Bis zum Ende eines Traumes von RhapsodosGenesis (Fukos letzter Traum) ================================================================================ Kapitel 1: Am Ende eines Traumes -------------------------------- „Ibuki Fuko. Es würde Fuko freuen, wenn du ihr Freund werden würdest!“ Sie machte eine ausladende Handbewegung und verbeugte sich tief vor ihrer Schwester, die ihr einziges Publikum bildete. Die andere Person im Raum schlief am Sofa, welches in einiger Entfernung stand, weshalb sie ihre Lautstärke zu drosseln versuchte. Die Zuschauerin klatschte leise und lächelte herzlich. „Ja, das wäre ein wunderbarer Satz“, lobte sie Fuko, „Damit wirst du bestimmt viele Freunde finden.“ „Fuko wird nicht ruhen, bevor sie hundert Freunde gefunden hat!“, stimmte sie ihrer Schwester zu und nickte bekräftigend, um zu vermitteln, dass es ihr voller Ernst war. Kouko Ibuki war eine liebenswürdige Frau. Nun, das war auch logisch. Schließlich war sie Fukos Schwester. Sie waren beide bereits erwachsen und reif, aber auch künstlerisch sehr begabt. Kouko war bis zum Anfang dieses Sommers als Kunstlehrerin an der Oberschule tätig, in die Fuko in zwei Tagen aufgenommen werden würde. Vielleicht begegneten ihr die Lehrer dann höflicher und respektvoller, weil sie in ihr Fragmente ihrer Schwester erkennen konnten. Sie nickte, um ihre eigenen Gedanken zu bestätigen. Ja, so musste es wohl sein. Sie griff wie eine gehobene Dame zu ihrer Teetasse und nahm einen kleinen Schluck. „Fuko freut sich schon sehr auf die Schule“, erzählte sie, „Und deshalb soll es ein besonderes Schuljahr für Fuko werden.“ Kouko lachte leise. „Ja, ein besonderes Schuljahr ... Du wirst deine Schulzeit bestimmt schnell hinter dich bringen und viele, viele Freunde finden.“ „Ja, das wird so sein!“, bestätigte Fuko, „Das wird ganz bestimmt so werden.“ Eine nahe Bewegung erregte Fukos Aufmerksamkeit. Sie sah in die Richtung des Sofas, auf dem sich ein Mann aufsetzte. „Oh, Yusuke, du bist wach“, stellte Kouko fest. Sofort sprang diese auf und holte eine weitere Tasse, in die sie danach Tee einfüllte. Der Mann nickte leicht verschlafen, als er sich zu ihnen umdrehte und aufstand. „Wie war die Arbeit? Wohl sehr anstrengend, wenn du sofort auf die Couch gefallen und eingeschlafen bist.“ Er nickte. „Gestern hat uns der Lehrling verlassen. Also musste ich heute die doppelte Arbeit machen“, erklärte er ihnen und gähnte. „Fuko kommt morgen in die Schule?“ „Übermorgen“, besserte Fuko den Freund ihrer Schwester aus. Die beiden kannten sich schon lange. Und Yusuke war auch einmal eine Berühmtheit gewesen. Doch für Fuko war er nur der Yusuke, der ihre Schwester glücklich machte. Sie führten eine gute Beziehung und kümmerten sich um Fuko. Dafür war sie ihnen dankbar. „Ja ... die Schule ... Ein kurzer Zeitabschnitt im Laufe des Lebens eines jeden. Eine Erinnerung an vergangene Tage durchtränkt meine Gedanken und lässt mich daran zurückdenken, welch Glück und Freude, aber auch welch Trauer und Leid mir dort begegnet waren. Die Laute der Ewigkeit spielt mit der Erinnerung, doch an diese Tage vermag ich mich ewig zu erinnern“, sinnierte der ehemalige Sänger. Fuko sparte es sich, sich über den Sinn dieser Aussage Gedanken zu machen. Denn Yusuke packten manchmal seine Sängerangewohnheiten und er sagte irgendwelche Sachen, die kaum Sinn ergaben. Er war ein wenig seltsam. Im Gegensatz zu Fuko hatte er nur niedere Kunst im Sinn. „Fuko, gehen auch welche aus deiner alten Schule in die Oberschule?“, informierte sich der Mann mit dem blauen Haar und den funkelnden Augen. „Fuko weiß das nicht. Mit Fuko haben sie kaum gesprochen.“ „Aber du hast doch gesagt, dass Masahiro auch zur Schule geht“, mischte sich Kouko ein. „Fuko weiß das, aber sie wollte Yusuke auf die Probe stellen.