschlossen, mich hierher zu schicken.“ „Ähnlich wie bei mir“, sagte er grinsend. „Hab mich zu Hause zu oft mit den falschen Leuten angelegt, bis ein Sozialarbeiter den Einfall hatte, mich hierher zu schicken. Er meinte, das würde meine sozialen Kompetenzen schulen.“ Dabei schnitt er eine Grimasse, die verriet, dass er nicht daran glaubte. Ich sah zu Thalia hinüber, um mir ihre Geschichte anzuhören. Sie hob die Schultern. „Meine Eltern meinten, ich würde mir schwertun, mich vernünftig in Gruppen einzugliedern – ich glaube aber, sie wollten mich nur loswerden und das war die beste Methode.“ „Glaubst du wirklich?“, fragte ich, worauf sie entschieden nickte und Sorluska seufzte. „Vergiss es lieber, Leana, davon wird sie sicher nicht abkommen.“ Genau genommen war es ja auch möglich, immerhin kannte ich ihre Eltern gar nicht, deswegen sagte ich nichts mehr dazu und widmete mich lieber wieder meinem Mittagessen. Zu meiner Freude war der Fisch frisch, da ich aus einer Hafenstadt kam, wäre mir etwas anderes sauer aufgestoßen, aber hier legte man offenbar genau so großen Wert darauf wie ich. Im Anschluss verließen wir das Gebäude, um uns im näheren Umfeld umzusehen. Was mir besonders auffiel war die Tatsache, dass sich das Heim offenbar in einer sehr ruhigen Gegend befand, es war fast schon beängstigend still, während wir die Straße hinabliefen, lediglich aus den Hinterhöfen der anderen Häuser war das undeutliche Getratsche von Hausfrauen oder das Lachen von spielenden Kindern zu hören. Der kleine Supermarkt, der sich in der Straße befand, schien verlassen, aber das, was wirklich wichtig war, befand sich an der nächsten Ecke. Ein kleiner Außenkiosk mit Zeitungen aus aller Welt hatte dort sein Quartier aufgeschlagen. Meine Augen suchten sofort nach einer britischen Zeitung, die ich auch rasch fand, um die Schlagzeile auf der Titelseite zu lesen. Ich war erst eine Nacht fort, nichts schien sich in meiner Heimat ereignet zu haben, auch wenn Europa wegen der Schuldenkrise immer noch unruhig war. Aber nach dem Lesen war ich um einiges ruhiger. Thalia kaufte sich eine griechische Zeitung, während Sorluska nur desinteressiert neben uns stand, den Blick auf den Park gerichtet, wo unser Weg uns als nächstes hinführte – auch wenn wir nicht weit kamen. Gelbe Absperrbänder der Polizei verwehrten uns den Zutritt in den Park, genau wie gut einem Dutzend anderer Leute, die alle darum herumstanden und offenbar nur sehen wollten, was untersucht wurde – nur um enttäuscht festzustellen, dass von diesem Ort aus nichts zu sehen war. „Hoffentlich ist er morgen nicht mehr gesperrt“, merkte Sorluska plötzlich überraschend ruhig an. „Das ist der kürzeste Weg zur Schule.“ Thalia nickte zustimmend und ich war ein wenig perplex. „Kümmert es euch nicht, dass hier ein Schüler ums Leben gekommen ist?“ Ich empfand die ganze Situation als erschreckend unwirklich, immerhin war ich nie mit Mordfällen in Berührung gekommen in meiner Heimat, aber ich war doch ein wenig... überrascht, dass andere das so einfach übergehen konnten – nicht zuletzt, weil dieser Mord quasi direkt vor unserer Haustür geschehen war. Aber Sorluska zuckte nur mit den Schultern. „Ganz ehrlich? In meiner Heimat bin ich morgens immer über mindestens eine Leiche gestolpert.“ Mir fröstelte allein bei der Vorstellung. Thalia hob ebenfalls die Schultern. „Außerdem ist das nicht der erste ermordete Schüler. Letzte Woche erst wurde hier ein Lehrer tot aufgefunden und letzten Monat ein Schülerpärchen.“ „Aber trotz dem Polizeiaufgebot konnte der Mörder noch nicht geschnappt werden“, erklärte Sorluska weiter. „Deswegen ist es besser, wenn wir nachts drinnen bleiben.“ Beide nickten zustimmend, hatten sich bereits abgefunden mit dieser Situation, die mich schwer schlucken ließ. Bei nächster Gelegenheit würde das meiner Familie schreiben, damit ich vielleicht doch früher nach Hause durfte. Doch als mein über die Menge schweifender Blick auf eine bestimmte Person fiel, war mein Kopf für einen Moment vollkommen leer. Dort, inmitten aller Schaulustigen, die mir plötzlich vollkommen grau und farblos erschienen, stand die mit Abstand schönste Person, die ich jemals zuvor gesehen hatte und für einen kurzen Moment war ich mir nicht einmal sicher, ob es sich dabei nicht um eine Frau handelte, so wie das lange, silberne Haar, das bis an die Hüften dieser Person reichte und zu einem Pferdeschwanz gebunden war, es vermuten ließ. Aber ausgehend von der Körpergröße und dem flachen Oberkörper, musste es ein junger Mann sein, ein femininer und überraschend gutaussehender zwar, aber immer noch ein Mann. Er wandte den Kopf, um mit der Person neben sich zu sprechen und seine hellblauen Augen trafen für einen kurzen Moment auf meine, worauf ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte, mich sonst aber mit keiner weiteren Reaktion bedachte, obwohl ich ihn nach wie vor geradezu anstarrte. Erst als Thalia mich an der Schulter berührte und mir zu verstehen gab, dass wir wieder zurückgehen würden, schaffte ich es, mich von ihm abzuwenden und gemeinsam mit den anderen beiden den kurzen Rückweg ins Heim anzutreten. Für den Rest des Tages, bis spät in die Nacht hinein, waren meine Gedanken bei diesem Fremden, der da mitten in der Menge gestanden hatte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Blick so neugierig und gleichzeitig unbeteiligt, dass er ausgesehen hatte als wüsste er nicht einmal, warum er eigentlich dort stand. Fast schon bedauerte ich die Aussicht, dass ich ihn wohl nie wiedersehen würde, nicht einmal aus der Ferne – da wusste ich aber auch noch nicht, dass ich ihn nicht einmal 24 Stunden später für unglaublich rüde und respektlos befinden würde. Kapitel 3: Monobe Akademie -------------------------- Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass die Uniform, die ich in der Monobe Akademie tragen sollte, reichlich kurz war. Ein flüchtiger Windstoß würde genügen, damit jeder, der gerade in der Nähe stand, sehen konnte, welche Unterwäsche man trug. Also entschied ich mich kurzerhand dazu, eine Strumpfhose anzuziehen. Allerdings überraschte mich das doch ein wenig, nachdem ich von den strengen Kleiderbestimmungen in Japan gehört hatte und gleichzeitig wunderte ich mich, wo ich da nur hineingeraten war. Das Frühstück nahmen wir schweigend ein, offenbar waren sowohl Sorluska als auch Thalia so früh am Morgen nicht zum Reden aufgelegt, ich bedauerte das kein Stück, sondern schätzte mich sogar glücklich, weil es dafür sorgte, dass ich meine Ruhe hatte. Aber kurz vor Ende des Frühstücks erwachte in Thalia wohl doch das Mitteilungsbedürfnis. Sie starrte mit gerunzelter Stirn auf die blaue Schleife an meinem Oberteil und sagte schließlich etwas, ehe ich gereizt fragen konnte, was sie wollte: „Ich dachte immer, du wärst im zweiten Jahrgang, zumindest von deinem Alter her. Aber laut der Schleife bist du im ersten.“ „Agano-san meinte, es wäre besser, wenn ich im ersten Jahrgang anfange, weil er sich nicht sicher ist, ob meine Sprachkenntnisse für eine höhere Stufe ausreichen und ob mein Wissensstand derselbe wäre.“ Mir konnte es ohnehin egal sein, immerhin kannte ich niemanden, den ich vermissen könnte, wenn ich im ersten Jahrgang war. Thalias rote Schleife verriet mir, dass sie sich in einer anderen Stufe befand als ich, ich schätzte, dasselbe galt auch für Sorluska, obwohl es bei ihm keinerlei Hinweis darauf gab. Das bedeutete, dass ich absolut niemanden in meiner Klasse kennen würde – aber mich störte das weiterhin nicht. Wir beendeten das Frühstück schließlich, verabschiedeten uns von Agano-san, der uns einen erfolgreichen Tag wünschte und traten dann den Weg zur Schule an. Der Park war inzwischen wieder geöffnet, offenbar war die Spurensicherung beendet, jedenfalls war nichts mehr davon zu sehen, auch nicht von dem eigentlichen Verbrechen. Unwillkürlich ließ ich den Blick über die Schüler schweifen, deren Schulweg ebenfalls durch den Park führte, in der Hoffnung, den Silberhaarigen vom Tag zuvor wiederzufinden, aber ich entdeckte ihn nicht. Dafür fiel mir allerdings jemand anderes ins Auge. Ein Mädchen, etwa in meinem Alter, vielleicht ein wenig jünger, mit langem weißem Haar, lief neben einem braunhaarigen Schüler, der ein rotes Band um seine Stirn geschlungen hatte. Was mich an ihr allerdings so irritierte war nicht das weiße Haar, auch nicht die schwarze Mütze, die sie auf ihrem Kopf trug oder die Tatsache, dass sie keine Schuluniform trug, sondern die roten Augen, die ich sehen konnte, als sie sich dem Jungen neben sich zuwandte. Ist sie ein Albino? Das würde jedenfalls von den Augen und dem Haar her passen. Aber ihre gesunde Hautfarbe widersprach. Das änderte allerdings nichts daran, dass ich doch fasziniert von ihr war. Erst Sorluskas Lachen ließ mich den Blick wieder von ihr ab- und ihm zuwenden. Er grinste und enthüllte dabei überraschend spitze Eckzähne. „Jeder ist fasziniert von Baila.“ „Bai... la?“ Ich nahm an, dass es ein Wort seiner Sprache war, das dieses Mädchen oder die Umgebung beschrieb, aber Thalia nickte nach vorne. „Das ist ihr Name.“ Verwundert blickte ich wieder zu dem Mädchen, das war ein wirklich ungewöhnlicher Name, wie ich fand. Aber dadurch passte er auch zu ihr. Kurz bevor wir die Schule erreichten, verabschiedete das Mädchen sich von dem Jungen und schlug einen anderen Weg ein. Da sie keinerlei Tasche mit sich trug, nahm ich nicht an, dass sie zu einer anderen Schule unterwegs war, ich fragte mich, was sie wohl vorhatte. Doch der Gedanke war verflogen, als wir das Schultor hinter uns ließen. Das vor uns aufragende Gebäude und die Schülermassen, die darauf zustrebten, weckte langsam doch die Nervosität in meinem Inneren. Immerhin würde ich nicht nur in eine vollkommen neue Klasse kommen, in der ich die Neue und noch dazu Ausländerin war, ich würde außerdem dem Unterricht in einer fremden Sprache beiwohnen müssen, auf die Gefahr hin, dass ich absolut nicht mitkommen würde. Aber für Bedenken war es nun viel zu spät. Wir betraten das Gebäude und steuerten direkt auf das schwarze Brett zu, das im Foyer angebracht war. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass es sich dabei um die Klasseneinteilung handelte, jede Menge Kanji prangten mir entgegen und begannen sich vor meinen Augen zu bewegen. Irgh, ich werde mich nie an diese Schrift gewöhnen. Triumphierend deutete Thalia schließlich auf eine Folge von Katakana, die meinen Namen darstellten. „Deine Klasse ist 1-2 und dein Lehrer... Kawatsu-sensei.“ „Dann muss ich jetzt ins Lehrerzimmer, nicht wahr?“ Zumindest, wenn ich mich richtig an Agano-sans Worte erinnerte, der mir das Prozedere bereits erklärt hatte. Thalia nickte zustimmend. „Das ist richtig. Wir bringen dich da noch hin und dann gehen wir in unser Klassenzimmer.“ So setzten wir also unseren Weg fort, eine Treppe hinauf. Dabei stellte ich fest, wie außerordentlich sauber und gepflegt das Gebäude wirkte. Meine letzte Schule in England war eine Privatschule gewesen und damit ebenfalls sehr sauber, aber diese hier war doch... einen Tick steriler, schien mir. Vermutlich aber, weil der Boden so blank gewischt war, dass es wirkte als sei alles ganz neu. Vor einer Tür hielten wir schließlich wieder inne. „Das ist das Lehrerzimmer“, sagte Thalia. „Wir sehen uns dann später wieder.“ „Wenn du willst, kannst du in der Mittagspause mit uns essen“, bot Sorluska an. „Wir sind dann meist auf dem Dach.“ Ich bedankte mich und blickten den beiden hinterher, ehe ich mich darauf besann, dass ich nicht alle Zeit der Welt hatte und an die Tür klopfte. Der Aufforderung folgend, trat ich schließlich hinein. An meiner alten Schule war ich nie im Lehrerzimmer gewesen, aber ich war mir sicher, dass es dort nicht so aussah wie hier. Zwei Reihen von Tischen waren darauf zu sehen und auf diesen standen unzählige Bücher der unterschiedlichsten Fachrichtungen. An der Wand war eine Tafel zu sehen, aber ich hatte keine Zeit, die Kanji und Hiragana zu entziffern, denn die Stimme eines Lehrers lenkte meine Aufmerksamkeit auf diesen. Der Mann wirkte träge, nicht nur wegen seinem Gewicht, auch sein Blick verriet, dass er müde war, der Haarausfall, der nur noch einen dunklen Haarkranz zurückgelassen hatte, erzählte außerdem von seinem fortgeschrittenen Alter. „Kann ich dir helfen?“ „Mein Name ist Leana Vartanian, ich suche Kawatsu-sensei.“ Er blinzelte müde, dachte einen Moment nach und nickte dann. „Ich bin Kawatsu. Dann bist du also die Engländerin?“ Irgendwie missfiel mir die Art, wie er über mich sprach, aber ich war nicht zum Diskutieren aufgelegt, deswegen nickte ich. „Das bin ich.“ „Gut, dann komm direkt mit mir mit, wir gehen jetzt in die Klasse.“ Wir verließen das Zimmer wieder und folgten dem Gang hinab, ehe wir am Ende davon einen anderen Raum betraten. Etwa 25 Schüler saßen hinter ihren Pulten und sahen uns gespannt an, wir blieben vor der Tafel stehen, so dass ich einen Blick auf alle werfen konnte. Keiner der Schüler kam mir auch nur im Mindesten bekannt vor, außer der Junge am Fenster in der ersten Reihe, auch wenn ich ihn hauptsächlich wegen seinem Stirnband wiedererkannte. Er lächelte mir sanft entgegen, so dass ich den Blick wieder abwandte. Ansonsten fielen mir zwei freie Plätze auf, einer gehörte wohl mir. Auch hier war der Silberhaarige nicht zu sehen, möglicherweise gehörte er einer ganz anderen Stufe an oder einer anderen Klasse oder einer anderen Schule – oder er war gar kein Schüler mehr. Kawatsu-sensei sah zwischen der Klasse und mir hin und her. „Ihr habt sicher schon gehört, dass wir eine neue Schülerin bekommen. Stell dich bitte vor.“ Er nickte mir zu, dann nahm er ein Blatt Papier und begann, etwas an die Tafel zu schreiben, was ich schon nach den ersten zwei Zeichen als meinen Namen erkannte. Mein Blick ging wieder nach vorne, dann räusperte ich mich. „Mein Name ist Leana Vartanian.“ Ich betonte das L, damit niemand erst auf die Idee kam, mich mit Reana anzusprechen. „Ich komme aus England, musste aber wegen einiger Probleme nach Japan wechseln. Ich will eigentlich nicht weiter erklären, warum, das ist eine Sache, die ich hinter mir lassen will. Außerdem-“ Ich unterbrach mich selbst, als am anderen Ende des Klassenzimmers eine Tür geöffnet wurde und jemand hereinkam. Nicht nur die Störung an sich irritierte mich, mir blieb noch dazu für einen kurzen Moment die Luft weg. Der Schüler, der gerade die Tür hinter sich schloss, hatte langes, silbernes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst war, seine eisblauen Augen blickten desinteressiert in meine Richtung, aber dennoch hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln, als er mich entdeckte. Ich fragte mich, ob er mich erkannte, schalt mich aber sofort für meinen eigenen Gedanken und wartete darauf, dass er sich entschuldigte, wie es die Höflichkeit verlangte, wenn man jemanden unterbrochen hatte. Allerdings machte er keine Anstalten dazu, stattdessen steuerte er wortlos auf den freien Platz am Fenster zu, wo er sich, ohne mich weiter zu beachten, niederließ. Ich warf Kawatsu-sensei einen auffordernden Blick zu, damit er eine Entschuldigung verlangte, darauf sah der Lehrer zu dem Nachzügler. „Akatsuki, was hat dich heute aufgehalten?“ Akatsuki setzte sich aufrecht hin. „Ich habe verschlafen, tut mir Leid.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich seine Stimme hörte, die fast noch schöner schien als sein Haar und seine Augen und das obwohl er ohne jede Reue sprach. Doch als Kawatsu-sensei diese Erklärung nur abnickte, statt ihn darauf hinzuweisen, dass er unhöflich sei, schwand meine Sympathie gänzlich. Ich sah Kawatsu-sensei ungläubig an, aber dieser forderte mich lediglich auf, fortzufahren. Noch immer ein wenig perplex, sah ich wieder zur Klasse und sprach weiter: „Jedenfalls bin ich hier, um zu beweisen, dass ich kein hoffnungsloser Fall bin. Ich hoffe, wir werden gut miteinander auskommen.“ Das war sogar die Wahrheit. Ich konnte mir fern meiner Heimat keinen Ärger leisten, mit niemandem. Freundschaften wollte ich nicht unbedingt schließen, mir ging es nur darum, nicht aufzufallen und das Jahr bestmöglich hinter mich zu bringen. Kawatsu-sensei nickte mir schließlich zu. „Setz dich, bitte.“ Der einzige freie Platz war nun jener in der mittleren Reihe, direkt neben Akatsuki, der inzwischen die Arme auf den Tisch gelegt und seinen Kopf darin gebettet hatte. Einerseits widerstrebte es mir, mich neben diesen unhöflichen Kerl zu setzen, andererseits war ich aufgeregt, neben ihm sitzen zu dürfen. Da ich allerdings keine Zeit hatte, mich großartig mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen oder gar eine Diskussion anzufangen, schritt ich hastig zum Tisch und setzte mich. Ich warf Akatsuki dabei einen Blick zu – und stellte verdutzt fest, dass er schlief. Der Kerl war doch tatsächlich noch während meiner restlichen Vorstellung eingeschlafen! Ärger schwoll in meiner Brust an, ich sah mich nach den anderen um, in Erwartung, ähnliche Emotionen auf ihren Gesichtern zu lesen, doch mit Enttäuschung stellte ich fest, dass es keinen zu interessieren schien. Niemand außer mir beachtete Akatsuki, sie alle sahen nach vorne, wo Kawatsu-sensei mit dem Unterricht begonnen hatte. Ich verstand es einfach nicht, was war nur los mit diesen Leuten? Am Liebsten hätte ich laut aufgeschrien, um meiner Frustration Luft zu verschaffen, doch stattdessen besann ich mich wieder darauf, keinen Ärger machen zu wollen. Außerdem gab es vielleicht eine vernünftige Erklärung dafür, ich würde ihn in der Pause einfach danach fragen. Bis dahin aber wollte ich versuchen, dem Unterricht zu folgen, auch wenn mir das schwerfiel, denn mein Blick wanderte immer wieder zu dem schlafenden Akatsuki, was mein Unverständnis immer wieder aufs Neue anfachte. An meiner alten Schule wäre das nicht möglich gewesen, er wäre geweckt worden und hätte einen Brief an seine Eltern mitbekommen, noch bevor er wirklich eingeschlafen wäre. Warum war das im strengen Japan denn anders? Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Als eine angenehm wohltuende Glocke schließlich das Ende der Stunde verkündete, wandte ich mit Akatsuki zu – und stellte überrascht fest, dass er bereits wieder wach war. Er streckte sich genüsslich, ignorierte mich dabei allerdings. Jedenfalls, bis ich ihn anknurrte. Das war so ein Tick von mir, ich knurrte immer, bevor ich wirklich wütend wurde, deswegen hatten sich einige Personen in England über mich lustig gemacht. Akatsuki sah mich allerdings verdutzt an. „Hast du was?“ Ich räusperte mich, damit ich nicht aus Versehen noch einmal knurrte oder wütend klang, dann antwortete ich ihm mit gefasster Stimme: „Ich will nicht unhöflich sein, aber ist es möglich, dass du krank bist?“ Er runzelte seine Stirn. „Nein, wieso?“ „Weil du gerade während des Unterrichts eingeschlafen bist.“ Dass er sich außerdem absolut unhöflich mir gegenüber verhalten hatte ließ ich lieber weg. Diesmal lachte er spöttisch, ehe er sich zurücklehnte. „Nein, ich bin nicht krank... ich komme nur nicht immer nachts nicht zum Schlafen. Ich habe viel zu tun.“ Andere Menschen wären bei diesen Worten wohl neugierig geworden, ich allerdings begann wieder zu knurren. „Dann bist du einfach nur so unhöflich?“ „Könnte man wohl so sagen.“ Er zuckte mit den Schultern, ihn kümmerte das wohl nicht weiter. Ich war kurz davor, zu explodieren – als ich plötzlich bemerkte, dass alle anderen geradezu unheimlich still waren und uns ansahen. Jeder von ihnen wartete offenbar nur darauf, dass die Situation eskalierte. Das führte dazu, dass ich mich zum wiederholten Male an diesem Tag besann und mich demonstrativ von ihm abwandte. „Gut, wenn das so ist, dann will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Ein Raunen ging nach meinen Worten durch den Raum, ich spürte die überraschten Blicke der anderen mehr als dass ich sie sah und hörte das Tuscheln, weil einige von ihnen es offenbar nicht glauben konnten, dass ich dem Liebling aller eine solche Ansage erteilt hatte. Aber da auch noch etwas anderes und das war Erleichterung. Jene hatte ich oft in anderen gespürt, wenn sie bemerkten, dass meine Wut abflaute oder ich einen Raum verließ, aber diesmal betraf es wohl die Tatsache, dass man mich nicht als Konkurrenz zu betrachten brauchte. In dem Sinne war ich froh, dass ich diese Ansage gemacht hatte, immerhin ersparte mir das einiges an Ärger, wie ich glaubte. Aber da konnte ich noch nicht wissen, was ich mit meiner Ankündigung wirklich angerichtet hatte. Kapitel 4: Kampfansage ---------------------- Ich war geradezu heilfroh, als die Mittagspause endlich begann und ich somit Zetsu für eine Stunde nicht mehr sehen musste. Aber als ich aus dem Klassenzimmer trat, bemerkte ich, wie sich mir sofort alle Blicke zuwandten, selbst von Schülern, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei und lief an ihnen vorbei, um zum schuleigenen Kiosk zu kommen, damit ich mir etwas zu essen kaufen könnte. Auf dem Weg dorthin wurde ich allerdings von Sorluska abgepasst, der sich mir mit einem begeisterten Grinsen in den Weg stellte. „Was ist los?