Luftwurzeln von Elster (Eine Sherlock BBC Fanfic) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- John hat eine Fantasie. Sie wurde in Afghanistan geboren, in einer Nacht, die einem die Knochen im Leibe schmerzen ließ mit ihrem kalten klammen Wind, unter einem Himmel von schier endlosem Schwarz, dessen Sterne im nebligen Sprühregen erloschen waren. Gemessen an anderen Fantasien war sie vergleichsweise harmlos. Ein Bad. Er erinnert sich, dass der Gedanke plötzlich da war, sehr deutlich und ohne erkennbaren Zusammenhang. Ein ausgedehntes, friedliches Einweichen in warmem Wasser. Der Gedanke ließ ihn lächeln. Und so behielt er ihn für sich. Er erzählte nie davon, in den endlosen Runden von „Wenn ich zuhause bin, werde ich...“, es war seine Fantasie und er hütete sie eifersüchtig. Er dachte an des Bad, wenn die Nächte kalt waren, wenn die Duschen rationiert waren auf minimalen Wasserverbrauch, wenn das Wasser faulig roch, wenn er tagelang gar nicht duschen konnte, wenn er voller Blut war, wenn seine Muskeln vor Erschöpfung schmerzten und wenn er sich fühlte als könnte er niemals all den Sand loswerden, der an ihm klebte wie alte Haut; in Haaren, Augen, Ohren und Mund. Er konnte sich nicht genau erinnern, wie es sich anfühlte, sein letztes Vollbad lag weit zurück, noch vor seiner Zeit an der Uni, aber das war gut. Eine echte Fantasie – wie eine Orchidee – hat Luftwurzeln. Monate nach seiner Verletzung, nach dem Ende seiner Karriere, seines Lebens, saß er auf seinem Bett in der winzigen Wohnung, die er sich nicht leisten konnte, und es fühlte sich nicht wie Zuhause an, nicht wie London, nicht wie irgendetwas. Nichts fühlte sich wie etwas an, außer seiner Schulter und seinem Bein, die sich wie Schmerz und Versagen anfühlten, wobei die Unterscheidung allerdings schwer auszumachen war. Da war eingebildeter Sand in seinen Augen, in seinem Hals und zwischen seinen Fingern, die die Pistole hielten. Er hatte dem Verkehr draußen gelauscht und gedacht, dass alles auch ohne ihn ziemlich gut funktionierte. Er hatte die Pistole angesehen und beobachtet, wie das Zittern in seiner Hand verschwand, wenn er sie genau so hielt, nur ein bisschen geneigt, auf seinen Kopf gerichtet. Was macht es schon?, hatte er gedacht und dann- hatte er an warmes Wasser gedacht, an das langsame, friedliche Untertauchen. Sein Bad. Der Gedanke brachte ihn zum weinen. Und dann hatte er gelacht, mit dem eingebildeten Sand, der in seinen Augen brannte und in seinem Hals kratzte, mit dem falschen Schmerz in seinem Bein und dem echten Schmerz in seiner Brust, weil dieses Drecksloch von einer Wohnung nicht einmal eine Badewanne hatte. Wie um das wieder gut zu machen, hat die Wohnung in der Baker Street eine Monstrosität, die aussieht als wäre das Badezimmer um sie herum gebaut worden. Ihre weiße Emaille ist an drei Stellen abgeplatzt und gibt das darunter liegende matte, dunkle Metall preis, das aller Wahrscheinlichkeit nach Gusseisen ist, wie die Klauen auf der sie steht. Lächerlich pompös und annähernd perfekt. „Wunderschön“, sagt John und Sherlock guckt ihn mit diesem seltsamen, eindringlichen Blick an. „Ich werde sie morgen brauchen, wenn du keine Einwände hast“, sagt er. Und wenn du doch Einwände haben solltest, werde ich