Morpheus und die Gefallenen von abgemeldet (Zera x Jaibo) ================================================================================ Kapitel 2: -Jaibo- ------------------ Er brummte unwillig, als der Wecker um 4 Uhr klingelte. Es war nicht sein Wecker. Deshalb nervte es ihn, dass er ihn geweckt hatte. Sein Freund neben ihm gab ein Grunzen von sich, machte aber keine Anstalten, das nervtötende Ding auszumachen. "Ey ... Wecker", murmelte er und trat seinem Freund in den Rücken. Der grunzte nochmal unwillig und schlug dann blind nach dem Wecker. Ein Scheppern bedeutete Jaibo, dass er ihn vom Nachttisch gefegt hatte. Er drehte sich leise fluchend wieder auf die andere Seite, während er spürte, wie das Bett leicht federte, als der Andere aufstand. Gott, wie er das hasste, geweckt zu werden. Er hatte diese Nacht ohnehin nicht gut geschlafen und in knapp zwei Stunden ging sein eigener Wecker. Perfekter Start in den Tag. Und, wenn Kagerou nicht immer so durch die Wohnung poltern würde, wenn er früh aufstand, dann hätte er wenigstens noch versuchen können, etwas zu schlafen. So kniff er nur die Augen zusammen und ärgerte sich. Sie wohnten seit einem knappen halben Jahr zusammen, aber Jaibo hatte sich immer noch nicht ganz daran gewöhnen können. Und was war nicht so, als führten sie die perfekte Beziehung. Aber es lief eben. Um kurz vor fünf verließ Kagerou die Wohnung um in seine Firma zu fahren. Stille kehrte ein. Eine Stunde später gab Jaibo es dann auf und stand selber auf. Vielleicht würde ihm eine heiße Dusche den Tag retten. Wehe der Kerl hatte im Bad das Fenster offen stehen lassen, ehe er los gegangen war, das wäre typisch. Als hätte er es geahnt. Er fröstelte, als er barfuß auf die nackten Fliesen trat und knallte mit einem Brummen das Fenster zu, um kurz darauf die Heizung aufzudrehen. Sie lebten eigentlich nicht schlecht. Kagerou Himura war Geschäftsführer einer sehr gefragten Werbeagentur, 35 Jahre alt und so gesehen kein schlechter Fang. Ein Mann voller Laster und mit einem perversen, berechnenden, zweiten Ich, das war es wohl, was ihn damals, als sie sich vor eineinhalb Jahren das erste Mal gesehen hatten, so anziehend gemacht hatte. Damals war er noch verheiratet gewesen. Eine Nacht mit Jaibo und seine Frau und seine zwei Kinder waren Geschichte. Zwei Monate später hatte er die Scheidung eingereicht. Ein hinterhältiges Lächeln schlich sich auf die sinnlichen, blassroten Lippen, als er daran dachte. Er war ihm seit jeher verfallen und Jaibo nutzte es, um neben seiner Ausbildung, die er in einer Schauspielschule absolvierte, ein gutes Leben finanziert zu bekommen, ohne nebenher arbeiten zu müssen, und natürlich um seine eigenen kranken Neigungen auszuleben. So gesehen passten sie eigentlich gut zusammen. Bis auf die Tatsache, dass alle Gefühle, die Jaibo ihm je entgegengebracht hatte, erstunken und erlogen waren. Aber er war ein guter Schauspieler. Das war er schon immer gewesen. Es war nicht so, als hegte er für den Mann, mit dem er jetzt über ein Jahr sein Leben teilte, nicht irgendwo Sympathien, aber er lehnte es strikt ab, das Wort Liebe als Bezeichnung zu verwenden. Er wusste nichtmal, ob Kagerou ihn wirklich liebte. Vielleicht waren sie in stiller Übereinkunft auch nur eine Art Zweckpartnerschaft eingegangen; Jaibo, wegen dem Luxus und der Bequemlichkeit, die sich ihm dadurch offenbarte und Kagerou, weil er so ungeniert seine Vorliebe für erheblich jüngere Männer und seinen Sadismus ausleben konnte, denn Jaibo ließ wirklich alles mit sich machen. Ohne Ausnahme. Die Fähigkeit, zu lieben war ihm ohnehin