The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 20: Zerstörung ---------------------- Leia und Cassandra starrten sich an und wirkten beide gleichermaßen erschrocken, nur dass sich Leia schneller fing und alle Unterlagen samt Fotos zügig zusammensuchte. „Das war ein Foto von Lyra und mir“, begann Cassie schließlich und stammelte vor sich hin. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie dort gesehen hatte, doch allmählich dämmerte es ihr, dass es vielleicht nie ein Zufall gewesen war, dass sie in der Höhle aufgewacht und zu Leia gelangt war. „Verdammt, woher ist das Foto! Wir waren in jener Nacht alleine im Regen unterwegs, niemand war dort, außer…“ Schlagartig erinnerte sie sich daran, wie sie für einen kurzen Moment einen Mann zu sehen geglaubt hatte. Alleine der Gedanke daran, dass sie wirklich nicht alleine im weitläufigen Garten des Waisenhauses unterwegs gewesen waren, verursachte bei ihr Übelkeit. Leia wusste also viel mehr, als sie ihr gegenüber zugegeben hatte. Wütend machte Cassie einen Schritt nach vorne und in ihren saphirblauen Augen funkelte etwas Bedrohliches. „Die Spielchen sind vorbei, Leia! Ich will zurück nach Hause, sofort! Und ich verlange eine Erklärung für Ihr Verhalten, wieso halten Sie mich wie eine Gefangene, was soll das alles?“ „Cassandra, du musst ruhig bleiben.“ „Ruhig?“ Sie spie das Wort aus wie ein aufgebrachter Drache. „Oh nein, ich muss hier gar nichts mehr! Sie haben mich die ganze Zeit über angelogen und sagen mir nicht einmal, wo genau ich hier eigentlich bin und was los ist. Ich will doch nur zurück nach Hause…“ Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie das St. Josephines und vor allem Lyra vermisste. Ihre beste Freundin war die vergangenen Jahre so gut wie jeden Tag an ihrer Seite gewesen und sie hatten schon so viel miteinander erlebt, mit Sicherheit machte Lyra sich ganz schreckliche Sorgen um sie. „Du wirst tun, was ich dir sage, Cassandra. Hör auf dich so aufzuregen, es hat schon alles seinen Sinn.“ „Ich kann aber keinen Sinn darin erkennen.“ Jetzt reichte es der Jungtrainerin. Sie wollte sich an Leia vorbeidrängen, doch in diesem Moment baute sich Milotic mit einer Drohgebärde im Türrahmen auf und versperrte Cassie den Fluchtweg. Ihre Augen weiteten sich für einen Augenblick, dann wich sie zurück zum Regal neben dem Schreibtisch. Leia und Milotic wollten sie nicht fortgehen lassen und Golbit konnte nicht gegen das Wasserpokémon kämpfen. Hinter ihrem Rücken versuchte sie mit den Händen irgendetwas zu finden, das schwer genug war, um Leia damit abzulenken ohne sie ernsthaft zu verletzen. Sie griff einen rundlichen, flachen Gegenstand und führte ihre freie Hand zu Golbits Pokéball in ihrer Hosentasche. „Tu nichts Unüberlegtes. Versteh doch, ich habe alles nur zu deinem Besten getan. Natürlich hast du viele Fragen, das verstehe ich, aber ich kann dir keine Antworten geben, so leid es mir tut.“ „Ich denke, ich weiß selbst, was für mich das Beste ist“, fauchte Cassie und entließ Golbit aus seinem Pokéball, während sie die Scheibe auf Leia warf. Milotic hatte jedoch eine schnelle Reaktion und wehrte die Scheibe mit seinem Schwanz ab, sodass sie direkt gegen Golbit knallte. Das Bodenpokémon rieb sich den Bauch und spielte mit der Scheibe rum, anstatt irgendetwas gegen Leia oder Milotic zu unternehmen. Cassie atmete tief durch. „Lassen Sie mich sofort gehen.“ „Das geht nicht.“ Leias Blick glitt zu Golbit; sie schien nicht einmal überrascht von dem Pokémon zu sein, obwohl Cassie ihr gegenüber gesagt hatte, dass sie kein eigenes Pokémon besaß. „Milotic, nimm Golbit die TM ab.