Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Prolog: Die unreine Hikari -------------------------- Die Pflicht eines jeden Wächter ist es für das Gute zu kämpfen; diejenigen zu schützen, die von Schwäche gezeichnet sind. Für dieses edle Ziel riskieren sie ihr Leben und beschützt von ihrem Element eliminieren sie die Kreaturen, die unter dem roten Himmel hausen - die Dämonen. Seit jeher wurden die Wächter von dem strahlenden Licht der Hikari beschützt und geleitet, doch auch sie konnten nicht verhindern, dass die Wächter Den Tempel aufgeben mussten und der siebte Elementarkrieg gegen die Dämonen seine Opfer forderte. In diesem zerstörerischen Krieg erstrahlte ein neues Licht am dunklen Himmel des Schlachtfeldes: Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White. Nie dachte sie an ihren eigenen Vorteil, an eigene Wünsche und Träume, sondern nur an das Wohl ihrer Mitwächter. Man sagt, dass die Göttin des Lichts sie segnete, um die Dämonen niederzuringen und den Frieden über die Wächter zu bringen. Selbstlos opferte White, wie unzählige Lichtwächter vor ihr, ihr Leben – auch wenn der Frieden nicht ewig währen würde. Doch kurz vor ihrem Tode gebar sie eine Tochter: ein Mädchen genauso außergewöhnlich wie ihre Mutter...mit dem Unterschied, dass ihre Außergewöhnlichkeit unbeliebt, gar verhasst war. Denn sie passte nicht ins Schema der Lichtwächter. Schon bei ihrer Geburt wurde sie gebrandmarkt als unrein; als befleckte Seele. Durch diese Unreinheit befürchteten die Hikari, dass sie den Untergang ihrer Familie einläuten würde. Um dies zu verhindern, wurde beschlossen, die unreine Hikari zum Tode zu verurteilen. Laut den Unterlagen erlebte das Mädchen niemals den Sonnenuntergang. White betrat das Zimmer ihres Vaters, welches ungewöhnlich dunkel war und nur eine flackernde Kerze als Lichtquelle besaß. Das Licht dieser Kerze erhellte die Verzierungen der weißen Säulen, die an der Wand standen. Es war wie ein eigenartiges Phänomen, diesen Raum so dunkel zu sehen, denn ihr Vater verabscheute die Dunkelheit – zusammen mit allen Wesen, die in dieser hausten. Er saß an seinem mit allen möglichen Unterlagen und Schriftrollen beladenen Schreibtisch; seine rechte Hand war in seinem weißen Pony vergraben. Man sah ihm seine Verzweiflung an; förmlich war ihm diese ins Gesicht gemeißelt. White wusste genau, was der Grund seiner Verzweiflung war, denn es war ihre Schuld. Dennoch hatte sie kein schlechtes Gewissen - sie hatte das Richtige getan, das hatte sie damals gewusst und sie war immer noch überzeugt von der Richtigkeit ihrer Tat. „…wie konntest du uns –mir - das antun…?!“, sagte er mit heiserer Stimme, während die Angesprochene die Tür hinter sich schloss, wo sie jedoch stehen blieb, denn sie kannte sein Temperament allzu gut. „Ich habe ein Leben gerettet. Was ist falsch an meiner Tat?“ Ihr Vater schaute sie über seine Schulter hinweg kalt an. „Was daran falsch war…?!“, zischte ihr Vater und drehte sich jetzt ganz zu ihr um. „Du hast einen direkten Befehl von mir missachtet! White! Du hast eine unserer heiligen Regeln gebrochen! Du hast unsere Familie verraten! Verstehst du denn nicht, was für Folgen das Überleben dieses Mädchens für unsere Familie hat?! Sie wird Schande über sie bringen! Nein, schlimmer noch, sie wird unsere Familie verunreinigen!“ White antwortete nicht, während ihr Vater sie wutentbrannt anfunkelte - eine Wut, welche sie bereits vorausgesehen hatte. „Ich bin mir meiner Tat durchaus bewusst, Vater. Dennoch: Ich bereue es nicht, das Leben meiner Tochter gerettet zu haben.“ Der Angesprochene schlug mit der zusammengeballten Faust auf den Schreibtisch, so dass die Tintengläser klirrten. White zuckte nicht einmal zusammen; nach wie vor war sie die Ruhe selbst. „White! Das ist nicht deine Tochter! Sie ist eine Fehlgeburt!“ „In ihr fließt dein Blut und das meine und damit ist sie eine Hikari.“ Er atmete tief durch, um sein Temperament im Zaum zu halten. Er konnte nicht begreifen wie seine Tochter einfach so ruhig da stehen konnte, wo doch der Untergang deren Familie auf dem Spiel stand!? Er griff zu einer Schriftrolle, die auf dem Schreibtisch lag und warf sie White zu, während er seine Stirn massierte. „Sieh dir das an!“ White überflog die Schriftrolle kurz, sagte allerdings nichts dazu. Ihr Blick blieb an einem Foto hängen: einem Foto ihrer Tochter. Es war das allererste Mal seit 16 Jahren, dass White ihre Tochter sah und sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus: ihre Tochter sah wirklich keiner Hikari ähnlich, weder hatte sie weiße Haare noch weiße Augen. Trotzdem sah sie ihrer Mutter, die durch und durch nur ein weißes Äußeres hatte, zum Verwechseln ähnlich. Unverwechselbar: es waren die gleichen langen Haare – nur die ihrer Tochter waren braun. Das selbe Gesicht, die zierliche und gar ein wenig zerbrechliche Figur. Nur die Augen, die hatte sie nicht von ihrer Mutter: sie waren dunkelblau wie der Ozean und in ihnen stand die pure Lebensfreude geschrieben. Zu beneiden… Allerdings strahlte sie nicht das aus, was eine „normale“ Hikari tat; normale Hikaris strahlten Güte, Freundlichkeit und Nächstenliebe aus, was man von ihrer Tochter nicht behaupten konnte: ganz im Gegenteil und als White die Regelverstöße mit ihren weißen Augen überflog, konnte sie feststellen, dass ihre Tochter ausgeprägte kriminelle Neigungen hatte. „598“, sagte ihr Vater und unterbrach somit die Gedankengänge seiner Tochter. Sie schaute auf. „598, wovon, Vater?“ „Die heiligen Regeln. Sie hat 598 der Regeln gebrochen! Und das in nur 16 Jahren! So viele wurden noch nicht einmal in zehn Generationen gebrochen! Wahrscheinlich kommen wir noch nicht einmal auf so eine enorme Zahl, wenn wir alle Regelverstöße zusammenrechnen, die unsere Familie je begangen hat! Bist du immer noch von der Richtigkeit deiner Tat überzeugt?!“ Die Angesprochene bewahrte immer noch die Ruhe, was ihren Vater nur noch mehr reizte. Die Zahl der gebrochenen Regeln schien sie nicht zu beeindrucken - ohne Zweifel waren diese Verstöße unverzeihlich, jedoch war White überzeugt davon, dass ihre Tochter einen guten Kern hatte. Sie hatte den Tod nicht verdient: ganz gleich wie unrein sie war. „Vater. Wenn du sie jetzt töten lässt, haben unsere Vorfahren umsonst ihr Leben im Krieg verloren.“ Ihr Vater zuckte zusammen, antworte jedoch nicht. White fuhr fort: „Mein Bann, den ich vor 16 Jahren über unsere Feinde gelegt habe, schwächelt. Du weißt genauso gut wie ich, was das bedeutet. Die Wächter können nicht alleine gegen sie kämpfen, denn sie brauchen das Licht, das ihnen den richtigen Weg weist. Sie brauchen meine Tochter. Sie brauchen sie jetzt.“ Während White dies sagte, ging sie mit entschlossenen Schritten auf ihren Vater zu und die weißen Augen der beiden Hikari wichen einander dabei nicht aus. „Willst du daran schuld sein, dass wir unseren jahrhundertelangen Krieg, in dem schon unzählige Wächter ihr Leben einbüßen mussten, verlieren? Dass die Dämonen uns ausrotten? Ich habe nur zum Wohle unsere Familie gehandelt. Hätte ich meiner Tochter nicht das Leben geschenkt, stünden wir nun einer Niederlage bevor. Dies wäre nicht nur unser Untergang, sondern auch der Untergang der Menschheit…willst du dafür verantwortlich sein?“ Beide schwiegen, doch obwohl ihr Vater nicht antwortete, wusste White, dass sie das Leben ihrer Tochter gesichert hatte. Vorerst. Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu, doch ihr Vater hielt sie auf: „Erinnerst du dich an den Tag vor 16 Jahren? Den Tag, an dem der Name deiner Tochter bestimmt wurde?“ Natürlich tat sie das: nie würde sie diesen Tag vergessen, denn er hatte nicht nur das Schicksal ihrer Tochter besiegelt, sondern auch das ihre. „Selbstverständlich.“ „…auch an die Prophezeiung?“ An diese wollte sie sich gar nicht erinnern. Doch natürlich tat sie es, auch wenn sie sich dagegen sträubte, immerhin es war das einzige, was sie an ihrer Tat vor 16 Jahren verunsicherte. Aber es konnte nicht wahr sein. Es war unmöglich. Nicht einmal so eine unreine Hikari würde so etwas tun. Da White nicht antwortete fuhr er selbstsicher fort: „Wie sagte er es noch einmal? Ach ja: „Das unreine Licht wird eine unverzeihliche Sünde begehen…es wird verbotene Gefühle für einen Dämonen hegen.“ So war doch der Wortlaut, oder hab ich das falsch in Erinnerung?“ White sah ihn über die Schulter hinweg ausdruckslos an und antwortete: „…nicht alle unsere Vorhersagungen sind eingetroffen.“ „Bete dafür, dass sie falsch ist, meine Tochter. Denn falls nicht… falls meine Enkelin diese Sünde begehen sollte…dann glaube mir, werde ich diesem unreinen Individuum seine gerechte Strafe erteilen! Denn selbst für eine Hikari gibt es einen Ersatz!“ Kapitel 1: Die Wette -------------------- „Ich hasse diesen gottverdammten Morgen!