“ „Wie stellst du ihn auf die Probe, indem du ihn anlügst?“, wollte ihre Schwester wissen. „Fuko mag Kuchen“, antwortete sie. „Ja, ich weiß. Aber du hast ihn trotzdem belogen.“ „Am besten mit Erdbeeren darauf. Und in Seesternform. Fuko liebt Seesterne!“ „Könntest du bitte bei der Sache bleiben, Fuko?“, ermahnte Kouko sie. „Im Sommer hat Fuko viele Seesterne beobachten können!“ „Fuko, wir waren mit dir am Strand.“ „Masahiro kommt mit mir in die Schule“, beantwortete sie Yusukes Frage. „Fuko ...“, murmelte ihre Schwester. Dann seufzte sie. Im Anschluss lachte Kouko dann. „Du bist unverbesserlich!“, stellte sie abermals fest. Yusuke trank seinen Tee. „Ja ... dann kennst du wenigstens jemanden, der deine Erinnerungen an die alte Zeit mit sich tragen kann. Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht, Kouko. Fuko.“ Er stand auf und bewegte sich ins Schlafzimmer. „Gute Nacht, Yusuke“, wünschten die beiden Schwestern ihm. Kouko war sehr viel älter als Fuko, weshalb sie eigentlich länger wach bleiben durfte. Doch sie gingen beide immer früh schlafen, da ihnen klar war, wie wichtig Schlaf war. Deshalb räumten sie gemeinsam die Teetassen weg und machten sich dann zu ihren jeweiligen Betten auf. „Gute Nacht, Schwester!“ „Gute Nacht, Fuko!“ Der letzte Tag der Sommerferien war schnell vorüber. Kouko und Fuko fuhren noch einmal ans Meer, um den letzten Tag gemeinsam zu verbringen. Dort hatte Fuko erneut ihre Rede geübt, um viele Freunde finden zu können, die ihr dann alle in der Schule beistanden und denen sie zur Seite stehen konnte. Denn das war eine Freundschaft, nach der sie suchte. Sie hatte nämlich kaum Freunde, da sie sehr schüchtern war. Sie traute sich kaum, mit jemandem zu sprechen. Ihre Schwester und Yusuke waren die einzigen Vertrauenspersonen, die sie noch hatte. Bei anderen ... wollte ihr Mund einfach nicht aufgehen. Selbstredend gab es Ausnahmen. Sie konnte gut mit kleinen Kindern sprechen, schließlich war sie schon ziemlich reif für ihr Alter. Kleine, niedliche Kinder ... am besten mit Seesternen in der Hand! Die Sonne ging unter und ihr Leuchten spiegelte sich rot im Meer wieder. Die meisten Besucher waren bereits wieder fort. In der Nähe konnte Fuko niemanden mehr entdecken. Nur ihre große Schwester war noch da. Sie stellte sich neben diese und nahm ihre Hand. Sie war schön warm und weich. Sie drückte sie zusammen. „Fuko wird dir all ihre Freunde vorstellen und dann wird sie mit ihnen hierher kommen und das große Seesternfest feiern.“ „Seesternfest?“, wiederholte Kouko und sah mit ihren braunen Augen auf Fuko herab. Ihre Schwester war eine solch liebenswürdige Person. Sie achtete immer auf Fuko und ließ sie nie alleine. Sie war wirklich ... sehr froh darüber, eine Schwester wie sie zu haben. Sie hatte sehr viel Geduld und verstand sich gut darauf, auf andere einzugehen. Vielleicht waren das Eigenschaften, die eine Lehrkraft brauchte. Kouko war also eine perfekte Lehrerin. Geschaffen für diesen Beruf. Kunstlehrerin. „Ja, ein Seesternfest“, betonte sie, „Alle werden Seesterne sammeln und mit ihnen spielen. Jeder wird ein Hemd mit Seesternen darauf tragen und alle werden Seesterne lieben! Und alle basteln Seesterne. Und danach sind alle durch die Seesterne verbunden!“ Kouko lachte aus vollem Herzen. „Ja, Fuko! Feiere dein Seesternfest mit all deinen Freunden“, ermutigte sie sie, „Und freue dich darauf.“ Fuko nickte. Morgen war es soweit ... sie würde zur Eröffnungszeremonie gehen und jeden ansprechen, der in ihrem Jahrgang war! Und dann würde sie alle zu ihren Freunden machen und ihnen Seesterne schenken! Denn jeder liebte Seesterne! Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Kouko starrte gedankenverloren aufs Meer. Fuko sah ihr an, dass sie etwas loswerden wollte. „Was ist?“, fragte sie, um es ihrer Schwester einfacher zu machen. „Na ja ... Ich freue mich auf dein Seesternfest mit deinen Freunden ... Außerdem ...“ Sie stoppte. Fuko sah sie fragend an. „Yusuke hat mir heute beim Mittagessen einen Heiratsantrag gemacht. Wir werden heiraten.“ Fuko glaubte, sich verhört zu haben. Sofort ließ sie die Hand ihrer Schwester los und sprang zur Seite. „Heiraten!?“, wiederholte sie ungläubig. Dann lachte sie. „Endlich! Fuko wusste schon lange, dass ihr füreinander bestimmt seid! Sie hat sogar schon fast einen Hochzeitsplan ausgearbeitet!“, erklärte sie. Die Freude in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Kouko lächelte. „Ja ... Wir wollen im Oktober heiraten“, sagte sie, „Dann hat Yusuke seine freien Tage und muss die Firma nicht im Stich lassen.“ „Das sind doch wundervolle Neuigkeiten!“, stieß Fuko freudig hervor, „Und so etwas wollte Kouko ihrer Vertrauten verschweigen?“ Sie lachte. „Tut mir leid, Fuko. Eigentlich wollte ich es dir mit Yusuke zusammen sagen. Aber ich konnte einfach kaum an etwas anderes denken ...“ „Was? Du warst nur halb auf das Seesternfest konzentriert? Das ist ja fürchterlich! Dann muss Fuko das sofort wiederholen!“ Die Hände ihrer Schwester vollführten eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, das habe ich schon verstanden“, versicherte sie ihr. Dann legte sie ihre Hand auf Fukos Kopf, was sie leicht zusammenzucken ließ. „Ja ... Yusuke und ich werden heiraten ...“ „Dann gehört Yusuke vollkommen zur Familie und muss auch Fukos Intelligenz und Kühnheit bewundern und einen Eid leisten, dass er ihr für immer treu bleibt.“ „Einen Eid?“, wiederholte Kouko, „Es gibt doch gar keinen Eid ...“ „Du bist Fukos Schwester. Dein Eid wurde bereits bei deiner Geburt festgelegt.“ „Ich bin doch älter als du“, entgegnete sie. „Durch diesen Eid bist du für immer an Fuko gebunden und musst ihr dienen.“ „Das ist doch gar nicht wahr ...“ „Fuko sagt, sie will jetzt einen Sandseestern bauen.“ „Ach … Fuko …“, murmelte Kouko lächelnd und drehte sich um, sodass sie mit dem Seestern beginnen konnte, „Wie groß soll er werden?“ „Wir werden den ganzen Sand dafür aufbrauchen!“ „So viel Zeit haben wir leider nicht ...“ „Dann soll es eine Seesternfamilie aus vielen, vielen kleinen Seesternen werden“, bestimmte Fuko. „Na dann los!“ „Pass gut auf dich auf“, erinnerte Kouko sie, „In der Nähe der Schule gibt es eine Straße.“ „Ja, natürlich! Fuko ist schon groß. Da wird sie schon kein Auto beschädigen“, versicherte Fuko ihr. Sie sah in den Spiegel und betrachtete ihre neue Schuluniform. Sie passte wie angegossen. Die Jacke wirkte auf sie etwas zu lang, aber Kouko erklärte ihr, dass es so gehörte. Also musste Fuko ihr wohl glauben. Sie hatte sich dazu entschieden, eine Strumpfhose zu tragen, um ihre kindliches Aussehen zu betonen und sie süßer wirken zu lassen. Natürlich brauchte sie eigentlich gar nicht noch süßer werden, als sie schon war, aber zur Sicherheit ...! „Du siehst toll aus“, schmeichelte Kouko ihr. Sie spürte, wie ihre Schwester sie musterte. Sie bemerkte, dass ihr Haar gekämmt wurde. Sie ließ ihre Schwester handeln. Sie würde schon wissen, was sie tat. Dann kam sie mit einer gelben Schleife und befestigte mit dieser ihr Haar, sodass es unten zusammengebunden war. Fuko drehte sich vor dem Spiegel. Sie bemerkte, dass sie breit grinste und über das ganze Gesicht strahlte. Daraufhin schaute sie ihre Schwester an. Dankbarkeit war in Fukos Gesicht geschrieben. „Süßheitsfaktor hundert!“, verkündete sie lautstark. Um ihre Freude zu betonen, sprang sie auf der Stelle auf und streckte ihre Hände in die Höhe. „Sie passt zu deinem schönen, langen Haar“, bemerkte Kouko, „Wirklich toll ...