The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 23: Alter Wächter ------------------------- „Die Wächter“, wiederholte Lyra und ihre Augenbrauen zogen sich voller Skepsis in die Höhe. Wenn es einen Gedanken gab, der sich ihr immer weiter aufdrängte, dann der, dass Nero Blackwood im Laufe seiner Lebensjahre als Einsiedler vollkommen verrückt geworden war. „Das klingt irrsinnig.“ Sie schüttelte ihren rosaroten Haarschopf und drehte sich zu Leo und Grace um, um ihnen mit den Augen zu signalisieren, dass sie gehen wollte, doch Nero hielt sie am Handgelenk zurück. „Mädchen, du hast keine Ahnung, was dir bevorsteht.“ „Was daran liegen könnte, dass Sie nicht vernünftig mit uns reden wollen!“, warf sie ihm aufgewühlt an den Kopf, riss sich los und ging einige Schritte über den Rasen, nur um am Ende doch wieder stehen zu bleiben. „Alles, was ich will, ist, Cassie zu finden. Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit oder nicht?“ „Welchen Grund hätte ich zu lügen?“ Lyra schnaubte, raufte sich die Haare und verspürte den Drang Nero eine runter zu hauen. „Wissen Sie, Nero, ich bin ein friedliebender Mensch, aber manchmal schlägt meine passiv-aggressive Art aus und im Moment sprengt diese Aggression den Rahmen, mit dem ich umgehen kann.“ „Wenn Sie uns nicht helfen wollen, hören Sie auf uns aufzuhalten“, pflichtete nun auch Leo ihr bei und stellte sich an Lyras Seite, während Grace mit verschränkten Armen schräg neben ihnen stand und Nero finster anstarrte, ohne etwas zu sagen. Nero blickte hin und her, dann schmunzelte er einen Moment, schaute zum Himmel, zurück zu Lyra und nickte schließlich. „Ich würde dir wirklich gerne helfen, Mädchen, aber ich kann nicht.“ „Wieso nicht?“, knurrte sie. „Weil du noch nicht bereit für die Wahrheit bist. Du bist überhaupt für gar nichts bereit und ich bin nicht dein Ausbilder oder Freund oder was auch immer.“ „Was auch immer“, äffte Lyra ihn nach, sprach allerdings so leise, dass nur Leo sie hören konnte und ihr beruhigend den Arm tätschelte, ohne Nero oder sein Magnayen, das im Hintergrund im Haus stand, aus den Augen zu lassen. „Ich vertraue den Ältesten und Aira und Aero haben uns zu Ihnen geschickt, Nero, also los, helfen Sie uns endlich!“ „Oh ja, die beiden machen sich nie selbst die Hände schmutzig, als ob ich das nicht schon wüsste.“ Nero murmelte eine Reihe von Beleidigungen vor sich hin, kehrte ihnen den Rücken und ging zurück zu seiner Haustür. „Wie ich bereits mehrfach betont habe, kann, will und werde ich dir nicht helfen. Da musst du alleine durch.“ Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Aber“, fügte er schlussendlich gedehnt hinzu, „ich kann dir sagen, zu welchem Ort du gehen musst, um deinen Antworten ein Stück näher zu kommen.“ „Was soll das werden, Schnitzellaufen?“, polterte Leo ein wenig ungehalten. Lyra funkelte Leo an, schob ihn ein Stück von sich weg und stapfte auf Nero zu. „Ich würde alles tun, um Cassie zu finden. Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.“ Sie hielt seinem durchdringenden Blick stand und je länger sie sich in die Augen schauten, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass sich ein Ausdruck von Verbitterung und Trauer auf sein Gesicht legte. „Nero? Bitte.