vor langer Zeit verloren gegangen. Er stellte die Dusche ab und wickelte sich in ein langes Handtuch. Seltsam. Wieso musste er jetzt plötzlich wieder an Zera denken? Fast zwei Jahre hatte er es geschafft, ihn und die damaligen Ereignisse aus seinen Gedanken zu verbannen, das hatte er gemusst, sonst wäre er wahnsinnig geworden. Also, wieso ausgerechnet jetzt? Er kochte Tee. Keinen Kaffee. Kaffee war was für alte Leute, er war jung. Er mochte Tee. Am liebsten süßen Kräutertee. Der Wasserkocher zischte. Er trank die Teetasse nur zur Hälfte leer, dann mochte er nicht mehr. Zog sich schließlich fertig an und machte sich bereit, aus dem Haus zu gehen. Draußen war es kalt. Ekelhaft kalt, Jaibo hasste den Winter. Es war noch nicht ganz hell. Die Menschen, die er passierte hatten ihre Schals und Mützen so vors Gesicht gezogen, dass es kaum möglich war, ein einzelnes Gesicht in den Menschenmengen zu erkennen. Ehrlich gesagt legte Jaibo da auch nicht sonderlich viel Wert drauf. Schließlich ging er zur Schule, fuhr mit der Straßenbahn, dann noch eine kurze Strecke zu Fuß. Als er in das warme, sanierte Gebäude kam, schüttelte er sich erst einmal die Kälte vom Leib. Begrüßte Kommilitonen. Ein ganz normaler Tag eigentlich. Allerdings sollte dieser ganz normale Tag bald eine überraschende Wendung nehmen. Sie hatten gerade das Fach praktische Bühnenarbeit, eines von Jaibos Lieblingsfächern und gingen übungsweise ein paar verschiedene einzelne Szenen aus 'Anatevka' durch, als es passierte. Ein ohrenbetäubend lauter Knall war zu hören und im nächsten Moment flutete eiskaltes Wasser um ihre Füße. Aufgrund der Kälte war eine Wasserleitung geplatzt. Ihr Lehrer fluchte übel über diesen 'schlecht sanierten Drecksladen', dann schubste er sie Richtung Ausgang und ließ sie dann stehen um schleunigst einen Klempner rufen zu lassen. Jaibos Klassenkameraden sahen das als willkommene Gelegenheit für zwei Freistunden und er selbst beschloss, sich in einer nahegelegenen Buchhandlung zu verlustieren. Während er ziellos durch die Regareihen schlenderte, ließ er seine Gedanken schweifen. Seine Mutter hatte neulich versucht ihn anzurufen. Unter Tränen hatte sie ihm etwas vorgeheult, von wegen, es täte ihr alles so leid und so weiter. Ja, sicher, dachte er dabei bitter. Als ob es ihr jemals leid getan hätte, dass er jahrelang unter der Fuchtel ihres festen Freundes hatte leiden müssen. Als ob es ihr wirklich leid tat, dass der Mann ihn geschlagen und misshandelt hatte, als er noch klein war, wieder und wieder, als ob es ihr leid tat, dass dieser Mann mit daran Schuld war, dass er so geworden war. Natürlich hatte seine Mutter mit der Trinkerei auch Einiges dazu beigetragen, sollte man der Fairness halber vielleicht erwähnen. Desweiteren hatte sie ihm vorgeheult, dass sie krank war, sehr krank, wenn er es richtig verstanden hatte und seltsamerweise hatte er festgestellt, wie egal es ihm einfach war. Wieso sollte er nach jemandem sehen, der sich nie um einen gekümmert hatte? Der einen nicht einmal wirklich besucht hatte, als man ihn gnadenlos in die Jugendpsychiatrie gesteckt hatte? Hatte sie tatsächlich geglaubt, dass man seinen Geist heilen, seinen Schmerz stillen zu können? Nunja, zumindest hatte er gelernt, sich unter Kontrolle zu halten, sich und seine maßlose Impulsivität und damit lebte es sich leichter - er fand zum Beispiel keinen Spaß, keinen Kick mehr daran, kleinen Tieren den Bauch aufzuschlitzen und mit ihren dampfenden Eingeweiden zu spielen, allerdings war diese seltsame Faszination für Blut immer geblieben. Von seinem Freund ließ er sich