“ TM? Cassandra schaute zu ihrem Pokémon, das mit der Technischen Maschine spielte und gerade darauf herum kaute, wodurch sie erheblich beschädigt wurde. Sollte die Zeit trotzdem gereicht haben, dass es die Attacke der TM erlernt hatte? Doch nicht jedes Pokémon konnte bestimmte TMs lernen. Zerknirscht musste Cassie zusehen, wie Golbit ihr keine große Hilfe war. Es gab die angesabberte und mittlerweile kaputte TM freiwillig an Milotic ab, das die Scheibe über den Boden wischte und finster zu dem anderen Pokémon starrte. Währenddessen ging Leia rüber zu Cassie, legte die Papiere auf dem Schreibtisch ab und packte die Jüngere grob am Arm, um sie die Treppe runter ins Erdgeschoss zu schleifen. Milotic eskortierte Golbit. „Lassen Sie mich sofort los!“ Doch Cassie konnte sich nicht gegen Leia wehren, die einen ungewöhnlich starken Griff hatte und mit eiserner Klaue zupackte. Verzweifelt schaute Cassie sich um, wobei sie lediglich das Sofa entdeckte, unter dessen Decke noch ihre Kleidung lag. Sie wollte hier unbedingt weg, sofort und auf der Stelle. „Golbit, greif an!“ „Du glaubst doch nicht, dass dein Pokémon stärker als mein Milotic ist?“ Aber Golbit hatte genau verstanden, was seine Trainerin wollte. Es sprang auf, in seinen Augen funkelte der Kampfgeist und es griff Leia mit einer Finsterfaust an. Die Bürgermeisterin schrie auf und taumelte benommen nach hinten, was Cassandra die Chance gab sich loszureißen und schnell ihre Sachen und ihre Schuhe vom Sofa zu holen. „Golbit, komm schnell!“ Dicht gefolgt von ihrem Pokémon stieß sie die Haustür auf und rannte hinaus ins Freie. An einer Eiche hielt sie für einen Moment an und schlüpfte in ihre Schuhe, während sie die gelbe Regenjacke überzog und ihre Hose und das Oberteil festhielt. „Hier entlang!“ Natürlich wusste sie nicht, wohin sie rannte, aber Golbit folgte ihr treu und die beiden durchquerten das kleine Dorf. Einige Dorfbewohner schauten den beiden Fremden nach, bis Leia „Haltet sie auf!“ schrie und ein paar sich in Bewegung setzten, um ihrer Bürgermeisterin zur Hilfe zu eilen. Allen voran stellte sich am Ende des Dorfes der alte Mann von dem Gruppenfoto in Cassies Weg und aus einem Aprikokoball entließ er ein Nidoking. „Bleib stehen, Cassandra!“ „Großvater, du musst sie aufhalten!“, rief Leia weiter hinter ihr. Sie humpelte, kam jedoch mit Milotic an ihrer Seite und unterstützt von ein paar Dorfbewohnern immer näher. „Sie darf nicht entkommen!“ Der alte Mann hatte eine Weisheit in seinen Augen, die Cassie für einen Moment ruhig innehalten ließ. Er wirkte um einiges vernünftiger als die meisten Menschen, denen sie in ihrem bisherigen Leben begegnet war. „Cassandra, mein Name ist Yegor und es ist sehr wichtig, dass du meiner Enkelin und mir vertraust. Wir wollen dir nichts tun. Hier bei uns bist du in Sicherheit.“ Cassie zögerte, aber je näher Leia ihr kam, desto unruhiger wurden sowohl Golbit als auch sie. „Ich vertraue Ihnen aber nicht. Hier wird irgendetwas gespielt, was mir gar nicht gefällt. Ich bin niemandes Gefangene, verstanden?“ „Wir haben immer nur alles zu deinem Wohl gemacht.“ Für einen Moment fragte sie sich, wen er mit seinem Wir meinte, doch sie schüttelte den Gedanken ab. Für den Augenblick wusste sie einfach nur, dass sie nicht zurück in Leias Haus wollte. Keine zehn Zebritz bekamen sie dort wieder rein. „Haben Sie das Foto von Lyra und mir gemacht?“ Eigentlich hatte Cassie erwartet, dass der Mann sie fragte, wer Lyra war, doch stattdessen schüttelte er den Kopf. „Nein.“ Sein Blick ging kurz zu Leia, die endlich stehen geblieben war. „Und du hättest das Foto niemals finden dürfen.