“ Der alte Mann seufzte. „Also gut, aber nur, weil du mich so sehr an mich selbst erinnerst. Als ich in deinem Alter war, war ich genauso ein nerviger Quälgeist. Lyra, du hast keine Ahnung, was wirklich los ist. Alles, was mit deiner Freundin und dir passiert ist, hat einen Grund, der weit über deinem jetzigen Verständnis liegt, doch glaube mir, eines Tages wirst du es verstehen. Bald, fürchte ich. Oh du bist noch so jung, so etwas sollte keinem jungen Menschen passieren.“ Irritiert und verunsichert suchte sie Leos und Grace‘ Blick, doch die beiden zuckten nur leicht mit den Schultern. „Wächter haben ein grausames Schicksal, es ist niemals fair.“ „Sie reden schon wieder von diesem Wächterkram, ich verstehe es aber nicht, Nero.“ Er überging Lyras Kommentar, seufzte und sein Blick verlor sich in den Bäumen um sie herum, als würde er in alten Erinnerungen hängen. Nach einem langen Moment blinzelte er, schnaubte und fixierte das junge Mädchen vor sich. „Wie ich bereits sagte, ist die Steinplatte der Schlüssel zu der Wandmalerei in der Turmruine des Bronzeturms. Es gibt noch mehr Orte, an denen man diesen Mechanismus mit so einer Platte aktivieren kann. Deine kleine Freundin wurde an einen anderen dieser Orte teleportiert, aber wo sie gelandet ist, weiß ich nicht.“ Lyra atmete tief durch. „Wissen Sie, wo sich die anderen Orte befinden?“ „Natürlich weiß ich das, ich bin ein Wächter, gottverdammtes Kind!“ Die Geduld, die er bis gerade eben kurzzeitig an den Tag gelegt hatte, war dahin. Er fuchtelte mit den Armen herum und rollte mit den Augen, ehe er sich über das Gesicht fuhr und wieder beruhigte. „Es sind Tempel, Schreine, heilige Stätten, solche Orte eben. Orte, an denen die Energie der Legendären besonders stark ist. Der Bronzeturm ist der Ort, an dem Entei, Suicune und Raikou von Ho-Oh geschaffen wurden, die Energie aller vier legendärer Pokémon befindet sich dort, das ist ein mächtiges Energiezentrum. Vermutlich hat aus diesem Grund der Mechanismus funktioniert, obwohl der Bronzeturm schon längst zerstört ist.“ So verrückt das, was Nero ihnen erzählte, auch klang, spürte Lyra tief in ihrem Herzen, dass er die Wahrheit sagte, dass sie ihm jedes einzelne Wort glaubte. „Wenn ich zurück zum Bronzeturm gehe, kann ich die Platte ein zweites Mal benutzen und Cassie folgen, wohin auch immer dieser Lichtstrudel sie gebracht hat?“ „Theoretisch ja.“ Nero grunzte und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sodass er ganz finster guckte. „Aber das wird nicht einfach sein. Es muss alles genau so sein wie beim letzten Mal, um zu gewährleisten, dass es funktioniert. Ich nehme an, bei ihrem Verschwinden war es Vollmond?“ Als Lyra nickte, fuhr er fort. „Das habe ich mir gedacht. Der Vollmond und der Neumond sind mächtig, sie beeinflussen die Natur, so wie auch die Kraft der Legendären Einfluss auf die Natur hat. Sonne, Mond, unsere Welt, die Legendären, alles befindet sich in einem Kreislauf, alles hat Einfluss aufeinander. Es muss Vollmond in Teak City sein, wenn du eine Chance haben willst, deiner kleinen Freundin zu folgen. Ihr alle“, seine Handbewegung bezog Grace und Leo mit ein, „könnt das nur zusammen schaffen. Es ist kein Zufall, dass ihr euch gerade jetzt begegnet seid. Es ist Schicksal. Merkt euch meine Worte gut. Und nun geht, ich habe genug gesagt, den Rest müsst ihr alleine herausfinden.“ „Ist das alles?