schlagen, kratzen, beißen, blutig ficken und sein eigener verquollener, blutbeschmierter Anblick geilte ihn dann dermaßen auf, dass er sich dann meistens gleich nochmal nehmen ließ. Oder es sich selbst machte, wenn Kagerou nicht mehr konnte. Ob er seine Mutter vielleicht trotzdem mal besuchen sollte? Einfach nur aus Hohn. Sich vergewissern, dass es wirklich so mies um sie stand? Er legte den Kopf leicht schief, während er die Biografie von einem Entführungsopfer in die Hand nahm, kurz durchblätterte, ohne wirklich auf die Worte zu achten und es dann wieder ins Regal stellte. Sie lebte in einem ziemlich schäbigen Viertel der Stadt und Jaibo wurde regelrecht schlecht, wenn er daran dachte, dass er es durchqueren musste. Die Junkies, die Obdachlosen, die Verrückten, die versuchten, einen für Geld dazu zu kriegen, sich wenigstens einen runterholen zu lassen. Jaibo hatte eine Zeit lang tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, sich zu prostituieren, als er Kagerou noch nicht gekannt hatte. Zwei, dreimal hatte er mit Kerlen herumgefickt, in irgendwelchen Hinterhöfen, in denen es nach Urin gestunken hatte, oder auf Bahnhofstoiletten oder in einer sehr sehr billigen Absteige. Der eine hatte ihn nur ficken wollen und dabei von ihm verlangt, Leiche zu spielen, der nächste war absolut geil darauf gewesen, ihm den Schwanz zu lutschen und Jaibo würde lügen, wenn er abstritt, dass es ihm nicht irgendwie einen Kick gegeben hätte, in den Mund von so einem halbglatzköpfigen, bierbäuchigen Versager zu wichsen, der noch bei seiner Mutter wohnte, der dritte war relativ normal gewesen, doch dann ... hatte Jaibo ein sehr einschneidendes Erlebnis gehabt. Der Mann war schon von vornherein seltsam gewesen und als er sich schließlich ausgezogen hatte, hatte Jaibo mit Schrecken die Lepraflecken am ganzen Körper bemerkt. Ihm war so schlecht geworden, dass er gefürchtet hatte, sich zu übergeben und er hatte Hals- über Kopf die Flucht ergriffen. Ab da hatte er es lieber bleiben gelassen. Wer wusste, was für Krankheiten die Typen herumschleppten, welche man nicht sehen konnte? Es schüttelte ihn, wenn er daran dachte. Vielleicht hätte er sich früher, oder später mit HIV oder sonst etwas Abartigem angesteckt, man konnte ja nie wissen. Und das war ihm alles Geld der Welt nicht wert. Im Gegensatz zu Zera hing er irgendwo an seinem Leben und stellte keine Himmelfahrtskommandos auf, nur um mal zu sehen, was passierte. Ein kleiner Stich fuhr durch seine Brust und etwas niedergeschlagen ließ er den Manga sinken, den er eben zur Hand genommen hatte, um ein bisschen darin zu blättern. Zera war immer noch ein empfindliches Thema. Als seine Mutter es damals einmal gewagt hatte seinen Namen auszusprechen, hatte er ihr eine reingehauen. Wenig später zündete er sich draußen eine Zigarette an. Er hasste die Kälte, aber er brauchte jetzt eine Zigarette. Den Dampf auspustend, welcher durch den warmen Atem kondensierte, wandte er seinen Blick zum Himmel. Langsam sollte er sich vielleicht wieder auf den Weg zurück zu seiner Schule machen. Er hatte jetzt Gesangsunterricht. Seine Stimme hatte sich nicht sehr vertieft, sie klang zwar erwachsener, aber die Vorstellung, dass es damals ein halber Weltuntergang für ihn gewesen war, festzustellen, dass er sich veränderte, erwachsen wurde, ließ ihn heute nur noch schwach schmunzeln. Sie alle hatten in einer seltsamen von Zera erschaffenen Welt gelebt, weil sie alle sonst nichts anderes gehabt hatten. Irgendwie. Er hatte immer noch eine relativ androgyne Stimme, schaffte es mühelos einen Sopran zu halten, worauf er