“ Dies waren die Worte, die die Oberschul-Schülerin Green Najotake just in diesem Moment zu gerne auf der überfüllten Straße Tokios lauthals verkünden würde, doch sie unterdrückte dieses Verlangen, immerhin würde es recht peinlich enden - auch wenn ihr dies im Moment nicht so wichtig erschien. Sie hatte ein anderes Problem - ein wichtigeres, eines, welches eigentlich nicht so oft eintrat: Green hatte verschlafen und das nicht nur um fünf Minuten, sondern um ganze zwei Stunden. Sie war eigentlich immer pünktlich; immerhin bezahlte das Mädchen die Gebühr für ihre Schule selbst, da wollte sie auch alles mitbekommen, wofür sie Geld löhnte. Aber nein, sie hatte verschlafen und diese Tatsache ärgerte sie über alle Maßen. Green lief die Treppen zur Eingangstür ihrer Schule hoch, übersprang ein paar Stufen und rannte ins Gebäude. Sie blieb erst wieder stehen, als sie vor ihrer Klassentür angekommen war, wo sie die Hände faltete, die Augen schloss und tief durchatmete. Sie versuchte das freundlichste Lächeln, das sie zustande bringen konnte, auf ihr Gesicht zu zaubern und trat mit eben diesem in die Klasse ein: „Guten Morgen allerseits!“ Ihr Lehrer drehte sich genervt von der Tafel weg und sah Green finster an, die ihn weiter mit einem unschuldigen Lächeln und großen Augen ansah. „“Morgen““? Es ist fast Mittag!“ Die Angesprochene verbeugte sich und antwortete: „Es tut mir Leid, Sensei! Ich habe verschlafen...der Wecker...“ Green wollte gerade zu einer weiteren – gelogenen – Entschuldigung ausholen, als ihr Lehrer sie unterbrach und sie auf ihren Platz beorderte. Green hatte Glück im Unglück; da es ihr erstes Mal war, musste sie nicht vor die Tür. Sie setzte sich an ihren Platz, jedoch nicht ohne mit ihrer Freundin Blicke auszutauschen: Shoyoki Minazaii, von den meisten nur Sho genannt. Ihre langen, roten Haare hatte sie wie immer zu einem Zopf gebunden und ihre braunen Augen waren neugierig auf Green gerichtet, mit der gleichen Frage, die auch ihre Freundin sich gestellt hatte: warum hatte sie verschlafen? Ihre ausgeprägte Neugierde war ihr Markenzeichen und es gab wohl kaum eine andere Schülerin, die den Posten als Leiterin der Schülerzeitung besser ausgeführt hätte als Sho. Green hatte mehrere Jahre bei der Familie Minazaii gelebt; einer reichen Familie, die ihr Vermögen einer florierenden Software-Firma zu verdanken hatten, die die Eltern leiteten. Sie waren auch für mehrere Jahre Greens Eltern gewesen, bis Green ausziehen durfte und sich räumlich von der Familie getrennt hatte: ganz unabhängig war sie allerdings nicht, denn sie bekam monatlich Geld von der Familie Minazaii, um die anfallenden Rechnungen begleichen zu können – und natürlich um leben zu können. Aufgrund der Arbeit waren ihre Adoptiveltern nicht viel zuhause und häufig in der Welt unterwegs, doch wenn sie es waren, besuchte Green sie regelmäßig. Green war ein Waisenkind, eigentlich nicht einmal eine Japanerin, sondern kam ihres Wissens nach ursprünglich aus Deutschland, wo die Familie Minazaii sie aus einem dortigen Waisenhaus geholt und sie adoptiert hatte. Fünf Jahre lag dies bereits zurück. Green versuchte dem Unterricht zu folgen, doch dies stellte sich schwieriger heraus als angenommen: wie so viele andere hasste auch sie Mathe. Mit diesen ganzen Zahlen konnte sie nichts anfangen, erst recht nicht mit den ach-so „logischen“ Regeln. Ganz im Gegensatz zu ihrem Sitznachbarn, welchen Green aus den Augenwinkeln anschielte: Gary Ookido, auch bekannt als der Klassenstreber. Er war recht verschwiegen und wenn er dann den Mund öffnete, kam selten etwas Positives aus ihm hervor - der Hauptgrund, warum Green nicht besonders gut auf ihn zu sprechen war. Und diese Haare! Ein Graus! Er sah aus, als wäre er unter einen Rasenmäher geraten, denn seine dunkelbraunen Haare stachen auf eine absolut merkwürdige Art und Weise von seinem Kopf ab. Gary hatte immer einen sehr ernsten Gesichtsaudruck, noch nie hatte sie ihn lächeln gesehen. Doch eines musste Green zugeben, so sehr sie ihn auch nicht mochte - er hatte schöne, aber kalte Augen in einem tiefen Waldgrün. Gary bemerkte, dass sie ihn anschaute und zeigte auf die Tafel, um ihr zu sagen, dass sie lieber dem Unterricht folgen sollte, anstatt ihn anzustarren. Green reagierte darauf nicht, sondern schaute stur in die andere Richtung. Sie wusste genau, warum sie ihn nicht mochte. Als die Klingel endlich erlösend klingelte, sprang Green sofort auf und ging hinüber zu Sho. Diese klemmte sich gerade ihr Bento unter den Arm und fragte Green, ob sie mit hinaus wollte. Es war zwar schon fast Ende September, jedoch herrschten immer noch sommerliche Temperaturen und so hatte Green nichts dagegen einzuwenden, auch wenn sie nichts zu essen mithatte - denn sie hatte es natürlich nicht geschafft sich noch etwas zu machen, ehe sie losgerannt war. Kaum dass die zwei Mädchen auf dem Schulhof waren und sich unter einem Baum hingesetzt hatten, begann Sho auch schon sie auszufragen: „Warum hast du eigentlich verschlafen, Green? Das kommt doch sonst nicht vor.“ Als hätte Green nur darauf gewartet, dass ihre Freundin diese Frage stellte, schoss sie auch sofort hervor und antwortete: „Genau darüber wollte ich mit dir reden: Ich hatte einen merkwürdigen Traum.“ Sho sah mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrem Essen auf: „ Einen Traum? Was soll das denn für einer sein, wenn der dich dazu bringt, zu verschlafen? War dein Konto leer gefegt?“ Green sah sie beinahe schon entsetzt an: „Mal den Teufel nicht an die Wand! Mir graust es jetzt schon vor der nächsten Miete. Ich will nicht im Minus landen! Das wäre...grauenvoll! Schrecklich!“ „Andere Sorgen hast du wirklich nicht. Solange du Geld hast, ist alles in Ordnung - hast du’s nicht, ist es der Weltuntergang!“ „Geld regiert die Welt: so ist das nun einmal. Aber das ist jetzt nicht das Thema!“ Sho nickte zustimmend und stocherte ein wenig lustlos in ihrem Essen herum. „Ja, genau dein Traum. Kam ein gut aussehender Typ drin vor?“, fragte ihre Freundin mit einem Grinsen. Typisch Sho - während Green sich am liebsten über Geld den Kopf zerbrach, gab es in den Gedanken Shos nicht viel anderes außer dem anderen Geschlecht. „Nein, Sho. Das ist nicht dein Traum gewesen.“ „Spann mich nicht so auf die Folter und erzähl.“ Green holte tief Luft und ging ihrem Wunsch nach: „Also... ich befand mich im schwarzen Nichts u-“ „So fangen die meisten Träume an“, unterbrach Sho Green, die wählte, nicht darauf einzugehen: „…und während ich da herumirrte und keine Ahnung hatte, wo ich war, konnte ich ein Gespräch mithören: ich sah niemanden. Ich glaube, dass es zwei Personen waren, weil ich eine weibliche Stimme und eine männliche gehört habe. Die Frau war die Ruhe selbst, im Gegensatz zu ihm - er schien ziemlich aufgebracht. Die beiden haben über einen „Fehler“ gesprochen, einen Fehler, den die Frau scheinbar begangen hatte... aber so viel hab ich nicht verstanden. Es war sehr abgehackt...aber die Stimme der Frau kam mir bekannt vor. Woher kann ich dir nicht sagen...aber sie war so seltsam vertraut...“ Nachdenklich lehnte Green sich zurück und blickte in das weit entfernte Gemisch aus blauen Farben, wo sich nur ab und zu weiße Flecken bildeten. „Fiel nicht irgendein Name?“ Genau in dem Moment, in dem Green den Kopf wieder senkte, schob sich einer der dickeren weißen Flecken über die Sonne. „Hm...nein. Nicht soweit ich gehört hatte. Nur... doch...„Hikari“. Aber das war in diesem Zusammenhang kein Name...glaub ich...sondern eher ein Begriff, versteht du? Das, was ich gehört habe, war sowieso recht merkwürdig. Ein Mädchen hatte gegen den Willen des Mannes überlebt...dann war da irgendein Bannkreis und sie haben von Krieg gesprochen... von Dämonen...Wächter.“ „Das hört sich für mich ganz nach einer Überdosis an Fantasyspielen an, Green“, erwiderte Sho weniger begeistert von der Erzählung ihrer Freundin. „War mir klar, dass du das sagen würdest. Aber wart’s ab, es geht noch weiter: plötzlich waren die Stimmen weg und ich war wieder alleine; alleine im Nichts. Doch dann hab ich plötzlich ein Geräusch gehört...oh, Sho ich sage dir, ich habe noch nie so etwas Schönes gehört! Es war ein Glöckchen, das Klingen eines Glöckchens: da bin ich mir absolut sicher... und der Ton war so besinnlich, so beruhigend...und ich hatte das Gefühl, der Ton würde mich zu etwas führen wollen, also bin ich ihm gefolgt. Immer weiter ins Nichts, bis...“ „...du aufgewacht bist?“ „Ich wünschte es wäre so! Die Dunkelheit löste sich auf, der Ton verschwand... und...“ „Und...?“ „Alles stand plötzlich in Flammen, ich habe Schreie, Jammer, Flehen um mich herum gehört...und zwischen den Flammen konnte ich kämpfende Gestalten sehen. Sho, es ähnelte einem Schlachtfeld…aber es kommt noch merkwürdiger...ich wurde plötzlich an der Hand genommen – als ich mich umdrehte, sah ich einen jungen Mann, der mich mit sich zog. An sein Aussehen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich hab mich gewehrt; ich wollte nicht mit. Ich schrie ihn an…ich weiß sogar noch, was ich sagte - nur nicht, was es zu bedeuten hat: „Onii-chan, lass mich los! Sie sind noch da draußen – ihnen wird etwas passieren! Lass mich los!“ Ich habe geträumt, ich hätte einen älteren Bruder!