“, fragte ich, da er zuerst nichts sagte. „Yo, ich hab gehört, dass du Akatsuki gesagt hast, dass du kein Interesse an ihm hast.“ Ganz so hatte ich das zwar nicht ausgedrückt, aber es traf den Kern, weswegen ich darauf nichts erwiderte, eigentlich irritierte mich auch eher, dass Sorluska das in einer der oberen Klassenstufen mitbekommen hatte. Hieß das etwa, dass die ganze Schule es bereits wusste? Das würde zumindest die Blicke erklären. „Er war sehr unhöflich“, erklärte ich Sorluska mit gleichgültiger Stimme. „Ich habe keine Lust, mich mit unhöflichen Leuten abzugeben – und genau das habe ich ihm auch gesagt.“ Sein Grinsen schien noch ein wenig breiter zu werden, so dass er seine spitzen Eckzähne enthüllte. „Wir wetten alle schon, was er als nächstes deswegen tun wird.“ Irritiert neigte ich ein wenig den Kopf, da ich eigentlich angenommen hatte, dass diese ganze Sache mit meinem Satz erledigt gewesen wäre. „Was meinst du?“ „Für Akatsuki ist das bestimmt eine Herausforderung“, erklärte er mir sogleich, immer noch so begeistert als würde er mir gerade den Inhalt seines Lieblingsfilms nahebringen wollen. „Und Herausforderungen lässt er nie einfach so verfallen.“ „Von mir aus soll der Kerl machen, was er will, das interessiert mich nicht.“ Damit schob ich Sorluska beiseite, damit ich weitergehen konnte. Er hielt mich nicht noch einmal auf. Allerdings gaben mir seine Worte zu denken. Ich wusste gar nichts über diesen Akatsuki, möglicherweise würde er wirklich versuchen, mir zu schaden oder mich erst recht nerven, nachdem ich ihn vor der Klasse so bloßgestellt hatte und es nun bereits die ganze Schule wusste. Ob es wohl schon zu spät war, Agano-san um eine Versetzung in eine andere Schule zu bitten? Zu meinem Glück bekam ich am Kiosk ein Sandwich, mit dem ich mich – eigentlich – auf das Dach zurückziehen wollte. Aber auf dem Weg zur Treppe lief ich dieses Mal jemandem in die Arme, den ich nicht mal kannte. Es war ein Mädchen aus dem zweiten Jahrgang mit flammend rotem Haar, das ihr bis zu den Ellenbogen reichte. Ihre grün-blauen Augen blickten zwar freudig in die Welt, aber unterhalb von diesen waren ganz feine Schatten zu erkennen, die verrieten, dass sie wohl nicht sonderlich viel schlief. „Vartanian-san, richtig?“ Selbst ihre Stimme klang geradezu verboten fröhlich und bereitete mir regelrecht Kopfschmerzen – das lag allerdings daran, dass ihre Stimme auch ungewohnt quietschig war, eigentlich diese typische Animemädchen-Stimme, die ich noch nie leiden konnte. Obwohl mir nicht der Sinn danach stand, mit ihr zu reden, nickte ich und hoffte dann, dass sie mich vorbeilassen würde, damit ich endlich essen gehen könnte. Aber stattdessen verspürte sie plötzlich den Drang, sich vorzustellen: „Ich bin die Schulsprecherin Satsuki Ikaruga, Klasse 2-1 und immer für dich da, wenn du Hilfe brauchst.“ „Toll, und?“, erwiderte ich. „Kann ich jetzt endlich essen gehen?“ Mir schien, sie hatte nur darauf gewartet, dass ich das sage, denn plötzlich packte sie mein Handgelenk und zog mich hinter sich her. Dabei plapperte sie irgendwas, in einer Schnelligkeit, die es mir unmöglich machte, zu verstehen, was sie eigentlich wollte, egal wie angestrengt ich zu lauschen versuchte. Erst in der Cafeteria ließ Satsuki mich wieder los. Im Gegensatz zu ähnlichen Räumen in England war dieser hier hell und freundlich. Durch die hohen Fenster fiel warmes Sonnenlicht, das die hellbraunen Tische geradezu leuchten ließ, so dass man sich kaum wieder von diesem Raum trennen wollte. So ging es mir, jedenfalls bis Satsuki mich auf einen bestimmten Platz niederdrückte, ich den Blick hob – und direkt in Akatsukis schmunzelndes Gesicht sah. „Schickst du mir etwa schon Leute hinterher, die mich zu dir bringen, damit du mich quälen kannst?“ „Uh-uh!“ Satsuki, die sich neben mich gesetzte hatte, beugte sich auf den Tisch, so dass sie mir bestmöglich ins Gesicht sehen konnte, ohne dass ich meinen Kopf auch nur ein wenig drehen musste, obwohl ich ihr meinen Blick zuwandte. „Ich habe dich nicht geholt, weil Akatsuki-kun mir das aufgetragen hat, ich tue ohnehin nie, was er mir sagt.“ Immerhin eine, die offenbar nicht so hohl war, sich ihm direkt mit Haut und Haar hinzugeben – einige der anderen Mädchen an dieser Schule machten diesen Eindruck durchaus auf mich, nicht zuletzt aufgrund der Gespräche, die ich im Laufe des Vormittags mitbekommen hatte. Ein leises Schnauben lenkte mich auf die Person, die gegenüber von Satsuki direkt neben Akatsuki saß. Es war ein Junge, vermutlich im selben Schuljahr wie ich, mit kurzem braunen Haar und blauen Augen, die mich desinteressiert musterten. Bei seiner teilnahmslosen Mimik fragte ich mich spontan, ob er wohl überhaupt lächeln konnte. Aber dann fiel mir auf, dass die Leute das möglicherweise auch von mir dachten, deswegen überlegte ich lieber gar nicht weiter. „Du tust ohnehin nie, was irgendwer dir sagt, dafür ist dein Dickkopf zu stark.“ Seine Stimme klang überraschend sympathisch, das hätte ich zuvor nicht geglaubt, weswegen ich ihn für einen Moment nur verdutzt ansehen konnte. Glücklicherweise waren seine Worte gar nicht an mich gerichtet gewesen, sondern an Satsuki, die sofort eine schmerzhafte Grimasse auflegte als hätten die Worte sie wirklich verletzt. „Oh, Nozomu-kun, du kannst so gemein sein.“ Er kümmerte sich nicht darum und stocherte stattdessen mit seinen Stäbchen in einer reich gefüllten Bento-Box, die erste, die ich überhaupt je in echt sah, weswegen ich einen neugierigen Blick darauf warf. In Anime, Manga oder auch richtigen Bildern, sahen diese Boxen immer außerordentlich appetitlich aus, mit ihrem sorgsam sortierten und liebevoll zubereiteten Essen. Das hier aber... mir fehlen die Worte, um es zu beschreiben. Es sah nicht allzu ekelhaft aus, aber auch nicht unbedingt appetitanregend. Dass Nozomu überhaupt davon aß – wie er es in diesem Moment tat – musste daran liegen, dass ihm die Person, die es für ihn zubereitet hatte, sehr am Herzen lag. Als ich einen weiteren Blick zu Satsuki warf und deren leuchtende Augen bemerkte, wusste ich auch, wer für diese Box verantwortlich war. Akatsuki, der bislang noch nichts gesagt hatte, erhob nun ebenfalls die Stimme: „Ikaruga-senpai wollte eigentlich nur wissen, was es mit der Person auf sich hat, um die sich alle Gerüchte dieses Vormittags ranken.“ Ich sah Satsuki noch einmal an, sie lächelte zustimmend, allerdings wandte ich mich dann direkt wieder ab, um mich meinem Sandwich zu widmen, in der Hoffnung, dass es nicht total trocken wäre. Zu meiner Freude schmeckte es doch recht gut, die Schule gefiel mir zunehmend besser, vielleicht sollte ich doch einfach hier bleiben und darauf warten, dass die Gerüchte einfach nachließen. „Du meintest es also ernst, hm?“ Ich nickte, ohne Akatsuki anzusehen. „Absolut. Ich will nicht das Geringste mit dir zu tun haben, niemals.“ Zumindest wurde es dieses Mal nicht still um uns herum, lediglich Satsuki und Nozomu blickten uns an, sogar in seinem Blick war plötzlich so etwas wie Interesse zu erkennen. Da Akatsuki schwieg, sahen sie beide von mir zu ihm, fast schon erwartungsvoll und ich fragte mich, worauf sie wohl warteten. Im nächsten Augenblick erfuhr ich es bereits. „Nun, wenn du meinst~.“ Unvermittelt stand er plötzlich auf und kletterte zu meiner Überraschung – und Entsetzen – auf den Tisch. Nozomu konnte gerade noch seine Bento-Box aus der Reichweite seines Fußes bringen, ansonsten schien keiner der anderen beiden auch nur im Mindesten überrascht zu sein. Machte er so etwas öfter? Akatsuki räusperte sich vernehmlich und lenkte rasch alle Aufmerksamkeit auf sich, so dass es in der Cafeteria schnell so still wurde wie zuvor in unserem Klassenzimmer und mir damit etwas ganz Furchtbares schwante. Er stellte sich in eine theatralische Pose, die rechte Hand auf seinem Herz, den linken Arm von sich gestreckt und schloss sogar für einen Moment die Augen, als er mit seiner Ansprache begann: „Ich, Zetsu Akatsuki, schwöre hiermit feierlich, dass ich weder rasten noch ruhen und nichts unversucht lassen werde, um das Herz von Leana Vartanian zu erobern!“ Als er zum Ende des Satzes kam, kniete er sich direkt vor mich, schenkte mir ein warmherziges Lächeln, bei dem seine Augen kalt blieben und hielt mir sogar seine Hand entgegen, als erwartete er tatsächlich, dass ich diese ergreifen würde. Schlagartig musste ich an ein gutes Dutzend Liebesfilme oder Musicals denken, die ich in meinem Leben bereits gesehen hatte und für einen kurzen Moment stellte ich mir tatsächlich vor, wie ich seine Hand ergreifen, auf den Tisch steigen und dann gemeinsam mit ihm irgendein Liebeslied singen würde. Mir wurde schlecht, während mir zahlreiche Schauer über den Rücken liefen. Allein diese Vorstellung gruselte mich derart, dass ich ihm am Liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte, da es immerhin seine Schuld war, dass ich überhaupt auf solche seltsamen Gedanken kam. Mir wurde bewusst, dass alle im Saal uns immer noch gespannt ansahen, offenbar warteten sie auf meine Antwort, aber keiner von ihnen wirkte freudig erwartungsvoll, sondern eher fast schon neidisch, ich konnte die Böswilligkeit mir gegenüber richtiggehend spüren. Das half mir schließlich, mich aus meiner Starre zu lösen, aber dummerweise fiel mir nur eine einzige Reaktion auf sein Verhalten ein. Also stand ich auf und verpasste ihm – nein, keine Ohrfeige – sondern einen richtigen Faustschlag ins Gesicht, der ihn wohl reichlich unvorbereitet traf, denn im nächsten Moment lag er bereits, von mehreren Schülern umgeben, auf dem Boden und ich konnte nur noch verdutzt auf ihn hinabblicken. Satsuki und Nozomu sahen mich perplex an und ihrem Beispiel folgten rasch auch andere Schüler, die mich nur fassungslos anstarren konnten. Vereinzelt konnte ich allerdings auch bewundernde Blicke und sogar erleichterte sehen, offenbar hatte sich bislang keiner der Jungen getraut, das zu tun und so manches Mädchen betrachtete mich wohl nun endgültig nicht mehr als Konkurrenz. In diesem Moment kümmerte mich nicht einmal mehr, dass Akatsuki – nein, Zetsu – möglicherweise verletzt – und das auch noch schwer – sein könnte, sondern eher, dass meine Eltern davon erfahren würden und sie mich direkt in eine Militärakademie schickten oder auf eine katholische Schule. Ich wusste nicht, was davon ich schlimmer finden sollte. Doch glücklicherweise hörte ich mitten aus der Menge plötzlich ein Lachen, das Zetsu gehörte. Es klang zwar nicht unbedingt herzlich, aber auch nicht hasserfüllt oder ängstlich, das erleichterte mich ein wenig, besonders als ich seine Worte hörte: „Nein, nein, mir geht es gut, ich brauche keine Hilfe.“ Die Reihen der Schüler lichteten sich, so dass ich Zetsu wieder ansehen konnte. Seinen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er wirklich nicht böse zu sein, er lächelte sogar weiterhin, als sein Blick schließlich auch auf mich fiel. Aber ich zuckte doch erschrocken zusammen, als ich feststellte, dass er mit dem Kopf aufgeschlagen sein musste, denn ein Teil seines silbernen Haares war mit frischem Blut verklebt. Die Entschuldigung lag mir bereits auf der Zunge, immerhin war das nicht meine Absicht gewesen, aber mein Stolz verhinderte, dass ich sie aussprach – und als er an mir vorbeilief, war ich auch froh, es nicht gesagt zu haben. Er hielt nur einen kurzen Moment inne und beugte sich ein wenig zu meinem Ohr vor, so dass sein Flüstern genügte, um mir etwas mitzuteilen: „Das hier ist noch nicht vorbei, Vartanian.“ In meinen Ohren klang das wie eine Drohung, auch wenn es möglicherweise gar nicht so gemeint war. Ich blickte ihm hinterher, als er gemeinsam mit Nozomu und Satsuki den Saal verließ und sich die anderen Schüler langsam zerstreuten. Und plötzlich fragte ich mich, ob eine Militärakademie vielleicht nicht doch die bessere Wahl war. Kapitel 5: Trust me ------------------- Ich wäre am Liebsten im Boden versunken. Den ganzen Weg zurück ins Wohnheim sprach Sorluska über das Ereignis in der Mensa als wäre es irgendwas besonders Erstrebenswertes, dem Schulliebling eine Gehirnerschütterung zu verpassen – so viel hatte ich durch Gerüchte erfahren, Zetsu war immerhin nicht ins Klassenzimmer zurückgekehrt. Thalia sagte nichts dazu, aber ihrem Schmunzeln war anzumerken, dass ihr das Thema ebenso gefiel. Vermutlich war sie auch kein Fan von Zetsu. Gut, das war ich auch nicht, aber dennoch... Agano-san erwartete mich mit einer standesgemäßen Standpauke, an deren Ende ich außerdem meine erste Verwarnung erhielt und erfuhr, dass ich davon genau drei Stück ansammeln durfte, ehe ich wieder nach Hause und dort vielleicht in eine Militärakademie gehen durfte. Wenigstens würden meine Eltern noch nichts davon erfahren, das geschah erst mit der zweiten Verwarnung. Auf deren Schimpftirade hatte ich nämlich noch weniger Lust. Wie jedes Mal, wenn ich für meine Taten eine Standpauke erhalten hatte, die mein ohnehin bestehendes schlechtes Gewissen noch ein wenig verstärkten, fühlte mein Innerstes sich dumpf und hohl an. Ich wusste ja, dass ich es verdient hatte, aber dennoch kam es mir wie jedes Mal auch so unfair vor, immerhin konnte ich nichts dafür. Ich wollte ja gar nicht so reagieren oder andere verletzen – aber manchmal sah ich eben keine andere andere Wahl, so wie an diesem Tag. Da das Abendessen mein schlechtes Gewissen nur verschlimmerte – immerhin war Sorluska nach wie vor sehr begeistert über meine Tat und musste selbst Takase-san in den schillerndsten Farben davon berichten – beschloss ich, im Anschluss noch ein wenig im Park gegenüber spazieren zu gehen. Zu jenem Zeitpunkt erinnerte ich mich nicht mehr an jene Gestalt, die ich an meinem ersten Abend dort gesehen hatte, genausowenig wie an das Blitzen und sogar die Leiche des Vortags war mir entfallen, sonst wäre ich mit Sicherheit nicht dort hingegangen. Da wir während des Tages zweimal durch den Park gelaufen waren, dachte ich mir nichts dabei, als ich ihn in der Dunkelheit betrat. Ich dachte mir auch nichts dabei, als ich bemerkte, dass niemand außer mir sich hier befand, sondern begrüßte diesen Zustand sogar noch, so konnte mich immerhin niemand nerven, während ich versuchte mich zu beruhigen. Während ich ziellos umherlief, überlegte ich, ob ich mich nicht vielleicht doch bei Zetsu entschuldigen und ihn bitten sollte, das alles zu belassen und uns fortan gegenseitig zu ignorieren. Wenn er mich in Ruhe ließ, würde ich mit Sicherheit auch auf lange Sicht gesehen keinen Grund mehr zum Ausrasten finden. Ich wusste nicht, ob er wirklich so vernünftig war oder ob er mir überhaupt helfen wollen würde, deswegen war ich mir nicht sicher, ob dieses Vorhaben wirklich eine gute Idee war oder überhaupt Chancen auf Erfolg bestanden. Mir blieb wohl nur, es zu versuchen, sobald ich ihn wieder sah, was hoffentlich am nächsten Morgen sein würde. Doch noch während ich das beschloss und wieder den Weg ins Wohnheim antreten wollte, spürte ich, dass ich plötzlich nicht mehr allein war – und wer sich immer noch hier befand, war eindeutig gefährlich. Die Aura der Feindseligkeit war derart stark, dass es sich nicht nur um irgendeinen Banditen handeln konnte, es musste etwas wesentlich Schlimmeres sein. Ich blieb stehen und sah mich um, doch das einzige, was ich sehen konnte, war eine Frau, die in der Nähe unter einer Laterne stand. Sie hatte weißes Haar, genau wie jene, die ich an meinem ersten Abend von meinem Fenster aus hatte entdecken können. Aus der Nähe betrachtet, stellte ich fest, dass ihr langes Haar leicht gewellt war, ihre Haut war fast genauso bleich und erinnerte mehr an Porzellan... aber das war es nicht, was mich so irritierte. Nein, es war die Feindseligkeit, die von ihr ausströmte, die so rein war, dass es selbst mir fröstelte. Ich zweifelte daran, dass man mit ihr in irgendeiner Art und Weise sprechen könnte. Ich wollte einen Schritt zurückmachen, um mir einen anderen Weg zum Wohnheim zu suchen, doch noch im selben Moment wandte die Frau mir den Blick zu, so dass ich wieder innehielt. Durch das Haar, das ihr ins Gesicht fiel, konnte ich ihre Augen nicht erkennen, was den unheimlichen Schimmer, der sie umgab, noch weiter verstärkte. Was mich aber an meinen eigenen Augen zweifeln ließ, war die Tatsache, dass plötzlich ein helles Leuchten in ihrer Hand erschien – und im nächsten Moment hielt sie einen weißen Stab darin, von dem eine unsagbar starke Energie ausging, die mir die Luft rauben wollte. Ich konnte nichts anderes tun als die Frau und den Stab anzustarren – und dabei zu denken, dass mir das alles auf irgendeine Art und Weise bekannt vorkam. Die Erinnerung war nur undeutlich, verschwommen, als käme sie aus einem vor langer Zeit erlebten Traum, aber sie war eindeutig da. Das half mir allerdings nicht weiter, denn die Bedrohung ging davon immerhin nicht weg. Einen kurzen Moment lang tat die Frau nichts mehr und ich hoffte bereits, dass sie fortgehen und mich ignorieren würde – doch stattdessen ging sie plötzlich doch einen Schritt auf mich zu, dabei hob sie den Stab, der in einem unheilvollen Licht zu glühen begann. Etwas Schreckliches würde gleich geschehen, das wusste ich einfach, es war deutlich spürbar und kündigte sich neben dem Licht auch durch ein Knistern in der Luft an. Doch plötzlich lenkte mich etwas von der düsteren Atmosphäre ab, etwas, das so unpassend war, dass es einen einfach herausreißen musste. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich als ob ich vergessen hätte, im Kino mein Telefon auszuschalten, so dass es mitten während einer spannenden Szene zu klingeln begann und ich die verärgerte Aufmerksamkeit aller anderen Anwesenden auf mich ziehen würde. Das Gefühl war gar nicht mal so verkehrt, denn es war das Geräusch einer Nachricht, das mich so aus dem Geschehen riss. Ich wollte es ignorieren, immerhin stand ich hier gerade einer feindseligen Frau gegenüber, aber als ich einen kurzen Blick auf meine Tasche hinunterwarf, stellte ich fest, dass mein Handy sogar... leuchtete. Das war definitiv nicht normal, weswegen ich die Frau fast schon wieder vergessen hatte, da sie sich immerhin auch nicht mehr bewegte als würde sie ebenfalls nur darauf warten, dass ich mein Handy hervorholte. Also wartete ich nicht mehr länger, holte es aus meiner Tasche hervor und klappte es auf. Ich kannte die Nummer nicht, von der die Nachricht stammte, aber im Moment kümmerte mich das auch nicht weiter, das Leuchten des Telefons ließ in mir immerhin die Hoffnung entstehen, dass mir das hier irgendwie weiterhalf, so dass ich überleben könnte. Auch wenn mir die Vernunft im Nachhinein sagt, dass das eigentlich alles absolut... unlogisch ist. In jenem Moment schwieg meine Vernunft, so dass ich die Nachricht einfach öffnete – und dann irritiert wieder innehielt. Sie bestand lediglich aus zwei Worten: Trust me. Ich verstand nicht, wie mir das weiterhelfen sollte oder ob es überhaupt dazu gedacht gewesen war, mir zu helfen und mir nicht nur meine Hoffnung etwas vorgegaukelt hatte. Dennoch handelte mein Körper von allein, ich drückte auf Antworten – und noch bevor ich etwas anderes tun konnte, erstrahlte das Display in einem derart hellen Licht, dass ich den Blick abwenden musste. Die Frau mir gegenüber stieß ein unmenschliches Kreischen aus, das mir in den Ohren schmerzte, aber ich sah erst wieder hin, als das das Licht erloschen war. Nur um überrascht festzustellen, dass die Angreiferin und ich nicht mehr allein waren. Vor mir stand plötzlich eine ebenfalls blasse Frau mit langem schwarzen Haar, einer weißen Rüstung mit lila Verzierungen – und einem Speer. Es war das erste Mal, dass ich einen echten Speer sah, der nicht aus einem Museum oder einer Filmkulisse stammte. Aber vor allem ging auch von dieser Frau eine enorm starke Welle an Energie aus, die ich zu kennen glaubte und gleichzeitig fühlte ich mich beschützt und sicher, ich wusste ganz einfach, dass diese Ritterin auf meiner Seite war. Die Fremde stieß ein erneutes Kreischen aus und ließ einen hellen Lichtblitz auf die Ritterin niedersausen, die sich allerdings nicht davon beeindrucken ließ. Der Zauber – in jenem Moment war ich mir nicht einmal sicher, ob es wirklich einer war, so etwas konnte doch gar nicht sein, sagte ich mir – prallte auf einem Schild auf, das aus mehreren weiß-glühenden Waben zu bestehen schien. Im Anschluss machte die Ritterin einen Satz auf die Fremde zu und stieß mit ihrem Speer zu. Die Fremde wich hastig aus, doch die Spitze des Speers traf sie dennoch an der Seite und riss eine Verletzung in ihr Fleisch – aber statt Blut strömten weiße Funken aus der Wunde, die sich in die Luft erhoben und sich langsam auflösten. Doch das schien die Fremde nicht weiter zu kümmern, sie reagierte nicht einmal darauf und ließ stattdessen einen weiteren Lichtblitz auf die Ritterin niederfahren. Dieses Mal baute sie nicht einmal ein Schutzschild auf, sondern lenkte den Zauber mit einer Bewegung ihres Speers um. Er traf auf dem Boden auf, wo er enorm viel Erde aufwirbelte. Ich wollte die Wucht davon gar nicht erst am eigenen Leib erfahren müssen. Die Ritterin schien derartige Kämpfe bereits gewohnt zu sein – und in einer undeutlichen Erinnerung sah ich sie auch tatsächlich in einen solchen Konflikt mit mehreren Feinden verstrickt – denn sie kümmerte sich nicht im Mindesten um das, was der Zauber anrichtete, sondern setzte der Fremden hinterher. Der Stab von dieser leuchtete erneut auf, doch diesmal stürmte keine Lichtblitz auf die Ritterin zu, statt dessen sammelten sich immer mehr weiße Funken um sie. Doch auch das schien ihr egal zu sein, denn sie wusste offenbar genau die richtige Abwehr dafür: Sie hielt inne und richtete ihren Speer der Fremden entgegen, die Funken, die zweifellos gefährlich sein mussten, so sagte es mir meine verschwommene Erinnerung, wurden geradezu wie magisch von der Waffe angezogen und versammelten sich auf... oder in... dieser, so dass es nun die Ritterin war, die einen leuchtenden Gegenstand in der Hand hielt. Die Macht war so darauf konzentriert, dass sich rasch weiße Energiekreise um den Speer sammelten – das war offenbar das Signal zum Gegenangriff, denn die Ritterin stieß die Waffe erneut vor, obwohl sie mehrere Meter von der Fremden entfernt stand. Aber es schien auch gar nicht ihre Absicht zu sein, sie mit der Speerspitze auch nur anzukratzen, stattdessen schoss ein weißer Lichtstrahl direkt aus der Waffe auf die Fremde zu, die mit einem röchelnden Schrei zu Boden stürzte – und im selben Moment war das Gefühl von Feindseligkeit verschwunden. Erst in diesem Moment, in dem sämtliche Anspannung auf einmal von mir abfiel, bemerkte ich, dass ich das Handy noch immer in meiner verkrampften Hand hielt. Inzwischen leuchtete es nicht mehr, aber auf dem Display war immer noch Trust me zu lesen. Hätte man mir zu einem früheren Zeitpunkt von so etwas erzählt, wäre ich davon ausgegangen, dass man sich nun Gedanken darum machte, woher eine derartige Nachricht kam, warum sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt geschickt worden war, aber in meinem Kopf herrschte in diesem Augenblick eine vollkommene Leere, während ich nach wie vor versuchte, dieses Ereignis zu verarbeiten, damit ich anfangen könnte, es logisch zu begründen, auch wenn das wohl kaum möglich wäre. Erst als ich bemerkte, dass die Ritterin auf mich zukam und wenige Schritte entfernt von mir stehenblieb, hob ich den Blick wieder von meinem Handy, um sie anzusehen. Zuvor war es mir nur möglich gewesen, sie von hinten und ein wenig von der Seite zu betrachten, aber mein Verdacht bestätigte sich nun: Obwohl ihr überaus blasses, fein geschnittenes Gesicht auf den ersten Blick ein wenig furchteinflößend wirkte, war sie ohne Zweifel wunderschön. Die schmalen Lippen, die aristokratische Nase und die wachen Augen, die nicht ganz geöffnet waren und doch alles zu erspähen schienen, kamen mir so überaus vertraut vor, dass ich keinerlei Angst verspürte, auch wenn sie nicht lächelte oder sonst eine Geste zeigte, um mich zu beruhigen und ich möglicherweise ihr nächstes Opfer sein könnte. Ihr Name lag mir auch auf der Zunge, ich müsste mich nur erinnern, ihn aussprechen, ihm eine Form geben, der sie – wieder? – an mich binden würde. „Isolde.“ Es kam mir mehr wie ein Hauch vor, als mir der Name über die Lippen kam, etwas, das kaum zu verstehen war – aber sie hatte es offenbar. Auf ihrem Gesicht erschien ein überraschend warmes Lächeln, sie streckte mir eine Hand entgegen, als ob sie mir aufhelfen wollte – und dann hörte ich ihre Stimme, die mir vertrauter schien als meine eigenen Gedanken: „Ich bin zurück, Leana.“ Salles atmete erleichtert auf und senkte endlich den Blick, der bislang gebannt das Geschehen beobachtet hatte. Diese Leana kümmerte ihn zwar nicht weiter, aber seiner einzigen Verbündeten bedeutete sie anscheinend etwas – und er wurde das Gefühl nicht los, sie beide kennen zu müssen – deswegen hatte er den Kampf doch ein wenig besorgt beobachtet. Glücklicherweise war es ihm gelungen, die Nachricht rechtzeitig nach Anweisung seiner Verbündeten, deren Namen er noch nicht einmal kannte, zu konfigurieren und sie Leana zukommen zu lassen. Mittels dieser Nachricht hatte er ihr Handy direkt mit der Log Domain verbunden und damit die von Yaga errichtete Firewall untergraben. Es half zwar nicht, dass sie damit den Turm nutzen und die Welt möglicherweise sogar verlassen könnte, aber immerhin war es ihr somit wieder möglich, ihr Shinken und ihr Shinjuu zu rufen und sich zu verteidigen. Außerdem- „Isolde wird nicht in der Lage sein, ihr von ihrer Vergangenheit zu erzählen.“ Die Stimme seiner Verbündeten ertönte plötzlich als wäre es ihr möglich gewesen, seine Gedanken zu lesen – obwohl ihn das nicht einmal überraschen würde. „Sind selbst derartige Dinge blockiert?“, hakte er nach. „So ist es“, bestätigte seine Verbündete. „Leana muss sich selbst daran erinnern, aber bis dahin könnte noch viel Zeit vergehen. Ich zweifle, dass es funktionieren wird, solange Yaga noch lebt.“ Diese Worte erfüllten Salles mit Zuversicht, auch was die Erinnerungen seiner Gefährten anging. „Dann müssen wir nur zusehen, wie Nozomu und die anderen Yaga töten.“ Sie hatten es schon einmal geschafft, da gab es für ihn keinen Zweifel, dass sie es noch einmal schaffen würden, selbst wenn sie nun in ganz anderen Konstellationen unterwegs waren und manche Personen vollkommen fehlten. Da seine Verbündete nicht widersprach, glaubte er, dass sie ihm zustimmte – und er begann damit, die Nachrichten für die Brigademitglieder vorzubereiten. Kapitel 6: - ------------ Mein ganzer Körper fühlte sich seltsam leicht an, als ich am nächsten Morgen erwachte. Da ich mich nicht erinnern konnte, wie ich ins Bett gekommen war, glaubte ich im ersten Moment, die Erlebnisse im Park nur geträumt zu haben und solange ich die Augen geschlossen hielt, blieb der Gedanke auch. Aber je wacher ich wurde, desto deutlicher wurde auch das Gefühl, dass ich nicht allein war. Jemand war hier bei mir, aber es war eine vertraute Aura, die schon immer bei mir gewesen zu sein schien, weswegen ich keinen Argwohn verspürte, wie es eigentlich angebracht wäre, wenn jemand einen beim Schlafen beobachtet. Ich öffnete die Augen und entdeckte tatsächlich Isolde im Raum, doch sie sah nicht mich an, sondern blickte scheinbar aufmerksam aus dem Fenster. Selbst in dieser friedlichen Atmosphäre ging eine gewisse Erhabenheit von ihr aus, aber sie umgab auch ein Hauch von Schabernack und ich glaubte, mich daran erinnern zu können, dass ich mich oft über sie geärgert hatte. Aber diese Erinnerungen waren wie aus einem anderen Leben, diffus und neblig, einfach nicht klar zu deuten. Sie bemerkte offenbar, dass ich sie ansah, denn plötzlich wandte ihre Aufmerksamkeit sich mir zu, sie lächelte wieder ein wenig. „Guten Morgen, Leana.“ „Guten Morgen. Da du hier bist, muss ich wohl gar nicht erst anfangen, das gestrige Ereignis logisch erklären zu wollen.“ „Hattest du das denn vor?“, fragte sie ehrlich verwundert. „Wie hättest du es denn erklären wollen?“ Ich hob die Schultern. „Keine Ahnung.“ Es war wirklich unsinnig, wie erklärte man denn diese seltsamen Funken und die plötzlich erschienene Waffe? Die einzige Möglichkeit wäre Wahnvorstellungen, aber an solchen litt ich mit Sicherheit nicht. Hastig nahm ich mein Handy wieder an mich, das während ich schlief, neben mir auf dem Futon lag und suchte nach der Nachricht, die ich in der Nacht zuvor bekommen hatte. Natürlich waren es noch immer nur die Worte Trust me, die darin zu lesen waren. Ich versuchte, die Nummer anzuwählen, von der die Nachricht gekommen war, aber es war nur ein statisches Rauschen zu hören. Als ich Isolde mein Handy entgegenstreckte und ihr überflüssigerweise erklärte, was vor ihrem Erscheinen geschehen war, zuckte sie nur mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht mehr darüber. Ich glaube, es hat etwas mit einer Eternal namens Yaga zu tun.“ Bei zwei Wörtern in ihrem Satz hörte ich nicht mehr als ein seltsames Rauschen, so als ob jemand versuchen würde, das Gesagte zu übertönen, damit ich es nicht hören könnte. Ich bekam langsam den Eindruck, dass ich hier in eine Sache hineingeraten war, die viel zu groß für mich war und dass ich eigentlich gar nicht mehr darüber wissen wollte. „Warum bist du mir nur so vertraut?“, fragte ich stattdessen seufzend, da mich das um einiges mehr interessierte. Sie schmunzelte leicht. „Vermutlich, weil wir uns noch von früher kennen.“ „Von früher?“, fragte ich verwirrt. „Aus meiner Kindheit?“ „Noch früher“, erwiderte sie, schmunzelte aber, als sie bemerkte, dass ich damit offenbar absolut nichts anfangen konnte. „Ich würde es dir ja erklären, aber ich bin inzwischen zu der Erkenntnis gekommen, dass das nicht funktioniert. Etwas verhindert offenbar, dass ich dir mehr über dein letztes Leben erzählen kann.“ Erneut kam dieses Rauschen und es war mir auch nicht im Mindesten möglich, aus dem Kontext zu schließen, was sie mir sagen wollte... außer eben, dass es um früher ging, aber das war ein recht weit gestreckter Begriff, wie ich fand. Sie konnte damit, meine Kindheit meinen, letzte Woche oder irgendein anderes vergangenes Ereignis, an das ich mich – warum auch immer – nicht erinnern konnte. Oder vielleicht um ein früheres Leben – wenngleich ich das als reichlich abgedreht empfand. Doch als mir dieser Gedanke kam, folgte sofort der nächste und dieser verriet mir, dass es kaum abgedrehter sein konnte als das, was ich in der letzten Nacht beobachtet hatte. „W-was war das letzte Nacht?“, fragte ich mit wachsender Verwirrung. „Und warum hat diese Frau mich angegriffen?“ Isolde verschränkte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf ein wenig, doch sie dachte nur einen kurzen Moment darüber nach, was sie mir erzählen sollte, offenbar war ihr diese Erklärung bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Ihre Stimme änderte sich um eine Nuance, plötzlich erklang sie wesentlich ernster als noch zuvor. „Diese Frau war ein Lakai, ein aus reinem Mana geschaffenes Wesen, das nur dazu dient, ein Shinken zu führen und andere Shinkenträger zu töten.“ „Ein... Shinken?“ Ich kannte dieses Wort nicht, auch wenn ich glaubte, dass es irgendetwas tief in meinem Inneren ansprach, aber zumindest im Moment wusste ich nicht, womit es in Verbindung gebracht werden sollte. Glücklicherweise reagierte Isolde sofort und erklärte es mir: „Ein Eien Shinken ist ein Ewiges Götterschwert und es... oh, es ist reichlich anstrengend zu erklären, deswegen die Kurzform: Vor langer Zeit gab es nur ein einziges, ein Ursprungsshinken, durch dessen Kraft das Universum und all seine Welten entstand. Doch das Shinken zersplitterte und seine Bruchstücke fielen auf die verschiedenen Welten, wo sie sich an Menschen banden und mit ihnen Pakte schlossen, um ihren Willen zu erfüllen. Lakaien wiederum sind künstlich geschaffene Formen, die instinktiv versuchen diese Bruchstücke einzusammeln.“ „Warte, Moment!“, rief ich hastig dazwischen, als sie bereits wieder Luft holte, um die Erklärung fortzusetzen. „Was meinst du mit um ihren Willen zu erfüllen? Haben diese... Shinken etwa einen eigenen Willen?“ Isolde nickte. „Shugo Shinjuu, so wie ich, sind die Verkörperung des Willens. Wir unterstützen unseren Meister und beschützen ihn, damit er seinen Teil des Vertrags erfüllen kann.“ „Aber ich habe keinen Vertrag abgeschlossen!“, erwiderte ich, diesmal mit deutlich spürbarem Widerwillen in der Stimme. „Was soll das also!?“ Sie störte sich nicht im Mindesten daran, sondern blieb vollkommen ruhig. „Senke besser deine Stimme, wenn du nicht willst, dass jemand von deinen Mitbewohnern mitkriegt, dass du hier mit überirdischen Wesen sprichst.“ Das sagte mir auch, dass andere Menschen sie wohl nicht sehen könnten, sofern sie das nicht wollte und da mir nicht sonderlich viel daran lag, dass ich von den anderen als irre wahrgenommen werden könnte, senkte ich gehorsam meine Stimme, als ich meinen Widerspruch wiederholte: „Ich habe keinen Vertrag mit dir oder sonst irgendjemandem abgeschlossen, also warum bist du hier?“ „Das ist richtig, du warst es nicht, es war Vartanian, eine frühere Inkarnation von dir.“ Ich hob erstaunt die Augenbrauen, sie lachte leise. „Ja, es ist derselbe Name wie dein Nachname, ich war auch erstaunt.“ Ich hatte nie an Dinge wie Inkarnationen oder frühere Leben geglaubt, weswegen es mir schwerfiel, zu begreifen, dass es einmal jemanden gegeben hatte, der ich gewesen war – und wegen dem ich jetzt an dieses Shinken und Isolde gebunden war. „Was für einen Vertrag ist Vartanian eingegangen?“ Der plötzlich einsetzende abweisende Gesichtsausdruck von Isolde, versetzte mir einen Stich in die Brust. Sie sah mich an als hätte ich gerade ein Thema angesprochen, von dem ich eigentlich wissen müsste, dass ich es nicht berühren durfte. „Darüber darf ich dir nichts sagen“, antwortete sie schließlich. „Aber sei versichert, dass ich dir in keiner Weise schaden werde. Du kannst mir im Moment nicht vertrauen, deswegen sage ich dir, dass dein Tod auch schlecht für mich und 'Shoubi', der Name deines Shinken, wäre.“ Unwillkürlich blickte ich wieder auf das Handy hinab. Trust me... von wem auch immer diese Worte gekommen waren, im Moment wollte ich glauben, dass sie eine Aufforderung von ihr waren, eine Bitte, weil sie darauf angewiesen war, dass ich ihr vertraute – und nach der letzten Nacht wusste ich, dass es umgekehrt genauso war. Wenn diese Lakaien mich angriffen, weil sie mich vernichten wollten, dann brauchte ich Hilfe, wenn ich nicht sterben wollte und ich hing doch eindeutig sehr an meinem Leben. „Aber diese Lakaien“, begann ich erneut, „warum tun sie das? Wer gibt ihnen die Anweisungen dazu?“ Wenn sie künstlich geschaffene Wesen waren, musste es jemanden geben, der sie erschuf, ihnen Shinken und eine Aufgabe gab, selbst wenn sie dann instinktiv kämpften. „Es ist meist der Akt eines Gottes – oder eben eines Eternals.“ Wieder das Rauschen. Was war das nur für eine Entität, die sogar in der Lage war, zu verhindern, dass jemand ihre Existenz erwähnte? „Dieses Wesen hat diese Welt in ihrer Gewalt“, erklärte Isolde mir. „Und sie hat etwas gegen sämtliche Shinkenträger, scheint mir. Allerdings weiß ich auch nicht viel mehr als das über sie.“ „Mehr muss ich auch nicht wissen.“ Als sprachliche Vorbereitung auf meinen Aufenthalt in Japan hatte ich so manchen japanischen Anime angesehen, weswegen mir direkt klar war, dass es der übliche Plotaufbau war, dass die Helden am Anfang wenig wussten und die Wahrheit erst im Laufe der Handlung ans Licht kam, mit ausreichend klischeehaften oder unvorhersehbaren Plotwendungen. Irgendwie mussten sie ja alle einmal auf diese Idee gekommen sein und was wäre eine bessere Inspirationsquelle als das wahre Leben? Isolde lachte amüsiert, als ich das sagte. „Genau wie früher.“ Statt etwas zu sagen, stand ich auf und ging an den Schrank, um mir meine Kleidung für den heutigen Tag herauszusuchen. Allerdings fiel mir da noch etwas ein. „Muss ich auf irgendetwas achten?“, fragte ich, ohne sie anzusehen. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Wie du dir denken kannst, können andere Menschen mich nicht sehen, solange ich das nicht will. Du musst auch nicht laut sprechen, falls du mir etwas zu sagen hast, wir können mittels Gedanken miteinander kommunizieren.“ Das weckte in mir die Frage, weswegen ich dann überhaupt eine verbale Unterhaltung mit ihr führte, aber es erschien mir richtig, so als hätten wir das schon oft getan und vielleicht stimmte das auch in gewisser Weise. „Werden mich noch mehr Lakaien angreifen?“ „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch“, bestätigte Isolde, „besonders da du das Shinken nun auch beschwören kannst, aber dein Schwert ist stärker als das eines Lakaien, genau wie dein Wille – und dann gibt es da natürlich auch noch mich. Ich werde nicht zulassen, dass sie dir schaden.“ Genau wie ich es mir gedacht hatte, ab sofort würde ich mich in Acht nehmen müssen – und ich dürfte nicht einmal jemandem etwas hiervon erzählen, weil es mir ohnehin niemand glauben würde. Ein wenig hoffte ich immer noch, dass ich gleich aufwachen und feststellen würde, das alles nur geträumt zu haben oder einfach nur verrückt zu werden. Ja, in diesem Moment wäre es mir wirklich lieber gewesen, wenn einfach nur mein Geisteszustand am Ende gewesen wäre. Aber ich wusste, dass nichts von alledem der Fall sein würde, alles fühlte sich viel zu real an, also blieb mir nur die Möglichkeit zu überleben – sowohl das Auslandsjahr als auch die Kämpfe mit Lakaien. Kapitel 7: Kunst ist subjektiv ------------------------------ „Du solltest dir wirklich überlegen, einem Club beizutreten.“ Ich zuckte zusammen, als ich von einer Stimme aus meinen Überlegungen gerissen wurde, während ich nach Schulschluss meine Tasche zusammenpackte. Zu meiner Überraschung war ich ohne jeden weiteren Ärger davongekommen, Zetsu schien es mir nicht einmal nachzutragen. Es gab wohl auch keinen Grund dazu, immerhin umschwärmten ihn die besorgten Mädchen noch mehr als am Tag zuvor und den Verband hatte er bereits in der Mittagspause abgenommen, er war nicht einmal wirklich sichtlich verletzt. So waren meine Gedanken nur um die Frage gekreist, mit welchen Aufgaben ich nach der Schule anfangen sollte – und dann war ich von Isoldes Stimme unterbrochen worden. Seit dem Morgen war sie ruhig gewesen, weswegen ich gehofft hatte, sie wäre einfach wieder verschwunden, aber nun stand sie tatsächlich neben mir und niemand anderes schien sie sehen zu können, wie ich erleichtert feststellte, nachdem ich mich umgesehen hatte. Ich öffnete bereits den Mund, um etwas zu erwidern, aber da fiel mir wieder ein, dass sie mir gesagt hatte, dass das nicht nötig war und versuchte mich deswegen gedanklich auf meine Antwort zu konzentrieren. Warum sollte ich? Ihr Lächeln verriet mir, dass sie mich tatsächlich gehört hatte und dann kam bereits ihre Antwort: „Dann hättest du nach der Schule etwas zu tun und müsstest dich nicht langweilen.“ Vielleicht langweile ich mich aber gerne? Ist ja nicht so, als hätte ich nach der Schule nicht noch genug zu tun. Immerhin musste ich die Hausaufgaben machen, die mir bereits an meinem zweiten Schultag absurd massig erschienen und die Sprache beherrschte ich auch noch nicht vollständig. Es gab also mehr als genug Dinge für mich zu tun, um mich von der Langeweile abzuhalten. Aber Isolde ließ sich dennoch nicht von ihrem Plan abbringen. „Hat diese Thalia nicht was von einem Kunstclub erzählt, der gerade neue Mitglieder akzeptiert? Das klingt doch ganz interessant.“ Mir entfuhr ein leises Seufzen, das mir irritierte Blicke einiger Mitschüler einbrachte, die gerade an mir vorbeiliefen, von mir aber nicht weiter beachtet wurden. Ich bin furchtbar im Zeichnen. Was sollte ich da in einem Kunstclub? Und das war die Wahrheit, meine Bilder gehörten eher der abstrakten Kunst an, aber das auch nur, wenn man die Augen zusammenkniff und den Kopf dabei einige Grad zur Seite neigte. Aber für Isolde war das offenbar kein Argument: „Vielleicht kannst du deine Fähigkeiten ja verbessern, Freunde gewinnen... irgendetwas.