sie trotzdem benutzen, entnimmt John dem Tonfall seiner Stimme. Er ist gleichermaßen irritiert und amüsiert. Allerdings nur bis zum nächsten Morgen, als er ins Badezimmer stolpert, müde und ein wenig verwirrt über die neue Umgebung und die ungewohnte Abwesenheit von Schmerz in seinem Bein, und die Badewanne gefüllt mit Erde vorfindet. Er muss sich setzen, sinkt zu Boden, den Rücken an die Badezimmertür gepresst, er lacht so sehr. Er stellt sich den Körper in der Erde vor, er stellt sich Sherlock vor, wie er gewissenhaft das Fortschreiten der Verwesung protokolliert. Er stellt sich den Körper in seiner eigenen Uniform vor und fühlt sich ausgeklinkt, abgekoppelt, so als wäre er derjenige in der Badewanne, unter der Erde, und würde zuhören, wie jemand anders neben ihm zusammenbricht. Er braucht lange Minuten, bis er sich wieder wie er selbst fühlt, John Watson, auf den kalten Fliesen sitzend und vollkommen wahnsinnig und vollkommen lebendig. Das Gefühl ist weniger erdrückend als gewöhnlich. Er steht auf, zieht seinen Pyjama aus und steht für eine lange Zeit unter der Dusche ohne irgendwas zu denken. Klopfen an der Tür lässt ihn hochfahren. „Zehn Minuten!“ ruft er über das Rauschen des Wassers und merkt dann, dass er sein Duschgel in der alten Wohnung vergessen hat. „Sherlock? Kann ich dein“, er blinzelt sich Wasser aus den Augen, um die Flasche zu sehen und lacht, „deine Duschcreme mit Micromoisture Technology benutzen?“ Es kommt keine Antwort, was John so interpretiert, dass Sherlock nicht mehr da ist. Er benutzt dann auch noch das lächerliche Shampoo, weil es behauptet Seidenproteine zu enthalten und weil dessen Besitzer die Wanne mit Erde gefüllt hat. Als er nach einem kurzen Umweg nach oben, um sich abzutrocknen und anzuziehen, ins Wohnzimmer hinunter kommt, findet er Sherlock auf der Couch sitzend vor, gekleidet in Schlafanzughosen, ein altes T-Shirt und einen Morgenmantel. Er balanciert seinen Laptop auf den Knien und tippt mit finsterer Entschlossenheit. John steht für einen Moment einfach nur da und starrt seinen neuen Mitbewohner an. „Da ist Erde in der Badewanne“, sagt er, der Tonfall des Satzes klar als Frage erkennbar. Er kommt nicht umhin, sich beruhigt zu fühlen in Bezug auf das Wahnsinnigwerden. Es ist alles relativ, nicht wahr? Falls Sherlock erkannt hat, dass es eine Frage war, scheint er zumindest nicht bewogen, sie zu beantworten. „Du machst Tee“, sagt er. „Für mich auch, danke.“ Die Küche ist... interessant. John schafft es zwei Tassen ausfindig zu machen, in einem Regal, das ansonsten hauptsächlich Messzylinder und Erlenmeyerkolben enthält. Er füllt den Wasserkocher, schaltet ihn ein und geht zurück ins Wohnzimmer. Für eine Sekunde oder zwei denkt er darüber nach, Sherlock zu fragen, was in der Wanne begraben liegt, entscheidet sich dann aber dagegen. Er will es nicht wissen. „Für wie lange?“ fragt er nur. Sherlock sieht von seinem Laptop auf und für einen kurzen Moment aus dem Fenster, ein nachdenklicher Ausdruck auf seinem Gesicht, dann zurück zu seinem Laptop. „Zehn Tage, zwei Wochen maximal.“ „Zehn T- Was? Warum?“ protestiert John, bevor er sich erinnert, dass er es nicht wissen möchte. Er stoppt Sherlocks Erklärung mit einer erhobenen Hand. „Nein, ist in Ordnung. Vergiss es.