Dosis facit venenum. von Arcturus (Die Dosis macht das Gift.) ================================================================================ Kapitel 1: Die Dosis macht das Gift. ------------------------------------ Vielleicht war sie der einzige wache Halbgott im gesamten Camp. Dumpfe Musik aus Richtung Rom und das gelegentliche Gröhlen derer, die Bacchus zu sehr zugesprochen hatten, ließen an dieser Vermutung zwar gewisse Zweifel aufkeimen, doch genügten diese nicht, um die leichte Übelkeit zu neutralisieren, die sie begleitete. Tatsächlich war das Camp, in Anbetracht der jüngsten Geschehnisse und des sich daran anschließenden, beinahe schon ausufernden Fests der Fortuna so erstaunlich ruhig, dass es sie an die gespenstische Stille der Asphodelfelder erinnerte. Ruhig genug, um in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu fallen, sollte man meinen. Und sie brauchte Schlaf. Der Tag war lang gewesen, die ganze letzte Woche war lang gewesen, doch jetzt, wo sie endlich, zumindest für ein paar Stunden, Zeit für sich selbst hatte, hielt die innere Unruhe sie wach. Unter diesem Aspekt war sie vermutlich tatsächlich das einzige wache Halbblut im Camp – zumindest unter denen, die eigentlich nicht wach sein wollten. Weder Percy noch Frank teilten dieses Problem. Ersterer hatte schon wie ein Stein geschlafen, als sie die Kaserne der fünften Kohorte aufgesucht hatten, und als Hazel eine Stunde später die Flucht in die Nacht gesucht hatte, hatte Franks gleichmäßiges Schnarchen sich längst unter das der anderen gemischt. Seitdem hatte sie vermutlich alles versucht, um endlich Ruhe zu finden – vergebens. Zu viele Dinge spukten durch ihren Geist und verlangten nach ihrer Aufmerksamkeit, ohne sich damit zufrieden zu geben, wenn sie sich ihnen zuwandte. Wenn sie es tat, wurde nur das Drängen der anderen Sorgen lauter, und sobald sie sich abwandte, um einen anderen Gedanken zu greifen, zu packen und durchzuschütteln – ja, sie war bereit, so weit zu gehen, sie wusste nur noch nicht, wie – stimmte sie in den Chorus mit ein. Und dieser Chorus war penetrant – er überstieg darin sogar den Yellow Submarine-Ohrwurm, den sie einem Apollo-Sohn zu verdankte und der sie eine ganze, geschlagene Woche geplagt hatte. Spontane Rückfälle inklusive. Sie konnte nur froh sein, dass sie auf der Quest nicht einmal daran gedacht hatte. Jedenfalls hasste sie das Lied noch immer, dafür konnten die Beatles nicht einmal was dafür. Man suchte sich seine Halbgeschwister schließlich nicht aus. Frustriert starrte sie in den Himmel, so als wenn Iris‘ Regenbogen, der nach wie vor am Himmel schimmerte und zuweilen glutenfreie Cupcake-Nachbildungen hernieder regnen ließ, ihr helfen konnte, Ruhe in das Chaos zu bringen. Zu ihren Füßen sprossen derweil eine ganze Reihe kleinerer Diamanten aus dem Boden, doch jetzt, wo sie allein war, scherte sie sich nicht darum sie aufzuheben – sie würden schon wieder verschwinden, wenn sie weiter ging. Erst als, nach einer kurzen, trügerischen Pause, ein Goldklumpen von der Größe ihrer Faust durch die Erde brach, seufzte sie und beugte sich hinab, um ihn in eine ihrer Taschen zu stecken und ihn bei nächster Gelegenheit zu verfüttern. Immerhin schien zumindest Arion sich nicht an dem Fluch, der