“ Es war eindeutig, dass Green nun Shos Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte und sie nicht länger dachte, dass ihre Freundin ihr Schwachsinn erzählte: viel mehr wunderte sie sich darüber, dass Green ihren Traum so detailliert wiedergeben konnte – sie konnte sich gewiss nicht so detailliert an ihre eigenen Träume erinnern. „Er führte mich durch die Flammen, bis wir plötzlich von jemandem, nein...es waren zwei Personen…aufgehalten wurden. Mein „Bruder“ stellte sich schützend vor mich und redete auf die beiden ein. Der eine grinste fies und der andere reagierte nicht...auch an sie kann ich mich nicht mehr klar erinnern, ich habe in den Flammen nicht viel erkannt. Doch der eine...der, der nicht reagiert hat…er kam mir auch bekannt vor. Ganz sicher hab ich ihn schon einmal gesehen – ganz sicher!“ „Und was passierte dann?“, fragte Sho begierig darauf, mehr zu erfahren. „Nichts...ich bin aufgewacht. Aber der Traum kommt mir so wirklich vor… wenn ich an dieses Schlachtfeld denke, höre ich immer noch die Schreie in meinen Ohren.“ Beide schwiegen kurz: ein Moment, den Sho nutzte, um gedankenverloren die Arme zu verschränken. „Merkwürdiger Traum, Green. Du hast sicherlich einfach zu viele Anime gesehen, wahrscheinlich kam dir der eine deswegen so bekannt vor. Hast ihn sicherlich schon ein Mal in einer Serie gesehen.“ Die Angesprochene schaute auf. „Meinst du?“ „Gibt es eine andere Erklärung?“ Ja, es gab eine, dachte sich Sho, doch diese wollte sie Green nicht mitteilen und behielt sie lieber für sich. Sie spielte mit dem Gedanken, dass Greens Drang nach einer Familie - ihrer leiblichen Familie - größer war, als sie es zugeben wollte. Gab es etwa eine andere Erklärung für solch einen Traum? Warum sonst hatte sie sich einen Bruder ausgedacht, der sie durch die Flammen führte? Sho wusste nicht, ob Green ihre Mutmaßungen teilte und es einfach nicht zugeben wollte, doch gerade als die Rothaarige etwas sagen wollte, ertönte das Geräusch der Schulklingel. „Denk nicht darüber nach, Green. Ich bin sicher, der Traum hatte nichts zu bedeuten. Wir alle träumen mal Schwachsinn!“, sagte Sho mit einem aufheiternden Lächeln, doch sie wusste, dass sie etwas Unmögliches verlangte, denn noch nie hatte sie ihre Freundin so begeistert erzählen gehört. Der Traum hatte sie in seinen Bann gezogen, das hatte Sho ganz deutlich an ihrem Tonfall gehört. Was beide Mädchen nicht wissen konnten war, dass jemand sie beobachtet und auch das Gespräch mitgehört hatte und dieser konnte mehr mit der Erzählung Greens anfangen: Er wusste - oder eher ahnte - was dieser Traum zu bedeuten hatte und er sagte ihm, dass es langsam Zeit wurde. Schon lange hatte er darauf gewartet, hatte teilweise schon frustriert geglaubt, dieser Tag würde niemals kommen. Sein Blick haftete an Green, folgte ihrem zierlichen Körper und ihren langen, nussbraunen Haaren, die bis zu ihrer Taille reichten. Doch am längsten hing sein Blick an ihren großen dunkelblauen Augen, die Selbstbewusstsein und Daseinsfreude ausstrahlten, doch auch eine gewisse Skepsis, die es ihr schwer machte, Freunde zu finden - denn Green schenkte niemandem bedingungslos ihr Vertrauen und wenn man es genau nahm, war Sho die Einzige, mit der sie halbwegs befreundet war. Er wandte sich von Greens Anblick ab und kam aus seinem Versteck hervor; immerhin wollte er die nächste Stunde nicht verpassen. Es regnete als Green den Nachhauseweg antrat und so war sie durchnässt bis auf die Knochen, als sie schließlich aus dem Fahrstuhl schritt und vor ihrer Wohnungstür ankam. Bevor sie ihren Schlüssel herausholte und zog sich schon einmal ihre Rollerblades aus, damit sie Schmutz in ihrer Wohnung vermeiden konnte. Als sie den Schlüssel dann schließlich ins Schloss steckte, bemerkte Green, dass die Tür überhaupt nicht verschlossen war. Das konnte nur eins bedeuten: jemand war hinter ihrem Geld her. Lautlos öffnete Green die Tür und schlich sich in ihre eigene Wohnung hinein. Das Licht war eingeschaltet und sie hörte jemanden…essen. Der Einbrecher bediente sich an ihrem Kühlschrank? Der war im Vorhinein schon mager genug. Langsam schlich Green um die Ecke und kaum einen Zentimeter vor ihrem Gesicht tauchte ein anderes auf, das eines Mädchens. Dieses Mädchen erschreckte sich so über Greens plötzliches Erscheinen, dass sie ein paar Meter rückwärts taumelte und sich auf den Boden fallen ließ. „Wer zum Teufel bist du?! Und noch wichtiger: was machst du in meiner Wohnung…und warum isst du meine Schokolade?!“, fragte Green empört, als sie feststellte, dass das Mädchen ihren gesamten Schokoladenvorrat, welcher aus zwei Tafeln bestand, in den Armen hielt. Das Mädchen klammerte die Schokolade an sich, als wäre sie ihr letzter Rettungsanker und da das Mädchen offensichtlich keine Gefahr darstellte, nahm sich die Hausherrin kurz Zeit, das Mädchen genauer anzusehen. Die Einbrecherin war jünger als sie, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie hatte ihre blonden Haare zu zwei herunterhängenden Zöpfen zusammengebunden und darin pinke Bändchen, welche sie, zusammen mit ihren großen blauen Augen und ihrem pinkfarbenem Kleid, kindlich erscheinen ließen. „…ich konnte nicht anders! Schokolade-kun…er war so einsam! Ich konnte ihn nicht alleine lassen…“ Green sah das Mädchen, welches eine hohe Stimme besaß, mit hochgezogenen Augen skeptisch an und erwiderte: „Aus welchen Irrenhaus bist du denn ausgebrochen?!“ Ehe das Mädchen noch etwas sagen konnte, zog Green sie auf die Beine und zerrte sie Richtung Tür. „Ich habe keine Ahnung, wie du hier herein gekommen bist – ich weiß aber, wie du raus kommst! Meine Wohnung ist kein Asylantenheim für verwirrte, pinke Mädchen!“ Doch das Mädchen klammerte sich an ihrem Arm fest und fing an, zu jammern: „Aber Green-chan!“ „Wir kennen uns nicht – nenn mich also nicht bei meinem Vornamen! Lass meinen Arm los und verschwinde! Du kannst froh sein, wenn ich keine Anzeige erstatte!“ „Du zerdrückst Schokolade-kun!“ „Von mir aus nimm die Schokolade mit – aber hau ab!“ Green öffnete die Wohnungstür und konnte das Mädchen endlich von sich abschütteln. Leicht grob beförderte Green die Einbrecherin hinaus ins Treppenhaus, wobei das Mädchen ihre Tasche verlor und der Inhalt sich auf den Fliesen verteilte. Green wollte sich gerade entschuldigen, als ihr Blick auf einen Gegenstand fiel und aus einem ihr unbekannten Grund schlug ihr Herz plötzlich schneller: es handelte sich um ein kleines Glöckchen. Auf den ersten Blick würde Green sagen, dass es aus Gold bestand; ein kleines, goldenes Glöckchen, ausgerüstet mit weißen Flügeln. Wie hypnotisiert griff sie danach, doch das andere Mädchen war schneller, sammelte es vom Boden auf und drückte es an sich. „Darf ich jetzt endlich reinkommen, Green-chan?“ Die Angesprochene wandte sich zu ihr, doch sah dem Mädchen nicht ins Gesicht, sondern auf ihre Hand, die das Glöckchen umklammerte. Als sie das bemerkte, schüttelte sie stur den Kopf und bedeutete dem Mädchen, dass sie wieder eintreten durfte; das beleidigte Schmollgesicht beachtete sie nicht. Als die Tür hinter ihnen in die Angeln fiel und das Mädchen schon wieder mit ihrer Schokolade zugange war, fragte Green: „Wer bist du? Was willst du von mir? Und…was ist das für ein…Ding.“ Greens Stimme war bei diesem Satz immer leiserer geworden. Sie konnte nicht begreifen, warum dieses Glöckchen sie so fesselte; alle ihre Sinne waren auf es fixiert und Green war klar, dass dies erst enden würde, wenn sie das Glöckchen in ihren Händen hielt. Ihre Seele schien danach zu schreien, als wäre das Glöckchen die Rettung vor dem Tod. Sie wollte es haben – nein, sie musste es haben! Das Mädchen hatte sich auf Greens Sofa gesetzt und antwortete auf die Frage: „Ich heiße Pink!“ Die Angesprochene nickte nur beiläufig, als würde sie es nicht hören. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um das Glöckchen und die Frage, wie sie an es gelangen würde. Pink schien dies zu merken; sie öffnete ihre Hand und hielt Green einladend das Glöckchen hin. „Nimm es!“ Green hörte es nicht einmal, denn sie hatte die Hände bereits gierig danach ausgestreckt. Ehe sie es jedoch erreichen konnte, hörte sie plötzlich eine Stimme in ihren Kopf: „Tu es nicht! Wenn du das Glöckchen erst einmal berührt hast, gibt es kein Zurück mehr für dich! Ich bitte dich…begehe diesen Fehler nicht! Ergib dich nicht deinem Schicksal!“ Die Finger Greens verharrten, als sie diese vertraute Frauenstimme hörte: die Stimme, welche sie auch in ihrem Traum gehört hatte – was zur Hölle war hier eigentlich los!? Das Glöckchen war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt, ihre Fingerspitzen berührten es schon fast und ihr gesamter Körper – ihre Seele! - verlangte nach diesem kleinen Ding. Sie konnte die Hände nicht zurückziehen, es war unmöglich: sie musste es haben! „Mein Schicksal nehme ich selbst in die Hand!