“ Ich war weder an dem einen, noch dem anderen interessiert, aber genausowenig wollte ich mich weiter mit ihr streiten, denn ich befürchtete, dass sie das noch den ganzen Tag aufrecht erhalten würde. Du wirst nicht aufgeben, oder? Ich konnte Isoldes Lachen in meinen Gedanken hören und das war mir Antwort genug. Also beschloss ich, einfach nachzugeben und mir diesen Kunstclub mal anzusehen, in dem Thalia angeblich eine führende Rolle innehatte. Da sie mir am Morgen ausgiebig beschrieben hatte, in welchem Zimmer der Club sich traf, dauerte es nicht lange, bis ich es dann auch gefunden hatte. Vor der Tür blieb ich eine Weile stehen und lauschte den Stimmen, die aus dem Raum zu hören waren. Es klang nach vielen Mädchen, was meine Laune sinken ließ, aber endgültig in den Boden stürzte sie erst, als ich bemerkte, dass es sich bei den unartikulierten Lauten, die sie ausstießen um leises, aber nicht minder begeistertes Quietschen handelte. Ich wollte mich umdrehen und weggehen, aber Isolde schickte mir ein kurzes, heftiges Stechen in meinem Kopf, das mich doch davon abhielt. Das verzeihe ich dir nie... Ich kannte sie erst seit diesem Morgen wirklich bewusst, aber ich war mir in diesem Moment schon sicher, dass ich sie nicht leiden konnte. Ein Eindruck, der sich später natürlich ändern sollte, aber an diesem Tag stand er nun einmal. Also klopfte ich und betrat den Raum direkt danach – nur um schockiert in der Tür stehenzubleiben. Mehrere Mädchen saßen, mit Zeichenblöcken und Kohlestiften bewaffnet, in einem Halbkreis und starrten mit begeisterten, fast schon gierigen Blicken auf die Modelle in der Mitte. Und diese waren es auch, die mich derart schockierten: Es handelte sich um Zetsu und den braunhaarigen Schüler mit dem um seine Stirn geschlungene rote Band, den ich am Vortag gemeinsam mit diesem weißhaarigen Mädchen, das von Sorluska Baila genannt worden war, gesehen hatte. Zetsu hatte die Arme um den Jungen gelegt, der zwischen seinen Beinen, mit dem Rücken zu seinem Oberkörper saß – und diese Haltung erklärte, warum die Mädchen so begeistert waren, auf mich wirkte es allerdings reichlich seltsam. Der Junge blickte ein wenig verunsichert zu Thalia hinüber, die den beiden Anweisungen gab. „Akatsuki, du sollst Seraphca nicht so fest halten, das wirkt viel zu verkrampft. Seraphca, du sollst in die andere Richtung sehen, nicht zu mir, zu den Mädchen hinüber.“ „A-ah, natürlich!“, rief er sofort aus und wollte den Kopf wieder in die andere Richtung drehen, da fiel sein Blick auf mich. Seine Augen weiteten sich geradezu entsetzt, ich nahm an, dass er nicht mit Besuch gerechnet hatte, offenbar war mein Klopfen im Kichern der Mädchen untergegangen. Hastig schloss ich die Tür hinter mir, ehe noch jemand sehen würde, was der Club hier veranstaltete und er noch mehr in Verlegenheit kommen würde. „Was macht ihr denn hier?“, fragte ich und achtete dabei nicht im Mindesten darauf, ob meine Wortwahl auf Japanisch als unhöflich angesehen werden könnte. Die Mädchen bedachten mich nur mit einem kurzen Blick, ehe sie lieber wieder die beiden Modelle anstarrten. Thalia dagegen wandte mir den Kopf zu und legte verlegen einen Finger an ihre Wange. „Oh, Vartanian...“ Sie sprach mich mit Nachnamen an, obwohl sie außerhalb der Schule immer meinen Vornamen nutzte. „Ich habe dich gar nicht klopfen gehört.“ Ich öffnete den Mund, um mich zu entschuldigen und dann eilig wieder zu verschwinden, um das alles schnellstmöglich zu vergessen und dann so zu tun als wäre das nie geschehen, da hörte ich bereits Zetsus Stimme: „Ah, Vartanian, willkommen~.“ Unwillig sah ich zu ihm hinüber, nur um mitzubekommen, wie er sich an Seraphca schmiegte, der ein ersticktes Keuchen von sich gab. „A-Akatsuki-kun...!“ Doch Zetsu kümmerte sich nicht um seinen Protest, stattdessen schmunzelte er mir entgegen. „Bist du gekommen, um dich uns anzuschließen?“ „Mit Sicherheit nicht!“, spie ich aus. „Hätte ich gewusst, dass du hier sein wirst, wäre ich gar nicht erst vorbeigekommen.“ Er verzog die Lippen zu einem amüsierten Grinsen, mir schien, er hatte bereits mit dieser Reaktion gerechnet und das ärgerte mich, wie ich zugeben musste. Wir kannten uns gerade mal einen Tag, wie kam es da, dass er mich so sehr durchschaute? Und das Kichern von Isolde half mir da auch nicht sonderlich weiter, um mich wieder zu beruhigen. Seraphca half da schon eher, als er schüchtern zu reden begann: „Uhm, Akatsuki-san? Kennst du dieses Mädchen?“ „Aber natürlich~ Das ist die berühmt berüchtigte Leana Vartanian, von der du bestimmt schon gehört hast.“ Tatsächlich leuchteten Seraphcas Augen verstehend auf. „Oh, das Mädchen, das du verärgert hast.“ Wenigstens einer, der sich nicht wegen Zetsus Gehirnerschütterung an mich erinnerte, sondern weil der Kerl mich provoziert hatte. Zetsu schnaubte theatralisch. „Ach komm schon! Ich habe sie nicht verärgert, andere Mädchen wären froh über eine derartige Ankündigung gewesen.“ Während Seraphca die Stirn runzelte und darüber nachdachte, ob das wirklich so wäre, gaben einige der Mädchen zustimmendes Seufzen und Murmeln von sich, ich dagegen rollte mit den Augen. „Ich habe keine Ahnung, was mich glücklich stimmen soll, wenn ich daran denke, dass du mich weiterhin zu nerven versuchst. Wollt ihr mir jetzt endlich verraten, was hier vor sich geht?“ „Wir sind im Kunstclub“, erklärte Thalia. „Was denkst du denn? Wir erschaffen Kunst.“ Mit einer fahrigen Handbewegung deutete ich auf die Modelle. „Das ist doch keine Kunst, das ist...“ Mir fiel das passende Wort nicht ein, denn ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt eines dafür gab. Jedenfalls eines, das nicht mal eben eine ganze Randgruppe beleidigte. Zetsu schob ein wenig die Unterlippe vor. „Natürlich ist das Kunst.“ Seraphca, dem das offenbar immer noch reichlich unangenehm war, versuchte derweil, Zetsu dazu zu bringen, ihn ein wenig von sich zu schieben. „Zabat-senpei sagt, dass Kunst subjektiv ist und deswegen wäre dieses Motiv schon in Ordnung.“ Aber so ganz überzeugt schien er ebenfalls nicht. Er tat mir schon ein wenig Leid, aber ich würde ihm sicherlich auch nicht helfen. Ich konnte das immerhin nicht... nicht wirklich jedenfalls. „Ich weiß gar nicht, was du hast, das scheint doch ein sehr hübsches Motiv abzugeben – noch schöner wäre es natürlich mit Nozomu.“ Ich wollte sie erst gar nicht fragen, wie sie gerade auf diesen gekommen war, allein der Gedanke an dieses Motiv ließ mich die Stirn runzeln. Thalia neigte den Kopf ein wenig. „Ich nehme mal an, dass du dann nicht diesem Club beitreten willst. Jedenfalls siehst du nicht so aus.“ Ich musste nur einen kurzen Blick zu den anderen Mädchen werfen, um zu erkennen, dass sie mich auch gar nicht haben wollten. Vermutlich arbeitete Zetsu öfter mal als ihr Modell, was mich noch weiter von diesem Club abbrachte. „Ich denke, ich suche mir eher etwas, das etwas weniger mit Zeichnen zu tun hat.“ Ich war ja nur wegen Isolde überhaupt mal hergekommen und im Nachhinein betrachtet denke ich, dass sie genau gewusst hatte, was ich vorfinden würde und sie mich deswegen unbedingt in diesen Club hatte bringen wollen. Denn nun widersprach sie nicht, als ich den Eintritt ablehnte. „Roig hat mir erzählt, dass der Kendo-Club ab morgen auch wieder Mitglieder aufnimmt. Vielleicht solltest du es da mal versuchen, das scheint mehr etwas für dich zu sein.“ Selbst Sorluska sprach sie vor den anderen derart respektvoll an, dabei war er nicht einmal anwesend. Sie mochte es wohl nicht, dass die anderen wussten, ob und wie sehr sie jemanden mochte – das kam ihr wohl wie ein Zeichen von Schwäche vor, jedenfalls schätzte ich sie derart ein. Kendo hörte sich eigentlich gar nicht schlecht an, auch wenn ich mir nicht so sicher war, ob ich das wirklich könnte, immerhin hatte ich noch nie zuvor mit einem Schwert gekämpft – aber vorerst sollte das kein Problem sein, schon allein, weil Zetsu plötzlich leise lachte. „Nozomu und ich sind auch im Kendo-Club.“ Ich verzog das Gesicht, worauf Seraphca in einem Anfall von Mitgefühl etwas sagte: „Die anderen Sportclubs nehmen ab morgen auch wieder Mitglieder auf. Du findest bestimmt einen Club, der dir zusagt und in dem Akatsuki nicht ist.“ In diesem Moment schien mir der Gedanke, gar nicht einem Club beizutreten, wesentlich besser, aber diese Diskussion gehörte nicht hierher, schon allein weil die anderen Mädchen mich wieder wütend anblitzten, da es ihnen wohl nicht gefiel, dass ich im selben Club wie ihr Schwarm sein könnte. Was für nervende Hühner. Mein abfälliger Gedanke rief sofort Isolde auf den Plan: „Warum denn? Sie sind doch nur ein wenig eifersüchtig. Das ist menschlich.“ Für mich war das eher etwas, das ich noch nie hatte nachvollziehen können. Wenn sie unbedingt was von ihm wollen, sollen sie ihm eine Liebeserklärung machen und nicht jede andere, die ihm nur zufällig zu nahe kommt, derart angiften. Isolde lachte wieder leise, sagte aber nichts weiter, so dass ich mich ungestört von den Anwesenden verabschieden konnte, ehe ich den Raum wieder verließ. Ich war mir ziemlich sicher, dass diese ganze Angelegenheit nur dafür gedient hatte, dass sie sich amüsieren konnte, denn wesentlich weiter schien mich das alles nicht gebracht zu haben. „Aber es war doch lustig, oder?“ Ich antwortete nicht auf Isoldes Einwurf und strebte stattdessen endlich dem Ausgang entgegen, um das eben Gesehene wirklich vergessen zu können – in der Hoffnung, dass ich in der Nacht nicht irgendeinen seltsamen Traum von den beiden durchleben müsste. [[BILD=7927905.jpg]] Kapitel 8: Der Bogenschütze --------------------------- Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, hatte Isolde mich an diesem Abend überredet, den Park aufzusuchen. „Es gibt dort immer wieder eine Konzentration an Lakaien“, erklärte sie mir. „Und diese haben es auf Menschen abgesehen.“ „Ich dachte, sie suchen nach den Bruchteilen anderer Shinken“, hatte ich erwidert. „Warum sollten sie Menschen umbringen?“ „Da alles aus Mana besteht, trifft das auch auf Menschen zu und Lakaien gieren nach Mana. Es gibt ihnen Stärke. Deswegen töten sie auch Menschen.“ Sie erklärte mir, dass ich die einzige Person im näheren Umkreis war, die ein Shinken einsetzen konnte und deswegen nun dafür verantwortlich war, Menschen zu beschützen, die ich nicht einmal kannte. Am Liebsten hätte ich diesen Befehl einfach ignoriert, aber Isolde ließ das nicht zu und bearbeitete mich so lange mit Worten, bis ich einfach nachgab, nur damit sie still war. Ich war mir außerdem sicher, dass sie noch andere Mittel einsetzen konnte, um mich dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollte. In der Nacht zuvor war es mir wegen all meinen Gedanken nicht weiter aufgefallen, aber dieser Park war in der Dunkelheit doch reichlich unheimlich. Außer mir befand sich niemand dort, scheinbar wussten alle, bis auf mich, dass es besser war, sich hier nicht nach Sonnenuntergang aufzuhalten. Die Bäume standen so dicht beieinander, dass kaum ein Lichtstrahl des Mondes es schaffte, den Weg zu erhellen, weil das Laub zu viele Schatten warf. Die Straßenlampen halfen da auch nicht weiter, da ihr Lichtradius zu gering und im Prinzip nur auf das beschränkt war, was sich direkt unter ihnen befanden. Dementsprechend wunderte es mich nicht, dass sich nie jemand im Dunkeln dort aufhielt. Gut, das war nicht ganz richtig. Wie schon beim letzten Mal, fiel mein Blick plötzlich auf eine Frau mit weißem Haar und porzellanartiger Haut. Sie war eindeutig ein Lakai, das konnte ich spüren. Nun, da ich eine Verbindung zu meinem Shinken hatte, konnte ich ihren bösen Willen spüren, noch bevor ich sie richtig entdeckt hatte. Sie stand einfach nur da, vom Licht beleuchtet und sie schien zu glitzern. „Das ist das Mana, das ihren Körper umgibt“, erklärte Isolde mir. „Man kann es nicht immer sehen, aber im Moment scheint sie einen Zauber zu wirken.“ Ich fragte mich, was für einer das sein mochte, immerhin war zumindest noch nichts zu spüren und ich glaubte nicht, dass sie mich bislang entdeckt hatte. Doch während ich diesen Lakai noch beobachtete, wandte diese plötzlich ihren Blick in meine Richtung und im selben Moment wurde ein unbändiger Hass wach, noch größer als jener des Lakais der letzten Nacht. Ich war der Feind dieses Wesens und das zeigte es mir deutlich. Ich war allerdings entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. Auch wenn ich nicht so genau wusste, was nun eigentlich zu tun war. Allerdings hatte ich auch bemerkt, dass mein Handy wieder zu leuchten begonnen hatte. Wieder waren die Worte Trust me mehr als nur überdeutlich auf dem Display abgebildet, als ob der mir unbekannte Absender mir wirklich Halt und Sicherheit vermitteln wollte und zu seinem Bedauern nur nicht bei mir sein konnte. Ich drückte auf Antworten und wieder begann das Handy in einem gleißendem Licht zu erstrahlen – und im nächsten Moment hielt ich bereits ein Schwert in den Händen, dessen Länge mich geradewegs irritierte. Es war etwa halb so groß wie ich und sah furchtbar schwer aus – und doch kam es mir vor als wäre es leicht wie eine Feder. „Das ist 'Shoubi'.“ Auch ohne Isoldes Erklärung wäre mir diese Erkenntnis gekommen, aber ich sagte nichts dazu. „Du solltest es ohne jedes Wissen einsetzen können.“ Eigentlich wollte ich nicht die Probe aufs Exempel machen, aber mir blieb nichts anderes übrig, als der Lakai plötzlich einen Stab erschienen ließ, genau wie in der Nacht zuvor. Die Spitze glühte in einem verheißungsvollen Licht und schon nach wenigen Sekunden schossen plötzlich Energiestrahlen auf mich zu. Statt auszuweichen, hob ich mein eigenes Shinken ein wenig. Es reagierte mit seinem eigenen Licht und erstellte ein schützendes Leuchten vor mir, das die weißen Geschosse problemlos abwehrte. Ich spürte nicht einmal den Kraftaufwand, den es diese Waffe kosten musste, so marginal war er offenbar. Wenn alle Feinde so leicht zu besiegen wären wie sie, dann würde ich es mit Leichtigkeit schaffen, in jeder Nacht, wenn es sein musste. „Noch hast du sie nicht besiegt“, ermahnte Isolde mich. Ich wollte das abwehren, ihr erwidern, dass ich das schon irgendwie schaffen würde – als mich ein weiterer Angriff vollkommen unerwartet traf und zu Boden warf. Mein Rücken schmerzte als würde er in Flammen stehen, aber vielmehr als das, traf mich in diesem Moment die Wut über meine eigene Nachlässigkeit. Isolde schien das dagegen zu amüsieren, sie kicherte sogar. Ich erhob mich wieder und wehrte einen weiteren Angriff ab. So schnell ich konnte, stürmte ich auf den Lakai zu, holte aus – und traf nun meinerseits auf ein Schild aus weiß glühendem Mana. Mehr aus Schreck als aus Schmerz taumelte ich rückwärts, fand aber einen Wimpernschlag später schon mein Gleichgewicht wieder. Diese Situation kam mir so unwirklich und doch bekannt vor, als hätte ich schon einmal derart kämpfen müssen und erinnerte mich nur nicht mehr daran. Plötzlich glaubte ich tatsächlich, zu verstehen, wie sich Leute mit Gedächtnisverlust fühlen mussten. Natürlich blieb mir keine Zeit, um dem Gedanken nachzuhängen, da der Lakai mir noch einmal Energiestrahlen entgegensandte. Diesmal versuchte ich nicht einmal, sie abzuwehren, sondern wich kurzerhand einfach aus und setzte dann wieder zu einem eigenen Angriff auf. Doch sie war schneller als ich und erstellte bereits wieder ein leuchtendes Schild vor sich. Statt noch einmal dagegen anzurennen, riss ich das Shinken hoch und rammte es direkt in das leuchtende Feld vor mir. Es zerbrach klirrend, als bestünde es aus Glas und ließ meine Feindin schutzlos zurück – aber mir blieb keine Gelegenheit, mit einem weiteren Angriff nachzusetzen. Wie aus dem Nichts traf ein Pfeil plötzlich in die Brust des Lakai. Sowohl sie als auch ich starrten überrascht auf die Wunde hinab, aber sie stieß daraufhin einen furchterregenden Schrei aus, ehe sie sich in zahlreiche weiße Funken auflöste. Ich starrte noch immer fassungslos auf das langsam verblassende Glitzern und fragte mich, was gerade geschehen war. Isolde schwieg in meinem Inneren und verriet mir nicht, was ich wissen wollte, dafür hörte ich plötzlich aber wie eine Bogensehne gespannt wurde und dann eine Stimme hinter mir erklang: „Wenn du dich bewegst, bist du schon so gut wie tot. Hast du verstanden?“ Diese Ansage erfüllte mich mit gleißender Wut, ich wollte herumfahren und dieser Person zeigen, was ich davon hielt, aber ich war mir sicher, dass er seine Ankündigung ernst meinte und er mich angreifen würde, wenn ich das tat. Noch war ich mir mit meinen Fähigkeiten nicht sicher genug, um mich zu widersetzen. Also gab ich knurrend Zustimmung, worauf fortfuhr: „Dann verrate mir, wo du dieses hübsche Shinken herhast.“ Salles blickte irritiert auf den Bildschirm, der ihm diese ungeahnte Einmischung mitteilte. Den Namen des Shinken, das zu dieser Person gehörte, hatte er sofort erkannt, aber er konnte es immer noch nicht glauben. Doch nach kurzem Nachdenken schalt er sich selbst, da er immer noch an die Vergangenheit dachte. Nur weil diese Person damals getötet worden war, musste das nach dem Neustart nicht auch so sein. Dann stellte sich nur noch die Frage, wie er an sein Shinken gekommen war. Von ihm hatte diese Person jedenfalls keine Nachricht bekommen. „Vielleicht gibt es noch andere Personen außer Euch, die Einfluss auf das Leben in dieser Welt nehmen“, vermutete seine Verbündete, die für ihn immer noch namenlos war. „Da fiele mir nur Yaga selbst ein“, erwiderte er, „aber mein Programm sagt, dass niemand anderes Zugriff auf diese Welt nimmt.“ Sie schwieg darauf, er wusste nicht, ob sie darüber nachdachte, was sie nun tun sollten oder ob sie vielleicht genauso ratlos wie er. Seiner Ansicht gab es nicht viel, was sie tun konnten, immerhin wusste er nicht, wo die Lücke war oder... Um die Stille wieder zu beenden, sagte er schließlich: „Wir wissen aber auch gar nicht, ob er feindlich gesinnt ist. Nur weil er damals ein Feind war, muss er das jetzt nicht sein.“ Ganz zu schweigen davon, dass er mit Leana auch nichts im Mindesten zu tun hatte und sie sich niemals zuvor, in keiner Welt, begegnet waren. „Es bleibt zu hoffen. Dann wollt Ihr nichts tun?“ „Ich werde erst einmal abwarten. Sobald er feindliche Anwandlungen zeigt...“ Er beendete den Satz nicht, aber er war sich sicher, dass sie bereits wusste, was er sagen wollte, deswegen war es vollkommen unnötig, weiterzusprechen. Gebannt heftete er den Blick wieder auf den Monitor, um weiter zu beobachten, was geschehen würde. Er hatte mir erlaubt, den Kopf zu wenden, um ihn zumindest anzusehen und dieser Gedanke machte mich rasend. Ich wollte mir sicherlich nichts von irgendwem erlauben lassen, schon gar nicht von jemandem, dem ich noch nie zuvor begegnet war. Sein schwarzes Haar war akkurat zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, aber es war wesentlich feiner als das von Zetsu und erreichte damit keineswegs den Effekt, den der andere hatte – und ich zog diesen Vergleich nur, weil mir spontan niemand sonst mit einer ähnlichen Frisur einfiel. Er war blass und seine dunklen Augen musterten mich unheilvoll und gleichzeitig interessiert. „Also?“, wiederholte er. „Wo hast du das Shinken her?“ „Keine Ahnung.“ Das war immerhin die Wahrheit. Oder wollte er was von glühenden Handys und geheimnisvollen Kurznachrichten hören? Zumindest bohrte er nicht weiter nach und warf mir auch nicht vor, zu lügen. „Wer bist du?“ „Wäre es nicht angebracht, dich vorher vorherzustellen?“ Für einen kurzen Moment verzog sein Gesicht sich zu einer wütenden Grimasse, seine Augen schienen regelrecht zu glühen, aber dann entspannte er sich wieder ein wenig und lächelte sogar spöttisch. „Ich bin hier derjenige, der dir eine Waffe vor das Gesicht hält, oder? Also antworte mir!“ Mit vor Wut knirschenden Zähnen nannte ich ihm meinen Namen, den er mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nahm. „Gut und jetzt sag mir, wo du das Shinken her hast.