“ Fuko machte auf der Stelle kehrt und rannte zur Tür. „Fuko geht jetzt zur Schule und zeigt jedem, wie süß sie ist, sodass jeder ihr Freund sein will und einen Fanclub für Fuko gründet!“ Kouko lachte darüber. „Viel Spaß. Yusuke und ich holen dich dann ab“, versprach Kouko, „Gib dein Bestes, Fuko!“ Sie öffnete eilig die Tür und verschwand nach draußen. Viele Schüler in derselben Winteruniform, für welche es noch ziemlich warm war, standen am Treffpunkt und plauderten locker miteinander. Die meisten überragten sie ein Stück. Fuko fühlte sich so klein ... und so alleine. Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Nein, so durfte sie nicht denken! Sie musste zu Schülern gehen und sie zu ihren Freunden machen. Hundert an der Zahl. Sie musste mit hundert Freunden nach Hause kommen und sie ihrer Schwester vorstellen, sodass diese glücklich sein konnte ... Sodass Fuko ihr nicht noch länger so sehr zur Last fiel ... Einige Schüler rempelten sie an. „Hey, du, warte gefälligst!“, rief einer. Doch der blonde Junge sprach nicht mit ihr. Er rannte hinter einem anderen Jungen nach. Sie wollte auch gerne einen Freund, der so mit ihr sprach. „Au“, gab sie von sich, als sie gegen den Rücken einer Schülerin krachte, „Das tut Fuko leid!“ Das Mädchen mit dem kurzen, blauen Haar und der Brille, die bequem auf ihrer Nase saß, lächelte und vergab ihr. „Mein Name ist Saiki Mitsui. Das ist mein erstes Jahr an dieser Oberschule.“ „Ibuki Fuko. Das ist Fukos erstes Jahr an der Oberschule“, stellte sie sich vor. Sie wollte weitersprechen, doch ein Kloß in ihrem Hals vermied das. „Es ... es würde mich freuen ...“, begann sie, brach dann aber ab. „Ja?“, fragte Mitsui und sah sie interessiert an. „Fuko würde gerne ... einen Freund finden ...“ Je weiter ihr Satz voranschritt, desto leiser wurde ihre Stimme. „Mitsui, komm, da drüben steht ein Lehrer! Wir sollten ihm zuhören!“, rief ein Mädchen, das Fuko nicht kannte und zog Mitsui von ihr weg, „Oh, hast du gerade mit ihr gesprochen?“ „Los, Fuko, gehen wir zu dem Lehrer“, schlug Mitsui vor. Die beiden Mädchen gingen voraus. Nach einiger Überlegung folgte Fuko ihnen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt. Sie hatte es nicht geschafft, mit Mitsui zu reden ... Dabei war sie so nett zu Fuko ... Das stimmte sie traurig. Sie überbrückte die Entfernung und stellte sich direkt hinter die beiden. Schweigend lauschte sie den Worten des Sprechers. Ein älterer Herr redete und begrüßte alle Neuankömmlinge. Um sie herum standen so viele Schüler. Und doch konnte Fuko sich keinem von ihnen nähern. Sie fühlte sich einsam ... Wie ein großes Loch, das jeder umging. Fuko wurde in ihre Klasse eingeteilt. Aber erst am nächsten Tag begann der Unterricht in der Klasse. Nach der Einteilung war jeder Schüler entlassen. Wenige gingen nach Hause. Die meisten blieben dort, um noch mit ihren neuen Freunden engeren Kontakt zu schmieden. Sie stellte sich hin und wieder zu einer Gruppe dazu, doch lange blieb sie dort nicht. Sie wurde nicht ausgeschlossen, aber sie konnte auch nichts beitragen. Es nützte nichts, wenn sie blieb ... Es war nur ... Zeitverschwendung. Mit gesenktem Kopf verließ sie die kleinen Schülergruppen und entfernte sich langsam vom Schulgebäude. Mitsui und das Mädchen hatten sie wohl vergessen und waren ohne sie davon gerauscht. Sie ging den mit Kirschblütenbäumen verzierten Weg entlang. Kaum jemand begegnete ihr. Nun war sie so allein, wie sie sich fühlte. Was sollte sie ihrer Schwester erzählen? Dass sie keinen einzigen Freund gefunden hatte? Dass sie wie immer versagte? Dass sich Kouko weiter um sie kümmern musste? Der Weg endete. Die Straße begann. Sie prägte sich diese Kreuzung genau ein. Hier musste sie immer wieder zur Schule einbiegen. Vielleicht ... vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder ... und vielleicht fand sie im Laufe des Jahres ... einen einzigen Freund ... Nur ... einen ... „Fuko!