“ Mit diesen Worten legte sie beide Hände um es und laut ertönte das Glöckchen. Es war derselbe wunderschöne Klang, welchen sie auch schon in ihrem Traum gehört hatte - und das Glöckchen strahlte mit dem Klang ein warmes, wohltuendes Licht aus: ein Licht, welches sie umarmen zu scheinen wollte. Das Licht legte sich um Green und brannte sich in ihre Haut ein, doch ohne jegliche Schmerzen. Im Gegenteil - es war ein wunderschönes Gefühl: ein Gefühl von Wärme und Gebogenheit. Doch plötzlich änderte sich die Farbe: es war nicht länger weiß, sondern schwarz. Kurz war das gesamte Zimmer in schwarz getaucht, bis die Dunkelheit vom Glöckchen aufgesogen wurde und damit fiel es zu Boden – der Zauber war vorbei. Greens Atem hatte sich beschleunigt und sie fand sich auch nicht mehr auf dem Sofa wieder, sondern am Boden. Sie starrte auf das Glöckchen, welches vor ihren Füßen lag. Es sah nicht mehr so aus wie vorher: die weißen Flügelchen waren schwarz geworden. „Was….zur Hölle…“ „Boah! Das sah ja coooool aus! So ne Lichtshow hab ich ja noch nie gesehen! Auch wenn pinkes Licht besser gewesen wäre…“ Green sah auf und Pink kurz bestürzt an, doch erwiderte nichts. Stattdessen streckte sie die Hand nach dem Glöckchen aus und schaute es sich noch einmal genauer an. „Was ist das für ein Ding?“ „Den genauen Namen hab ich vergessen…war so lang…“ Die Angesprochene sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und antwortete: „Weißt du denn, was das für ein Licht war?“ „Magie, oder?“ Green schüttelte den Kopf und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, denn ihr war klar, dass sie von diesem Mädchen keine nützlichen Informationen bekommen würde. „Magie…“, wiederholte Green und musste wieder an ihren Traum zurückdenken. Die letzten Geschehnisse hingen viel zu sehr zusammen, um eine Einbildung oder Illusion zu sein…diese Frau… das Glöckchen… Während Green versuchte, sich einen Reim daraus zu machen, war Pink aufgesprungen und öffnete die Tür zu einem der anschließenden Zimmer. „Das hier ist ja frei – darf ich das haben?“ Die Angesprochene sah auf. „Wie bitte?! Du willst…hier wohnen?!“ „Warum denn nicht?“ „Weil das hier meine Wohnung ist und ich lebe alleine – verstanden? Hast du kein Zuhause?“ Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf, wobei ihre Zöpfe hin- und her schwangen. „Familie?“ Weiterhin schüttelte sie den Kopf. „Warum sollte ich dir erlauben, bei mir zu wohnen? Kannst du überhaupt Miete zahlen?“ „Miete?“ „So viel dazu…“ Eins wurde Green jetzt klar: Pink war strohdumm. „Naja, du brauchst meine Hilfe aber im Kampf!“ „Deine Unterstützung? Im Kampf gegen…was?“ Pink holte tief Luft und erhob die Hand, um sie dann schwungvoll zu einer Faust zusammenzuballen: eine Aktion, bei der ihre Augen vor Tatenkraft und Entschlossenheit leuchteten. „Im Kampf gegen die Dämonen!“ Green sah sie jetzt an, als stünde sie einer Verrückten gegenüber. Dann lachte sie kurz ironisch. „Aber klar! Dämonen! Ich gebe ja zu, dass mir dieser Traum eigenartig vorkommt, diese Lichtshow und diese Frau – aber Dämonen? Such dir eine andere, der du Glöckchen andrehst und ihnen dann von Dämonen erzählst!“ „J-Ja aber! Was soll denn das heißen?! Du musst die Dämonen doch unschädlich machen…“ Green erhob den Zeigefinger und antwortete: „Ich muss gar nichts. Und was das heißen soll? Ganz einfach Pinki: Ich werde jetzt unter die Dusche gehen. Heute darfst du hier schlafen - morgen, wenn ich aufstehe und zur Schule gehe, bist du weg und verschwindest aus meinem Leben, zusammen mit deinem Specialeffects und Dämonen. Hast du das verstanden - oder muss ich das wiederholen?“ Pinks Augen füllten sich mit Tränen, sie zog die Lippen hoch und schrie spitz: „Wie kannst du nur so gemein zu mir seeeeein!“ Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und lief in das leere Zimmer - um am nächsten Morgen tatsächlich zu verschwinden, worüber Green sich schon wunderte, denn sie hatte nicht gedacht, dass sie das Mädchen so schnell loswerden würde. Dennoch hatte sie ihr gegenüber schon ein leicht schlechtes Gewissen. Denn wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, besaß sie immerhin keine Familie und kein Zuhause…und so ein Mädchen? Alleine in Tokio? Green schüttelte den Kopf, immerhin war das wohl kaum ihr Problem. Sie würde einfach versuchen, den gestrigen Tag aus ihrem Gedächtnis zu streichen: sie wollte das eigenartige Mädchen zusammen mit allem anderen hinter sich lassen. Dieses Vorhaben schien schwerer zu werden, als sie es sich vorgestellt hatte, denn Pink hatte etwas hinterlassen: das Glöckchen. Es lag auf dem Couchtisch und glänzte in der Morgensonne. Einen kurzen Augenblick starrte Green auf das kleine Schmuckstück und überhörte dabei das „Pling“ des Toasters. Ohne auf ihr Frühstück zu achten, kehrte Green zurück in ihr Schlafzimmer, nur um wenige Sekunden später mit einer silbernen Halskette zurückzukommen. Sie konnte sich nicht erklären was sie dazu bewegte, das Glöckchen an die Kette zu hängen und sich diese um den Hals zu legen: sie tat es einfach, als wäre es das Einfachste der Welt. Es war fast so, als ob sie es aus Instinkt tun würde. Mit dem Glöckchen um den Hals und einem geschmierten Toast im Mund machte Green sich auf den Weg zur Schule. Da ihre Schule nicht weit entfernt von ihrem Wohnsitz lag, verzichtete sie darauf, Geld für öffentliche Verkehrsmittel auszugeben und trug stattdessen die alten und abgetragenen Rollerblades Shos an den Füßen und sauste damit über den Bürgersteig. Ehe sie die Schule erreichte, hatte sie auch schon das Toast aufgegessen, in Gedanken dabei die monatlichen Rechnungen kalkulierend. Der gestrige Tag war bereits beinahe vergessen, nur das Gewicht des Glöckchens erinnerte sie an die Veränderung, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, doch die Rechnungen waren im Moment um einiges wichtiger. In der Schule war noch nicht viel los, da es noch recht früh war. Niemand stand freiwillig früher auf – Green tat es auch nicht, aber sie war recht schnell darin, sich für die Schule fertig zu machen und dorthin zu gelangen. Auch in der Klasse war noch nichts los und so war sie vollkommen alleine, als sie eintrat. Ein wenig wunderte es sie schon, da Gary eigentlich immer der Erste war: er war nicht umsonst der Klassenstreber. Doch kaum hatte Green ihre Tasche abgestellt, glitt bereits die Tür auf und eben dieser Streber erschien zwischen Tür und Angel. Für einen kurzen Augenblick sahen seine Gesichtszüge noch entspannt aus, bis er Green vor sich sah. Vom einen Moment auf den anderen verzog sich sein Gesicht und seine Augen starrten Green an, als wäre sie eine Feindin. Green verstand die Gefühle nicht, die sich in seinem Gesicht abzeichneten, denn sie sah nicht nur Überraschung, sondern auch eine Art Feindlichkeit. Fast schon…Hass. Klar, sie mochten sich nicht gerade, aber so von negativen Gefühlen aufgewirbelt hatte er sie noch nie angesehen. Gerade wollte das Mädchen ihn fragen, ob sie etwas im Gesicht hatte oder ob sie ihm etwas getan hatte, doch schneller als sie überhaupt blinzeln konnte stand er plötzlich vor ihr. Wie war er so schnell...?! Gary packte hart ihre Hand und drehte sie unsanft zum Fenster, wo die Morgensonne herein strahlte. „Sag mir, kannst du in die Sonne sehen?!“ Endlich brachte Green ihre Stimme dazu, aktiv zu werden: „Bitte?! Hast du sie noch alle?!“ „Antworte einfach!“ „Lass mich gefälligst los, Ookido!“ Kaum hatte Green dies gesagt, tat er es. Zuerst dachte sie, er hätte es getan, weil sie es ihm gesagt hatte, doch das war nicht der Grund gewesen: Gary hatte sie bereits mitten in ihrem Satz losgelassen und abermals starrte er auf etwas, diesmal jedoch nicht auf Green, sondern auf etwas, was sie an ihrem Körper trug. Das Glöckchen war aus ihrem Oberteil gerutscht und dieses kleine Ding schien seinen Blick zu fesseln und ihn zum Erstarren zu bringen. Green verstand die Welt nicht mehr. Gary war ihr zwar immer etwas suspekt vorgekommen, aber heute benahm er sich merkwürdiger als an allen deren gemeinsamen Tagen zusammen. „Ookido?“ Ihre Stimme schien ihn nicht zu erreichen - die aufgehende Tür aber schon. „Guten Morgen, Green! Wir haben die erste Stunde frei…oh, stör ich?“ Auf Shos Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, welches Green kurz verwunderte - doch nur bis sie selbst feststellte, wie nah sie und Gary standen: es war nah genug, um missverstanden zu werden und für Sho reichte es auf jeden Fall allemal. Sie grinste breiter als ein Honigkuchenpferd, ohne irgendetwas zu verstehen. Umgehend schritt Green auf ihre Freundin zu. „Jetzt komm nicht auf falsche Gedanken!“ „Ou, ich habe nie die falschen Gedanken, Green!