The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 21: Kristallpalast -------------------------- Schwerfällig blinzelte Cassie gegen die Müdigkeit an. Es war Abend, die Sonne stand dicht über dem Horizont und verfärbte die Wolken in hellen Rosatönen. Sie mussten eine gute Stunde geflogen sein und machten nun eine Pause auf einem kleinen Plateau mitten auf der Bergkette, die sie überflogen. Sie fühlte sich aufgekratzt und erschöpft, belebt und abgestorben zugleich. Golbits Pokéball wog so schwer in ihrer Tasche, doch Yegors verzweifelter Anblick ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte nicht gewollte, dass die Ministerin von Golbit erfuhr, deshalb versuchte Cassandra gar nicht erst mit Hilfe ihres Pokémon zu entkommen. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt. „Wir müssen weiter, Prinz Melik erwartet uns bereits.“ Die Ministerin trat auf Cassandra zu, zerrte sie auf die Beine und zu ihrem Panzaeron, das ruhig stehen blieb, bis beide auf seinem Rücken saßen. Für einen Moment starrte sie auf das Mädchen nieder, dann nickte sie ihren beiden Begleitern zu und sie erhoben sich gleichzeitig in die Luft, als hätten sie dieses Manöver schon hunderte Male geprobt. Cassie atmete tief durch und krallte sich wie schon zuvor an Panzaerons glatter Haut fest, was mehr schlecht als recht funktionierte, sodass sie wirklich froh war, dass die Ministerin sie die ganze Zeit mit einer Hand am Rücken festhielt. „Wir sind fast da. Schau, dort.“ Sie folgte mit halb zusammengekniffenen Augen – der Flugwind brannte in ihrem Gesicht und erschwerte ihr das Atmen – dem Fingerzeig der Ministerin, dann riss sie die Augen jedoch ganz auf. Vor ihnen erstreckte sich ein Stück vom Fuße der Bergkette entfernt das Meer, so weit und ruhig und wunderschön im Sonnenuntergang. Das Land schien in wuchtigen, steilen Klippen direkt aus dem Meer gerissen zu sein und auf dem höchsten Punkt der Klippen ragte ein Palast empor. Das Sonnenlicht tauchte alles in einen lilafarbenen Schein, reflektierte, spiegelte und ließ das Schloss in einem Licht erstrahlen, als würde es von innen heraus leuchten. Cassandra konnte ihren Blick nicht davon abwenden, obgleich ihr das Schloss Angst einjagte, je näher sie kamen und desto größer es wurde. Schließlich landeten die drei Panzaeron auf einer Art ausladendem Balkon an der Seite des Schlosses. Direkt unter ihnen befanden sich die Klippen, man konnte sogar bis hier oben das Meeresrauschen hören. „Das ist wunderschön!“ Die Ministerin schmunzelte leicht, doch sofort kehrte ihre kalte Miene zurück. „Komm, man wartet auf uns.“ Sie packte Cassandra am Arm und winkte den beiden Männern zu. „Ihr könnt gehen.“ Dann trat sie gemeinsam mit Cassie durch einen gläsernen Torbogen ins Innere des Schlosses ein. Sie standen in einem kreisrunden Saal, in dessen Mitte sich ein ebenfalls runder Tisch befand, der dieselbe türkisfarbene Oberfläche hatte wie das gesamte Schloss, von den Kristallflächen einmal abgesehen. „Polierter Lapislazuli aus den königlichen Minen“, erklärte die Ministerin ihr, schenkte dem Raum jedoch keine weitere Beachtung, sondern ging mit unverändert zügigen Schritten weiter. Sie gelangten in einen breiten Flur mit Rundbögen wie in einer Galerie. Cassie konnte nur einen kurzen Blick über die Brüstung in die Tiefe erhaschen, erkannte jedoch einen Springbrunnen mitten im Zentrum des Saals dort unten. Abrupt wurde sie zum Stehen gebracht, als auch die Frau neben ihr anhielt und an eine große Tür klopfte, die – natürlich – ebenfalls aus Lapislazuli gefertigt war. Mittig war ein kunstvolles Wappen eingeschnitzt. Die Farbe des Schlosses erinnerte sie ein wenig an Golbit oder die Rüstung der Ministerin. Ein Mann in derselben Rüstung öffnete ihnen nun von innen die Tür und grüßte die Ministerin mit einem leichten Kopfnicken, ehe er wortlos den Raum verließ. „Eure Majestät, ich bringe Euch die Flüchtige, wie Ihr es mir aufgetragen habt.“ Sie führte Cassandra über den steinernen Boden bis zu einem türkisfarbenen Thron, der auf einem Podest stand und das Herz des ganzen Raums darstellte. Sobald sie vor dem Thron stand, machte sie eine Verbeugung und verharrte in dieser Position, bis ein Mann hinter dem Thron hervorkam. Er schien aus den wandhohen Fenstern geschaut zu haben. „Ausgezeichnete Arbeit, Ministerin Katleen. Der nächste Auftrag wartet bereits; besprechen Sie die Details mit Minister Eyvan.