“, ertönte eine Stimme. Sie schaute auf. Auf der anderen Straßenseite war sie. Ihre Schwester. Ihre Schwester und Yusuke warteten auf sie. Sie ... sie waren ihre Freunde. Fuko spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Ihre Sicht wurde eingeschränkt. Sie sah verschwommen. Kouko wartete auf sie. Kouko war bei ihr ... Ihre Schwester war ihr einziger Freund! „Kouko!“, rief sie zurück. Bevor sie es realisierte, stürmte sie los. Sie rannte über die Straße. „Nein! Fuko, Vorsicht!“ Sie nahm die Worte ihrer Schwester kaum wahr. Bremsgeräusche wurden hörbar. Schmerzen. Etwas rammte sie. Sie fühlte sich schwerelos. Ein Schmerz. Ein letzter Schmerz ... an ihrem Kopf ... Das Gesicht ihrer Schwester ... Und eine tiefgehende Dunkelheit, in die sie fiel. Geräusche ertönten. Piep. Piep. Piep. Kouko saß auf einem Sofa vor einer großen Tür. Hinter dieser Tür war ihre Schwester. Ihre lebensgefährlich verletzte Schwester … Ein neuer Tränenschwall zuckte über ihr Gesicht. Yusuke umschloss sie fester. Er saß direkt neben Kouko. Auf seinem Gesicht war ebenfalls eine Tränenspur. Sie war schon vertrocknet. Trotzdem sah man, dass er mehr als angespannt war. Sorge breitete sich auf seinem Gesicht aus. Große, große Sorge. Dieselbe Sorge, die sich bei Kouko mittlerweile in Furcht verwandelt hatte. Was, wenn Fuko starb? Sie durfte nicht sterben … Sie war noch so jung … so unschuldig, so unerfahren … Sie zu verlieren, wäre schlimm. Sehr schlimm. Kouko war sich nicht sicher, ob sie das aushalten würde. Die Stunden flogen dahin und niemand rührte sich, um ihr etwas zu sagen. Nur das blinkende „Notfalllicht“ verriet ihr, dass Fuko dort drinnen lag und von Ärzten umsorgt wurde. „Es wird alles wieder gut …“, murmelte Yusuke. Seine Stimme war zögernd und brechend. Er wollte überzeugter klingen, als er selbst war. Oder einfach nur seine Hoffnungen aussprechen … „Ja … Dann werden wir mit ihr das Seesternfest feiern“, antwortete Kouko flüsternd, „Und wir werden glücklich sein …“ Yusuke nickte. Plötzlich erlosch das rote Licht. Zeitgleich sprangen Yusuke und Kouko auf. Ein Arzt im weißen Kittel kam zur Tür hinaus. Er sah weder glücklich noch traurig aus. „Was ist los?“, wisperte Yusuke. „Fuko liegt im Tiefschlaf. Ihr Zustand ist im Moment stabil, doch dies kann sich jederzeit ohne Vorzeichen ändern. Sie wird hier bleiben und überwacht werden. In nächster Zeit wird sie wohl nicht wieder erwachen.“ Kouko spürte, dass Tränen ihre Wange hinabliefen. Fuko lag im Koma … Fuko … Kouko fand sich weinend am Boden kniend wieder. Yusuke strich ihr sanft über den Rücken. Der Arzt machte sich von dannen. Zur selben Zeit, in derselben Stadt: Verwirrt erwachte sie. Wo war sie? Was war geschehen? Bremsgeräusche ... Schmerzen ... Kouko! Sofort schaute sie sich um. Hm? Was war das? Ein Raum voll mit Tischen und Stühlen erstreckte sich vor ihr. Am vorderen Ende befanden sich eine Tafel und ein Pult. Sie sah an sich herunter. Sie trug noch immer ihre Schuluniform. In ihrem Haar fühlte sie die Schleife. Was war hier los? Jetzt kam sie dazu, vor sich zu sehen. Holz? War sie hier ... im Kunstsaal? Dem Ort, an dem ihre Schwester immer unterrichtete? Fuko erhob sich und sah sich in den Schubladen um. Dort fand sie, was sie suchte. Sie zückte das Messer und setzte sich hin. In der einen Hand ein Messer, in der anderen das Holz haltend, begann sie zu schnitzen, was ihre Gefühle ausdrückte. Einen Seestern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)