“ Die Angesprochene sah zu Gary, um seine Unterstützung zu verlangen, doch er sah sie weiterhin an, als wäre sie sein Staatsfeind Nr. 1 Als er ihren Blick allerdings bemerkte, drehte er sich wortlos um und setzte sich auf seinen Platz. Was in aller Welt war nur los? Die gleiche Frage stellte sie sich kaum sieben Stunden später ein weiteres Mal während des Trainings für die rhythmische Gymnastik. Green war einem solchen Club schon damals in der Mittelschule beigetreten, nachdem sie mit strahlenden Augen ein Turnier im Fernsehen gesehen hatte. Sie war vom ersten Augenblick begeistert von der Leichtigkeit der Mädchen gewesen: wie sie leicht über den Boden zu schweben schienen und das Band um sich kreisen ließen, als wäre es deren Flügel. Selbstverständlich war noch kein Meister vom Himmel gefallen und so erging es auch Green. Man konnte nicht behaupten, dass sie ein Naturtalent war und daher trainierte sie hart, um ebenfalls irgendwann über den Boden schweben zu können. Es war das einzige Hobby, das Green sich leistete. Doch an diesem Tag schien sie eben diese Flügel zu besitzen. Es fiel ihr plötzlich um einiges leichter, die Bewegungen der Vorturnerin nachzuahmen und sie kam auch kein einziges Mal aus der Balance. Sie hörte die Musik, verinnerlichte sie in sich und passte sich an, ohne große Probleme zu haben. Ihre Füße und Hände schienen an Gewicht verloren zu haben, sanft bewegten sie sich durch die Luft und führten das rosafarbene Band. Erst als die Musik abrupt ein Ende fand, lösten sich auch Greens geschenkte Schwingen in Luft auf und plötzlich fand sie sich in der Realität wieder. Sämtliche Mitglieder des Clubs hatten ihre Arbeit niedergelegt und durchweg alle Augenpaare lagen auf Green, die die Aufmerksamkeit nicht verstand. Die Mädchen sahen sie beeindruckt, doch teilweise auch mit Neid in den Augen an; die Lehrerin hatte Tränen in den Augen. Das war der Moment, in dem sie sich zum zweiten Mal fragte, was hier nicht richtig war. Auch als sie nach einer halben Stunde frisch gewaschen und mit Zopf aus der Turnhalle trat, um den Heimweg anzutreten, war das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst, nicht verschwunden. Green bückte sich, um ihre Rollerblades zuzubinden und versuchte, die Ursache für das andersartige Gefühl zu ergründen: es war, als wäre sie ein ganz anderer Mensch geworden... „Lass uns wetten!“ Als diese Stimme plötzlich auf dem leerem Schulhof zu hören war, hatte Green gerade ihre Rollschuhe fertig gebunden und beugte sich nun langsam hoch, um herauszufinden, ob die Stimme mit ihr gesprochen hatte oder nicht. Doch natürlich hatte sie es, denn ganz wie Green befürchtet hatte, hatte die Stimme ihren Ursprung in dem kleinen Mädchen, welches sie eigentlich verdrängen wollte. Dies hatte leider nicht so gut geklappt wie gewünscht, denn Green fiel sofort ihr Name wieder ein. Aus reinem Widerwillen hatte sie das Verlangen, Pink eine ruppige Antwort zu geben, doch ihre Neugierde war geweckt. Green war für Spiele aller Art zu haben; besonders, wenn Geld dabei heraussprang. „Um was?“, fragte Green das Mädchen, welches breitbeinig vor ihr in der Sonne stand. Pink kramte etwas aus ihrer Tasche hervor und Green fiel die Kinnlade herunter. Pink hatte tatsächlich ein Diamantarmband aus ihrer Tasche gezogen. Wie von einer Hummel gestochen fuhr Green hoch und stand schon vor ihr. Ehe Pink sich versah, hielt sie wie eine Expertin das Schmuckstück prüfend in die Sonne. Ihr Staunen wurde immer größer, als sie feststellte, dass es kein Spielzeugschmuck war. So etwas hatte sie noch nie in den Händen gehalten und Green war sich sicher, dass sie das auch niemals mehr würde. Hatte diese Pink überhaupt eine Ahnung, wie viel das Schmuckstück wert war?! „Und...um was genau geht es?“ Green hatte natürlich nicht vor, Pink über den Wert des Armbandes aufzuklären. „Wir wetten darum, dass es Dämonen gibt!“ Zum ersten Mal seitdem Green die Diamanten gesehen hatte, sah sie auf und zu Pink. Kurz herrschte Schweigen, welches Pink ernst aufrecht hielt. „Ist das dein Ernst?“ Das Mädchen nickte. „Und, was willst du von mir? Für den Fall, dass du gewinnst?“ Green musste ein Grinsen unterdrücken: die Diamanten gehörten schon so gut wie ihr und das Beklagen der Rechnungen gehörten der Vergangenheit an. „Ich will, dass du den Dämon unschädlich machst und alle darauf folgenden.“ Nun grinste die Angesprochene wirklich. „Alle darauf folgenden? Gibt es etwa ein Nest?“ Kurz überlegte Pink. „Nyu...sie kommen aus der Dämonenwelt!“ „Schon klar, Pink. Gut, dann überzeug mich von deinen Monstern.“ Pink nickte eifrig; offensichtlich begriff sie nicht, dass Green sie nicht gerade ernst nahm. Das Mädchen nahm Green an der Hand, als wären sie Schulkameraden seit der ersten Klasse und zog sie hinaus auf die offene Straße. Green ließ es protestlos mit sich machen, immerhin hatte sie Diamanten in Aussicht. Wie war Pink nur daran gekommen? Besonders wohlhabend wirkte sie nicht. Sie sah nicht einmal danach aus, dass sie überhaupt wusste, was Geld war. Was machte so ein Mädchen überhaupt alleine in den Straßen Tokios – besonders mit diesem dauernden Gerede von Dämonen? Ohne sich zu pikieren ließ Green sich von Pink durch die Stadt ziehen, an den Füßen nach wie vor ihre Rollerblades, bis der Himmel irgendwann dunkel wurde. Green fragte sich, wie Pink ihr wohl die Existenz der Dämonen beweisen wollte: war es etwa so wie in den unzähligen Romanen und Filmen, dass sich solche Wesen nur in der Nacht zeigten? Pinks Wege waren vollkommen unverständlich. Mal wählte sie Tokios kleine Gassen aus, dann wieder die Hauptstraßen oder zerrte sie in die U-Bahn. Hatte dieses Mädchen überhaupt eine Ahnung? Von irgendwas!? „Pink...“, begann Green nach drei Stunden zum ersten Mal ein Gespräch, denn so langsam wurde es ihr zu bunt. Ihre Füße taten weh und sie bereute, dass sie nicht schon längst neue Rollerblades gekauft hatte, denn ihre momentanen waren ihr schon lange zu klein geworden. „Bist du dir sicher, dass du weißt, wo...“ Es gelang ihr nicht mehr, ihren Satz zu Ende zu sprechen, denn ihre Worte erstickten erstaunt, als etwas an ihrem Körper zu strahlen begann: das Glöckchen. Green kramte es aus ihrem Oberteil hervor und kaum hatte sie es in der Hand, begann es nicht nur zu strahlen, sondern auch Geräusche von sich zu geben. Es klingelte schrill, fast so, als würde es schreien. Green sah geschockt zu Pink, wobei ihr auffiel, dass die Menschenmenge um sie herum überhaupt keine Notiz davon zu nehmen schien. „Klingelt es?“, fragte Pink, gerade als Green sie fragen wollte, was in aller Welt das zu bedeuten hatte. „Ja? Sag mal, bist du taub?! Das ist doch nicht zu überhören!“ Die Angesprochene wurde ernster, was in ihrem Kindergesicht dennoch nicht vollends zur Geltung kam. „Ich kann es nur leuchten sehen, aber nur du kannst es hören.“ „Bitte?!“ Green wurde wieder bei der Hand gepackt und dieses Mal ziemlich ruppig weiter gezerrt. „Sag mir, wenn es lauter wird!“ Kurz zweifelte Green, dann bemerkte sie tatsächlich, dass sich der Klang des Glöckchens veränderte. „Dann müssen wir woanders langgehen! Es kommt aus westlicher Richtung.“ Pink blieb stehen und sah über die Schulter zurück zu ihr. „Was ist „westlich“?“ Green war momentan zu verwirrt, als dass sie sich über diese Aussage aufregen konnte. Stattdessen zeigte sie einfach in die Richtung und sie tauschten die Rollen. Nun war es nicht Pink, die sie zog, sondern umgekehrt. Green achtete kaum noch auf ihre Umwelt, plötzlich war sie wieder total auf das Glöckchen und dessen Klang fixiert und daher überhaupt nicht fähig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie lief weiter durch die Menge, immer dem fremden Klang hinterher. Fertiggestellt: 05.08.08 Kapitel 2: Pinks Kräfte ----------------------- Green unterdrückte einen Schrei, während sie die Stufen hinunter in den wegen Umbauarbeiten gesperrten U-Bahn Schacht lief; auch wenn von „unterdrücken“ eigentlich nicht die Rede sein konnte, da sie versuchte zu schreien, aber aus ihrem Mund kein Laut hervorkam, obwohl er von Schrecken gezeichnet weit offen stand. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie keinen Grund hatte zu schreien, denn was sie vor sich sah, konnte unmöglich wahr sein. Träumte sie abermals einen Traum, der so real war wie der, den sie an dem gestrigen Morgen gehabt hatte? Oder war dieses Wesen, welches sie verfolgte und aus einem Alptraum zu stammen schien, wirklich echt? Was auch immer es war, ob real oder nicht, es hatte einen dünnen, eher mageren schwarzen Körper, der jedoch in die Höhe schoss und nur knapp in den Schacht passte. Die leuchtend grellorangen Augen des Wesens huschten unverwandt zwischen Pink und ihr umher und waren von der Größe und Form eher mit den Scheinwerfern eines Autos zu vergleichen. Im Gegensatz dazu war der Schlund nicht vorhanden, doch die auf dem Rücken sitzenden, tödlich aussehenden Stacheln ließen seine Statur trotzdem sehr bedrohlich wirken. Green wusste nicht, was sie tun sollte. Doch als sie bemerkte, dass die Augen des Monsters nun ausschließlich direkt auf sie gerichtet waren, wusste sie, dass sie nur eines wollte: weg! Egal, ob es Traum oder Realität war, sie wollte weg! Aus reiner Panik drehte Green sich auf der Stelle um, ohne auf Pink zu achten. Zwei Stufen gelangen ihr, ehe ihre Flucht sich bereits als erfolglos erwies: ein bohrender Schmerz entbrannte in ihrem rechten Schulterflügel und breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Sie spürte ihr eigenes warmes Blut auf ihrer Haut und sah wie es an die Wand spritzte, ehe sich bereits dunkle Flecken vor ihrem Blickfeld ausbreiteten und die Dunkelheit sie zu verschlucken drohte. Green verlor die Balance und kippte nach hinten, dem Ende der Treppenstufen entgegen. Doch ehe sie mit dem Kopf aufschlagen konnte, gelang es ihrem Bewusstsein wieder an die Oberfläche zu gelangen und sie bekam Halt am metallenen Treppengeländer. Es blieb ihr jedoch keine Zeit, sich über das Entfliehen eines Wirbelbruchs zu freuen, denn das Monster griff abermals an und diesmal erkannte sein wohl ausgesuchtes Opfer, was für eine Waffe ihre Schulter durchbohrt hatte - es waren die für ihren Geschmack viel zu langen Klauen des Monsters. Ihr Überlebenstrieb und ihre Kenntnisse in Sport und Gymnastik trieben Green dazu an, seinem nächsten Angriff auszuweichen: Sie festigte ihren Halt um das Treppengeländer mit beiden Händen und schwang ihren zierlichen Körper über die Metallstangen, wie sie es auch schon oft im Unterricht gemacht hatte. Allerdings hatte sie solch einen Überschlag noch nie in einem U-Bahn Schacht auf einer Treppe gemacht und da dieser nicht ausreichend Platz bot, knallte Green bei der Landung an die Wand aus Beton. „Green-chan!