“ Sherlock sieht ihn mit diesen seltsam blassen, inquisitorischen Augen an. „Wirklich“, sagt er spöttisch. „Naja. Es wäre toll, wenn du mir von“, John sucht nach einem Wort, findet aber keines, „solchen Dingen sagen würdest. Vorher“, fügt er hinzu. „Ich denke nicht, dass ich dieses Experiment in absehbarer Zeit noch einmal wiederholen werde. Es ist furchtbar lästig die ganze Erde hier rauf zu bringen und die Resultate sollten ausreichend sein.“ „Experiment. Okay.“ John zögert. „Und die Küche...“ Er lässt den Satz offen, in der Hoffnung auf eine Reaktion. „Ja?“ „Sie ist teilweise ein Chemielabor.“ „Ja.“ Der Wasserkocher klickt. John geht zurück, um den Tee aufzubrühen. Er denkt über Sherlock nach (der irgendwo zwischen exzentrisch und klinisch geisteskrank anzusiedeln ist), über die Gründe, warum hier zu leben eine gute Idee ist (die niedrigen Kosten, die ziemlich schöne Wohnung, der unerklärliche Fakt, dass er Sherlock und die ihm eigene Art des Wahnsinns mag) und über Kompromisse. Eine Wohnung zu teilen setzt Kompromisse voraus, richtig? „Ich will die Chemikalien in den unteren Schränken, wo sie nicht auf mein Essen tropfen können“, sagt er, als er Sherlocks Tee vor ihm auf dem Tisch platziert. „Und sie kommen in eine Leckagewanne.“ Sherlock sieht ihn an als wäre er eine interessante neue Spezies, aber er nickt. „Ich kann im Krankenhaus eine bekommen.“ „Schön“, sagt John. „Und ich will wirklich nicht wissen, wo du deinen Laborbedarf stiehlst.“ Sherlock lächelt ihn an, klappt seinen Laptop zu und sie trinken ihren Tee in einträchtigem Schweigen. Alles in allem ist es ein guter Morgen. Das Leben in der Baker Street 221b, erkennt John, ist im Grunde ziemlich einfach. Es geht nur darum, seine Erwartungen anzupassen. Sobald man nicht mehr erwartet, dass Sherlock jemals etwas Normales tut oder auch nur wüsste, was normal wäre, hat man das Schlimmste hinter sich. Sherlock bringt die Leckagewanne und sie organisieren das Küchenlabor so, dass sie beide es akzeptabel finden. John setzt eine generelle Lebensmittel-über-Chemikalien-Regel in Kraft, die den Kühlschrank mit einschließt und dafür sorgen sollte, dass Essen eine relativ sichere Angelegenheit ist. Er beschließt einige Duzend Plastikdosen zu kaufen, um den Lösungsmittelgeschmack fernzuhalten, den ausnahmslos alles nach zwei Tagen im Kühlschrank annimmt. Das Wohnzimmer bleibt chaotisch, aber es ist eine Art geordnetes Chaos, mit dem John leben kann. Wenn der Zeitungsstapel zu hoch wird, um vom Sofa aus den Fernseher zu sehen, schichtet er ihn um, sodass er vor Sherlocks Schlafzimmertür steht und am nächsten Tag ist er verschwunden. John weiß nicht, ob Sherlock ihn wegschmeißt oder ob sein Schlafzimmer nach und nach zu einem labyrinthischen Tunnelsystem wird, und es interessiert ihn im Grunde auch nicht besonders. Es ist so eine Eigenart von Sherlock, diese Papierstapel. Zeitschriften, Bücher, Akten, Notizbücher, Zeitungen, sie alle akkumulieren und werden zu Miniaturversionen des schiefen Turms von Pisa oder lehnen in prekärer Schieflage gegen Wände, Türrahmen oder das nächste Möbelstück. Das Badezimmer bleibt wundersam sauber. Oder zumindest relativ sauber, John ist sich ziemlich sicher, dass es Mrs. Hudsons strengem Blick