innerlich stolz war. Zwar war Gesang nicht gerade sein Lieblingsfach, aber es gehörte eben genauso dazu, wie praktische Bühnenarbeit, Ausdruckstraining, das Erlernen eines Instrumentes und vieles mehr. Es war eigentlich mehr ein Zufall gewesen, dass Jaibo ausgerechnet auf die Idee gekommen war, Schauspielerei lernen zu wollen. Eine Zeit lang hatte er sich vom negativen Strom der Welt mitreißen und sich treiben lassen, keine Perspektiven gehabt, nichts, was er besonders gut konnte und den fixen Gedanken, dass das einzige, was er sich von seiner illusionistisch glücklichen Kindheit hatte bewahren können, das einzige, das ihn von der Erwachsenenwelt noch trennte dieser Strudel aus Arbeit, Konsum, Rechnungen und Depressionen, der noch nicht von ihm ergriffen hatte, war. Er hätte die Schule unmöglich bezahlen können, seine Mutter hätte ihm erstrecht kein Geld dafür gegeben. Doch dann hatte er Kagerou kennengelernt. Als sie zwei Monate zusammen waren, der erste Streit und Kagerou hatte ihm irgendetwas entgegengebrüllt von wegen 'Jaibo, wenn ich nicht genau wüsste, was für ein guter Schauspieler du wärst, würde ich dir das sogar glauben!' Jaibo wusste heute nichtmal mehr genau, um was es dabei eigentlich gegangen war, wahrscheinlich irgendetwas Triviales, wie die letzte Dose Bier oder so etwas, aber was wirklich von Bedeutung war, war der fixe Gedanke, der an diesem Abend plötzlich in Jaibo zu keimen begann. Noch am selben Abend hatte er im Internet nach Schauspielschulen in der Stadt und in den umliegenden Regionen gesucht und sich über die Aufnahmekriterien schlau gemacht. Da er - dank der Auflage der Schulbehörde und dem dringenden Rat seines Psychologen damals - die Schule beendet hatte, hatte er sogar den passenden Abschluss. Sein Zeugnis war zwar nicht das beste Zeugnis das die Welt je gesehen hatte, aber offenbar hatte es ausgereicht - das und sein Vorsprechen; Er hatte zwar kaum Vorkenntnisse gehabt, musste aber dennoch so überzeugend gewesen sein, dass man ihm nach acht Wochen die Aufnahmebestätigung geschickt hatte. In der Zeit hatte er Kagerou auch soweit gehabt, ihm die Gebühren dafür zu bezahlen und er hatte das erste mal in seinem Leben tatsächlich so etwas, wie eine normale Zukunft - ohne Blut, Gedärme und immer wiederkehrende Alpträume. Ehe er am späten Nachmittag nachhause ging, beschloss er nun doch, seine Mutter zu besuchen, einfach aus einer Laune heraus. Soweit er verstanden hatte, war sie momentan in der städtischen Klinik - eine Klinik, die relativ nahe der Stadtmitte lag und er musste nichtmal einen sonderlichen Umweg nehmen, da er im Stadtzentrum ohnehin immer umsteigen musste. Mit etwas gemischten Gefühlen meldete er sich am Empfang und ließ sich die Zimmernummer seiner Mutter sagen. Plötzlich bereute er seinen Beschluss und wäre am liebsten umgekehrt, aber wenn er schonmal hier war, dann konnte er das genauso gut auch durchziehen. Als er vor der richtigen Zimmertür stand, straffte er die Schultern und atmete einmal tief durch. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, er mochte es nicht, dass sie ihm womöglich ansah, wie unwohl und unsicher er sich fühlte. Schließlich klopfte er und als ein kratziges "Herein" ertönte, öffnete er die Tür und trat ein. Das Zimmer war nicht sonderlich groß; Es war ein Zweierzimmer, das andere Bett von einer alten Dame besetzt, die gerade schlief. Kimiko, seine Mutter, saß halb aufrecht an das hochgeklappte Bett gelehnt und hatte offenbar bis zum Zeitpunkt seines Eintretens eine Frauenzeitschrift gelesen. Nun sah sie ihn sehr überrascht an. "Jaibo ...", flüsterte