auf den Bodenschätzen lag, zu stören – vielleicht war sein Magen fluchresistent oder er fand die Goldklumpen einfach zu schmackhaft, um sich von ihnen verfluchen zu lassen. Ein leises Krächzen ertönte hinter ihr. Hazel registrierte es erst, als sie ihr Spatha längst gezogen und auf den nächsten Baum gerichtet hatte. In der Dunkelheit, die nur durch den Mond und Iris‘ sonderbaren Regenbogen erleuchtet wurde, konnte sie niemanden sehen, doch das musste nichts heißen. Die meisten Monster waren nach Polybotes Niederlage geflohen und den übrigen hatte die Legion den Garaus gemacht. Nichtsdestotrotz hieß das nicht, dass sie nicht möglicherweise ein Monster übersehen hatten. Es krächzte erneut. Während sie ihr Schwert hob, kam Hazel zu dem Schluss, dass es ein sehr unglückliches Krächzen war. Aber erst, als eine einzelne Feder, deren Farbe sie in der Dunkelheit und auf die Entfernung nicht ausmachen konnte, aus dem Blattwerk rieselte, formte sich in ihr ein Verdacht. „Ella? Bist das du, Ella?“ Ein Krächzen antwortete ihr und dann ertönte eine ihr sehr wohl bekannte Stimme. „Ja, das ist Ella. Ella Mae Morse, 1924 bis 1999, amerikanische Sängerin und Tochter von Apollo. Apollo, Gott des Lichts, der Heilung, der Plagen, des Frühlings, der Bogenschützen, der Reinheit und Mäßigung, der Weissagung, der Dichtkunst, des Gesangs und der Musik und ein“ Hazel sollte nicht erfahren, was Apollo noch war, denn just in diesem Moment fiel die Harpie mit einem wirklich unglücklichen Krächzen aus ihrem Baum. Sie reagierte sofort, doch die Entfernung war zu groß, um Ella zu fangen. Ihr blieb nichts übrig, als Ella dabei zuzusehen, wie diese, nur ein paar Fuß von ihr entfernt, mit einem dumpfen Klatschen auf dem Boden aufschlug. Besorgt überwand sie die letzte Distanz und kniete sich neben der Harpie nieder. „Ella! Geht es dir gut?“ Einen furchtbaren Moment lang rührte sich die Harpie keinen Zoll. Dann zuckte das Federkleid ihres rechten Flügels und sie presste ihre rechte, klauenbewehrte Hand auf ihren Unterkörper. Sie öffnete die Raubvogelaugen einen Spalt weit und suchte mit riesigen Pupillen nach Hazels Gesicht. „Gut – Plural: Güter. Bezeichnung für Ländereien, Synonym für Gutshof.“ Zugegeben ihre Frage war dämlich gewesen. Vermutlich verdiente sie eine ebenso dämliche Antwort. Dennoch kam sie nicht umhin, aufzuatmen – wenn Ella noch zitieren konnte, konnte es so schlimm nicht sein, auch wenn ihr die anderen Zeichen Sorge bereiteten. „Ella ich meinte das Adjektiv“, sagte sie dennoch und beugte sich näher zu ihr, um etwaige Verletzungen auszumachen. „Das Adjektiv, auch Eigenschaftswort oder Wiewort, ist eine Wortart, die eine Eigenschaft oder eine Beziehung eines Dinges, einer Sache, eines Zustandes oder eines Vorgangs beschreibt.“ Für einen Moment wusste sie nicht, ob sie der unpassenden Antwort wegen lachen sollte oder besser nicht. Schließlich entschied sie sich dafür, einfach nur milde zu lächeln. „Richtig, Ella. ‚Gut‘ ist ein Adjektiv. Und ich möchte wissen, ob es dir gut geht, Ella. Hast du irgendwo Schmerzen?