Der Strom von Marzipanherz (Über die Welt und ihre Menschen.) ================================================================================ Schwimmen ---------           Ich weiß nicht mehr, woraus die Welt noch besteht. Betonwand neben Regenpfütze neben Blumenwiese. Gegensätze, die man kaum noch wahrnimmt und trotzdem nie vergisst. Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich das letzte Mal die Sonne frei gesehen habe. Frei heißt - ohne Ziegeldach davor. Ohne Strommasten. Ohne Hochhaus. Mag ja alles Hippie sein, was man so anzumerken hat. Ich sehe nur, wie die Welt um uns herum wächst. Und wir wachsen nicht mit. Alles entwickelt sich, denken wir. Wir sind die Könige der Welt, sagen wir. Keiner merkt, wie schnell wir uns zurückbewegen. Die große Aufklärung. Unendliche Möglichkeiten. Die Welt als Swimmingpool für jeden. Es gibt nur immer noch zu viele, die nicht schwimmen können. Und die nehmen sich dann die Schwimmflügel. Kommen ganz nach vorne und mustern die weniger Schnellen - abschätzig, herablassend, kalt. Wenn sich vorne jetzt die Welle aufbaut, sind es die Gewinner, die verlieren. Uns kann nichts aufhalten. Wir sind stark. Wir sind mutig. Wir schütteln die Fäuste und empören uns über die Welt, die nicht mit uns mitläuft. Nur genauer hinsehen wollen wir nicht. Gegen den Strom wollen viele schwimmen. Und drehen mitten auf der Strecke, um den anderen zu zeigen, dass sie anders sind. Dass sie dabei deren Weg versperren, ist ihnen nicht klar. Wenn man in eine andere Richtung will, muss man sich schon eine neue Strecke suchen. Auf der anderen Seite anfangen. Keinen anderen behindern, nur weil man selbst etwas Eigenes will. Und vielleicht, wenn alle anderen rennen: Einfach stehenbleiben. Wann bin ich das letzte Mal stehengeblieben, als alle anderen losgerannt sind? Ich weiß es nicht. Kenne das Gefühl nicht mehr, unbeobachtet mein Ding durchzuziehen. Ohne dass jemand diesen kühlen Blick bekommt. Dieses "Alles, was du machst, ist unwichtig"-Gefühl ausstrahlt. Es gibt nichts, das unwichtig ist, denn sonst wäre es nicht da. Das verstehen wir nicht mehr. Als Kind hab ich mich immer über Marienkäfer gefreut. Über jeden einzelnen. Hab mich hingekniet, in den Schlamm, auf den Asphalt, um die kleinen Punkte auf dem Panzer zu zählen. Hab ihn auf den Finger genommen, die Hand hochgehalten und den Käfer fliegen lassen. Geduldig wartend. Wo ist diese Geduld jetzt? Hat sie sich aufgelöst? Ist sie verschwunden zwischen all den Apps, Facebooks und IPhones? Bestimmt versteckt sie sich nur und wartet darauf, dass man sie sucht. Wenn man sie denn sucht. Wenn man sich irgendwann denkt: Es ist an der Zeit, endlich mal wieder Zeit zu haben. Es gibt einen Moment, in dem sich jeder fragt, warum er eigentlich noch rennt. Hinter allem her, das sich neu anfühlt. Wer definiert eigentlich "neu"? Ist alles neu, das angekündigt auf den Markt geworfen wird? Schließlich hat man sich doch schon voller Vor"freude" darauf einstellen können, bald wieder etwas zu bekommen. Zu konsumieren. Haben, haben, haben. Wenn wir wissen, dass es bald etwas gibt, das es vorher noch nie gegeben hat, dann ist das doch eigentlich nicht mehr "neu". Die Idee hat doch schon lange davor existiert. Dann gibt es doch irgendwann nur noch den Zwang, eben genau das zu haben, was die anderen schon in ihren Händen halten. Zurückentwicklung. Zurück zu der Zeit, in der Futterneid geherrscht hat. Zu der Zeit, in der man verloren hatte, wenn man nicht genau so ausgerüstet war wie die in seiner nächsten und entfernten Umgebung. In unserer Gesellschaft kämpft man nicht mehr ums Überleben. Man kämpft um Ansehen. Darum, beachtet zu werden, weil man etwas "Neues" hat. Wenn aber jeder das hat, was vor Kurzem noch so ungewohnt war - wo bleibt dann der Reiz, es zu besitzen? Schließlich hat es dann jeder. Jeder wird genau so angesehen wie alle anderen, die das Gleiche haben. Keiner hebt sich mehr aus der Masse von "Neuem" hervor. Dann muss man nur selbst entscheiden: Renne ich jetzt weiter? Um genau das noch einmal zu erleben? Oder bleib ich einfach stehen und lass die anderen ihren Atem verlieren? Vielleicht ist es wichtig, erst einmal sich selbst als "Neues" anzusehen. Zu sagen: Hey - ich bin doch etwas, das sonst keiner hat. Betonwand neben Regenpfütze neben Blumenwiese. Jeder von uns sitzt noch im Regen. Und wir alle müssen jetzt entscheiden: Wohin soll ich jetzt noch gehen? Womit kann ich länger zurechtkommen? Was wird mein Ziel? Betonwand - oder doch lieber Blumenwiese?           Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)