“ „Natürlich, Eure Majestät.“ Erneut verbeugte sie sich, dann ließ sie Cassandra los und verließ ohne sich noch einmal umzuschauen den Raum. Cassandra schluckte schwer, während sie ihre Augen gegen das blendende Licht des Sonnenuntergangs abschirmte. Sie konnte den Prinzen nicht einmal richtig erkennen, nur seine Umrisse zeichneten sich gegen das Licht ab, das mit jeder Sekunde abzunehmen schien, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Cassie schaute einem jungen Mann ins Gesicht, der vielleicht zehn Jahre älter war als sie, vielleicht auch jünger, das konnte sie schlecht einschätzen. Doch neben seinen taubenblauen Augen, die sie voller Kälte anstarrten, waren es die schneeweißen Haare, die ihr den Atem verschlugen. Prinz Melik besaß dieselben weißen Haare wie sie. „Wieso bin ich hier?“, traute Cassie sich nach einer gefühlten Ewigkeit zu fragen. Der Prinz begann zu lächeln, doch es war ein grausames Lächeln wie bei einem Raubtier, das mit seiner Beute spielte. „Weil du von diesem Tag an mein Gast bist. Genieß deinen Aufenthalt und freu dich, dass ich so gnädig bin dir ein Zimmer im Gästeflügel zuweisen zu lassen.“ „Ich brauche kein Gästezimmer, ich möchte gehen.“ „Gehen? Und wohin?“ Erneut schluckte sie und wich nervös einen Schritt zurück. „Nach Hause, zu meinen Freunden. Ich möchte nicht hier sein. Macht Euch keine Umstände wegen mir.“ „Umstände?“, wiederholte der Prinz und brach in ein trockenes, kratziges Lachen aus. „Umstände, sagst du?“ So schnell, wie das Lachen gekommen war, erstarb es und mit wenigen Schritten hatte er die Distanz zwischen ihnen überbrückt. Seine Hand legte sich um ihren Hals und er riss ihr Kinn nach oben, damit sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Die Angst, die er in ihren saphirblauen Augen erblickte, schien ihm zu gefallen. „Du hast keine Ahnung, Cassandra, wie viele Umstände du mir machst – und nun geh mir aus den Augen, bevor ich mir meine Gastfreundschaft anders überlege und dich noch heute Abend in tausend Stücke reißen lasse.“ Sie gab einen erstickten Schrei von sich und versuchte seine Hand von ihrem Hals zu lösen, doch er warf sie zu Boden und ging zurück zu seinem Thron, auf dem er sich niederließ. Tränen traten in ihre Augen und ihr Hals brannte wie Feuer, doch sie ließ es sich nicht zweimal sagen, dass er ihre Nähe nicht länger wünschte, also drehte sie sich um, rannte zur Tür, stieß sie auf und stolperte direkt in die Arme einer älteren Dame, die eine Art weißer Schürze über ihrem türkisfarbenen Kleid trug. „Kindchen, Kindchen, du zitterst ja am ganzen Körper wie Espenlaub.“ Sie schüttelte den Kopf, auf dem eine Haube saß. „Komm mit mir, komm mit der alten Margaret, ich bringe dich zu deinem Zimmer. Komm Kindchen, komm.“ Beherzt fasste sie Mira bei der Hand und führte sie den ganzen Flur entlang über eine andere Galerie und durch mehrere Salons hindurch zu dem Gästeflügel, von dem Prinz Melik gesprochen hatte. Cassie hatte hoffnungslos die Orientierung in diesem riesigen Schloss verloren, war jedoch froh, als Margaret sie in ein Vorzimmer brachte, das direkt in ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett samt Baldachin aus Samt und Seide führte. Margaret umfasste Cassies Gesicht mit beiden Händen und schaute ihr einen Moment lang in die Augen, dann ließ sie sie los. „Kindchen, du bist so blass, nicht dass du mir krank wirst. Ich werde dir eine heiße Milch mit Honig bringen und eine leichte Mahlzeit. Ruh dich aus, ich bin bald zurück.“ Mit diesen Worten verließ Margaret das Schlafzimmer durch eine Seitentür. Cassandra schaute ihr hinterher, fand nur langsam zu sich selbst zurück und berührte die Stelle an ihrem Hals, an dem Meliks Finger leicht zugedrückt hatten. „Er ist wahnsinnig“, flüsterte sie, stürzte auf das Bett zu und brach in Tränen aus. „Ich will nach Hause!“, japste sie immer wieder zwischen ihren erstickten Schluchzern, bis sie hörte, dass die Tür aufging. „Margaret?“ Sie wischte sich die Tränen ab, doch statt Margaret stand ein stattliches Snobilikat, das einige Pfunde zu viel auf den Rippen hatte, im Türrahmen. Die Katze fixierte Cassandra, lief auf sie zu, stieß sie zu Boden und … schleckte ihr Gesicht voller Inbrunst ab, die von einem tiefen, wohligen Schnurren begleitet wurde. „Na, na, du zerquetscht mich noch, geh runter von mir.