nicht standhalten könnte. Aber der Staub bildet keine Flocken und es ist nirgendwo Schimmel zu sehen, John reicht das allemal. Auf der kleinen Kommode neben der Toilette lagern die Fundamente eines neuen Papierturms: die Oktoberausgabe von Chemie in unserer Zeit, der Atlas of Human Anatomy und ein fünfseitiger Computerausdruck auf japanisch. Es waren jetzt elf Tage und die Erde ist immernoch in der Badewanne. John starrt sie an während er sich die Zähne putzt. Wir könnten Gemüse anbauen, denkt er müßig. „Wir könnten Gemüse anbauen“, sagt er, als er die Küche betritt. Sherlock sitzt am Tisch und liest ein Buch. Und wartet darauf, dass John runter kommt und Tee kocht. „Nicht in der Badewanne“, sagt er, „das würde meine Ergebnisse verfälschen.“ „Oh natürlich.“ John kann sich an eine Zeit erinnern, als amüsiert und irritiert sein noch zwei unterschiedliche Gefühle waren. „Ich bin beinahe fertig“, sagt Sherlock. „Gut.“ Und einfach so, zwei Tage später, als John von einem Termin mit seiner Therapeutin nachhause kommt, ist die Badewanne leer. Er sieht es aus dem Augenwinkel und macht eine hastige Kehrtwende, um in der offenen Badezimmertür stehen zu bleiben. Sie ist nicht nur leer, sie ist sogar sauber. Sherlock ist im Wohnzimmer und bastelt mit einem Löteisen an einem alten Computermonitor herum, den er am Straßenrand gefunden hat. John hofft, dass er keine Bombe baut. Es ist vermutlich unmöglich, eine Bombe aus einem Computermonitor zu bauen, allerdings ist es auch Sherlock, der es versucht. Beziehungsweise hoffentlich nicht versucht, aber man weiß nie. „Ist die Badewanne sicher oder sollte ich sie besser desinfizieren?“ fragt John. Sherlock verdreht die Augen als wäre die Frage völlig widersinnig. „Hab ich schon.“ John starrt ihn ein paar Sekunden lang an. „Oh,“ sagt er dann. „Gut. Danke.“ Sherlock lötet irgendwas. Nach kurzem zögern fragt John, „Da war keine Leiche in der Badewanne, oder?“ Und da ist er wieder: dieser verdutzte und beinahe begeisterte Blick, als hätte Sherlock keine Ahnung, wovon John eigentlich spricht, und fände es fantastisch. „Insektenlarven“, sagt er mit einem seltsamen schiefen Lächeln. „Ah“, macht John leicht verlegen. „Und- bitte sag mir, dass ich dich nicht gerade auf Ideen gebracht habe.“ Volles Lächeln jetzt. Volles Lächeln und Sherlock schaltet das Löteisen aus, steht auf und kommt zu ihm herüber. „Bist du hungrig? Es gibt einen neuen Griechen, den ich ausprobieren wollte.“ Volles Lächeln und keine Antwort. Ist es paranoid, dass ihm das Sorgen macht? Sherlock steht über Dingen wie Einkauf und Haushalt, eigentlich allem Praktischen, und ja, das ist manchmal frustrierend, aber meistens macht es John nicht wirklich etwas aus. Es ist nicht so, dass Sherlock tatsächlich von John erwartet, dass er alles für sie beide macht, das Einkaufen zum Beispiel: er würde vermutlich einfach mit einem leeren Kühlschrank leben, bis es ihm mal in den Kram passen würde, sich zu erinnern, dass Menschen Lebensmittel brauchen. Es ist eher so, als würde Sherlock ab und zu sein Essen stehlen und John kann ihm das nicht so recht übel nehmen, in Anbetracht der Tatsache, dass der Mann ohnehin zu selten isst und ihm ständig zu kostenlosen Mahlzeiten in Restaurants verhilft. Er schätzt, dass