sie ungläubig und er presste die Lippen zusammen, setzte sich wie mechanisch in Bewegung um sich schließlich auf einem Hocker neben sie zu setzen. Irgendwie kämpften gerade Hass und Bedauern um die Oberhand in seinem Inneren. "Nun, ich bin jetzt hier, wie du siehst", murmelte er unwillig, weil er irgendetwas sagen musste. Zu seiner Überraschung lächelte sie, strecke die Hand aus und Jaibo war viel zu überrascht, um vor der Berührung, als ihre Hand seine Wange erreichte um kurz und hauchfein darüber zu streichen, zurückzuzucken, wie er es eigentlich erwartet hatte. Ihr Hand fühlte sich eiskalt an. "Ich weiß, dass ich das nicht verdient habe", sagte sie und es wirkte, als täte ihr das Sprechen weh. "Das hast du wirklich nicht", sagte Jaibo steif, mehr aus Trotz entgegen dem Gefühl, dass er den Zorn gerade vergeblich in sich suchte. "Dein Bruder ... wollte gar nicht kommen ... und ich habe auch nicht von dir erwartet, dass du es tust, Jai-chan." Ein Kloß bildete sich plötzlich in seinem Hals. So hatte sie ihn als kleines Kind immer genannt, als die Welt noch halbwegs in Ordnung gewesen war. "Hier drin riecht es schrecklich, ich mach mal ein Fenster auf", sagte er schnell, stand auf und trat ans Fenster, damit sie seine Augen nicht sah. Einen Moment starrte er aus dem Fenster, seine Gedanken wanderten zu seinem großen Bruder. Takeo war fast zehn Jahre älter als er und hatte die Familie verlassen, sobald er die Volljährigkeit erreicht hatte. Für den elfjährigen Jaibo war damals eine Welt zusammengebrochen, da Takeo so gesehen der einzige Trost war, die einzige Wärme, die er je in seinem Leben erfahren hatte. Aber Takeo hatte es nicht mehr ausgehalten und heute konnte Jaibo ihm sogar zu einem wesentlichen Teil verzeihen. Hätte er die Möglichkeit gehabt, aus dieser Hölle zu entkommen hätte er es wohl genauso gemacht. Nun lebte Takeo in den USA, wo er, das war zumindest Jaibos letzter Wissensstand, gerade als Orchesterdirigent promovierte. Ein, zweimal im Jahr telefonierten sie. Das war es aber auch schon. Die Familiengeschichte war dabei niemals zur Sprache gekommen, war von ihnen beiden sorgsam gemieden worden. Allerdings sehnte sich irgendwie gerade jetzt in dem jungen Mann alles nach der Souveränität seines Bruders. Der hatte immer gewusst, was zu tun war. Hatte alle Situationen meistern können. Wenn Jaibo in der Vergangenheit mit einer Situation nicht richtig hatte umgehen können, und diesen Charakterzug hatte er bis heute nicht vollständig ablegen können, dann war er emotional so überfordert gewesen, dass sich das in heftigen Gewalt- und Wutausbrüchen geäußert hatte - oder in hysterischen Heulkrämpfen, die so heftig waren, dass er meist irgendwann keine Luft mehr bekam und einmal war es sogar so schlimm gewesen, dass der Notarzt hatte kommen müssen. Diese Situationen waren in der ersten Zeit, als er von Zera getrennt gewesen war, am häufigsten aufgetreten. Nur sehr langsam hatte man eine Besserung feststellen können. Er blinzelte ein paar mal, ehe er sich umdrehte und langsam zum Krankenbett seiner Mutter zurückging, sich wieder auf dem Hocker niederließ. "Was fehlt dir eigentlich?", fragte er dann, nur um etwas zu sagen, denn ihm fiel ein, dass er das gar nicht wusste. "Sie haben beim Röntgen Flecken auf meiner Lunge entdeckt", sagte sie gedämpft. "Ich hatte doch immer solche Schmerzen. Wahrscheinlich ist es Lungenkrebs." "Kommt davon, wenn man raucht wie ein Schlot", meinte Jaibo düster und verdrängte dabei erfolgreich, dass er selbst Raucher war. Kimiko lächelte matt. "Für jede schlechte Tat wird man irgendwann