“, hörte sie Pinks Stimme von fern und wunderte sich darüber, dass ihr von Schmerz gezeichneter Körper überhaupt noch etwas wahrnehmen konnte. „Also dein Ausweichmanöver war ja cool! Aber ich denke, das Landen solltest du noch üben...“ Wie konnte dieses verdammte Mädchen in solch einem Moment so ausgelassen sein!? Sie waren so gut wie tot! Dieses - was auch immer es war - würde sie in der Luft zerreißen. Pink würde die Flucht vielleicht noch gelingen, aber Green konnte sich nicht mehr bewegen...und sowieso hatte sie ein klaffendes Loch im Körper. ...sie würde sterben. So oder so. „Mach die Augen auf! Guck mir zu!“ Sie war doch noch so jung! Sie wollte nicht sterben, nicht hier, nicht wegen so einem Mistviech! „Green-chan! Du und ich, wir sind keine Menschen! Wie sind Wächter! Wir sind dafür geboren worden, Dämonen zu bekämpfen!“ ...bitte? „Du kannst gegen den Dämon kämpfen! Nimm das Glöckchen und kämpfe!“ Das Glöckchen nehmen? Was sollte sie denn damit? „Green-chan! Kämpfe! Denn du bist nicht so schwach wie die Menschen! Du bist nicht schwach!“ Schwach. Bei diesem Wort, diesem für sie mit vielen negativen Assoziationen gefüllten Adjektiv, regte sich etwas in ihr; etwas, das sie dazu brachte, die Augen wieder zu öffnen, welche sie vorher noch fest zusammengekniffen hatte. Wer auch immer Pink eigentlich war: sie hatte recht. Green war nicht schwach, sie war alles andere als das. Sie war das Gegenteil, sie war stark und mit ihrer Stärke würde sie selbstbewusst wieder aufstehen, denn selbst wenn sie hier sterben sollte, dann würde sie ihrem Tod vorher noch kräftig ins Gesicht lachen, anstatt weinend auf dem Boden zu liegen. Aber eine solch große Verletzung erschwerte ihr Unterfangen, machte es unmöglich – und das hatte nichts mit Schwäche zu tun, sondern einfach damit, dass ein Mensch nicht zu solch einem Wunder fähig war. „Green-chan, du musst kämpfen! Als Wächter!“ ...aber Wächter vielleicht. Greens Sinne nahmen ihre Arbeit wieder auf, als sie spürte, wie eine Flüssigkeit in ihr Gesicht spritzte. Langsam öffnete sie die Augen, im gleichen Moment, in dem sie den Geschmack von Blut in ihrem Mund schmeckte. Zuerst war ihr Sichtfeld mit schwarzen Punkten gesprenkelt, klärte sich jedoch langsam auf. Pink stand einen halben Meter vor ihr; zwischen ihr und dem Dämon, der eindeutig zu nah war, hatte sich eine pinke, durchscheinende Mauer gebildet, welche scheinbar ihren Ursprung in Pinks Handflächen hatte, die sie ausgestreckt vor sich hielt. Doch kaum lagen Greens Augen eine Sekunde auf diesem Bild, zerbröckelte die pinke Substanz auch schon wie in kleine Glassplitter. In diesem Moment sah Green erst, dass etwas Pinks Schulter getroffen hatte und sie realisierte, dass es ihr Blut war, welches ihr ins Gesicht gespritzt war. ...Pink hatte ihr das Leben gerettet, obwohl sie sich nicht kannten? „Green-chan...benutz das Glöckchen“, sagte das kleine Mädchen, ehe sie wie ein Stein zu Boden fiel und regungslos liegen blieb. Green biss sich auf die Unterlippe und starrte ihren Körper an, aus dem das Blut floss und sich auf dem grauen Boden verteilte. Erst als sie bemerkte, dass das Monster nun wieder seine riesengroßen Augen auf sie gerichtet hatte, wandte sie ihren Blick von Pink ab. Was sollte sie tun? Das Glöckchen benutzen? Ja, aber wie?! Dem hoffnungslosen Mädchen blieb gar nicht anderes übrig, als Pink zu vertrauen; wenn sie sterben würde, dann konnte sie genauso gut alles ausprobieren, um diesem Schicksal zu entgehen. Aus lauter Panik zerriss Green den Verschluss der billigen, silbernen Halskette, an dem das Glöckchen hing und tat dasselbe, was Pink zuvor gemacht hatte: sie hielt das Glöckchen in der einen Hand vor sich ausgestreckt, dem Dämon entschlossen, aber auch mit einer Spur von Verzweiflung, entgegen. Dieses verfluchte Ding hatte ihr gefälligst zu helfen; Green hatte nicht die geringste Lust, hier zu sterben. Kaum, dass dieser Gedanke ihr durch den Kopf geschossen war, spürte sie, dass sich tatsächlich etwas an dem Glöckchen veränderte. Es besaß nicht länger die Form eines Glöckchens, sondern die eines Stabes: eines verzierten Stabes mit einem Glöckchen, ruhend in einem von weißen Flügeln geschmückten, himmelblauen Kreis, welcher an der Spitze des Stabs befestigt war und nur darauf wartete, von Green benutzt zu werden. Green wusste nicht, woher sie das Wissen hatte, aber plötzlich war ihr bewusst, dass der Stab ihr als Waffe dienlich sein würde. Ihre Panik war auf einmal wie weggeblasen - es war, als würde sie genau wissen, was sie zu tun hatte. Selbst als die Attacke des Dämons auf sie zu schoss, blieb sie ruhig. Sie hielt den Stab der schwarzen Energie entgegen, die der Dämon abgefeuert hatte und war nicht einmal erstaunt, als die schwarze Energie von der Spitze des Stabes absorbiert wurde. Die eine Seite ihrer neugewonnen Waffe färbte sich schwarz und noch während sie sich aufzufüllen schien, erhob Green den Stab, um diesen mit einem Schwung wieder zu senken. Als der Stab genau auf der Höhe des Dämons war, rief Green: „Darklightning!“ Die gleiche Energie, die Green nur kurz zuvor aufgefangen hatte, entlud sich nun aus der Spitze des Stabes, nur mit dem Unterschied, dass dieser ein weiß leuchtendes Zentrum besaß. Die Energie traf das Monster und kaum hatte sie das Ziel getroffen, löste dieses sich schneller in einzelne Partikel auf, als Green gucken konnte. Nichts blieb von diesem Alptraum übrig. Mit der Waffe noch in der Hand starrte Green auf den Punkt, wo eben noch ihr Gegner gestanden hatte. Erst langsam kletterte die Ohnmacht ein weiteres Mal in ihr empor und ehe die Schmerzen sie wieder einholten, fiel sie neben Pink zu Boden... Von weit her ertönten Schritte; sanfte Schritte, als würde derjenige kaum den Boden berühren. Green wollte die Augen öffnen, sie wollte diese Person mit eigenen Augen sehen, doch dieses Unterfangen war ihr unmöglich. Jeder einzelne Punkt in ihrem Körper schmerzte fürchterlich und es wunderte sie, dass sie überhaupt noch bei Bewusstsein war. Warum war sie nicht schon tot? „Mein Mädchen...wie tapfer du dich geschlagen hast.“ Green erkannte die Stimme wieder: es war die gleiche vertrauensvolle und zugleich bekannte Stimme, welche sie auch schon in ihrem Traum gehört hatte und welche sie vor dem Glöckchen gewarnt hatte. Wer war sie? Sie musste jetzt neben ihr sitzen oder knien, denn Green spürte, wie sie ihr ihre Haare aus dem Gesicht strich. Und noch etwas anderes spürte sie: ihre Schmerzen ließen nach, ganz so als würden sie sich in Luft auflösen. Nein, das war so nicht richtig. Denn sie lösten sich nicht in „Luft“ auf, sondern in Wärme... und Geborgenheit. Die warme Hand, die ihr Gesicht berührt hatte, löste sich wieder von ihr und Green verspürte den Drang, ihr nachzuschreien, sie möge noch nicht gehen. Doch sie entfernte sich...die Schritte verklangen im Schacht und als Green die Augen öffnen konnte, gelang es ihr nur, einen kurzen Blick auf den Rücken der Person zu erhaschen. Ihre Erscheinung war von reinem Weiß; ihre langen Haare waren weiß und das weite Kleid, welches sie trug, war von der gleichen Farbe. „Ein...Engel?“ „In Lights Namen! White! Was fällt dir eigentlich ein!?“ Die Aktionen Whites brachten ein erneutes Mal ihren Vater dazu, beinahe überzukochen; Gründe besaß er zur Genüge. White hörte die Worte ihres Vaters nicht, denn sie war nicht anwesend; stattdessen mussten nun andere Wesen unter seinem Temperament leiden, welche ihm vom Aussehen her recht ähnlich sahen: alle drei besaßen ein weißes Erscheinungsbild. „Yogosu hat einen recht interessanten Kampfstil! Very great!“ „Kampfstil nennst du das? Ich nenne das...“, antwortete ein anderer, doch wurde von Whites Vater unterbrochen: „Unbedeutend! Viel bedeutender ist, dass sich in ihrem Angriff nur knapp 10% Magie befindet, die dem Licht zugeordnet werden kann!“ Sofort hatte er die Führung des Gespräches übernommen und wandte sich nun von den Daten ab, um die anderen beiden ernst anzublicken: „Sie sollte eine Vertreterin des Lichtes sein, aber so wie ich das sehe, bestätigen sich unsere Befürchtungen!“ „Ich bringe sie gerne um!