es da eine gewisse Balance gibt. John selbst findet Einkaufen beruhigend und nervenaufreibend. Er ist wahnsinnig, das muss also keinen Sinn ergeben. Es ist so absolut normal, ein Supermarkt voller harmloser, gewöhnlicher Leute – dieser Teil der Angelegenheit ist beruhigend, erfreulich sogar – und ihm, was der nervenaufreibende Teil ist. Er fühlt sich so irreal. Es gibt einfach keinen Platz für die Realität von Gefahr, von Krieg, von Gewalt. Er ist ein zerbrochenes Ding, mit einer dünnen Schnur zusammengehalten. Da sind Teile von ihm, die passen nicht zwischen ofenfertige Gerichte und Haushaltswaren. Alle hier wissen, was sie tun, sind normal und harmlos, kaufen Zeug, leben, sind Teil der zivilisierten Gesellschaft. Er fühlt sich abgekapselt. Das hat er seiner Therapeutin nicht verraten, er erzählt ihr nie die wichtigen Dinge. Weil er ihr nicht traut, das hat sie richtig erkannt. Er hat darüber nachgedacht, jemand anders zu finden, aber das wäre nur ein anderer Fremder, der versuchen würde in seinen Gedanken herumzuschnüffeln, und das macht ihn nervös. Sie ist in Ordnung. Ich fühle mich wie eine Krebszelle, hat er ihr nicht gesagt. Ich war Teil von etwas und bin es jetzt nicht mehr, hat er nicht gesagt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, weil alles, was ich bisher wusste, keinen Sinn mehr ergibt. „Ich habe einen Job gefunden“, hat er ihr gesagt. „Es wird gut sein, wieder als Arzt zu arbeiten“, hat er gesagt und, „Ich hatte eine Verabredung mit meiner Kollegin. Sie ist [normal, harmlos] toll.“ Und das ist sie auch, Sarah ist wunderbar, John ist sich nur nie sicher, ob er aus den richtigen Gründen mit ihr zusammen ist. Es wirkt immer wie die richtige Entscheidung, wenn er darüber nachdenkt, aber es fühlt sich oft an wie das Einkaufen. Er erwischt sich dabei, dass er Sherlocks lächerliche Waschlotionen kauft, weil es mehr als zehn zur Auswahl gibt. Mehr als zehn ist zu viel, er findet nicht, dass seine Haare so viel Überlegung verdient haben. Wenn Sherlock über seine Haare nachgedacht hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass sie seidiger sein sollten, dann will John ihm nicht im Weg stehen. Er denkt über das Bad nach und es macht in unsicher. Er müsste nur nachhause gehen, aber... er hat den Verdacht, dass es nicht wirklich helfen würde, es würde nichts bedeuten. Er kann den eingebildeten Sand nicht mehr fühlen und wenn er immernoch da ist, dann hat seine Haut ihn aufgenommen, genauso wie sie auch das Blut aus seinen Alpträumen absorbiert sobald er das Licht anschaltet. Es ist jetzt innerer Sand und vermutlich bildet er hier und da Klümpchen, aber er ist leicht zu ignorieren. Letztendlich kauft er Schaumbad. Es ist kalt draußen, so kalt, dass es in der Hand weh tut, die den Einkaufsbeutel hält, sodass er sie alle paar Minuten wechseln muss. Er beschwört die Fantasie herauf: schwerelos treiben in warmem Wasser. Es wäre albern kein Bad zu haben, nur weil es nicht das reinigende Erlebnis ist, zu dem er es hochstilisiert hat. Und trotzdem ist er ein bisschen erleichtert als er nachhause kommt und bemerkt, dass Sherlock immer noch unter der Dusche steht. Und dann ist er besorgt, weil Sherlock schon dabei war zu duschen bevor John die Wohnung verlassen hat. Er klopft, wartet, klopft nochmal, sagt „Sherlock?