“ „Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich, dann erzählte ich, in möglichst kurzer Form von dem Angriff zuvor und meinem Handy, das zu glühen begonnen hatte. Ich erwartete, dass er es sehen wollen würde, aber stattdessen nickte er lediglich verstehend und machte sonst keinerlei weitere Anstalten irgendwas sagen zu wollen. Stattdessen war er plötzlich in seine Gedanken versunken und ich erlaubte mir für einen Moment ebenfalls abzuschweifen. Was hatte er eigentlich vor? Warum bedrohte er mich und wollte all diese Sachen wissen? Wer er war oder woher seine Waffe kam, interessierte mich dagegen gar nicht, ich war wirklich nur darum besorgt, dass er mir etwas antun könnte und ich zu einer dieser Leichen im Park werden könnte. Sicher, das wäre bestimmt die angemessene Bestrafung für meine Eltern, dass sie mich hierher verbannt hatten, aber ich hing doch ein wenig zu sehr an meinem Leben, um darin Trost zu finden. Mir war in diesem Moment nur eines klar: Ich wollte auf keinen Fall an diesem Ort sterben! Ein plötzlicher Schub von Entschlossenheit verband sich mit der Wut, die ich über diesen Kerl fühlte und brachte mich dazu, 'Shoubi' hochzureißen. Überrumpelt wich er zurück und ließ dabei auch seinen Bogen sinken. Ich hatte nicht vor, ihn zu töten, weswegen ich lediglich diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte, um dann die Flucht anzutreten. Meine Beine fühlten sich überraschend leicht, als ob ich vielmehr über den Boden gleiten würde, so dass ich überraschend schnell am Ausgang des Parks angekommen war und erst dort wieder innehielt. Dieser seltsame Kerl war mir nicht gefolgt. „Ich nehme an, er sieht keine Bedrohung in dir.“ Isoldes plötzliches Auftauchen ließ mich zusammenzucken. Wütend sah ich sie an. „Warum kommst du erst jetzt?! Ich hätte dich gerade eben brauchen können!“ Sie erwiderte meinen Blick ehrlich verwundert. „Du hast dich doch gut behauptet. Außerdem hätte meine Anwesenheit nur zu einem richtigen Kampf geführt, da er auch ein Shinjuu hat.“ Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber es machte irgendwie Sinn. Noch während ich mir vorzustellen versuchte, wie das Shinjuu dieses Kerls wohl aussehen mochte, spürte ich, wie das Shinken aus meinen Händen verschwand. Schlagartig wich jegliche Kraft aus meinem Körper, als wäre ich soeben einen Marathon gerannt und müsste nun erst wieder zu Atem kommen. Ich sehnte mich nur noch nach meinem Bett. „Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen...“ „Sehr sogar“, bestätigte Isolde. „alle deine Feinde sind fort, du kannst nach Hause und schlafen.“ Ich seufzte erleichtert, verdrängte den Gedanken an diesen komischen Kerl erst einmal – anscheinend gab es hier ohnehin nur komische Kerle – und kehrte ins Wohnheim zurück, um mich endlich hinzulegen und zu schlafen, hoffentlich traumlos. Am nächsten Morgen war ich immer noch müde, so als hätte ich gar nicht geschlafen. Mit dem Shinken hatte ich mich stark gefühlt, aber ohne dieses fühlte ich mich vielmehr erschöpft, allerdings meinte Isolde, das würde sich bald noch legen. Als ich durch den Park lief, wurde mir erstmals bewusst, was für ein Glück ich hatte, dass ich noch hindurchlaufen konnte und nicht als Leiche auf dem Weg lag und nur noch von Gerichtsmedizinern begutachtet werden konnte. Aber schon einen Moment später schnaubte ich innerlich über diesen Gedanken. Mein Überleben hatte nichts mit Glück zu tun, sondern weil ich im richtigen Moment genau das richtige getan hatte. Ich war selbst für mein Überleben verantwortlich und nicht irgendein Faktor, der nicht berechenbar war. Thalia und Sorluska, die neben mir liefen, unterhielten sich dabei über etwas, das mich nicht weiter interessierte, ich glaubte sogar, dass sie sich wieder einmal in einem Streit befanden. Mein Blick schweifte umher und blieb schließlich wieder an Seraphca und seiner Begleitung – Sorluska hatte sie Baila genannt – hängen. Das Mädchen faszinierte mich auch an diesem Tag noch in gewisser Weise und ich fragte mich auch, was sie eigentlich hier tat, wenn sie anscheinend keinerlei Schule besuchte oder jedenfalls nicht unsere. Plötzlich gesellte sich allerdings noch eine Person zu den beiden und bei deren Anblick blieb mir vor Wut fast die Luft weg. Ich sah ihn nur im Profil, aber das genügte vollauf, um sagen zu können, dass er eindeutig der Bogenschütze der letzten Nacht war. „Das ist Shou Epirma“, hörte ich plötzlich Thalias Stimme neben mir, da sie anscheinend meinem Blick gefolgt war. „Er ist der beste Freund von Subaru... aber er ist nicht sonderlich beliebt.“ Das zu glauben fiel mir nicht schwer. Während ich ihn noch weiter hasserfüllt anstarrte und daran dachte, wie er mich letzte Nacht bedroht und dann herumkommandiert hatte, wofür ich ihm am Liebsten zumindest den ein oder anderen Tritt verpasst hätte, wandte er plötzlich den Kopf, als hätte er meinen Blick bemerkt. Er musterte mich mit seinen dunklen Augen, die bei Tageslicht noch undurchsichtiger wirkten, dann erkannte er mich offenbar, denn er schmunzelte plötzlich, was meinen Zorn noch weiter anfachte. Seraphca - der also Subaru hieß - folgte seinem Blick und winkte mir lächelnd zu, als er mich erkannte, ich erwiderte lediglich mit einem Nicken – und fragte mich schlagartig, ob er wusste, was sein bester Freund nachts trieb oder ob er vielleicht sogar dazugehörte und er ebenfalls nachts im Park Leute bedrohte, auch wenn ich mir das bei ihm nicht vorstellen konnte. Shou wandte den Blick wieder ab und Sorluska lachte amüsiert. „Was für eine Bilanz. Du bringst anscheinend jeden gegen dich auf.“ Ich war mir nicht sicher, ob er das aus Shous Blick oder meinem zitternden Körper schloss, aber was auch immer es war, offenbar war es deutlich, dass ich offene Fehden mit mehreren Personen führte, auch wenn sich diese niemand erklären konnte. Aber das kümmerte mich nicht weiter. Wichtig war im Moment nur, dass ich mich weder von diesem Zetsu unterbringen ließ, noch dass ich zuließ, dass Shou mich sogar wirklich umbrachte. Ich würde siegreich aus diesen Fehden hervorgehen und sie würden es beide bereuen, sich jemals mit mir angelegt zu haben! Kapitel 9: Kein guter Neuanfang ------------------------------- Shous Blick ging mir den ganzen Schultag über nicht aus dem Kopf und er erfüllte mich weiterhin mit geradezu brennendem Zorn, aus verschiedenen Gründen. Zum einen konnte ich es nicht leiden, dass jemand mich derart spöttisch ansah, nachdem er mich zuvor überrumpelt hatte und zum anderen war es gerade mal mein dritter Tag in Japan und schon gab es zwei Leute, die ich am Liebsten verprügeln würde. Kein guter Start für einen Neuanfang. Wenigstens nervte Zetsu mich nur mit seinen angeblich so charmanten Flirtversuchen, aber dadurch, dass wir in derselben Klasse waren, sah ich ihn an diesem Schultag natürlich wesentlich öfter, als mir lieb war. Das glich damit alles wieder aus und machte es somit nicht besser. Während des Unterrichts warf ich immer wieder einen Blick zu Zetsu, in der sicheren Erwartung, dass er schlafen würde. Doch er überraschte mich, indem er entweder aufmerksam zuhörte, was die Lehrer erzählten oder weil er gedankenverloren aus dem Fenster hinaussah. Die ersten beiden Tage war das nicht so gewesen – und der Gedanke, dass ich mich derart mit ihm befasste, machte mich nur noch wütender. Es war schon zu Hause so gewesen, dass ich mich viel zu sehr auf jene konzentriert hatte, die mich provozierten, damit ich noch mehr Gründe fand, mich über sie aufzuregen und es dann vor mir rechtfertigen konnte, sie wirklich zu verprügeln. An diesem Tag gelang es mir zumindest bei Zetsu nicht, was umso besser war, so konnte ich mich nach dem Ende des Unterrichts wieder auf Isoldes Drängen, einem Club beizutreten, konzentrieren. Wie Thalia angekündigt hatte, fand ich an der Tür der Sporthalle einen Zettel vor, der mir verriet, dass der Kendo-Club neue Mitglieder aufnahm. Ich wusste zwar, dass Zetsu ihn ebenfalls besuchte, aber vielleicht hatte er sich sein dämliches Vorhaben nach seiner Gehirnerschütterung aus dem Kopf geschlagen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass eine geradezu ehrfürchtige Stimmung in der Halle herrschen würde, wenn man bedachte, dass Kendo eine sehr traditionelle Kampfkunst war, aber stattdessen gab es doch eine erstaunliche Geräuschkulisse, die von zahlreichen Schülern in voller Kampfmontur ausging. Durch die Masken konnte ich niemanden erkennen und die verschiedenen Stimmen verschmolzen zu einem kaum verständlichen Rauschen. Ich bahnte mir meinen Weg zu der einzigen Person, die keinerlei Kampfkleidung, sondern einen blauen Jogginganzug trug. Es war eine Schülerin mit langem schwarzen Haar und braunen Augen, die allerdings unablässig auf ein Klemmbrett gerichtet waren und sich mir erst zuwandten, als ich direkt vor ihr stand und mich räusperte. „Bist du hier, um dich für das Kendo-Team zu bewerben?“ Ihre Stimme klang überraschend dunkel, was ich ganz angenehm fand, wenn ich sie mit der hohen Tonlage der sonstigen Schülerinnen bisher verglich. Ich nickte. „Richtig.“ „Du bist Vartanian Leana, nicht wahr?“ Es ärgerte mich, dass sie meinen Namen kannte, aus welchem Grund auch immer sie das tat, aber statt mich darüber zu beschweren, nickte ich einfach noch einmal. „Das ist auch richtig.“ Obwohl ich nichts sagte, schien es ihr aufzufallen, dass es mich störte, denn sie holte sofort zu einer Erklärung aus: „Seraphca-san sagte mir, dass du Interesse haben könntest, dem Team beizutreten, deswegen habe ich mit dir gerechnet.“ Zumindest schien sie dann nicht zu wissen, was zwischen mir und Zetsu geschehen war, das beruhigte mich ziemlich. Es genügte immerhin, dass der Rest der Schule mich bereits nur noch mit diesem Ereignis in Zusammenhang brachte – aber immerhin war es auch erst wenige Tage her. „Ich bin Kashi Konara“, stellte sie sich vor. „Als Teamleiterin ist es meine Pflicht, dich willkommen zu heißen und dir jemanden zur Seite zu geben, der dir die Anfangszeit erleichtert.“ Ich hoffte mit aller Macht, dass sie nicht Zetsu meinte, während sie sich umsah und dann schließlich überraschend laut rief: „Setoki-san! Komm bitte her!“ Selbst wenn sie ihre Stimme quer durch die Halle klingen ließ, war sie noch höflich – aber ich wusste nicht so genau, was ich bezüglich der Situation eigentlich denken sollte. Es war zwar nicht Zetsu, der mich anleiten sollte, aber ob dessen Freund viel besser war? Andererseits hoffte ich in dem Moment noch, dass es vielleicht mehr Setokis gab. Doch als er vor uns stehenblieb, nahm er die Maske ab und ich erkannte ihn sofort wieder, genau wie er mich. „Hallo, Vartanian.“ Ich sagte nichts und nickte nur knapp, er störte sich aber anscheinend nicht daran, zumindest änderte sich seine Miene kein bisschen. Er wandte sich Konara zu, als diese ihm eine Frage stellte, die nichts mit mir zu tun hatte, mich aber dennoch hellhörig werden ließ: „Wo ist Akatsuki?“ Ihn bedachte sie mit keinem Suffix und ich fragte mich, ob es an seiner Abwesenheit oder ihrer Abneigung ihm gegenüber lag. „Er sagte, er muss arbeiten und kann deswegen nicht kommen.“ Vielleicht war das der Grund dafür, dass er nachts so müde war. Das entschuldigte aber dennoch nicht, dass er während meiner Vorstellung erst zu spät gekommen und dann eingeschlafen war. Ich blieb also weiterhin wütend auf diesen Kerl. Konara quittierte das mit einem Nicken. „Setoki-san, ich möchte, dass du dich um Vartanian-san kümmerst. Sie ist neu im Club und du hast zumindest heute die Zeit dafür. Zeige und erkläre ihr bitte alles, was wichtig ist.“ „Natürlich.“ Damit ging sie zufrieden davon und notierte sich dabei etwas auf ihr Klemmbrett. Ich wandte mich wieder Nozomu zu, der für einen kurzen Augenblick gedankenverloren schien, sich dann aber auf mich konzentrierte. Doch bevor er etwas sagen konnte, kam ich ihm bereits zuvor: „Muss Akatsuki wirklich arbeiten oder behauptet er das nur?“ „Warum interessiert dich das?“, erwiderte er. „Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden.“ „Genau deswegen interessiert mich das ja.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du solltest deine Zeit für bessere Dinge einsetzen. Aber wie auch immer, er arbeitet wirklich.“ Ich wartete noch auf weitere Erklärungen, die aber verständlicherweise nicht kamen. Es hatte mich immerhin absolut nichts anzugehen, was Zetsu in seiner Freizeit trieb. Ich kam trotzdem nicht umher, mich ein wenig dafür zu interessieren. Statt einer Erklärung präsentierte mir Nozomu dann viel lieber die wichtigen Dinge, die ich über Kendo wissen musste, auch wenn meine Gedanken ihm nie so wirklich folgen wollten. Als das Training schließlich endete, verabschiedete ich mich von Nozomu und machte mich auf dem Rückweg ins Wohnheim. Subaru und Shou standen in der Nähe des Schultors und unterhielten sich gerade lächelnd miteinander, wenn ich auch nicht wusste, worüber. Ich versuchte, die beiden zu ignorieren, was mir aber nicht ganz gelang, als Subaru mir eine Verabschiedung hinterherrief und mir dazu auch noch winkte. Um nicht unhöflich zu sein, erwiderte ich den Gruß, bedachte Shou aber nur mit einem finsteren Blick und verließ dann eilig den Hof. Es wunderte mich langsam, dass ich dauernd diesen Kerlen begegnete, die ich nicht leiden konnte. Und Subaru noch dazu. Wobei mich dieser eher wenig störte, immerhin hasste ich ihn nicht, ich fand nur seine Freundlichkeit ein wenig seltsam, weil ich das nicht gewohnt war. Meine Eltern wären sicher begeistert von ihm und würden mich beständig zu überreden versuchen, mich in seine Nähe zu begeben, um in seinen guten Einfluss zu geraten. Mir wäre es aber lieber, während meiner Zeit in Japan, keine allzu großen Freundschaften oder auch nur Bekanntschaften einzugehen. Ich hatte das früher nie gebraucht und das würde auch so bleiben. „Findest du das wirklich so erstrebenswert?“ Isolde war den ganzen Tag so still gewesen, dass ich schon gar nicht mehr an diese gedacht hatte und deswegen erst einmal zusammenzuckte, als sie sich plötzlich wieder zu Wort meldete. Ja, finde ich. Aber es ist nicht dein Problem, oder? Sie lachte amüsiert und sagte darauf nichts mehr, wohl aber mehr, weil ich plötzlich eine gänzlich andere Stimme hören konnte, die mir nur allzu bekannt vorkam, an diesem Tag aber ziemlich genervt klang: „Ja, ich weiß!“ Ich hielt inne und sah in die Gasse, an der ich gerade vorbeilief. Zuerst entdeckte ich nur einige Mülltonnen, die mir überraschend sauber erschienen, weswegen ich sie länger als unbedingt nötig ansehen musste. Dann wanderte mein Blick weiter und ich fand endlich die Person, der die Stimme gehörte. Zetsu lehnte gegen die Wand und hielt ein Handy an sein Ohr, um mit jemandem zu reden, der ihn sichtlich aufregte. Seine Stirn, so weit ich es sehen konnte, war gerunzelt, sein Mund verkniffen, er bemerkte mich nicht einmal. „Du kriegst dein Geld ja“, fauchte er in das Telefon hinein. „Man könnte meinen, es bringt dich um, mich auch mal zu unterstü-... Nein! Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen, weil ich nicht aufgepasst habe, das ist alles! Mir ist egal, was irgendwer sonst dir erzählt hat!“ Nach diesem Schlagabtausch blieb er für einen Moment still und lauschte offenbar seinem Gesprächsteilnehmer, nur um dann entnervt zu seufzen. „Ja, fein. Ich kümmere mich darum.“ Er legte auf, klappte in einer wütenden Geste das Handy zu und wollte sich dann abwenden. Dummerweise fiel sein Blick genau in diesem Moment auf mich, so dass er innehielt. Während er nun so vor mir stand, konnte ich sehen, dass er eine grüne Schürze trug, also arbeitete er gerade wirklich und befand sich nur in seiner Pause. An diesem Tag war zumindest der Verband um seinen Kopf fort, also ging es seinem Kopf wohl schon wieder besser. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, auch wenn seine Lippen kurzzeitig zuckten, als würde er versuchen wollen zu lächeln. „Hast du das eben gehört?“ „Warum sagst du der Person nicht einfach, dass ich dich geschlagen habe?“ Es kam mir vor als würden sich seine Augen noch mehr verengen. „Es gibt Dinge, die ihn nichts angehen und außerdem könnte ich mir sonst wieder eine Standpauke anhören.“ Er zuckte mit den Schultern und steckte endlich das Handy ein. Zumindest wusste ich nun, dass die andere Person ein Mann war, aber nicht, in welcher Beziehung Zetsu zu ihm stand. Es sollte mich eigentlich nicht interessieren, aber vielleicht konnte ich das gegen ihn verwenden... irgendwann. War psychische Gewalt ein Besserungsfortschritt im Vergleich zur körperlichen Gewalt? „Das ändert jedenfalls nichts an meinem Plan“, sagte er dann. „Ich bin weiterhin daran interessiert, dein Herz zu gewinnen.“ Langsam frustrierte er mich wirklich. „Was bringt dir das denn?“ Er hob die Augenbrauen, aber bevor ich weiter ausholen konnte, schmunzelte er bereits wieder. „Das sage ich dir, wenn ich es endlich geschafft habe. So lange wirst du dich noch gedulden müssen.“ Dann tippte er sich zum Abschied gegen die Stirn und ging davon, um nach wenigen Schritten durch eine Tür zu gehen und damit aus meinem Blickfeld zu verschwinden. Ich wurde einfach nicht schlau aus diesem Kerl. Mit wem stritt er sich nur derart am Telefon, statt ihm einfach zu sagen, dass das meine Schuld war, damit ich zur Rechenschaft gezogen werden konnte? Und warum bestand er trotz allem noch darauf, mein Herz zu erobern? Eigentlich wäre es dann doch auch für ihn leichter, diese ganze Sache und mich so schnell wie möglich zu vergessen. Wenn das so weiterging, würde ich ihn vermutlich noch erwürgen, trotz all meiner guten Vorsätze. „Nozomu hat recht, du verbringst wirklich viel zu viel Zeit damit, an Dinge zu denken, die dich aufregen. Das ist wirklich ungesund.“ Das ist mir total egal. Das war schon immer so. „Du brauchst wirklich ein Hobby...“ Ich war mir nicht sicher, ob sie sich Sorgen machte oder ob sie mich ärgern wollte, aber zumindest für diesen Tag wollte ich mich damit nicht mehr abgeben. Ich war müde und hungrig, deswegen machte ich mich auf den weiteren Weg, um endlich wieder ins Wohnheim zurückzukehren. „Vergiss nicht, dass du heute Abend wieder in den Park musst.“ Schon wieder? „Vielleicht treibt sich wieder ein Lakai herum, du musst dich darum kümmern.“ Mir war nicht danach, zu diskutieren, deswegen dachte ich nichts weiter dazu – aber ich war entschlossen, an diesem Abend sicherlich nicht wieder in den Park zu gehen. Kapitel 10: Sie sind keine Menschen. ------------------------------------ Am nächsten Tag gab es es eine weitere Leiche. Für die meisten Schüler war es lediglich ein nerviger Umstand, dass sie nun nicht den direkten Weg durch den Park, sondern einen Umweg gehen mussten, für mich war es aber viel mehr. Es war meine Schuld. Wäre ich am Abend zuvor in den Park gegangen, um die Lakaien zu bekämpfen, wäre das nicht geschehen. Ich hätte es verhindern können. Der Schultag ging an mir vorüber, ohne dass ich sonderlich viel davon mitbekam, weil ich mir immer nur vorstellen musste, wie diese Person auf einen Lakai getroffen und getötet worden war, noch bevor sie verstanden hatte, was eigentlich vor sich ging. Die Stimmen der anderen vermengten sich zu einem Chor, dessen genaue Worte ich nicht mehr verstand, aber auch so unerheblich war, dass es vollkommen egal war, was gesagt wurde. Mechanisch schrieb ich alles mit, was an die Tafel geschrieben wurde, ohne etwas davon in mich aufzunehmen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das richtige mitschrieb. Isolde blieb den ganzen Tag über still, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen oder es schlecht finden sollte. So gab es nämlich nichts und niemanden, der mich von meinen finsteren Gedanken abhielt, die sich immerzu im Kreis drehten und dabei alles blutrot färbten … Erst als der Schultag sich dem Ende neigte, hörte ich erstmals wieder Isoldes Stimme und sie kam mir wie eine Erlösung in diesem Chaos vor: „Nun mach dich nicht so fertig. Stell dir doch lieber vor, dass der Tote irgendein ganz krummer Hund war. Wer sollte sonst um die Zeit im Park herumlaufen?“ Du meinst, außer Leuten wie mir? Oder Shou. Aber bei dem hätte ich kein … nein, ich konnte es mir nicht einreden. Selbst wenn Shou derjenige gewesen wäre, der getötet worden war, hätte ich mir Vorwürfe gemacht. Nur weil ich jemanden nicht leiden konnte, bedeutete das immerhin nicht, dass ich wollte, dass dieser Person etwas zustieß. Aber der Gedanke war auch überflüssig, denn Shou ging es ziemlich gut. Ich hatte ihn vor der Schule gesehen, er hatte gegrinst und sich mit Subaru unterhalten, deswegen wusste ich das so genau. „Wenn du nicht willst, dass es dir noch einmal so geht, solltest du dich eben wirklich an deine Arbeit halten“, mahnte Isolde, was mir so gar nicht weiterhalf. Als die Schulglocke das Ende des Tages verkündete, war ich regelrecht dankbar. So schnell ich konnte, packte ich meine Sachen zusammen und begab mich in Richtung Ausgang. Doch ich war kaum aus dem Klassenzimmer getreten, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief. Ich hielt inne und wandte mich Konara zu, die gerade auf mich zukam. „Hallo, Vartanian-san.