“ Dieses Mal war es Grace, die sprach. „Ein Haufen kryptischer Aussagen und die Anweisung, im Mondlicht seltsame Dinge zu tun? Das ist verrückt, wie soll so etwas möglich sein? Sie sind uns keine Hilfe.“ „Grace, vielleicht stimmt es doch, was er sagt. Bitte, lass es uns versuchen, auch wenn es verrückt klingt. Es ist die einzige richtige Spur, die wir bisher haben.“ „Für mich klingt es eher so, als würde er uns als billige Versuchskaninchen missbrauchen.“ Grace warf ihre Haare über die Schultern nach hinten und starrte verächtlich in Neros Richtung. „Du willst dich doch nicht wirklich auf seine Worte einlassen, Lyra?“ „Doch, genau das will ich. Ich habe keine andere Wahl, Cassies Leben könnte davon abhängen. Grace, bitte, ohne Leo und dich kann ich es nicht schaffen.“ „Lyra hat recht, wir müssen zusammen bleiben. Irgendwie erscheint es mir… richtig so.“ Grace zögerte, doch schließlich nickte sie. „Also gut, wir stehen das gemeinsam durch.“ Lyra wollte sich bei Nero für seine Hilfe bedanken, doch der Einsiedler hatte sich bereits während ihrer kleinen Diskussion mit Grace und Leo in sein Haus zurückgezogen und die Tür geschlossen. Wieder einmal ließ er sie mit unbeantworteten Fragen zurück, doch auch, wenn er ihnen nur Bröckchen vorsetzte, spürte sie, dass es womöglich der richtige Weg sein könnte. „Lasst uns gehen, wir sollten hier keine Zeit mehr verlieren. Bis zum nächsten Vollmond ist es keine Woche mehr und wir müssen bis dahin irgendwie zurück nach Teak City kommen.“ „Ich finde diese ganze Geschichte nach wie vor total verrückt. Also bitte, als würde dieser Wächterkram stimmen.“ Kopfschüttelnd ging Grace vor, durch den Wald zurück zu dem Dorf. „Mir stellen sich da konkret vor allem folgende Fragen: Wer sind die Wächter? Woher haben sie die Steinplatten? Wieso können sie die Energie der Legendären für solche Teleportationen nutzen? Wieso weiß davon sonst keiner? Mal angenommen, dieses Netzwerk aus besonderen Orten gäbe es wirklich, sollte es dann nicht auch möglich sein von jedem einzelnen Ort auf jeden anderen Ort zuzugreifen? So zu sagen als Knotenpunkt, jeder Ort ist irgendwie mit den anderen Orten verbunden, weil sie einen gemeinsamen Nenner haben müssen.“ „Oh, Grace, das ist…“, begann Leo, doch Lyra unterbrach ihn mit leuchtenden Augen. „Grace, das ist genial! Das ist die Lösung!“ „Wie meinst du das?“ „Nero hat doch gesagt, dass die Steinplatte die Energie von Legendären an Orten nutzen kann, die mit den Legendären zu tun haben. Wir sind hier doch in Einall und gar nicht so weit entfernt gibt es den Schrein der Ernte, der Demeteros gewidmet ist.“ „Ich verstehe, was du meinst.“ Grace legte den Kopf schief und blieb stehen. „Wenn Nero uns die Wahrheit gesagt hat – und ich sage nicht, dass ich diesem Verrückten glaube –, dann müssten wir auch an dem Schrein der Ernte die Energie aktivieren können. Allerdings gibt es da eine Tatsache, die mir Bauchschmerzen bereitet. Als Cassie und du in der Turmruine wart, hattet ihr die ganze Platte bei euch. Jetzt, da Cassie verschwunden ist, hast du nur noch die halbe Platte. Glaubst du wirklich, dass das reicht?“ „Es muss reichen!