“, wartet und probiert den Türgriff. Es ist offen. Sherlock steht einfach nur unter dem Wasserstrahl, mit der steinernen Ruhe, die ihn überkommt, wenn er tief in Gedanken ist. Ein Sherlock-farbenes Mosaik aus Wassertropfen und John sucht nach Zeichen der Schwäche in den Konturen, aber Sherlock wirkt als wäre er in Ordnung, unverwundbar sogar, also schließt John die Tür wieder leise. Sherlock ist in einer seltsamen Laune, er hat seit gestern kein Wort von sich gegeben. Manchmal sage ich tagelang kein Wort, erinnert sich John an seine Worte. Eines der ersten Dinge, die Sherlock zu ihm gesagt hat. Würde Sie das stören? Und John hat nie geantwortet, hat nichtmal die Frage richtig registriert. Er hatte nie die Zeit auch nur darüber nachzudenken, weil dieser eigenartige Mann, der wenig später sein Mitbewohner werden würde, schon längst drei Gedanken weiter war. Sherlock ist oft frustrierend und manchmal richtiggehend nervtötend, also ja, wenn John je dazu gekommen wäre, darüber nachzudenken, dann wäre seine Antwort vermutlich nein gewesen. Nein, wenn Sie zur Abwechslung mal still wären, würde mir das nicht das geringste ausmachen. Aber jetzt, wo es passiert, erkennt er, dass es das doch tut. Zuerst dachte er, Sherlock würde schmollen. Er hat das ein paarmal gemacht und aus den lächerlichsten Gründen. Als John zum Beispiel versehentlich eines von Sherlocks Experimenten vom Küchentisch gerissen hat, war Sherlock für volle drei Stunden eingeschnappt. Als er die letzten Kekse gegessen hatte und sich weigerte zu gehen und neue zu kaufen, weil Sherlock jetzt sofort welche wollte, brachte ihm das zwanzig Minuten vorwurfsvollen Schweigens und verletzter Blicke ein. Das Schmollen macht John aber ehrlich gesagt nichts aus, es ist leicht zu ignorieren und wird Sherlock für gewöhnlich schnell langweilig. Es ist sogar ein bisschen unterhaltsam für John, kunstvoll aggressives Schmollen. Sherlock tut alles menschenmögliche, um klar zu machen, dass, oh ja, er dich gerade nicht mag. Keksdieb. Ignoranter Zerstörer wissenschaftlicher Experimente. Sehr eloquent, John hat darüber nachgedacht, Fotos zu schießen. Aber das hier ist anders. Das, was auch immer es ist, ist nicht eloquent oder dramatisch oder exzentrisch. Es ist ganz einfach nicht Sherlock. Keine Beschwerden über die Langeweile, kein Angeln nach Aufmerksamkeit, er ist weder genial, noch unausstehlich, noch idiotisch. Er sperrt nur alles aus, sitzt stundenlang in seinem Sessel oder seinem Zimmer herum und wandert durchs Haus wie ein Geist. Oder blockiert die Dusche, allem Anschein nach. Gestern hat John versucht es zu ignorieren, genauso wie er alle nervigen, besorgniserregenden Dinge ignoriert, die Sherlock tut, einfach weil er Sherlock ist und man ihn ja sowieso nicht abhalten kann. Wenn man Glück hat, hört er von allein wieder auf. Aber Sherlock tut nichts und vielleicht ist John verrückt, aber das ist etwas, was er unmöglich ignorieren kann. Es ist schwer zu ignorieren, dass es keinen sarkastischen Kommentar mehr gibt, sobald er den Fernseher anschaltet. Es ist schwer zu ignorieren, dass die Zeitungen auf dem Küchentisch unangerührt bleiben oder dass sein Handy und sein Laptop genau dort sind, wo er sie gelassen hat. „Er ist manchmal so“, seufzt Mrs. Hudson als John endlich runter in ihre Wohnung flüchtet, weil das Geräusch der laufenden Dusche beginnt, ihm auf die Nerven zu gehen, „armer Junge.