“ Es war seltsam, sie heute in Schuluniform zu sehen – auch wenn ihre anders aussah als die der anderen Schüler. Sie trug ein weißes Hemd und einen knielangen schwarzen Rock, noch dazu fast kniehohe schwarze Stiefel. Warum durfte sie so anders herumlaufen als wir anderen? „Hallo, Kashi-san.“ Ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte beim Training gestern, aber ihre nächsten Worte beruhigten mich sofort: „Hast du nach der Schule etwas vor?“ Wahrheitsgemäß schüttelte ich mit dem Kopf und erwähnte natürlich nicht, dass ich mir immer noch Gedanken über die Leiche machte und dass es meine Schuld war. Ich zeigte nach außen hin nicht einmal, dass es mir etwas ausmachte. „Würdest du dann mit mir essen gehen?“ Das überraschte mich wirklich. Wer rechnete denn damit, zum Essen eingeladen zu werden. Offenbar war meine Überraschung deutlich zu sehen, denn Konara erklärte sofort: „Du bist doch neu hier, nicht wahr? Und du bist in meinem Verantwortungsbereich. Ich möchte dir gern beim Einleben helfen.“ Das war ein so großzügiges Angebot, das ich nicht im Mindesten gewöhnt war, dass meine einzige Reaktion daraus bestand, zu nicken. Ich kannte Konara kaum, aber sie schien mir eine angenehme Gesellschaft zu sein, deswegen sprach nichts dagegen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann setzte sie sich in Bewegung und ich schloss mich ihr sofort an. „Magst du scharfes Essen?“, fragte sie mich nach wenigen Schritten. Wäre ich ein wandelndes Klischee, wie man sie aus Anime kannte, hätte ich nun zu strahlen und zu sabbern angefangen. Aber glücklicherweise war ich davon weit entfernt, deswegen konnte ich mich beherrschen. „Ich mag es sogar sehr.“ Und das war noch untertrieben, ich liebe scharfes Essen. Wasabi ist eines der besten Dinge, die ich jemals in meinem Leben gegessen habe. „Das ist schön“, sagte Konara mit einem feinen Lächeln. „Dann lass uns Mābōdōfu essen gehen.“ Mābōdōfu. Davon hörte ich zum allerersten Mal, aber ich war bereits gespannt, besonders wenn es tatsächlich scharf war – und ich hoffte darauf, weil ich nach einer solchen Nachricht wie am Morgen wirklich etwas Scharfes brauchen konnte. Schweigend ging ich neben Konara her. Sie führte mich in einen Einkaufsbezirk, nicht weit von der Schule entfernt. Die kleinen Läden wirkten heimelig, teilweise ein wenig, als könnte man verborgene Schätze entdecken, wenn man sich nur die Zeit nahm, sich im Inneren ausgiebig umzusehen. Wann immer ich einen Blick hinein erhaschte, sah ich eine ältere Frau hinter einem Tresen sitzen und eifrig stricken. Viel Kundschaft gab es in dieser Gegend wohl nicht. Anders sah es in dem kleinen Restaurant aus, in das Konara mich führte. Fast jeder Tisch und jeder Platz am Tresen war besetzt, nicht nur mit Schülern, sondern auch mit Geschäftsmännern, die sich lachend miteinander unterhielten, während sie ihre Biere leerten. Ein einziger Tisch war noch frei und an diesem ließen wir uns nieder. Der Dialekt der Bedienung war so stark, dass ich kaum ein Wort verstand, aber Konara übernahm es direkt, für uns beide zu bestellen. Wasser und zweimal Mābōdōfu mit Reis. Ich fragte mich immer noch, worum es sich dabei handeln mochte, beschloss aber, mich überraschen zu lassen und lieber etwas anderes zu fragen: „Warum trägst du eigentlich eine ganz andere Schuluniform?“ Ein wenig neidisch war ich schon, immerhin war ihre Uniform wesentlich weniger freizügig und wäre mir daher auch um einiges lieber gewesen. Aber Konara schien sich daran zu stören, denn sie runzelte ihre Stirn. „Ich bin eigentlich auch erst vor kurzem an die Monobe Akademie gewechselt. Mir wäre es lieber, ich hätte bereits eine normale Uniform. Aber mir wurde gesagt, dass es eine Weile dauern könnte ...“ Sie war erst vor kurzem gewechselt und bereits Teamleiterin beim Kendō? Sie bemerkte meine Verwunderung darüber wohl, denn sie holte sofort zu einer Erklärung aus: „Ich war an meiner alten Schule schon Teamleiterin und weil an der Monobe Akademie gerade der Posten freigeworden war, habe ich mich dafür beworben.“ Gut, das klang schlüssig. Außerdem hatte es zumindest am Vortag so gewirkt, als wäre sie wirklich an Kendō interessiert und dann war der Posten erst recht das Richtige für sie. Dann interessierte mich aber noch etwas anderes: „Hast du privaten Kontakt zu Seraphca?“ Glücklicherweise wusste sie sofort, worauf ich anspielte, so dass ich nicht weiter erklären musste. Sie zuckte mit den Schultern. „Eigentlich habe ich eher Kontakt mit Epirma-san.“ Es kam mir vor, als hätte ich in eine Zitrone gebissen und mein Gesicht sah auch genauso aus. Wie konnte man nur freiwillig Kontakt mit diesem Kerl suchen? Klar, Subaru war vermutlich einfach sehr gutherzig, aber Konara hätte ich mehr zugetraut. „Er ist eigentlich ganz in Ordnung“, sagte sie, da sie sich wohl bemüht fühlte, ihn zu verteidigen. „Manchmal lässt er sich nur in die falsche Richtung lenken. Wenn man aber weiß, wie man mit ihm umgehen muss, kommt man gut mit ihm klar.“ Eigentlich konnte ich mir das nicht vorstellen, aber wenn sie das meinte … Solange er nicht versuchen würde, uns gegeneinander auszuspielen, sollte mich das aber auch nicht weiter stören. Als unsere Getränke kamen, stellte ich mit einem demonstrativ großen Schluck klar, dass ich über dieses Thema nicht weiter sprechen wollte und Konara tat mir diesen Gefallen. Das Thema danach gefiel mir nur noch weniger: „Vartanian-san, du lebst doch neben dem Park, oder? Ist dir nachts einmal etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Ich fragte mich, was sie wohl über alles wusste. Hatte Shou sie eingeweiht? Wollte sie mich hier nur auf die Probe stellen? Oder wusste sie nichts, sondern ahnte nur etwas? Schlussendlich entschied ich mich, so zu tun als wüsste ich nichts. „Nein, ist mir nicht. Für mich ist es eigentlich nur ein Park. Wäre er morgens nicht hin und wieder abgesperrt, würde ich ihn nicht mal seltsam finden.“ Sie schien ein wenig enttäuscht, aber wohl eher, weil sie mehr Informationen erwartet hatte. „Oh, ich verstehe. Ja, es werden ziemlich oft Leichen dort gefunden.“ Obwohl die Stimmung im Lokal im Allgemeinen fröhlich war, schien uns beide eine düstere Kuppel zu umgeben. Ich wollte sie irgendwie durchbrechen, aber ich war noch nie gut darin gewesen, über lustige, nicht so ernste Themen zu sprechen. Und Konara legte wohl nicht sonderlich Wert darauf, denn sie fuhr genauso düster fort: „Weißt du, was das Seltsame an den Leichen ist, die gefunden werden? Sie sind keine Menschen.“ Mir fuhr ein Schauer über den Rücken, als ich direkt an die Lakaien denken musste. Sie sahen aus wie Menschen, waren aber keine. Waren diese Leichen etwa Lakaien? „Sie sehen aus wie Menschen“, fuhr Konara fort. „Aber sie sind keine. Und jede Leiche verschwindet nach einigen Tagen, deswegen kommt die Polizei auch nicht weiter.“ „Woher weißt du das?“, fragte ich. „Ich weiß, es klingt verrückt.“ Es war, als hätte sie mich gar nicht gehört. „Aber du musst mir glauben, sie sind keine Menschen.“ „Was sind sie dann?“ Sie antwortete nicht, ihr Blick hing wie hypnotisiert auf ihrem Glas Wasser, ich glaubte, die Anspannung direkt in meinem Körper spüren zu können – und dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war dieser Moment plötzlich vorbei. Konara blinzelte mehrmals, während sie mich wieder ansah. „Tut mir leid. Ich habe dich nicht eingeladen, um dir so seltsame Dinge zu erzählen. Eigentlich ist das auch nur eine Verschwörungstheorie, die im Internet umgeht.“ Das erschien mir wie eine billige Ausrede, besonders wenn ich an die Lakaien dachte, aber ich konnte ihr das schlecht an den Kopf werfen, ohne mich dabei nicht selbst zu verraten. Also ließ ich das Thema einfach fallen, beschloss aber, es im Hinterkopf zu behalten und bei einer besseren Gelegenheit noch einmal zur Sprache zu bringen. Zu unserem Glück kehrte die Bedienung zurück und stellte vor uns beide jeweils eine Porzellanschüssel ab. Auf einem Bett aus Reis befand sich eine rot-braune Soße mit Hackfleisch Tofustücken. Ich konnte die Schärfe regelrecht riechen, sie stach mir in die Nase – und ich liebte Mābōdōfu bereits dafür, noch bevor ich einen Bissen genommen hatte. „Die Soße wird hier noch mit Szechuanpfeffer gemacht“, erklärte Konara. „Deswegen esse ich hier am liebsten. Überall anders wurde das Gericht bereits entschärft, weil es für viele zu scharf ist.“ Das klang vielversprechend. Ich nahm den bereitgestellten Porzellanlöffel, nahm ein wenig Reis und Soße auf und kostete. Ob es die Schärfe oder die Freude war, die mir Tränen in die Augen trieb, wusste ich nicht so recht, aber in diesem Augenblick wusste ich, dass ich meine absolute Leibspeise gefunden hatte – und allein dafür hatte sich die Verbannung nach Japan gelohnt. Ich war fast schon glücklich, dass meine Eltern mich ans andere Ende der Welt geschickt hatten, wenn es hier eine solche Köstlichkeit gab. Begierig aß ich weiter, um noch mehr von dieser Schärfe in mir aufzunehmen. Konara betrachtete das mit einem sanften Lächeln, während sie ebenfalls zu essen begann, wesentlich vorsichtiger als ich. Der Geschmack des Szechuanpfeffers und des darin gekochten Tofus nahm mir meine Sorgen und Gedanken des Vormittags. Für diesen Moment fühlte ich mich nicht mehr schuldig und ich dachte auch nicht mehr darüber nach, was Konara eben noch gesagt hatte. In diesem Moment war endlich einmal alles gut und ich wollte es so lange genießen, wie es mir möglich war, ohne mir Schuldgefühle machen zu müssen oder an Leute zu denken, die ich nicht leiden konnte. Während dieses Gerichts gab es nur noch die Schärfe und mich – und das war auch gut so. Kapitel 11: Recherche aus zweiter Hand -------------------------------------- Konaras Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht, als ich ein paar Stunden später ins Wohnheim zurückkehrte. Die restliche Zeit hatte sich unser Gespräch nicht mehr um die Ereignisse im Park gedreht, sondern um wesentlich andere Dinge. Dennoch war es mir immer im Hinterkopf geblieben, und kaum war ich wieder im Wohnheim angekommen, immerhin direkt gegenüber des Parks, kehrte es wieder in mein Bewusstsein zurück. Laut Konara gab es Gerüchte im Internet, die darüber sprachen, was sich dort abspielte und dass die Leichen keine Menschen waren. Etwas, das mich aber ein wenig irritierte. Zum einen fragte ich mich, woher jemand diese Informationen denn haben mochte oder wieso er so etwas ins Internet stellen sollte – und dann war für mich noch die Frage nach der wahren Existenz dieser Nicht-Menschen. Sicher, ich wusste ja bereits, dass Lakaien im Park umherstreiften und andere angriffen, aber diese konnten nicht die erwähnten unmenschlichen Leichen sein, einfach nur aus dem Grund, dass sie sich auflösten, wenn man sie tötete, ich hatte es selbst gesehen. Gut, so oft war das noch nicht geschehen, aber es genügte mir, um sicher zu sein. Deswegen war ich bislang davon ausgegangen, dass es normale Menschen waren, die ihnen zum Opfer fielen, warum auch immer die Lakaien sie angreifen sollten. Aber wenn die Gerüchte stimmten … Sind die aufgefundenen Leichen von anderen Leuten, die so sind wie Shou und ich? „Du meinst Shinkenträger?“, fragte Isolde. Obwohl ich glaubte, inzwischen an ihre Anwesenheit gewöhnt zu sein, zuckte ich zusammen, als ihre Stimme durch meine Gedanken hallte, auf eine Frage antwortete, die ich nicht einmal ausgesprochen hatte. Würde ich mich jemals daran gewöhnen, dass sie immer anwesend war? „Es ist natürlich möglich, dass die anderen auch Shinkenträger sind, aber möglicherweise sind das auch alles nur Spinnereien von Leuten, die sich erklären wollen, warum die Polizei keine Lösung findet.“ Menschen neigten dazu, Gerüchte in die Welt zu setzen, das war mir auch klar, damit war ich oft genug selbst konfrontiert worden. Aber konnten sie wirklich derart wild werden, dass sie sogar so etwas hervorbrachten? Dieses paranormale Gerede über einfach verschwindende Leichen konnte nicht mehr normal sein, dafür musste es einen genauen Grund geben. „Es wäre leichter, wen du das irgendwie selbst nachrecherchieren könntest.“ Aber wie sollte ich das anstellen? Ich besaß keinen eigenen Computer hier, kein Handy, das hier in Japan internetfähig war – ich hatte auch nie Interesse daran besessen, ich konnte Besseres mit meiner Zeit anfangen – und ich war sicher nicht bereit, mich für derartige Recherchen an einen öffentlichen PC zu setzen, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht einmal wüsste, wo ich anfangen sollte. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben. „Theoretisch wäre es am Einfachsten, wenn du Shou fragst. Von ihm weißt du immerhin, dass er auch ein Shinkenträger ist, er weiß vielleicht mehr.“ Eher esse ich Glassplitter zum Frühstück. Ich hoffte, dieser Gedanke war intensiv genug, dass Isolde gar nicht erst auf die Idee käme, ihn noch einmal vorzuschlagen. Solange sie sich nicht einen anderen Träger aus dem Ärmel ziehen konnte, wollte ich am liebsten gar nichts mehr in der Richtung hören. Glücklicherweise kam Isolde aber auch gar nicht mehr dazu, noch etwas zu sagen, da eine andere Stimme plötzlich erklang: „Yo, Lea!“ Wie elektrisiert wandte ich ruckartig den Kopf in Sorluskas Richtung. Seine Zähne schienen regelrecht zu leuchten, als er mich glücklich angrinste, unbeeindruckt von meinem, hoffentlich, finsteren Gesichtsausdruck. „Mein Name ist nicht Lea“, erwiderte ich mit Nachdruck und einem Knurren. Aber Sorluska, der selbst einer Bestie glich, war davon nicht im Mindesten beeindruckt, sein Grinsen schien sogar eher noch breiter zu werden, als glaubte er, meine schlechte Laune sei ein Zeichen meiner Sympathie ihm gegenüber. „Wir haben uns schon gewundert, wo du einfach hinverschwunden bist nach der Schule.“ Waren etwa plötzlich alle der Meinung, man müsse mich überwachen? Womit hätte ich denn eine solche Behandlung überhaupt verdient? „Das ist meine Sache“, erwiderte ich entsprechend kühl. „Ich bin keine Gefangene und kann tun, was ich will. Danke sehr.“ Sorluska zuckte mit den Schultern, sein Grinsen erlosch endlich. „Wir haben uns nur ein wenig Sorgen gemacht, das war immerhin dein erster Morgen mit einer Leiche.“ Die Art, wie er das letzte Wort betonte, gab mir zu denken. Vielleicht wusste er mehr? Oder Thalia? Die beiden waren schon länger hier, besaßen vielleicht Internetzugang irgendwo oder waren öfter in Gespräche mit anderen Schülern. Sie mussten doch irgendetwas wissen. „Das war nicht so schlimm“, erwiderte ich. Sorluska zog eine Augenbraue nach oben. „Oi? Dafür warste heute morgen aber sehr blass.“ Ich ärgerte mich darüber, dass ihm das aufgefallen war, aber ich konnte schlecht darauf eingehen, dass es eher Schuldgefühle gewesen waren. Statt ihn darauf hinzuweisen, dass seine Aussprache gerade sehr zu wünschen übrig ließ, was es für mich noch schwerer machte, ihn zu verstehen, ging ich lieber auf etwas anderes ein: „Wo ist denn Thalia?“ Vermutlich funktionierte das geplante Gespräch zusammen mit ihr besser. Sorluska deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „In ihrem Zimmer. Was? Lust auf Frauengespräche?“ Wie gern hätte ich ihm irgendetwas über den Kopf gezogen, aber das kam leider nicht in Frage. Gedanklich machte ich mir aber eine Notiz, damit ich es bei Gelegenheit nachholen könnte. „Nein, ich dachte mir nur, wenn wir hier schon zusammen in einem Haus leben, sollten wir vielleicht auch ein wenig enger zusammenrücken.“ Daran lag mir zwar nicht wirklich etwas, aber das musste ja keiner der beiden wissen und Sorluska schien über diese Aussage sogar reichlich zufrieden. Sofort winkte er mich mit sich, so dass wir zusammen Thalias Zimmer aufsuchten. Der Raum entsprach von der Größe her etwas meinem, ein kleiner, quadratischer Raum – aber die Einrichtung war ein wenig anders. Bei jemandem wie Thalia hätte ich etwas Nüchternes erwartet, vielleicht sogar etwas Langweiliges, aber ich wurde überrascht. Der Futon war zusammengerollt und lag direkt an der Wand, möglichst weit entfernt, um nicht zu stören, der Spiegel wurde von einem schmalen gestrickten Schal geschmückt. Auf dem Brett oberhalb des Waschbeckens befand sich neben Zahnputzbecher, Zahnbürste und -pasta, auch eine Haarbürste und ein Deodorant, dessen Geruch ich nicht anhand der sehr eigenwilligen japanischen Namensgebung ausmachen konnte. An der Wand gegenüber war ein weiteres Regalbrett angebracht, auf diesem befanden sich mehrere Bücher auf Griechisch, deren Bedeutung ich nicht entziffern konnte, aber allein von den Bildern auf dem Umschlag ging ich davon aus, dass es sich dabei um Strickanleitungen handelte, was ich absolut nicht mit Thalia in Einklang bringen konnte. Auf dem kleinen niedrigen Tisch lag eine seidene Zierdecke, darauf thronte eine einfache Glasvase in der sich ein farbenprächtiger Blumenstrauß befand. Aber das eigentlich Schockierende befand sich neben dem Tisch: Es war Thalia, die gerade mit gelöstem Gesicht am Stricken war. Einen solchen Anblick hatte ich sicher nicht erwartet, deswegen war ich umso überraschter, Sorluska nutzte die Gelegenheit, um mich niederzudrücken, damit ich gegenüber von Thalia sitzen konnte. Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln über ihre Strickarbeit, ließ das Klappern der Nadeln aber nicht einmal unterbrechen. „Da bist du ja wieder. Wo warst du unterwegs?“ „Ich war mit Kashi-san essen“, antwortete ich ihr. „Und ihr? Seid ihr die ganze Zeit … hier gewesen?“ „Das machen wir meistens.“ Sorluska setzte sich neben mich. „Gibt ja auch nicht viel zu tun hier.“ Abgesehen von den Clubs und dem Lernen gab es da wohl tatsächlich nichts, was man noch machen könnte. Außer man beschäftigte sich mit derartigen Hobbies. „Geht keiner von euch ins Internet?“, hakte ich nach, um direkt meinem Plan nachzugehen. Thalia schüttelte desinteressiert mit dem Kopf, aber Sorluska nickte grinsend. „Manchmal schon. Ich muss ja wissen, was in meinem Heimatland abgeht.“ „Hast du da mal nach Nachrichten bezüglich der Fälle im Park geschaut?“ Keiner der beiden schöpfte wohl nur den geringsten Verdacht, denn während Thalia nicht einmal die Miene verzog, antwortete Sorluska vollkommen arglos: „Klar doch. Aber da findest du nur einen Haufen Zeug, der totaler Schwachsinn ist. Ich meine, hallo, die Leichen sollen keine Menschen sein? Das ist doch dämlich.“ „So etwas gibt es nur in schlechten Filmen“, stimmte Thalia ihm zu. „Habt ihr jemals eine der Leichen gesehen?“ Die beiden beäugten mich irritiert, als sei ich nicht mehr bei Sinnen – und hätten sie von Isolde gewusst, wären sie sicher auch davon überzeugt gewesen. „Natürlich nicht“, sagte Thalia. „Es ist immer schon abgesperrt, wenn wir morgens aufwachen.“ „Aber wer findet sie dann?“ Es war zwar früh hell, aber es kam mir seltsam vor, dass wirklich Leute derart früh durch diesen Park gehen sollten, denn das Abriegeln nahm immerhin sicher auch Zeit in Anspruch. Vielleicht gab es auch Polizisten, die dort regelmäßig patrouillierten, um genau derartige Fälle in den Griff zu bekommen. Oder es gab jemand anderen, der die Fälle meldete. „Wen kümmert's?“, fragte Sorluska. „Sie sollten lieber endlich mal die Täter finden.“ „Hat einer von euch mal gehört, wie die Leichen aussehen sollen?“ Beide zuckten gleichgültig mit den Schultern, aber Sorluska neigte gleich darauf den Kopf. „Ich hab mal was gehört. Ein Typ aus der Schule hat mal angeblich eine der Leichen gesehen, es war eine rothaarige Frau, die er nicht kannte.“ Gab es Lakaien mit roten Haaren? Isolde bestätigte das mit einem leisen Laut, der gleichzeitig sehr nachdenklich schien. Ich fragte nicht nach weiteren Details, das könnte ich später immer noch tun, nun musste ich erst einmal Thalias Bedenken zerstreuen. Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, das Stricken war inzwischen eingestellt. „Warum interessiert dich das alles so sehr?“ „Ist das ein Witz?“ Diese Gegenfrage war unhöflich, aber in meinen Augen angebracht. „Wir wohnen direkt gegenüber von diesem Park. Da ist es doch naheliegend, sich mal über solche Dinge zu informieren.