“ Obwohl der Satz an Cassie gerichtet war, war er ein Seitenhieb gegen die junge Bürgermeisterin. „Hör mir bitte zu, Cassandra. Alles, was dir passiert ist, bedeutet so viel mehr als du ahnst. Ich…“ Er brach ab und auf seinem Gesicht machte sich Angst breit, während er in den Himmel schaute. Einige andere Dorfbewohner samt Leia folgten seinem Blick, bis seine Enkelin einen aufgebrachten Laut von sich gab beim Anblick des schnell näherkommenden Panzaeron mit seiner Reiterin. Cassie erkannte die Reiterin an ihrer blaugrünen Rüstung, die die Farbe von Golbits Körper hatte. Die Ministerin flog auf ihrem Panzaeron heran, doch sie kam nicht alleine, denn zwei weitere Reiter begleiteten sie, hinter ihnen etwa zwei Dutzend Washakwil, die kampflustige Schreie von sich gaben. „Oh nein, Kyurem steh uns bei…“ Leia starrte in den Himmel. „Du musst sofort dein Golbit verstecken!“, bellte der alte Mann. „Mit etwas Glück haben sie es noch nicht gesehen.“ „Aber sie haben sie gesehen!“, klagte Leia und sie verfiel in eine ähnliche Panik wie die restlichen Dorfbewohner, die ihre Kinder in die Häuser brachten und aufgebracht zwischen den Häusern umherliefen. „Was sollen wir tun, sie werden uns angreifen!“ Cassandra spürte nun ebenfalls Angst in sich aufsteigen und sie zog Golbit zurück in seinen Pokéball, den sie in ihre Jackentasche zu ihrer Hälfte der chromoxidgrünen Steinplatte steckte. „Was ist mit dieser Ministerin, wieso greift sie an?“ „Wir haben sie angelogen, wir haben eine Ministerin vorsätzlich belogen und nun wird sie unser Dorf vernichten!“ Leia humpelte umher, fuhr sich durch die Haare und wimmerte, als die drei Reiter mit ihren Panzaeron auf dem Dorfplatz landeten. Leias Großvater stellte sich gemeinsam mit seinem Nidoking vor Cassie. „Wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann rennst du in diese Richtung von unserem Dorf fort. Es ist existenziell wichtig, dass sie dich nicht kriegen, hörst du?“ „O-okay…“ „Na sieh mal einer an, die Bürgermeisterin höchstpersönlich“, spuckte die Ministerin aus und ihre stechenden Augen hafteten auf dem alten Mann, dessen Nidoking das Einzige war, was die Sicht auf Cassie versperrte, die das Gespräch nur mithören konnte. „Ministerin Sofia, welche Ehre“, stammelte Leia. „Was kann ich für Sie tun?“ „Bei meinem letzten Besuch hatte ich eigentlich den Eindruck gewonnen, dass Sie wissen, was gut für Ihr Dorf ist, Leia. Wie lauteten Ihre Worte doch gleich? Jeder weiß, dass der königlichen Familie und der königlichen Garde Treue und Wahrheit zu schwören sind. Mit der Wahrheit und der Treue Prinz Melik gegenüber scheinen Sie und Ihr erbärmliches Fischerdorf es jedoch nicht so genau zu nehmen, nicht wahr?“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Leia schluckte schwer und die vielen Washakwil, die über dem Dorf kreisten und nur auf den kleinsten Befehl zum Angriff warteten, verängstigten sie zutiefst. Die Ministerin schien sich eine andere Antwort erhofft zu haben, denn sie knirschte mit den Zähnen und stieg zurück auf den Rücken ihres Panzaeron. „Entweder Sie liefern uns die Flüchtige augenblicklich aus oder ich muss meiner Forderung noch ein wenig Nachdruck verleihen. Es ist Ihre Entscheidung, Leia. Das Schicksal Ihres Dorfes liegt einzig und alleine in Ihren Händen.“ Sie schaute ängstlich zu ihrem Großvater, der sich noch immer mutig an die Seite seines Nidoking stellte. „Wir haben Ihnen nichts zu geben, Ministerin.“ „Dann soll es so sein.“ Auf ihren Befehl hin erhoben sich die beiden anderen Reiter gemeinsam mit ihr in die Luft. Die Panzaeron schraubten sich mit ihrem Flug ein Stück in die Höhe, während die Washakwil sich auf die Dächer der Häuser stürzten. Binnen Sekunden verwandelte sich das idyllische Fischerdorf in einen Schauplatz des Gefechts. Menschen schrien und liefen unkoordiniert durcheinander. Einige eilten zu ihren Booten, um auf dem See Schutz zu suchen, doch ein paar der Flugpokémon machten kurzen Prozess mit den kleinen Holzbooten. Ihre scharfen, kräftigen Krallen Rissen ganze Planken heraus, so wie auch die Dächer spielend leicht zerfetzt wurden. Holzsplitter flogen durch die Gegend, Chaos brach aus und mitten drin Cassie und Leias Großvater, der sie zum Rand des Dorfes führte. „Oh Gott, wieso tun sie das!