“ Und John bleibt hängen bei diesem 'armer Junge'. Er wird vermutlich niemals verstehen, wie Mrs. Hudson Sherlock sieht. Wenn sie von ihm spricht, dann könnte man den Eindruck bekommen, als wäre er ein ganz normaler, netter junger Mann. Es ist immer ein bisschen unbegreiflich, weil Sherlock in ihrer Gegenwart niemals eine seiner Krokodilstränen vergießt und niemals eines dieser Lächeln benutzt, die er sich von normalen Leuten abguckt; er ist einfach nur sein manisches Selbst, vielleicht ein klein wenig abgemildert in den blutigen Details. Es gibt nur eine einzige Erklärung: dass sie Sherlock tatsächlich mag. Was gerade für John vermutlich nicht so überraschend sein sollte, in Anbetracht der Umstände, aber – nun ja, er würde zumindest nicht so weit gehen, 'armer Junge' zu sagen. Wahrscheinlich. Als er wieder nach oben kommt, ist Sherlock zurück in seinem Sessel, aber da ist kein Schrei nach Tee oder anderen Botendiensten. John beobachtet ihn eine ganze Weile lang von der Küche aus, aber er bringt es nicht über sich, das Wohnzimmer zu betreten. Er ist ratlos und es ist seltsam, dieses Gefühl, dass er dieses gar nichts keine Minute mehr aushalten kann. Ihm fällt auf, dass einkaufen zu gehen nicht so schlimm ist, wenn er hierher zurück kommen kann und fühlen, dass er überhaupt noch irgendwo hin passt, selbst wenn es ein völlig chaotisches Wohnzimmer voller Papierstapel und eine Küche voller Giftstoffe ist. Aber heute ist ein schlechter Tag. Er kann nicht schlafen in dieser Nacht, sondern liegt wach und lauscht auf Anzeichen von Bewegung. Sein Schlafzimmer ist direkt über dem Wohnzimmer und für gewöhnlich kann er es hören, wenn Sherlock schlafen geht oder, wenn es eine der Nächte ist, in denen Sherlock nicht schläft, kann er hören, wie er unten herumläuft. Aber da ist nichts und deshalb kann er nicht schlafen. Gegen zwei Uhr gibt er schließlich auf und schlurft müde die Treppe herunter. Sherlock ist immernoch in seinem Sessel. Allerdings muss er sich zwischendurch bewegt haben, denn der Geigenkoffer liegt offen auf den Sofa, das Instrument im Innern unangerührt. „Ich kann nicht schlafen“, sagt John überflüssigerweise und ist enttäuscht als Sherlock ihn nicht darauf hinweist. „Tee?“ Keine Antwort. Natürlich nicht. Sogar die Violine ist still. John macht trotzdem einen zweiten Tee für Sherlock und hält die Tasse dann so lange vor dessen Gesicht, bis er sie endlich nimmt. John setzt sich in seinen eigenen Sessel gegenüber, wärmt sich die Hände an der Tasse und beobachtet Sherlock. Sherlock beobachtet ihn, aber da ist nichts von der üblichen Intensität, alles an ihm ist gedämpft. „Du kannst spielen, wenn du willst. Ich weiß, ich hab dir gesagt, du sollst nachts nicht, aber... naja, ich bin sowieso wach, also-“ Sherlock schüttelt den Kopf. Er trinkt einen Schluck und Johns innerer Arzt ist froh zu sehen, dass Sherlock wenigstens etwas Flüssigkeit zu sich nimmt. Hat er gegessen? Der springende Punkt ist, dass John es versteht. Oder denkt, dass er es versteht; es ist absolut möglich, sogar wahrscheinlich, dass