“ Leo nickte. „Ich finde Grace‘ Bedenken gar nicht unwichtig. Ihr habt doch beide gesehen, wie Nero reagiert hat, als er von Lyra erfahren hat, dass die Platte zerbrochen ist. Außerdem hat er davon gesprochen, dass Aira und Aero uns absichtlich zu ihm geschickt haben, um ihren eigenen Geschäften nachzugehen. Wenn Nero über diese Platte und den Teleportmechanismus Bescheid weiß, dann wissen Aira und Aero mit Sicherheit auch davon. Ach was, ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass sie es wissen, immerhin war die Platte in ihrem Besitz. Das wiederum wirft die Frage auf, warum die beiden uns nicht selbst von der Platte und all dem erzählt haben. Stattdessen lassen sie uns – oder eher Cassandra und dich – ins offene Messer laufen. Wieso?“ „Willst du damit etwa sagen, dass wir Aira und Aero nicht trauen können?“ „Ich stimme Leo zu, du bist zu naiv, Lyra. Wenn das alles wahr ist, ist es ganz eindeutig, dass Aira und Aero uns mit voller Absicht von Teak City fortgeschickt haben, obwohl sie alles in wenigen Minuten hätten aufklären können. Warum also wollten sie, dass wir uns auf die lange Reise zu Nero machen? Wir waren jetzt drei Wochen unterwegs, in der Zeit konnten sie wer weiß was arrangieren oder tun.“ „Sie wollen uns bestimmt nur helfen.“ „Lyra, sieh es doch endlich ein, niemand will uns wirklich helfen! Nero, Aira und Aero haben alle nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt, warum wohl? Na weil sie unter einer Decke stecken, ist doch logisch. Wir können ihnen nicht trauen.“ „Wir sind auf uns alleine gestellt. Also, was sagt ihr, gehen wir nun zurück nach Teak City oder zum Schrein der Ernte?“ Grace und Lyra wechselten einen Blick, dann antworteten sie wie aus einem Mund: „Zum Schrein der Ernte.“ „Wunderbar, genau der Meinung bin ich auch“, sagte Leo. „Und es klingt irgendwie ziemlich danach, dass Nero uns den langen Weg zurück nach Teak City schickt, um Zeit zu schinden, meint ihr nicht auch?“ „Ihr klingt beide wie Verschwörungstheoretiker“, sprach Lyra entgeistert, doch auch sie wollte lieber Grace‘ Theorie mit dem Schrein der Ernte ausprobieren, anstatt sich auf die ungewisse Rückreise nach Teak City zu begeben. Wenn sie ehrlich war, hätten sie es ohnehin nicht rechtzeitig bis zum nächsten Vollmond dort hin geschafft und einen ganzen Monat verloren. Sie schwiegen, als sie das Dorf durchquerten und zum Beginn der Route 14 gingen. Bis zum Schrein der Ernte war es noch ein gutes Stück und Lyra wusste, dass der Schrein gut geschützt lag, aber bis zum Vollmond würden sie es auf jeden Fall schaffen. „Also dann, unser Ziel steht fest: Schrein der Ernte.“ Lyra ging voran, schaute zum Fluss und zum Waldrand auf der anderen Seite. Dort, weit hinten zwischen den Bäumen, machte sie eine Bewegung aus. Eine menschliche Silhouette und ein Blick, der schwer auf ihren Schultern lastete und ihr eine Gänsehaut verursachte. Wurden sie etwa beobachtet? Gerade machte sie den Mund auf, um nach der Person zu rufen, als ein schrecklicher Schmerz in einem Schrei ihren ganzen Körper durchzuckte. Dumpf drangen Grace‘ und Leos besorgte Stimmen zu ihr, doch ihr Körper sank bereits krampfend zu Boden und ihr Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. In der Sekunde, bevor sie das Bewusstsein verlor, tauchte ein zweiter Schatten auf der anderen Flussseite auf und die Gewissheit traf sie wie ein Vorschlaghammer: Es war keine Einbildung, sie wurden verfolgt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)