“, schrie Cassie und klammerte sich an den alten Mann, der sie ein paar Mal hart schüttelte. „Du musst jetzt laufen, hast du das verstanden? Verschwinde von hier, lauf so schnell du kannst und schau nicht zurück. Hiermit werden wir fertig und Nidoking kann die Ministerin ein wenig in Schach halten. Du musst jetzt fort von hier, also lauf!“ Gerade setzte Cassie sich in Bewegung, als schräg über ihr die Stimme der Ministerin erklang. „Hier ist sie, folgt mir!“ Ihr Atem brannte in ihrem Hals beim Luftholen, sie war noch nie eine besonders gute Sportlerin gewesen, doch der Schock und die Angst sorgten dafür, dass ihr Körper mit genügend Adrenalin versorgt war, um Höchstleistungen zu erbringen. Ohne sich umzuschauen rannte sie vom Dorf weg am See entlang, weiter hinter ihr erklang Nidokings Kampfschrei, als es versuchte die Panzaeron samt Reiter vom Himmel zu holen. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, gleichzeitig jedoch leer und leicht. Wieso hatte es die Ministerin ausgerechnet auf sie abgesehen? Was hatte es mit dem Foto von Lyra und ihr auf sich? Von was für einem Prinzen war hier die Rede gewesen? Sie rannte immer weiter und weiter, ihre Beine schienen sich verselbstständigt zu haben und trugen sie schon bald vom Wasser fort auf die Obstplantagen der Dorfbewohner zu. Nur wenige Meter neben ihr prallte die Luftklinge der Attacke Luftschnitt auf einen Orangenbaum, dessen Stamm augenblicklich zerfetzt wurde und zur Seite krachte. Cassie schrie auf und musste zur Seite springen, um nicht selbst getroffen zu werden. Mit Todesangst in den Augen drehte sie sich um und kroch mit dem Rücken gegen einen anderen Baum. Irgendwie musste die Ministerin sich von Nidoking befreit haben, denn sie landete nun mit ihrem Panzaeron vor der weißhaarigen Jungtrainerin. „Glaubst du wirklich, dass du mir entkommen könntest, Cassandra?“ Obwohl Cassie wusste, dass sie keine Chance hatte, stand sie auf und rannte erneut los, fort von dieser grausamen Frau. „Oh bitte, das meinst du nicht ernst. Panzaeron, los.“ Das Stahlpokémon sprang in die Luft, segelte auf Cassie zu und pinnte sie mühelos mit seinen Klauen an den Boden. Langsam trat die Ministerin näher. „Wir können es einfach oder kompliziert machen, Cassandra, das liegt an dir. Entweder du ergibst dich und kommst mit mir mit oder wir spielen solange weiter, bis meine Washakwil-Armee im Dorf keinen Stein mehr auf dem anderen lässt.“ Sie wusste, dass die Worte der Frau der Wahrheit entsprachen. In ihren Augen lag so eine grausame Kälte, die Cassie keine Sekunde zweifeln ließ, dass sie kurzen Prozess mit Leias und Yegors Dorf machen würde und obwohl sie Leia verachtete für die vielen Lügen und ihr Verhalten, konnte sie diese Menschen nicht noch schlimmer verletzen und bestrafen lassen. „Also gut, ich komme mit“, sprach sie mit kratziger Stimme. Panzaeron ließ sie aufstehen und die Ministerin zerrte Cassie auf den Rücken ihres Pokémon, sie selbst nahm direkt dahinter Platz, dann erhoben sie sich auch schon in die Luft. Unter ihnen glitten die Haine der Plantagen dahin, bis sie wieder das Dorf erreichten, in dem die Zerstörung wütete. Die Ministerin gab einen kurzen Befehl, dann brachen die Pokémon ihren Angriff ab und auch die beiden anderen Reiter gesellten sich links und rechts neben sie. Cassie war noch immer verwirrt und furchtbar verängstigt, als sie die Dorfbewohner in ihren Verstecken sah. Yegor schaute sie beim Vorbeifliegen mit einer Intensität an, als hätte sie etwas Unverzeihliches getan, indem sie sich der Ministerin ergeben hatte. Doch was hätte sie tun sollen? Mit hängenden Schultern blieb ihr nichts Anderes übrig als der Ungewissheit entgegen zu fliegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)