er projiziert. Aber er hatte selbst eine Phase in der er nicht gesprochen hat, nachdem er zurückkam, vor Sherlock. Einige Tage waren einfach ohrenbetäubend. Es ist wie der Blog. Die Stille ist der weiße Bildschirm, die besorgten Blicke das spöttische Blinken des Cursors. Ein Gefühl wie die Auflösung von Sprache, als ob das, was er ausdrücken wollte, sich niemals in Worte fassen ließe, die jemand anders begreifen könnte. Es machte jeden Satz, den er dachte, bedeutungslos, sodass es zum Schluss gar nichts mehr gab, das es Wert gewesen wäre zu sagen. „Fühlst du dich jemals wie Krebs?“ versucht er und er weiß, dass es keinen Sinn ergibt, aber das ist egal, weil Sherlock nichts sagen wird. Er fühlt sich sicher. Dann sitzen sie schweigend zusammen und trinken ihren Tee und das scheint etwas zu sein, das immer funktioniert, egal wie falsch alles ist. John wird am nächsten Morgen vom Krampf in seinem Nacken geweckt, vom Schmerz in seiner Schulter, der bis in den Rücken vorgedrungen zu sein scheint. Gott, er ist einfach zu alt um in einem verdammten Sessel zu schlafen. Da ist eine Decke. Sherlock hat ihn in de Nacht zugedeckt. Er wusste nicht einmal, dass sie eine Decke besitzen. Seine Dankbarkeit ist allerdings stark begrenzt. „Lass mich nie wieder im Sessel schlafen“, stöhnt er. Sherlock guckt ihn leicht beleidigt an. Er sitzt auf der Couch, die Geige in seinen Armen. Die Finger seiner linken Hand streicheln geräuschlos über die Saiten. John seufzt. Aus dem Sessel aufzustehen produziert Geräusche, wie sie niemand von seinem Körper hören will und sein Bein fängt von den wenigen Schritten zum Badezimmer an weh zu tun als wäre es nie besser gewesen. Er zögert nur einen kurzen Moment ehe er sich ein Bad einlässt. Es wird ihn für den Rest des Tages müde machen, aber er muss nicht arbeiten und er kann sich unmöglich noch erschöpfter fühlen, als er es ohnehin schon tut. Während das Wasser einläuft, macht er Tee und Toast für Sherlock und stellt sie vor ihm auf den Couchtisch. Sherlocks nackte Füße ruhen nur wenige Zentimeter entfernt und für eine Millisekunde denkt John, dass ihn nackte Füße auf dem Tisch und neben dem Essen vielleicht stören sollten, aber in diesem Haushalt, wo es tote Füße sein könnten, wiegen nackte Füße nicht so schwer. Er sagt Sherlock nicht, dass er etwas essen sollte. Es ist in dem Zusammenhang eine völlig überflüssige Bemerkung und diese machen Sherlock widerwillig, selbst wenn er gute Laune hat. Und dann nimmt John sein Bad. Das Wasser ist ein bisschen zu heiß, aber er kann fühlen, wie sich seine verkrampften Muskeln entspannen. Es ist schön, wenn auch ein wenig zu ruhig, er hätte das Radio anmachen sollen. Er lässt sich tiefer sinken bis das Wasser seine Ohren bedeckt und lauscht für eine Weile seinem Herzschlag. Es fühlt sich seltsam an, als ob es nichts mehr gibt, das ihn zusammenhält, er aber trotzdem nicht auseinander fällt. Oder vielleicht tut er das, aber alles was abbricht wird im Wasser aufgelöst, wie der Krampf in seiner Schulter und die trügerischen Schmerzen in seinem Bein. Als er wieder auftaucht, hört er die Violine, zögerliche Töne, die aus dem Wohnzimmer herübergetragen werden. Sie lassen ihn lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)