“ Für diesen Moment kam sie sich nicht dämlich vor. Ella erinnerte sie zu sehr an Wesen, die sie kannte – zu denen sie Arion nur halb dazuzählte, weil sie davon ausging, dass er eine deutlich bessere Grammatik hatte, auch wenn sie Percy das ganz sicher nicht fragen würde – als dass sie auf den Gedanken kommen würde, dieses Gespräch dämlich zu finden. Dennoch war sie froh, dass weder Frank noch Percy oder einer der anderen Legionäre sie gerade sah oder hörte. „Schmerz, eine komplexe subjektive Sinneswahrnehmung, die als akutes Geschehen den Charakter eines Warnsignals haben. Ella hat Schmerzen.“ „Kannst du mir sagen, was dir weh tut?“, fragte sie und beugte sich vorsichtig noch näher. Sie wollte Ella auf keinen Fall verschrecken. Denn egal, ob die Harpie sich noch noch zurück auf den Baum flüchten konnte oder ihr das zu starke Schmerzen bereiten würde, beides würde das Unterfangen nur unnötig erschweren. Ella zuckte daraufhin zwar tatsächlich verunsichert zusammen, aber sie blieb ruhig. Sie ließ sogar zu, dass Hazel ihre Hand anhob, und der Blick, mit dem sie sie beäugte, war wacher und weniger wirr, als kurz zuvor. Auch das wertete Hazel als ein gutes Zeichen. „Ella schmerzt der Bauch“, verkündete sie schließlich, als Hazel ihre Hand sinken ließ. Diese verkrampfte sich schlagartig erneut über den Muskeln. „Der Bauch (Abdomen) ist der Bereich zwischen Brustkorb und Becken. Ein Becken ist ein Schlaginstrument aus Bronzelegierung bestehende Scheiben.“ Die Aussage selbst verwunderte Hazel nach Ellas Geste, mit der sie auf ihren Bauch drückte, nicht. Was sie irritierte, war das Fehlen von sichtbaren Wunden. Natürlich konnte sie innere Verletzungen nicht ausschließen, aber Ella hatte schon auf ihrem Baum so geklungen, als sei etwas nicht in Ordnung. Dieser Gedanke weckte in ihr die Vermutung, dass nicht der Sturz der Auslöser ihrer Probleme war. Doch Ella sah auch nicht so aus, als sei sie bereits davor in einen Kampf verwickelt worden – und außerdem war sie eine schnelle und wendige Harpie. Nein, sie verwarf die Idee mit dem Angriff und zwang sich dazu, weiter zurückzudenken. Wann hatte sie Ella das letzte Mal gesehen? Beim Essen, natürlich. Sie hatte zusammen mit Percys Cyklop-Halbbruder – und ja, der Gedanke daran, das Percy einen Cyklopen als Halbbruder hatte, war abschreckend – Tyson an Dakotas Tisch gesessen und – ein Verdacht regte sich in ihr. Vorsichtig blickte sie zu der Harpie. „Sag mal, Ella, hast du nicht vorhin Zimtschnecken gegessen?“ „Zimtschnecken sind gut für Harpien“, bestätigte sie, presste dann aber ihre Hand erneut auf ihren Bauch und verzichtete darauf, Hazel einen Vortrag über Zimtschnecken – oder was auch immer ihr in den Sinn kam – zu halten. Hazel indes fühlte sich bestätigt. „Ella? Wie viele Zimtschnecken hast du gegessen?“ „Zimtschnecke. Süßes Gebäck aus zusammengerollten Teigstreifen mit Zucker und Zimt. Zimt ist gut für Harpien. Zimtschnecken sind gut für Ella.“ Ein Lachen unterdrückend schüttelte Hazel den Kopf. Ja, sie konnte sich ausmalen, wie gut Zimtschnecken für Ella waren – besonders, wenn sie nicht nur ein oder zwei davon aß. „Ella“, antwortete sie und schaffte es nicht ganz, das Grinsen, das die Besorgnis aus ihrem Gesicht vertrieben hatte, aus ihrer Stimme zu vertreiben. „Ein oder zwei Zimtschnecken sind gut für Ella. Zu viele Zimtschnecken machen Ella Bauchschmerzen.“ Die Harpie verzog unglücklich das Gesicht. „Zimtschnecken sind gut für Ella.