“ Inzwischen sogar ohne den Wunsch, das meinen Eltern zu schreiben, damit sie mich wieder zurückholten. Ich wollte nur noch wissen, was eigentlich vor sich ging und ob ich etwas dagegen ausrichten konnte. „Manchmal ist es besser, nicht so viel zu wissen“, erwiderte Thalia kühl. „Dann hat man auch weniger Möglichkeiten, in Schwierigkeiten zu geraten.“ „Das denke ich nicht“, konterte ich. „Man gerät lediglich in andere Schwierigkeiten.“ Ich war immerhin schon mittendrin, obwohl ich gar nichts wusste. Also wäre es für mich doch praktischer, wenn ich mehr wüsste, dann wäre es mir auch möglich, dem entgegenzuwirken. Sorluska stieß ein schnaubendes Lachen aus. „Da haste recht, Leana.“ Netterweise sagte er nun meinen vollständigen Vornamen, nicht mehr nur diese Verstümmelung, die ich niemandem erlaubte. Zufrieden blickte ich zwischen den beiden hin und her. „Also? Gibt es noch mehr Dinge, die ich wissen sollte?“ Thalia seufzte schwer. „Sicher ist dir schon aufgefallen, dass man nachts manchmal Lichtblitze aus dem Park sehen kann. Aber niemand kann sich dieses Phänomen erklären.“ Ich konnte es, aber ich durfte es nicht sagen. Vermutlich glaubten sie mir das ohnehin nicht, deswegen behielt ich es ebenfalls für mich. „Die habe ich auch schon gesehen.“ Ich erinnerte mich noch gut an meinen ersten Abend, an dem mir dieses Blitzen aufgefallen war. „Und sonst?“ „Sonst nichts“, sagte Thalia entschieden. „Wir haben noch keine misstrauenserweckenden Personen gesehen, auch noch keinen Mord beobachtet, wir leben hier ziemlich friedlich.“ „Und langweilig“, schnaubte Sorluska. Mehr bekäme ich von ihnen wohl nicht mehr zu hören, aber immerhin wusste ich nun, dass diese Gerüchte wirklich im Internet umgingen. Ich fragte mich nur immer noch, woher sie kamen, wenn doch kaum jemand wirklich über irgendetwas Bescheid wusste. Vielleicht sollte ich doch noch mit demjenigen reden, der die Leiche gesehen haben wollte. „Es könnte sich bei dieser um Yaga handeln.“ Wieder dieses seltsame Rauschen bei einem von Isoldes Worten. „Deswegen müssen wir wissen, wie sie aussieht, damit ich es bestätigen kann.“ Sofern es sich dabei wirklich um immer dieselbe Leiche handelte. Aber wenn sie ohnehin kein Mensch war, stand die Chance gut. Jedenfalls wenn die Gerüchte stimmten. Das galt es ja, herauszufinden. Ich wandte mich wieder Sorluska zu. „Wer ist denn der Kerl, der eine der Leichen gesehen hat?“ Thalias Schmunzeln war für mich nur aus dem Augenwinkel zu sehen, Sorluskas Grinsen weckte kein gutes Gefühl in mir. „Die Antwort wird dir bestimmt nicht gefallen“, sagte er, was meine Stimmung nur weiter drückte, da ich bereits eine Ahnung hatte, wie die Antwort aussah – und leider musste Sorluska diese auch sofort bestätigen: „Es war Zetsu Akatsuki, der meinte, er hat mal eine der Leichen gesehen.“ Kapitel 12: Nachts im Park -------------------------- „Es war Zetsu Akatsuki, der meinte, er hat mal eine der Leichen gesehen.“ Obwohl ich es gern getan hätte, blieb mir an diesem Abend keine Gelegenheit mehr, Zetsu aufzusuchen, um ihn danach zu fragen, ob es stimmte. Außerdem hätte ich auch gar nicht gewusst, wo ich ihn suchen oder wie ich mit ihm Kontakt aufnehmen sollte. Und ich würde sicher keinen der anderen danach fragen, es gab schon genug Gerüchte über ihn und mich. Also müsste ich mich gedulden. Statt aber einfach schlafen zu gehen, suchte ich in dieser Nacht den Park auf. Noch einmal wollte ich nicht zulassen, dass ein Mensch sterben musste, nur weil ich mich geweigert hatte, gegen diese Lakaien zu kämpfen. Der Park war vollkommen verlassen. Es gab nicht einmal Insekten, die im Schein der Straßenlampen ihre Runden zogen. Zuerst dachte ich, das wäre nur bei der einen so, aber ich kam an einigen hell leuchtenden Lampen vorbei und nirgends waren irgendwelche Insekten. Nicht einmal die Geräusche, die sie verursachten, war zu hören. Als hielten sie sich instinktiv von diesem Ort fern. Etwas, das ich auch lieber getan hätte. Nicht aus Angst, sondern nur um Problemen zu entgehen. Aber wenn dafür das Leben anderer auf dem Spiel stand … „Du bist eine wirklich verantwortungsbewusste Person.“ Isolde musste irgendwann neben mir aufgetaucht sein. Diesmal konnte ich meine Überraschung aber gut verbergen. „Du bist hier in einem fremden Land, bei lauter Leuten, die du kaum ein paar Tage kennst. Es gibt keinen Grund, dich irgendeinem von ihnen verpflichtet zu fühlen.“ „Darum geht es auch nicht. Wenn ich den Tod irgendeiner Person verhindern kann, dann muss ich es tun. Es ist wie eine Pflicht.“ Ich legte eine Hand auf mein Herz. „Zumindest fühlt es sich so an.“ Ein tiefgreifendes Bedürfnis, Menschen zu retten, die mich vielleicht genau so wenig mochten wie ich sie. Klang das wie etwas, das sich ein Therapeut ansehen sollte? „Das passt zu deinem früheren Leben“, sagte Isolde. „Du warst-“ „Das interessiert mich nicht. Ich lebe in dieser Zeit, warum sollte ich mir da anhören wollen, was ich irgendwann irgendwo einmal gemacht habe?“ Darauf sagte Isolde nichts mehr. Wir erreichten den tiefsten Punkt des Parks, ohne irgendjemandem begegnet zu sein. Es kam mir vor als hielte sich gerade in dieser Nacht alles von diesem Ort fern. Als ob etwas oder jemand mich zu ärgern versuchte. Und ich hasste es, geärgert zu werden. In der Mitte des Parks war ein kleiner Schrein aufgebaut, der Zugang zu ihm war durch ein Tau, an dem Zickzack-Papier hing, abgegrenzt. Bevor ich nach Japan gekommen war, hatte man mir beigebracht, diese Seile – die Shimenawa – zu respektieren. Ihre genaue Bedeutung entfiel mir im Moment, aber ich hielt mich daran und kam dem Tau nicht zu nahe. Der Schrein dahinter war ohnehin verwittert und zu klein als dass sich jemand darin verbergen könnte. Also war er für mich gerade absolut unwichtig. „Sind überhaupt Feinde da?“, fragte ich Isolde. „Wir sind niemandem begegnet.“ Sie ließ sorgfältig ihren Blick schweifen, ihre Stirn war leicht gerunzelt, aber auch sie schien niemanden wahrnehmen zu können. Was mich nur umso erpichter auf einen Feind machte, denn ich wollte diese Nacht nicht umsonst hier draußen herumgelaufen sein. Schließlich zuckte Isolde mit den Schultern. „Es ist schwer zu sagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre da etwas, aber dann kommen da Differenzen dazwischen ...“ „Was für Differenzen?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ Sollte mir das vielleicht Sorgen machen? Ich war nicht gewohnt, in einer solchen Situation zu sein, noch weniger in einer, in der solche Ungereimtheiten im Spiel waren, die sogar Isolde nervös zu machen schienen. Ich bezweifelte stark, dass mir Instinkte oder ein allein handelndes Schwert dabei helfen könnten, so etwas zu überwinden. Isolde legte zwei Zeige- und Mittelfinger an eine Schläfe, sah sich noch einmal um und fixierte dann eine bestimmte Richtung. Es war der Weg, den wir zuletzt genommen hatten. Dort war uns aber auf dem Rundgang nichts aufgefallen. Ich starrte dennoch mit ihr dort hinunter und wartete darauf, dass etwas geschah. Jenseits der von den Lampen geworfenen Lichtkegel herrschte Dunkelheit, deren schwarze Intensität alles übertraf, was mir jemals begegnet war. Nur vereinzelt konnte ich Blätter an Gebüschen oder Bäumen ausmachen, leises Knacken schob ich einfach auf wilde Tiere, die gerade umherstreunten. Nach und nach verlor die Finsternis ihren Schrecken und ich fragte mich, wie lächerlich wir gerade aussehen mussten – oder eher nur ich, da Isolde nicht für jeden sichtbar war. Ich öffnete gerade den Mund, um ihr zu sagen, dass ich zurückgehen wollte – da durchfuhr mich ein eisiges Schaudern. Sofort rieb ich mir die frierenden Arme, aber die Kälte kam tief aus meinem Inneren, deswegen brachte es nicht viel. „Was ist das, Isolde?“ Sie antwortete nicht. „Isolde?“ Allein beim Gedanken, allein in dieser Kälte sein zu müssen, schnürte sich meine Kehle zusammen, weswegen meine Worte viel leiser wurden als angedacht. Ich wandte meinen Blick in ihre Richtung – aber sie stand nicht mehr dort. Verwirrt sah ich mich weiter um, aber ich konnte sie nicht mehr entdecken. Selbst das Gefühl, mit ihr verbunden zu sein, war plötzlich fort. Mein Kopf gehörte wieder ganz mir, und obwohl mich das eigentlich freuen sollte, fütterte es in diesem Moment nur meine Furcht. Der plötzlich aufziehende weiße Nebel, der die Kälte begleitete und nach Schnee roch, trug ebenfalls dazu bei. Ich spürte, dass etwas abgrundtief Böses in meiner Nähe war, die Finger nach mir ausstreckte und … Ich schüttelte heftig meinen Kopf, um wieder klar zu werden. Es half nicht viel, aber die Angst trat erst einmal in den Hintergrund. Ich griff nach meinem Handy, wollte die Nachricht öffnen, um mein Shinken hervorzuholen – doch der Bildschirm zeigte nur Rauschen. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Mein Flüstern war heiser, obwohl ich alles an Wut hineinlegte, was ich unter der Furcht finden konnte. Mich zu verteidigen konnte ich vergessen, also blieb mir nur eine Wahl: Ich musste fliehen! Da ich mir nicht sicher war, in welcher Richtung sich das Wohnheim befand, suchte ich mir einfach einen Weg aus und rannte los. Meine Schritte hallten lauter als normal im Park wider, mein Blut rauschte in meinen Ohren. Die Lampen, unter denen ich lief, zersprangen mit einem überraschend leisen Geräusch, gaben klirrend unter der Kälte nach, spornten mich damit an, noch schneller zu rennen. Der Nebel und die Kälte ließen nicht nach, auch nicht als ich wegen der Anstrengung zu schwitzen begann. Es war als gefror jeder Tropfen sofort zu Eis, der sich an meiner Haut festbiss und dann schmerzhaft abplatzte. Ich war für einen kurzen Moment überzeugt, zu bluten, doch als ich mit der Hand über mein Gesicht strich, war die Flüssigkeit klar. An einer Weggabelung hielt ich wieder inne. Schwer atmend blickte ich zwischen beiden Optionen hin und her, aber sie waren mir absolut fremd und schienen mir gerade lediglich in ein Verderben zu führen, das ich für heute nicht geplant hatte. Ich fluchte leise – und auf Englisch – während die Kälte immer tiefer in meine Glieder zu kriechen schien. Inzwischen konnte ich den Schnee sogar schon auf meiner Zunge schmecken. Plötzlich kam es mir wie eine gute Idee vor, mich einfach hinzulegen und auf das Ende zu warten, hier, auf diesem Weg. Es wäre mir sogar einleuchtend erschienen – wenn sich damit nicht auch jede Menge Probleme eröffnet hätten. Zum einen war ich in einem vollkommen fremden Land, in das ich gekommen war, um mich zu ändern. Sicher, es war nicht meine dumme Idee gewesen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich einfach aufgeben würde. Zum anderen gehörte aufgeben einfach nicht zu meinem Charakter. Daraus war schließlich die ein oder andere Prügelei überhaupt erst erwachsen; ich war nicht weggegangen, wenn andere an meiner Stelle aufgegeben hätten, sondern war zum Angriff übergegangen. Und dann war da noch die Tatsache, dass ich noch nie auch nur in Erwägung gezogen hatte, sterben zu wollen – und in diesem Park wollte ich ganz bestimmt nicht damit anfangen. Ich spürte immer noch Furcht in meinem Inneren, doch mein Wille zu überleben verbannte sie in eine kleine Ecke, in der sie mich nicht stören könnte. Kampfeslustig sah ich mich nach jedem um, der es mit mir aufnehmen wollte. Abgesehen von Dunkelheit und Nebel war nichts zu entdecken, aber dafür war der Sterbegedanke endlich verschwunden. Ich fragte mich, ob ich meine Flucht so vielleicht endlich fortsetzen könnte. Oder ob zumindest mein Handy wieder funktionierte. Doch gerade als ich danach griff, hörte ich ein Rauschen. Ein blendender Blitz erhellte den Park für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er wieder in Dunkelheit getaucht war – und einen Wimpernschlag später waren die Kälte und der Nebel verschwunden, und die Straßenlampen brannten wieder. Ich blinzelte ungläubig, wandte den Kopf hin und her, aber es schien wirklich wieder alles beim Alten zu sein. Ganz so, wie es vor diesem plötzlichen Wechsel gekommen war. Selbst das Gefühl der Boshaftigkeit war verschwunden. „Was war das?“, fragte ich leise. „Was war was?“ Ich zuckte zusammen und wirbelte sofort herum. Isolde stand vor mir und sah mich mit geneigtem Kopf an. „Alles okay, Leana?“ „Hast du das eben nicht mitbekommen?“ Ich wollte nicht glauben, dass ich die einzige war, die davon etwas bemerkt hatte. Doch sie schüttelte mit dem Kopf – nur um sich dann auch skeptisch umzusehen. „Ich weiß nur, dass wir gerade noch nicht hier gestanden haben.“ Es gab hier keinerlei Schrein, daher musste ihr das auffallen. Aber ihr war offenbar nichts aufgefallen, denn sie schüttelte plötzlich mit dem Kopf. „Wie sind wir denn hierhergekommen?“ Statt ihr alles zu erklären, was ohnehin zu lange gedauert hätte, rief ich mir die Ereignisse einfach nur ins Gedächtnis. Sie schloss die Augen, schien sich darauf zu konzentrieren, und nickte schließlich. „Verstehe.“ „Ich dagegen verstehe gar nichts. Was war das denn?“ „Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, wehrte sie ab. „Ich muss erst noch einige andere Sachen wissen. Dafür wäre es wirklich gut, wenn du Zetsu einmal nach dieser Leiche fragen könntest.“ Unwillig verzog ich mein Gesicht. Mir war nicht wirklich danach, mich mit diesem Kerl zu unterhalten. „Okay, mache ich, sobald ich ihn das nächste Mal sehe.“ Plötzlich grinste Isolde zufrieden. „Das wird nicht lange dauern.“ Ich runzelte die Stirn, aber sie sah bereits direkt an mir vorbei. Ich folgte ihrem Blick – und wünschte mir, mich doch einfach ergeben zu haben, als ich die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er war noch etwa hundert Meter weit weg, aber es war eindeutig Zetsu, der uns da gerade entgegenspazierte. Ich stöhnte leise, aber um mich zu verstecken, war es nun zu spät. Ich konnte nur hoffen, dass er nichts von meinem Gespräch mit Isolde mitbekommen hatte. Er schien mich plötzlich ebenfalls zu erkennen, denn er lief nun ein wenig schneller und vor allem zielstrebig auf mich zu, dabei behielt er aber die Hände in den Hosentaschen. „Ah, Vartanian“, sagte er schmunzelnd, als er nah genug bei mir war, „guten Abend. Ich wusste ja gar nicht, dass du dich nachts gern im Park herumtreibst.“ „Dasselbe könnte ich dir auch erwidern.“ An seinem amüsierten Gesichtsausdruck änderte sich nichts. „Oh, es ist nur eine Abkürzung von meinem Abendjob nach Hause.“ Wie viele Jobs hatte dieser Kerl? Seine Augen fixierten etwas hinter mir, eine Schrecksekunde lang glaubte ich, er habe Isolde entdeckt, aber dann konzentrierte er sich doch wieder auf mich, ungebrochen gut gelaunt: „Also, bist du in England auch immer nachts durch Parks gelaufen?“ „Das geht dich nichts an.“ Er lachte, aber es klang hohl, als denke er, lachen zu müssen. „Und was machst du dann hier in diesem Park? Du weißt doch sicher, dass er gefährlich ist.“ „Ich konnte nicht schlafen“, erwiderte ich. „Also wollte ich einen Spaziergang machen. Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen.“ Er deutete ein Schulterzucken an. „Ich mache mir da keine Sorgen. Viel zu verlieren habe ich ohnehin nicht.“ „Wie sieht es mit deinem Leben aus?“ „Das habe ich doch gerade schon gesagt.“ Er lächelte immer noch, aber es kam mir nun wesentlich freudloser vor, fast schon … traurig. Ich erinnerte mich wieder an den Streit am Telefon, bei dem ich ihn belauscht hatte. War die Person am anderen Ende einer der Gründe, wegen denen er seinem Leben nicht mehr viel Bedeutung beimaß? Er sah in eine andere Richtung und nickte mit dem Kopf dorthin. „Soll ich dich vielleicht zum Ausgang begleiten? Oder willst du weiter durch die Gegend spazieren?“ Ich wusste nicht, wo von meiner aktuellen Position aus der Ausgang war, außerdem bestand Isolde darauf, dass ich ihn nach der Leiche fragte – selbst während dieses Gesprächs schickte sie mir diese Aufforderung immer wieder in meine Gedanken – deswegen gab ich seufzend nach. „Fein, wir können gemeinsam zum Ausgang gehen. Das ist dann aber auch alles, kapiert?“ Spöttisch verneigte er sich in einer übertriebenen Geste vor mir. „Ganz wie Ihr wünscht, Lady Vartanian.“ Etwas an diesen Worten fühlte sich seltsam vertraut an, aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich schüttelte diesen Gedanken ab, und setzte mich stattdessen in Bewegung, worauf er mir direkt folgte und zu mir aufschloss. „Weißt du“, begann er plötzlich, „es ist eigentlich richtig schön nachts im Park. Wenn man von diesen ganzen Leichen und seltsamen Lichtern absieht.“ „Ist wohl Ansichtssache“, erwiderte ich. „Aber wenn wir schon von Leichen reden ...“ Er lachte freudlos. „Hat dir jemand erzählt, dass ich eine von ihnen gesehen habe?“ „W-woher weißt du das?“ „Das wollen die meisten von mir wissen. Außerdem wüsste ich nicht, warum du sonst mit mir über Leichen reden wollen würdest. Außer du willst mir gestehen, dass du nekrophil bist.“ Er zwinkerte mir zu. Ich verzog das Gesicht. „Nein, sicher nicht. Mir geht es wirklich auch um deine Beobachtung.“ „Was willst du wissen?“ Gab es so viele verschiedene Dinge, die man in einem solchen Fall fragen könnte? „Wie sah die Leiche aus?“ Er runzelte seine Stirn. „Was? Denkst du, ich habe sie mir genau angesehen und eingeprägt, bevor ich die Polizei angerufen habe? Ich weiß nur noch, dass sie rothaarig war. An mehr erinnere ich mich nicht mehr.“ Das half mir nicht weiter, diese Information hatte ich bereits. Ich war davon ausgegangen, dass er sich durch den Schock alles gemerkt hatte, aber offenbar nicht. Der Weg vor uns weitete sich, der Pfad kam mir endlich bekannt vor, wir befanden uns kurz vor dem Ausgang, der in der Nähe des Wohnheims war. Aber wir waren nicht allein. Zetsu wurde ein wenig blass, als er seinen Blick auf das konzentrierte, was vor uns auf dem Weg lag. Ich sah ebenfalls hinüber und spürte einen eisigen Klumpen in meinem Inneren. Eine leblose Frau lag dort zusammengekrümmt als hätte man sie einfach weggeworfen und dann vergessen. Das rote Haar verdeckte ihr Gesicht, die braune freizügige Kleidung passte eher in ein fantastisches Setting statt in eine japanische Stadt. Das Blut rauschte wieder durch meine Ohren. Zetsu deutete auf sie, sein Finger zitterte ein wenig. „Sie sah … etwa so aus wie diese Leiche.“ Kapitel 13: Schwarz und Weiß ---------------------------- Die Leiche verschwand nicht, egal wie lange wir sie anstarrten. Sie bewegte sich auch nicht, was zu erwarten war, aber dennoch wurde ich die Vorstellung nicht los, dass sie aufstehen könnte, wenn ich auch nur für einen Moment blinzelte. „Ich verstehe das nicht“, sagte Zetsu, er hatte seinen Schock inzwischen scheinbar überwunden. „Die letzte, die ich gesehen habe, sah genauso aus.“ Plötzlich erinnerte er sich also wieder. „Das kann doch nicht sein.“ Isolde, die für Zetsu hoffentlich immer noch unsichtbar war, kniete sich neben die Tote, um diese eingehender zu betrachten. Von meiner Position aus konnte ich keine Verletzungen und auch kein Blut sehen. Woran war diese Frau gestorben? „Bist du dir sicher, dass sie ganz genau so aussah?“, hakte ich nach. Er schnaubte. „Was? Denkst du, ich sehe andauernd rothaarige Frauenleichen und deswegen kann ich sie miteinander verwechseln?“ Warum mussten Unterhaltungen mit ihm so anstrengend sein? Plötzlich erklang Isoldes Stimme in meinem Inneren: „Sie hat keine physischen Verletzungen. Aber sie scheint auch kein Mensch zu sein.“ Was denn dann?, hakte ich nach. Isolde gab mir eine kurze Antwort, die aber derart verzerrt war, dass ich sie nicht verstehen konnte. Wieder einmal. Langsam zweifelte ich an meinem Verstand. Vielleicht war das alles hier nur irgendeine verrückte Komafantasie, die ich gar nicht ernst nehmen sollte. Aber das war vermutlich eine reine Wunschvorstellung. „Hey, Vartanian“, hörte ich da plötzlich Zetsus Stimme. „Alles okay?“ Er wirkte tatsächlich ein wenig besorgt, sogar seine zusammengezogenen Brauen sagten das deutlich. „Du siehst aus, als kippst du gleich um. Soll ich dir lieber einen Krankenwagen rufen?“ „Nein, mir geht es gut.“ „Aber du starrst nur vor dich hin.“ So musste das wohl wirken, wenn ich mich mit Isolde unterhielt. Diese war inzwischen wieder aufgestanden. „Ich denke, sie wurde von niemandem getötet.“ Warum ist sie dann tot? „Womöglich war der Mana-Gehalt dieser Welt nicht hoch genug für sie. Ich kann es nicht direkt sagen, ich bin keine Gerichtsmedizinerin.“ Ich schnalzte mit der Zunge. Zetsu hob eine Augenbraue. „Sicher, dass du keinen Arzt brauchst? Wir sollten langsam auch mal die Polizei rufen.