“ Sie lachte, rollte sich von Snobilikat weg und tätschelte der großen Katze den Kopf, woraufhin das Schnurren nur noch lauter wurde und beinahe wie ein kaputter Rasenmäher klang. „Du lebst wohl hier in diesem Schloss, hm?“ „Ah, wie ich sehe, habt ihr bereits Bekanntschaft geschlossen.“ Es war Margaret, die mit einem Silbertablett ins Zimmer kam und es auf dem Nachttischchen abstellte. Dampf stieg von der heißen Milch auf, daneben stand ein Porzellanteller mit Trauben, Käsewürfeln und kalten Fleischspießchen. „Auch wenn ich verwundert bin, Snobilikat mag für gewöhnlich keine Besucher. Wie dem auch sei, du musst etwas essen, damit es dir besser geht, Kindchen.“ „Können Sie bitte aufhören mich immer ‚Kindchen‘ zu nennen?“ Die alte Dame legte verwundert den Kopf zur Seite. „Oh, wie du möchtest, Liebchen. Ich lasse dich nun alleine. Trink die Milch. Iss etwas. Schlaf. Morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus, du wirst sehen.“ Sie hielt dem Snobilikat die Tür auf, doch das Normalpokémon rollte sich auf dem Fußende des riesigen Bettes ein, woraufhin Margaret die Tür hinter sich schloss und Cassie ihre Privatsphäre gönnte. Cassandra seufzte, rieb sich die letzten Tränen aus den Augen und zog ihren gelben Regenmantel aus, den sie auf einen Stuhl an der Wand legte. Anschließend entließ sie Golbit aus dem Pokéball und umarmte ihr geliebtes Pokémon, mit dem all diese Strapazen begonnen hatten. „Ich weiß nicht, wo wir sind, aber ich bin mir sicher, dass wir schon bald zurück nach Hause können.“ „Golb.“ Das Pokémon streckte sich, marschierte schnurstracks auf den Essensteller zu und stopfte sich auf einen Schlag alle Käsewürfel in den Mund. „Hey!“ Cassie entriss Golbit den Teller, schaute es böse an und schnappte sich selbst einige Fleischspieße. Erst danach reichte sie Golbit den Teller, damit es den Rest essen konnte. Auch trank sie die heiße Milch und sah dabei zu, wie Golbit an Snobilikats Schwanz zog, woraufhin das Pokémon fauchte und mit der Tatze in Golbits Richtung patschte. Golbit sprang zurück, ließ sich jedoch nicht beirren und kletterte kurz darauf behände auf das Bett neben Snobilikat. Die beiden Pokémon beschnüffelten sich gegenseitig, dann akzeptierte Snobilikat die Gesellschaft des jüngeren Bodenpokémon und schloss die Augen, um ein wenig zu dösen. Nachdem Cassandra die Milch getrunken und die Fleischspieße gegessen hatte, stellte sie das Tablett auf einen Tisch an der Wand und öffnete den Kleiderschrank. Dort fand sie ein Paar flauschiger Gästepantoffeln, einen weißen Bademantel sowie ein Damennachthemd, das ihr etwas zu groß war, aber sie wollte auch nicht in ihren eigenen Sachen schlafen und die Chancen, dem Palast zu entkommen, schienen verschwindend gering zu sein. Zumal Cassie sich eingestehen musste, dass sie Margarets fürsorgliche Art mochte und das große, weiche Bett nach den Tagen auf Leias Sofa sehr verlockend war. Schlussendlich zog sie sich das Nachthemd an und fand auf der gegenüberliegenden Seite der Tür, durch die Margaret verschwunden war, ein großzügig geschnittenes Badezimmer, in dem sie alles hatte, was sie brauchte. Der Neugier halber öffnete sie anschließend auch noch die andere Tür und fand eine Art Dienstbotengang, von dem in regelmäßigen Abständen weitere Türen abzweigten, doch nach gut dreißig Metern kehrte sie zu ihrem eigenen Gästezimmer zurück, machte die Tür zu und krabbelte unter die Bettdecke. Snobilikat und Golbit schliefen bereits seelenruhig aneinander gekuschelt. „Gute Nacht, Golbit.“ Cassandra löschte das Licht, legte sich hin, den Kopf zur Seite gedreht, sodass sie aus dem Fenster sehen konnte. Kein Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen des Meeres, die so weit entfernt schienen. „Gute Nacht, Lyra.“ Sie schloss die Augen, stellte sich das Gesicht ihrer besten Freundin vor und hoffte inständig, dass es ihr gut ging. Und vielleicht – aber nur vielleicht – besaß Cassie die Hoffnung, dass Lyra mutig und tapfer genug war, um sie zu finden und nach Hause zu holen. Bisher hatte sie sich doch immer auf Lyra verlassen können. Ja, Lyra würde kommen und sie finden. Lyra würde sie retten. Doch auch hier, so weit von Ebenholz City entfernt, fand sie der Traum, der sie jede Neumondnacht quälte. Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)