“ „Ich weiß, dass du Zimt magst Ella. Aber es ist die Menge, die du davon isst, die ausmacht, ob etwas gut für dich ist, oder nicht. Es ist genauso wie mit Sorgen. Ein paar Sorgen treiben dich dazu an, ihnen zu begegnen und über dich hinaus zu wachsen und deinen Freunden zu helfen. Wenn du aber zu viele Sorgen hast, dann halten sie dich die ganze Nacht wach.“ Zugegeben – den Vergleich fand sie nun doch daneben, auch weil sie da gerade Diamanten mit Goldbarren, von denen sich zwischenzeitlich eine ganze Reihe angesammelt hatten, verglich, aber es war zu spät, um ihn noch zurückzunehmen. In der Hoffnung, Ella würde sich nicht gerade daran aufhängen, fügte sie schnell hinzu: „Es gibt da ein Sprichwort, Ella. Die Dosis macht das Gift.“ Ella beäugte sie für einen Moment mit ihren großen, grünen Augen, dann nickte sie. „Dosis facit venenum. Gift, ein Stoff, der Lebewesen über ihre Stoffwechselvorgänge oder durch Berührung oder durch Eindringen in den Körper einen Schaden zufügen kann. Eine subjektiv erwartete Not wird gedanklich vorweggenommen und wirkt sich im Fühlen, Denken und Handeln des Besorgten aus. Hat Hazel Sorgen?“ Na wunderbar. Unwillig nickte sie. Noch während sie es tat, wurde der Chorus, der nicht Yellow-Submarine sang, in ihrem Hinterkopf wieder lauter und erinnerte sie an all die Dinge, die ihr Kopfschmerzen bereiteten. Thanatos hatte sie verschont, vielleicht drückte auch ihr Vater seine Augen für sie zu. Nico wurde vermutlich von Gaia gefangen gehalten und selbst wenn es vielleicht nicht an ihr war, ihn zu befreien, so hatte sie das dumme Gefühl, dass ihr Vater genau das erwartete. Und dann war da noch diese düstere Prophezeiung, in die sie hineingeraten war, und die ihr versprach, dass die kommende Zeit sehr, sehr unangenehm werden würde. Und dann war da noch Frank... Missmutig schüttelte sie den Kopf um die Sorgen abzuschütteln. „Ja, Ella.“ Statt zu antworten, setzte sich die Harpie, die Hand nach wie vor auf ihrem Bauch, vorsichtig auf und suchte Blickkontakt. „Hazel macht sich zu viele Sorgen. Dosis facit venenum. Zu viele Sorgen sind nicht gut für Hazel.“ „Nein, das sind sie nicht. Genausowenig, wie zu viele Zimtschnecken für Ella.“ „Aber Hazel hat Freunde. Freunde sind kein Gift. Freunde sind gut für Hazel.“ Hazel nickte knapp, nicht überzeugt. Vielleicht konnte sie mit den anderen Nico retten, ja. Aber die Sache mit Thanatos? Da musste sie allein durch. Und sie würde einen Teufel tun, Percy oder Gwen in die Frank-Problematik mit einzubeziehen. Dieses Mal war es Ella, die sich ihr vorsichtig näherte und sie mit großen Augen musterte. „Zu viele Zimtschnecken sind nicht gut für Ella. Ella hat Hazel. Ella geht es gut.“ Beinahe schon erwartete sie den Umkehrschluss auch noch aus dem Mund der Harpie zu hören, doch Ella schien ihr zuzutrauen, den allein zu durchdenken. Vielleicht verlor sie aber auch nur mitten drin den Faden, so wie sie es so oft tat. Doch wenn sie es recht betrachtete, glaubte sie, nach dem, was Ella dann sagte, nicht so recht daran. „Aegroto, dum anima est, spes est.“ Für den Kranken besteht Hoffnung, solange er atmet. Ja, sie verstand. Und dazu brauchte sie Ellas typischen Einwurf „Hazel hat Freunde“ nicht... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)