“ Nachdenklich sah ich wieder auf den Körper hinab. War es überhaupt sinnvoll, jemandem davon zu erzählen? Wenn sie doch ohnehin kein Mensch war und dieses Gerücht auch schon durchs Internet ging, wäre es meiner Ansicht nach wesentlich vernünftiger, es niemandem zu melden. Aber wie sollte ich das Zetsu erklären? Sollte ich vielleicht einfach wegrennen? Für seltsam hielt er mich ohnehin schon, also was könnte schon schlimmer werden? Doch bevor ich das in die Tat umsetzen konnte, richteten sich gefühlt alle Haare meines Körpers auf. Etwas war plötzlich erschienen – und es war derart stark, dass es mir fast die Luft zum Atmen raubte. Isolde sah sich aufmerksam um. „Sei vorsichtig, ein anderer Shinkenträger ist in der Nähe!“ Ich steckte die Hand in die Tasche und umfasste mein Telefon, das einzige, was mir gerade irgendeine Form von Sicherheit versprach. Vor Zetsu wollte ich es aber nicht herausholen. Wegzulaufen wäre einfacher zu erklären gewesen, als plötzlich ein Schwert in der Hand zu halten. Der Wandel der Atmosphäre blieb anscheinend auch Zetsu nicht verborgen. Er wirkte nervös, während er den Blick schweifen ließ, dann stieß er plötzlich ein schweres Seufzen aus. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Aber es gefällt mir nicht. Ich denke, wir sollten verschwinden.“ Ich wollte ihm zustimmen, doch da hörte ich bereits eine Stimme, die mein Blut wieder kochen ließ: „Ah, ich wusste doch, dass ich dich damit einfangen kann. Meine Falle hat funktioniert.“ Das letzte Mal, als ich mit ihm gesprochen hatte, war ich von ihm mit dem Bogen bedroht worden – und nun wollte Shou mich noch einmal in diese Situation zwingen. Ich hasste es. Zetsu sah in meine Richtung, er schmunzelte. „Oh? Gibt es jemanden, den du mehr hasst als mich?“ „Kannst du nicht wenigstens dieses Mal ernst bleiben?“, fauchte ich ihn an. Zu meinem Erstaunen wurde er tatsächlich sofort wieder ernst, vielleicht aber auch nur weil Shou plötzlich in seiner vollen Rüstung auftauchte. Er trug das siegessichere Lächeln, das ich schon seit dem ersten Moment an hasste. „Denkst du echt, ich habe Angst vor dir?“, fauchte ich. „Mir ist egal, ob du Angst hast“, erwiderte Shou. „Mir geht es nur darum, dich zu verletzen.“ „Wofür? Dafür, dass ich letztes Mal abgehauen bin?“ Shou stieß ein freudloses Lachen aus. „Du weißt es wirklich nicht, was? Umso besser.“ Er hob seinen Bogen und deutete damit auf mich, allerdings spannte er die Sehne noch nicht. Seine Augen wanderten dafür zu Zetsu hinüber; ich nahm an, dass Shou einzuschätzen versuchte, ob der allgemeine Schulliebling auch sein Feind war. „Okay“, mischte Zetsu sich ein, der unseren Gegenüber wohl nicht erkannte, „ich habe verstanden, dass ihr euch kennt. Aber was jetzt?“ Ich zog mein bereits glühendes Handy aus meiner Tasche. „Jetzt läufst du am besten weg.“ Dann ließ ich ihn keine weitere Frage stellen. Ich öffnete die Nachricht, drückte auf Antworten und 'Shoubi' erschien wieder. Inzwischen fühlte es sich vertraut in meiner Hand an, aber ich konnte Zetsu nicht verübeln, dass er zurückwich. „Das ist deine letzte Chance“, warnte ich ihn, ohne den Blick von meinem Feind zu nehmen. Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Silbernes davonhuschen, ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten – und ich war seltsam erleichtert. Ich mochte ihn vielleicht nicht, aber das bedeutete nicht, dass ihm hier etwas passieren sollte. Shou spannte den Bogen. Ein aus rotem Licht bestehender Pfeil erschien, der bald von einem finsteren lila Feuer eingehüllt wurde. Auf Shous Gesicht bildete sich ein finsteres Grinsen. „Ich werde dein Herz aufspießen.“ Er ließ den Pfeil los. Ich sah nur das Licht auf mich zurasen und riss das Shinken hoch. Weißes Mana sammelte und verdichtete sich vor meinen Augen – und der Pfeil explodierte direkt vor meinen Augen. Die Wucht zwang mich einige Zentimeter zurück, aber ich wurde nicht verletzt. „Ist das alles, was du kannst?“ Sein Grinsen verschwand urplötzlich und wurde von einer finsteren Grimasse ersetzt. Seine Stirn bekam derart tiefe Falten, dass man darin Dinge hätte verstecken können. „Wie kann das sein?!“ Ich senkte das Schwert wieder. „Du kennst dich nicht wirklich mit Kämpfen aus, oder?“ „Was geht dich das an?!“, fauchte er. „Dass du das aufhalten konntest, wird dir nicht helfen!“ Ein Pfeil aus Licht erschien in seiner Hand, verbunden mit einem glühenden Magiekreis unter seinen Füßen. Das konnte ich nicht zulassen. Mit einem Sprung verkürzte ich die Distanz zwischen uns, Mana sammelte sich automatisch an meiner Klinge. Ich riss das Schwert hoch. Doch in derselben Sekunde wich Shou aus. War er schneller als ich, weil er nur den Bogen hatte? Obwohl ich mich unglaublich leicht anfühlte, war es doch schließlich möglich, dass die Waffe mich behinderte. „Konzentrier dich!“, forderte Isolde mich auf. Im selben Moment traf mich ein Fuß im Magen, ich taumelte zurück. Aber die Schmerzen hielten sich in Grenzen, es war hauptsächlich die Überraschung gewesen. Von zu Hause war ich wesentlich schlimmere Prügeleien gewöhnt. Und ich hatte sie alle gewonnen. Wieder erschien der Magiekreis, diesmal konnte ich ihn nicht aufhalten. Aus der Luft erschienene Dornen schossen auf mich zu. Ich wich ihnen aus, aber sie verfolgten mich – und trafen mich schließlich. Schmerzen schossen durch meinen Körper wie flüssiges Metall, ich biss die Zähne zusammen. Die Geschosse lösten sich wieder auf, aber das Gefühl blieb. Meine Bewegungen wirkten dadurch schwerfälliger als noch gerade eben. Shou brachte derweil wieder genügend Distanz zwischen uns, dann spannte er den Bogen erneut. „Wenn ein Pfeil nicht reicht, dann eben zwei, drei. So viele, wie es braucht, um dich zu erledigen!“ Erneut baute ich ein Schild auf, das den größten Teil der Wucht abfing – doch der Pfeil drang durch das Mana und traf mich in der Schulter. Ich stieß einen Fluch aus, Schmerz schien meinen kompletten rechten Arm lähmen zu wollen. Aber ich durfte nicht aufgeben, ich konnte nicht! Ohne Rücksicht auf meine Verletzungen zu nehmen, sammelte ich diesmal selbst Mana um mich. Das weiße Glitzern blendete mich fast, doch gleichzeitig glaubte ich, dass es mir vertraut war, dass ich es in einem anderen Leben oft gesehen hatte. Es war das erste Mal, dass ich Isoldes Worten wirklich glauben konnte – und in diesem Moment wusste ich, was zu tun war: „Rosensturm!“ Unzählige Blütenblätter manifestierten sich aus dem Nichts und füllten das Feld zwischen uns aus, bis ich Shou kaum noch sehen konnte. Aber ich wusste, wo er war, auch wenn ich mir das nicht erklären konnte. Als kommunizierte das Mana mit mir ohne dass ich mir dessen bewusst war. Ich sprang nach vorne, glich die Distanz zwischen uns wieder aus und riss das Schwert mit aller Kraft nach oben. Shou starrte mich mit großen Augen an, statt auszuweichen – doch plötzlich leuchtete dunkles Mana um ihn herum auf. Dornen erwuchsen daraus, parierten meine Waffe und trafen mich erneut. Es brannte wie Feuer, als das fremde Mana, das durch die Verletzungen in mich eindrang, durch meinen Körper kreiste. Ich taumelte zurück. Der Magiekreis unter Shou leuchtete wieder auf. Das verdichtete schwarze Mana raubte mir fast die Luft zum Atmen, mein Puls beschleunigte sich – und dann sah ich die riesige Fledermaus. Sie erschien hinter Shou und schlug mit den viel zu großen Flügeln, auf denen unzählige Sterne zu glitzern schienen. Jemand anderes hätte den Anblick vielleicht bewundert, ich möglicherweise auch – wäre ich nicht damit beschäftigt gewesen, angestrengt zu atmen, um überhaupt noch Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen. Das Schlagen der Flügel beförderte das schwarze Mana in wirbelnde Bewegungen und schleuderte es direkt in meine Richtung. Für einen kurzen Moment konnte ich nicht mehr atmen, alles drehte sich vor mir, gleichzeitig kam es mir vor als stünde mein ganzer Körper in Flammen, ohne jemals zu Asche werden zu können. Ich wollte schreien, gleichzeitig aber auch Stärke demonstrieren und konnte doch nichts davon tun, denn meine gesamte Welt schien sich einfach aufzulösen. Aber gerade als ich aufgeben und in die Knie gehen wollte, endete dieser Effekt. Ich schnappte gierig nach Sauerstoff, während das Brennen nachließ, wenn auch nur langsam. Shou lachte derweil wie ein Wahnsinniger, der sich köstlich amüsierte. Warum sind meine Attacken so uneffektiv? „Er ist wesentlich schneller als du“, erklärte Isolde. „Dieser Feind ist wirklich ein Problem.“ Und was soll ich tun? Darauf schwieg Isolde. Shou bemerkte meine Ratlosigkeit offenbar, er grinste wieder. Dann spannte er seinen Bogen ein weiteres Mal. „Das war es für dich!“ Ich hob das Schwert, bereit, den Angriff abzuwehren, und schickte ein Stoßgebet an von wem auch immer diese Nachricht gekommen war, dass er wusste, was er getan hatte. Zetsu war noch nicht weit gekommen, als er wegen eines hellen Lichtblitzes direkt vor sich wieder innehielt. Was ein Glücksfall für ihn war, denn keine Sekunde später, stand plötzlich eine Frau an dieser Stelle. Sie erinnerte ihn an eine Cosplayerin, nicht wegen ihres blauen Haares, sondern wegen ihrer eigenartigen Kleidung und vor allem dem großen Schwert, das sie mit sich trug. Hätte er gerade eben nicht Leanas Schwert und diesen Bogenschützen gesehen, wäre ihm diese Waffe absolut lächerlich vorgekommen. Aber da war noch etwas anderes an ihr, das ihm sagte, dass er sich fernhalten sollte. Sie strahlte nichts Menschliches aus, nur Kälte und reiner Hass. Ihre leblosen Augen hafteten sich auf ihn, ließen ihn schaudern. Er müsste an ihr vorbei, aber er war überzeugt, dass sie ihn angreifen würde, sobald er Anstalten dafür machte. „Hey“, sagte er schließlich. „Kann ich dir helfen?“ Sie antwortete darauf nicht, ging aber ein wenig in die Knie; sie war bereit zum Angriff. Was sollte er tun? Er spürte die ungeheure Kraft, die von ihr ausging, die ihm verriet, dass er nicht fliehen könnte. Aber er war nicht bereit, zu sterben. Nicht so und vor allem nicht hier. Da erklang der Signalton seines Handys, das ihn über eine neue Nachricht informierte. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, aber er erinnerte sich, dass Leana vorhin ebenfalls ihr Telefon hervorgezogen und sogar eine Waffe daraus bekommen hatte, also vielleicht … Tatsächlich leuchtete auch sein Handy in einem Licht, das er vorher noch nie gesehen hatte. Eine Nachricht, bestehend aus zwei Worten, war angekommen: Trust me. Er wusste nicht, von wem sie stammte, aber es störte ihn nicht weiter, solange sie ihm helfen könnte. Deswegen folgte er seinem Instinkt und klickte auf Antworten. Sein Handy strahlte darauf noch einmal heller, so dass er den Blick abwenden musste. Im nächsten Moment hörte er, wie Metall auf Metall traf. Als er wieder nach vorne sah, bemerkte er, dass die Frau ihn angegriffen hatte, aber ihr Schwert von dem Stab eines kleinen Jungen abgefangen worden war. Sein Haar war hellblau, genau wie seine Kleidung, aber von ihm ging eine freundliche Atmosphäre aus, die Zetsu sofort beruhigte. Der Junge wirbelte seinen Stab, um die Frau zurückzudrängen, und kaum war das geschehen, setzte er sofort nach. Eigenartige dunkle Funken sammelten sich um seine Waffe, die er mit einem waagerechten Hieb gegen die Feindin donnern ließ. Sie wurde zur Seite geschleudert, landete jedoch wieder auf den Füßen und nutzte den Schwung für einen neuen Angriff. Mit einer beeindruckenden Schnelligkeit sprintete sie auf den Jungen zu – nur damit ihr Schwert auf eine Wand aus schwarzen Waben traf. Dort, wo sie hinschlug, lösten sich Funken aus der Mauer und gingen auf die Frau über. Da sie sich zusammenkrümmte, musste sie dadurch selbst Schmerzen erleiden. Direkt danach sprang der Junge zurück, um wieder einen Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Noch einmal wirbelte er seinen Stab, worauf ein Muster aus Licht unter seinen Füßen erschien. Zetsu bemerkte einen Schatten unter den Füßen der Frau, kaum sah er hin, schoss eine finstere Klaue aus dem Boden hervor. Sie schnappte sich die Feindin, schleuderte sie durch die Luft und zerquetschte sie anschließend. Kaum stand die Frau wieder auf dem Boden, gab sie einen gequälten Laut von sich, ehe sie sich in unzählige blaue Funken auflöste. Zetsu betrachtete dieses Spektakel mit einer Mischung aus Erstaunen, Furcht, aber auch Vertrautheit. Irgendwann, vor langer Zeit, hatte er das schon einmal gesehen. Aber wie und warum? Und weswegen kam ihm dieser Junge dann wiederum absolut nicht bekannt vor? Sein kleiner Retter ließ den Stab verschwinden und kam dann auf ihn zu. Mit in die Hüften gestemmte Hände musterte er Zetsu. „Dann arbeiten wir ab sofort zusammen?“ „Bitte? Wovon redest du?“ Sein Gegenüber legte sich nachdenklich Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an die Schläfe. „Ich hab vergessen, dass du nichts weißt. Also ich bin Asake, Shugo Shinjuu von 'Gyouten'.“ Dieses Wort ließ eine Saite in Zetsus Inneren vibrieren, die schon lange nicht mehr betätigt worden war. Er erinnerte sich daran, wie er selbst einmal gekämpft hatte, auch wenn es eine Ewigkeit her zu sein schien. Nur an diesen Jungen erinnerte er sich immer noch nicht. Aber im Moment war das nicht weiter wichtig. „Wir müssen uns wohl später kennenlernen, Asake.“ Zetsu wandte sich in die Richtung, aus der er gerade gekommen war und in der immer noch Lichtblitze zuckten. „Jetzt müssen wir erst einmal noch einen anderen Kampf beenden.“ Isolde erschien vor mir, um den Pfeil, der diesmal von einem finsteren Feuer begleitet wurde, abzufangen. Wie schon einmal zuvor, wandelte sie die fremde Energie in ihre eigene um und schleuderte sie Shou wieder entgegen. Aber von ihm erntete sie dafür nur ein heiseres Lachen. „Das bringt alles nichts“, stellte Isolde frustriert fest. „So einen sturen Feind trifft man selten.“ Das hilft mir immer noch nicht weiter. Zum Wegrennen war es inzwischen längst zu spät, schließlich war ich selbst verletzt und noch dazu erschöpft. Ich konnte kaum darauf hoffen, in diesem Zustand vor jemandem fliehen zu können; besonders nicht, wenn dieser Jemand mit einem Bogen umgehen konnte. Viele dieser Angriffe könnte ich nicht mehr aushalten, aber es widerstrebte mir auch, vor ihm niederzuknien und um Gnade zu bitten – und das wäre das einzige, was mir in dieser Situation noch übrig bliebe, sofern ich nicht sterben wollte. „Warum versuchst du, mich zu töten?“, fragte ich, nachdem er sich beruhigt hatte und ehe er einen weiteren Angriff starten könnte. „Du verstehst doch mit Sicherheit genauso wenig von dieser ganzen Sache wie ich, oder?“ Shou schmunzelte. „Als wir uns vor ein paar Tagen begegnet sind, mag das noch gestimmt haben, aber inzwischen hat sich die Sache geändert. Ich weiß, was hier los ist. Und ich werde diesen Vorteil für mich ausnutzen.“ Also wollte er mir ganz offensichtlich nicht sagen, worum es ging. Nett. „Wichtig ist jetzt nur, dass ich dich loswerde“, fuhr er fort und spannte den Bogen erneut. Ich hob bereits das Schwert, um mich vor dem Angriff zu verteidigen. „Und das werde ich auch sofort in die Tat umsetzen!“ Er ließ den Pfeil los. Gleichzeitig baute ich einen Schild vor mir auf und stellte mich auf den kommenden Schmerz ein. Doch der Angriff prallte an einer schwarzen Wand ab. Ich blinzelte irritiert, dann entdeckte ich einen kleinen blauhaarigen Jungen vor mir. Er hielt einen Stab in den Händen, der fast genauso groß war wie er. Damit hatte er offenbar den Angriff abgewehrt. Aber das erklärte mir nicht, wer er war. Shou war davon jedenfalls nicht begeistert: „Was mischst du dich jetzt ein?!“ Der Junge blickte ein wenig zur Seite. Ich imitierte seine Kopfbewegung, sah aber nur einen Schatten an uns vorüberhuschen. Im nächsten Moment riss Shou seinen Bogen hoch, diesmal leuchtete das schwarze Schild vor ihm auf und sein plötzlicher Angreifer wurde sichtbar. Ich war aber alles andere als begeistert davon. „Was willst du schon wieder hier?“, fragte ich Zetsu. Plötzlich trug er aber nicht mehr seine Kleidung von vorhin, sondern einen grauen Mantel, und in seiner Hand hielt er ein Katana als wäre es das natürlichste der Welt. Er warf mir einen zufriedenen Blick über die Schulter zu. „Gut, was?“ Das war keine Antwort auf meine Frage, aber ich verzichtete lieber darauf, noch eine zu bekommen. Shou war im Moment immerhin das drängendere Problem. Dieser hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete uns beide nachdenklich. Zetsu schien allerdings zufrieden: „Zwei Feinde sind schon nicht mehr so leicht wie einer, was?“ Tatsächlich wich Shou ein wenig zurück. „Denkt ihr wirklich, dass ihr einfach so gewinnt?“ „Für mich sieht es jedenfalls ganz danach aus“, sagte Zetsu selbstsicher. „Was willst du denn jetzt noch tun?“ Nachdenklich sah er zwischen uns hin und her. Eigentlich wollte ich nicht, dass er einfach verschwand, ohne dass wir die Gelegenheit bekamen, das zu klären, aber andererseits war ich mir sicher, dass ich zumindest keinen anständigen Kampf mehr hinbekäme. Außerdem wäre es vielleicht erfolgreicher, wenn wir diese Sache in der Schule klärten, ohne diese Kräfte. Es wäre wesentlich angenehmer und es wäre das, was sich meine Eltern wünschten. Vielleicht musste ich ja erst derart erschöpft sein, um die von ihnen gepredigte Vernunft schätzen zu lernen. Schließlich stieß Shou ein Schnauben aus. „Heute habt ihr noch einmal Glück gehabt. Aber nächstes Mal gibt es keine Gnade mehr.“ Noch ehe wir etwas dazu sagen konnten, verschwand Shou mit einer überragenden Geschwindigkeit zwischen den Bäumen. Der Hass und die Feindseligkeit schwanden langsam, je mehr er sich von uns entfernte. Das änderte aber nichts daran, dass ich wegen Zetsu noch ziemlich angefressen war. Ich widmete mich wieder ihm, nur um mitanzusehen, wie er dem kleinen Jungen den Kopf tätschelte. „Das ist ja interessant“, bemerkte Isolde. „Was?“ Ich nahm keine Rücksicht mehr darauf, ob Zetsu dieses Gespräch hören konnte, denn wenn er nun auch ein Shinken besaß, konnte er Isolde vermutlich ohnehin sehen. So wie ich diesen Jungen sehen konnte. „Früher war das nicht sein Shinjuu gewesen.“ Ich sah Isolde an. „Woher willst du das denn nun wieder wissen?“ Sie sah mich schmunzelnd an. „Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns alle mal zusammen hinsetzen, um über diese Situation zu sprechen. Meinst du nicht auch?“ Zusammen? Mit Zetsu? Nein, das meinte ich ganz und gar nicht. Aber das ließ sie sicher nicht gelten. Schon allein weil er sich plötzlich einmischte: „Ich halte das für eine ganz grandiose Idee. So könnten Vartanian und ich uns auch endlich näher kommen.“ Ich seufzte schwer und ergab mich meinem unabwendbarem Schicksal. „Fein, von mir aus. Vielleicht wird mir dann auch endlich einiges klarer.“ Jedenfalls blieb mir immer noch diese Hoffnung. „Was meinte Shou damit?“ Salles stellte diese Frage in den leeren Raum, ohne zu wissen, ob seine geheimnisvolle Verbündete überhaupt zuhörte. Nur wenn er eine Antwort auf diese Frage bekäme, könnte er sich auch sicher sein, ob Shou wirklich als Feind zu betrachten war. Schlussendlich wusste er immerhin auch nicht, auf welcher Seite Leana eigentlich stand. „Ich weiß es auch nicht“, kam die Antwort nach einer gefühlten Ewigkeit. „Mir ist auch nach wie vor unerklärlich, woher sein Shinken gekommen ist.“ Das war ein guter Punkt. Es ergab für ihn nämlich keinerlei Sinn, falls Yaga die alleinige Verursacherin wäre. Die Leichen im Park sahen so aus wie sie, aber bislang hatte sie noch keinerlei Anstalten gemacht, irgendjemandem zu schaden, obwohl sie es bestimmt könnte. Und dann seine rätselhafte Verbündete und die mit ihr verbundene Leana … Es gab so viele Dinge, die er in dieser Konfiguration einfach nicht verstand. Aber wie sollte man so etwas auch verstehen? „Wir müssen weiter versuchen, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Und dafür sollten wir auch im Verborgenen bleiben.“ Als hätte Salles jemals vorgehabt, diesen Ort zu verlassen. Jedenfalls geschähe dies nicht ohne einen guten Grund und im Moment gab es noch keinen solchen. Es gab noch genug andere Shinkenträger, ehemalige Mitglieder der Brigade, die in der Welt für Ordnung sorgen könnten. Und er verließ sich auf sie, heute wie damals. Mit diesem Gedanken widmete er sich wieder der Beobachtung dieser Welt, um kein nennenswertes Ereignis zu versäumen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)