in seinem Leben bestraft, nicht wahr?" Jaibo zuckte mit den Schultern. "Kann sein. Hab ich nie drüber nachgedacht." Und dann wurde ihr Blick schmerzhaft. "Jaibo, ich ... kannst du ... das nicht als meine Strafe ansehen und mir vergeben? Ich war eine furchtbare Mutter in den letzten Jahren, aber ... ich hab dich und deinen Bruder immer geliebt. Ich habe ... nur verlernt, wie man so etwas zeigt. Ich war so jung, als ich mit deinem Bruder schwanger wurde, gerademal 16..." "Das fällt dir jetzt ein", murmelte er und wieder schnürte es ihm die Brust zu. Er wollte jetzt nicht über so etwas reden. Er wollte, dass sie ihn um Verzeihung bat und er wusste, wusste, wusste, dass man einem Menschen, der nur noch etwa ein Jahr zu leben hatte, verzeihen sollte, aber er konnte nicht. Jetzt noch nicht. Nicht so einfach. Einfach so. "Ich weiß", sagte sie hilflos. "Vielleicht verzeihe ich dir", sagte er betont gleichgültig. "Ich will es. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn ich noch nicht weiß, ob du nur frei von Schuld sein willst, wenn du verr-, wenn du stirbst, oder ob es dir wirklich Leid tut." Sie nickte. Sie verstand es. Ihr Blick flackerte über die Erscheinung ihres Sohnes. Er war schon immer so blass gewesen, das Haar trug er genau wie früher etwas länger, sodass ihm die Fransen ins Gesicht hingen. Und dünn war er, war er schon immer gewesen, nur dass es aufgrund seiner Körpergröße von gerademal 1,65m nicht so sehr auffiel. Nur seine Augen hatten sich verändert. Als Kind waren sie so lebhaft gewesen und manchmal hatte man etwas übermütig Verrücktes darin aufblitzen sehen. Aber jetzt waren sie hart und kalt und traurig und abgekämpft. "Ich muss jetzt gehen", sagte er schließlich und erhob sich. Sie nickte. "Kommst ... du mich mal wieder besuchen? Ich muss noch einige Zeit bleiben, ehe sie eine endgültige Diagnose treffen und die Behandlungsmöglichkeiten festlegen können. Jaibo nickte mechanisch. "Ich werd sehen, dass es sich einrichten lässt." Dann ging er. Beinahe atmete er erleichtert auf, als er schließlich vom Inneren des Krankenhauses an die frische Luft trat. Es war bereits dunkel draußen und er wollte einfach nur noch nachhause. in der Straßenbahn lehnte er seine Stirn seitlich gegen das Fenster, betrachtete soweit es mit verdrehten Augen möglich war, sein Profil in der Scheibe. Besonders toll sah er heute nicht wirklich aus, der Tag hatte seine Spuren hinterlassen. Das einzige was er wollte, war ein harter, schneller Fick, um den Stress und die negativen Gefühle abzubauen und eine heiße Dusche, um die Januarkälte zu vertreiben, die ihm in jeden Knochen gekrochen war und dann einfach nur noch schlafen. Schlaf war immer gut. Schlaf. Auf Morpheus Schwingen. Wie eine Flucht aus der Wirklichkeit. Nur harmloser als das, was der Litchi Hikari Club damals getan hatte. Im Schlaf und im Traum konnte man alles sein, alles tun, nachdem es einen verlangte, man konnte frei sein, von allem Irdischen und man brauchte sich vor niemandem für irgendetwas verantworten. Man tat niemandem weh und man konnte im Traum auch nicht sterben. Manchmal träumte er von Zera. Und manchmal träumte er davon, wie es wäre in einem anderen Leben geboren worden zu sein. Manchmal auch völligen Unsinn, aber jedesmal hatte es etwas Tröstliches. Und vielleicht, wenn er den Tag heute anders verbracht hätte, wäre ihm sogar aufgefallen, dass er an jenem Café vorbeigelaufen war, in welchem Zera gesessen, und sich eingebildet hatte, ihn zu sehen. Vielleicht hätten sie sich dann schon früher wieder gefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)