“, erwiderte der größte von ihnen mit einem Grinsen und der Hand auf seinem Schwert ruhend. Der Weißhaarige, der neben ihm stand, verdrehte genervt die Augen und der Letzte im Bunde antwortete: „Du hast vor 16 Jahren bereits versagt, Seigi.“ Der Angesprochene kam nicht zum Antworten, denn der andere antwortete im ruhigen Tonfall: „Wir sollten daran denken, dass die Hälfte des Rates auf White-sans Seite steht. Ein solcher Schritt wäre fatal für das Gleichgewicht in unseren Reihen. Wir befinden uns in einer gänzlich anderen Situation als vor 16 Jahren.“ Whites Vater seufzte verärgert. „Hast du mit Adir gesprochen?“ „Er weigert sich nach wie vor, am Rat teilzunehmen.“ Das war zu viel. Mit der zusammen geballten Faust schlug der Angesprochene auf den Tisch, was seinen Gesprächspartner dazu brachte zusammen zu zucken, während der Schwertträger Seigi weiterhin vor sich hin grinste. „Nach diesen Zahlen...“, er zeigte auf die Daten hinter ihm und fuhr wutentbrannt fort: „Weigert er sich nach wie vor?! Yogosu könnte zu einer enormen Gefahr werden. Wenn wir diese Gefahr nicht so schnell wie möglich auslöschen, sehe ich für die Zukunft des Wächtertums schwarz, meine Herren! Es muss etwas unternommen werden. So schnell wie möglich!“ Er sah die beiden Männer unbeirrbar und resolut an. „Ruft die Ratsmitglieder zusammen. Wir werden eine Ratsversammlung abhalten, mit oder ohne Adir!“ Es war ein klarer Morgen; keine Regenwolken waren über Tokio zu sehen und für die, die den Sonnenschein liebten, würde es ein angenehmer Tag werden. Ein Großteil der Menschen war schon im morgendlichen Stress unterwegs auf den Straßen, welche bereits überfüllt waren: nur wenige schliefen noch – eine von ihnen war Green. Die Ruhe des Schlafes wahrte jedoch nicht lange, ehe ein schepperndes Geräusch sie aus ihren Träumen riss und sie mit einem Mal kerzengerade im Bett sitzen ließ. „Was zur Hölle...“ Green schaute sich noch etwas verschlafen um und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Erst als diese wieder gereinigt waren, sah das Mädchen wie spät es war und die Uhrzeit sagte Green, dass sie langsam los musste. Ohne vorhandende Lust öffnete sie ihren Kleiderschrank, zerrte ihre Schuluniform von der Stange und beeilte sich diese anzuziehen. Mit der Bürste in der Hand ging sie aus ihrem Zimmer und kaum, dass sie in der Stube stand, die zur Küche angrenzte, wusste sie auch, was das weckende Geräusch verursacht hatte; denn Pink stand inmitten von Scherben. „Guten Morgen, Green-chan!“, sagte sie putzmunter, als würde sie das Zeugnis ihrer Tat nicht bemerken. „Morgen. Was hast du da gemacht? Weißt du eigentlich, wie teuer so was ist?“, antwortete Green ruppig, woraufhin Pink ihre Unschuldsmiene aufsetzte, die bei ihrer Gesprächspartnerin garantiert keine Wirkung zeigte. „Ich wollte mir nur was zu essen machen…aber irgendwie ist da was schief gelaufen.“ Green seufzte tief und war kurz davor, ihren Taschenrechner zu zücken, um den finanziellen Schaden auszurechnen; doch sie unterdrückte diesen Drang. „Ich werde einen neuen Teller kaufen und du wirst mir das Geld zurückbezahlen! Jeden einzelnen Yen!“ Die großen blauen Kulleraugen Pinks sahen sie verwirrt an, als sie hilflos antwortete, dass sie doch kein Geld besaß. Green schüttelte müde den Kopf und beschloss, dass es erstens zu früh war, und zweitens, dass es so oder so nicht viel brachte, mit Pink zu reden. „Du hast doch noch das Diamantenarmband. Tausch das doch ein gegen Bares.“ „Diamantarmband…? Ach, das! Das habe ich, glaube ich, verloren…“ Green glaubte ihren Ohren nicht zu trauen: verloren?! Ein Diamantarmband verlor man doch nicht?! Green war dermaßen schockiert, dass sie sich einfach nur einen Apfel nahm und die Wohnung verließ – doch kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, brachen plötzlich auch die Gedanken wieder hervor, die ebenfalls mit dem Diamantarmband zusammenhangen: die Bilder des gestrigen Abends. Dieses monströse Wesen, das ganze Blut, Pink am Boden, die Schmerzen, diese Frau...und das, was sie selbst getan hatte. War das nur ein Traum gewesen? Wie anders war es zu erklären, dass sie nach so einem Erlebnis einfach in ihrem Bett aufgewacht war, wie an jedem anderen Morgen auch? Der Tag begann wie immer...und auch ihre Schuluniform, die sie bei diesem Kampf angehabt hatte, hätte beschädigt sein müssen, doch sie war wie neu. Green starrte ihre Hände an, wo kein einziger Kratzer zu sehen war. Dies war einfach unglaublich, aber es gab eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden: das Glöckchen. Auch dieses hing wieder an einer silbernen Kette, die eigentlich ebenfalls kaputt sein müsste und diese Gewissheit beruhigte Green um einiges. Sie weigerte sich, es zu glauben. Doch schnell wurde ihr bewusst, dass sie sich irrte. Denn das Glöckchen veränderte wieder seine Form und in Greens Händen lag die Waffe, die in der gestrigen Nacht den Dämonen getötet hatte. „...du und ich, wir sind keine Menschen! Wir sind Wächter!“ Green schluckte einen Kloß herunter – doch die Wahrheit konnte sie nicht so einfach herunterschlucken. Im Laufe des Tages vergrub Green sich zunehmend in ihrer Gedankenwelt. Es war für andere beinahe unmöglich sie zu erreichen und erst beim zweiten oder dritten Versuch war es für Sho möglich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Natürlich fiel ihr der Zustand ihrer Freundin auf, doch Green antwortete nicht auf die Frage, was denn los sei. Wie sollte sie auch? Wie sollte sie jemandem etwas davon erzählen? Niemand würde ihr glauben - sie wollte es ja selbst nicht glauben. Immer wieder spielte das Geschehen sich vor ihrem geistigen Auge ab und die Worte Pinks wiederholten sich, als wären sie auf Endlosschleife gestellt. Um sich abzulenken, trainierte Green freiwillig weiter nach dem „Rhythmische Gymnastik“-Klub in der leeren Turnhalle. Eigentlich sollten sich ihre Gedanken mehr um ihre Bewegungen oder die kommende Mathe Prüfung kreisen, doch das Training regte ihre Gedankenkreise um die merkwürdigen Ereignisse nur noch weiter an. Green fragte sich, ob die neugewonnene Leichtfertigkeit ebenfalls die Schuld des Glöckchens war und ob die Schwingen, die sie sich immer gewünscht hatte, nur daher rührten... Was war das eigentlich für ein Teil? Was war das Licht gewesen, das sich um sie gelegt hatte, als sie das kleine Ding berührt hatte? Das Glöckchen gab keinen Ton von sich, anders als herkömmliche Glöckchen, die man zur Weihnachtszeit überall sah: es war unglaublich leicht…vielleicht sollte sie es mal aufmachen, um zu sehen, was sich darin befand? Zu viele Fragen und niemand, der ihr eine Antwort geben konnte, denn Green zweifelte daran, dass Pink ihr die Erklärung geben konnte, die sie haben wollte...diese engelshafte Frau konnte ihr garantiert die Antworten geben, die sie ersehnte... aber wie sollte man sie finden? Green war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht bemerkte, dass sie sich mit ihrem Turnband selbst eine Falle stellte und schon fiel sie hart zu Boden, wo sie regungslos liegen blieb; nicht weil der Sturz enorm geschmerzt hatte, sondern weil ihr die Lust fehlte, aufzustehen. Ihr beschleunigter Atem war das einzige, was in der Turnhallte zu hören war, ansonsten war es vollkommen still. Green lag einfach da im Sonnenlicht, welches durch das große offene Fenster unter dem Dach herein strahlte. Irgendwie tat es gut: ihr war nie aufgefallen, dass das Sonnenlicht sich so schön anfühlen konnte. Es war so schön warm - fast wie die Wärme der Frau. Doch nicht nur das; das Licht schien ihre Ressourcen wieder aufzuladen. Erst einen Moment später bewegte sie sich, setzte sich in die Hocke, den Kopf in Richtung der strahlenden Sonne erhoben, wo sie langsam die Augen öffnete und in die Sonne sah. Erst nach verstrichenen Sekunden, in denen sie direkt in die Mitte der Sonne blickte, dämmerte es Green und ihre Augen weiteten sich überrascht. „Sag mir, kannst du in die Sonne sehen?!“ Sie konnte in die Sonne sehen. Aber ein normaler Mensch konnte nicht ohne Sonnenbrille in die Sonne schauen, ohne geblendet zu werden. Woher hatte Gary das gewusst? Warum hatte er sie das gefragt? Oder sollte das ein Zufall sein? Aber niemand stellte so eine Frage - kein Mensch würde auf so eine Idee kommen! Was hatte das zu bedeuten? War er vielleicht doch nicht so unscheinbar, wie sie angenommen hatte? Auf dem Nachhauseweg hatten sich ihre Gedanken nun auf Gary fixiert und die anderen Fragen hatten sich in den Hintergrund geschoben. Sie war sogar so weit gegangen und hatte nach ihm in der Schule gesucht, genauer gesagt in der Bibliothek. Green war fest davon entschlossen, ihn dazu zu bringen, ihr Rede und Antwort zu stehen. Doch ihre Suche verblieb erfolglos; auf der einen Seite natürlich ärgerlich, aber auf der anderen wusste Green auch überhaupt nicht, wie sie das Gespräch anfangen sollte. Sollte sie einfach auf ihn zugehen und fragen, was seine Frage zu bedeuten hatte? Sie kannte ihn nicht gut genug, um zu beurteilen, ob es etwas bringen würde...sie hatte sich nie mit ihm auseinandergesetzt oder sich die Mühe gemacht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Green wusste nicht einmal wo er wohnte, ansonsten hätte sie Gary dort aufsuchen können. Wenn er allerdings genau wie sie kein Mensch war...konnte er ihr garantiert mehr Antworten geben als Pink. Green glaubte, dass selbst wenn Pink etwas wüsste, würde es ihr nichts nützen sie auszufragen: Pink erschien ihr nicht besonders hell zu sein, das war ihr ziemlich schnell bewusst geworden. Also war Gary eine gute Anlaufstelle, auch wenn ihr der Gedanke nicht behagte, dass sie ausgerechnet seine Hilfe in Anspruch nehmen musste: immerhin baute deren Beziehung nicht gerade auf Sympathie auf. Schon gar nicht nach der gestrigen Feindlichkeit von seiner Seite aus, die heute komplett verschwunden gewesen war, als wäre nie etwas geschehen. Nein, Green konnte ihn wirklich nicht leiden. Aber um ihren Wissensdurst gestillt zu bekommen, würde sie über ihren Schatten springen müssen. Greens Gedankengänge wurden auf halbem Weg unterbrochen und der Ursprung war alles andere als willkommen, denn es war das Strahlen des Glöckchens. Bedeutete dies etwa das Gleiche wie am gestrigen Tag? War ein Dämon in der Nähe? Schluckend sah Green sich um, mit einem fast schon hilfesuchenden Blick. Die Menschen um sie herum bemerkten das Leuchten nicht und Pink war nirgends zu sehen, genauso wenig wie ein Dämon. Was sollte sie jetzt tun? Zuerst nach Hause gehen und Pink holen oder versuchen, sie zu kontaktieren? Vielleicht war es dann schon zu spät und es gab bereits Tote? Aber ging es sie überhaupt etwas an? Wenn Green ehrlich zu sich selbst sein sollte, musste sie sich eingestehen, dass sie am liebsten das Leuchten des Glöckchens ignorieren würde. Der Dämon konnte ihr doch egal sein, solange er sie nicht angriff und sowieso war Green nie eine hilfsbereite oder soziale Person gewesen, eher das Gegenteil: sie ging als ignoranter Egoist durch die Welt. Warum sollte sie ihr Leben für andere aufs Spiel setzten? Tat jemand es für sie? Nein, niemand interessierte sich für sie. Die Welt war grausam und hart. Das Leuchten wurde jedoch stärker zusammen mit dem Schrei des Glöckchens und im selben Moment mischte sich noch ein anderer Schrei mit hinein. Green wirbelte herum und sah die Ursache für den Schrei; keine fünfzig Meter von ihr entfernt türmte eben diese sich über eine am Boden liegende Frau. Das Ungetüm sah anders aus als der letzte Dämon: es war von der Statur her kräftiger, dafür aber ein wenig kleiner – auch wenn man bei drei Metern nicht gerade von winzig sprechen konnte. Was es ebenfalls von dem letzten Dämon unterschied, war die Tatsache, dass er einen Mund besaß, welchen es scheinbar sogar zum Sprechen gebrauchen konnte, denn als er Green erblickte, zischte es: „Wo ist die kleine Göre?!“ Das war zu viel für die Frau, sie fiel in Ohnmacht und ließ Green zusammen mit dem Dämon alleine auf der engen, ansonsten komplett verlassenen Straße zurück. Kurz fragte sich die übrig Gebliebene, wie groß ihre Chancen waren, einfach abzuhauen. Doch dann würde dieses Viech wahrscheinlich die wehrlose Frau fressen oder was auch immer Dämonen mit Menschen anstellten und Green war sich nicht sicher, ob sie diese Verantwortung auf ihren Schultern tragen konnte. Also blieb ihr nichts anderen übrig als dem Dämon den Kampf anzusagen, auch wenn alles in ihr sich dagegen sträubte. Schnell löste Green das Glöckchen von ihrer Kette und kaum hatte sie das kleine Ding in der Hand, verwandelte es sich in ihre Waffe. Vom gestrigen Kampf ausgehend musste Green auf einen Angriff warten, den sie absorbieren konnte und dies ermöglichte ihr erst eine Chance auf den Sieg. „Wo ist die kleine Göre?!“, kam es wiederholt von dem Dämon und Green fragte sich, ob dieser Satz das einzige war, was er sagen konnte und die Frage, wen es suchte, tauchte unweigerlich in ihr auf. Der Dämon schien nicht im Sinne zu haben, irgendetwas mit Green anfangen zu wollen, denn er verharrte regungslos fünfzig Meter von ihr entfernt und damit ging der Plan Greens nicht auf. Also blieb der frisch gebackenen Wächterin nichts anderes übrig als sich ihm zu nähern, wenn er zu faul war, sich zu bewegen. Innerlich fluchte sie, als sie zum Spurt ansetzte, doch tatsächlich, ihre Taktik zeigte Wirkung. Kaum hatte sie sich bewegt, griff er wie erhofft an. Genau wie beim letzten Kampf hielt Green den Stab vor sich ausgestreckt und dieser nahm die schwarze Energie, Magie oder was auch immer es war, auf und färbte sich zur Hälfte schwarz. Doch gerade als Green angreifen wollte, kam der Dämon ihr zuvor. Mit einer ungeheuren Schnelligkeit schossen dessen Klauen auf das Mädchen zu und sie konnte dem nur entgehen, indem sie sich auf den Boden fallen ließ. Ihr blieb keine Zeit sich auszuruhen, denn er setzte sofort nach und seine Faust sauste auf sie nieder, als würde er eine Ameise zerquetschen wollen. Green gelang es nicht auszuweichen, da sie sich nach wie vor auf dem Boden befand. Sie kniff die Augen zusammen und machte sich auf Schmerzen bereit...was sich als ein unnötiges Unterfangen herausstellte. „Green-chan!“ Green war noch nie so erleichtert gewesen, Pinks quietschende Stimme zu hören und endlich traute sie sich, die Augen zu öffnen. Über ihr sah sie das gleiche Phänomen, welches ihr bereits einmal das Leben gerettet hatte: eine pinkfarbene Glasscheibe. Green nutzte die Zeit, in der der Dämon von der Neudazugekommenen Notiz nahm und floh aus seinem Angriffszirkel hinüber zu Pink. Erst da bemerkte sie, dass der Dämon Pink ungewöhnlich lange anstarrte. „Die kleine Göre!“ Zuerst dachte Green nur, dass es doch ein Wunder war, dass er auch noch etwas anderes sagen konnte, doch dann dämmerte es ihr und sie wirbelte zu Pink herum. Der Blick ihrer kleinen Freundin war auf einmal unheimlich angsterfüllt geworden und wenn Green es richtig sah, zitterte sie. „Pink, was ist los?“ Kaum kamen diese Wörter über Greens Lippen, versteckte Pink sich schon hinter ihrem Rücken. „Sie kommen, um mich zurückzuholen!“ Es war wahrlich nicht zu übersehen, dass der Dämon es auf Pink abgesehen hatte, denn als es plötzlich auf sie zu raste und die beiden Mädchen gezwungenermaßen auseinander springen mussten, richtete er seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf Pink: Green war uninteressant geworden. Er griff nach dem kleinen Mädchen, das jedoch wieder seine Kräfte einsetzte, um eine Barriere zwischen seinen Angreifer und sich selbst zu errichten, womit es einem Treffer entging. Pink war klein und flink und damit im Vorteil gegenüber dem großen Klotz von einem Dämon. Ihre Fähigkeiten schützten sie vor direkten Treffern, doch sie holte nicht zum Gegenangriff aus – warum nicht? „Pink! Greif doch an! Du hast doch genug Chancen!“ Pink wich einer weiteren Attacke ihres Verfolgers aus und hatte damit noch keine Zeit zum Antworten. Erst nach mehreren Manövern antwortete sie: „Kann ich nicht! Ich kann nur Schutzmagie!“ Green schallte sich in Gedanken eine Närrin; das hätte ihr auch schon früher klar werden können, es war immerhin ziemlich offensichtlich. „Hey, du dummes Mistviech! Vergreif dich lieber an jemandem, der fast genauso groß ist wie du!“ Ihr Versuch die Aufmerksamkeit des Dämons zu erlangen war vergebens; er hatte nur Augen für Pink. Aber das konnte man ja auch ausnutzen. Green rannte hinter ihn, die Stufen einer Treppe empor, damit sie in etwa auf gleicher Höhe wie dessen Kopf war. Dort schwang nahm sie Anlauf, sprang von der obersten Stufe und noch während sie in der Luft war, schwang sie den Stab hoch über ihrem Kopf und schrie: „Darklightning!“ Genau in dem Moment, in dem sich die schwarze Energie aus ihrem Stab entlud, schlug Greens Stab nicht auf seinem Kopf ein wie geplant, sondern auf dessen Schulter. Zwar hatte sie ihr eigentliches Ziel nicht getroffen, doch das Ergebnis war das gleiche: der Dämon war eliminiert. Zum Glück für die unüberlegte Green federte ihre Attacke den Sturz ab; dennoch war die Landung unsanft, als sie auf dem gepflasterten Boden fiel. Noch während sie stöhnend feststellte, dass dies nicht gerade die schönste Kür gewesen war, rannte Pink zu ihr und ehe Green sich versah, warf sie sich um ihren Hals und schloss sie in eine liebevolle Umarmung. „Danke, Green-chan! Ich hab dich ja so lieb!“ Die Angesprochene wusste gar nicht, was sie darauf antworten sollte; sie konnte gar nichts mit der Umarmung anfangen. Daher schwieg sie, bis Pink sich von alleine wieder von ihr löste und sich erfreut grinsend vor sie setzte. Green jedoch wurde ernst: „Pink, ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig.“ Und sofort verschwand Pinks Lächeln. Fertiggestellt: 08.08.08 Kapitel 3: Nachhilfe -------------------- Es war ein verregneter Sonntagmorgen, der Pink zum Verhängnis werden sollte, denn obwohl es ein perfekter Tag war, um diesen im Bett zu verbringen, dachte eine frischgebackene Wächterin nicht im Geringsten daran: sie hatte vor, Pink zur Rede zu stellen und kaum dass Pink ihre Zimmertür hinter sich gelassen hatte, wurde sie auch schon begrüßt: „Guten Morgen, Pink! Na, gut geschlafen?“ Ausnahmsweise hatte Green ihre Haare zu einem Zopf gebunden und lächelte Pink voller Erwartung an, woraufhin diese den Kopf schief legte und verwirrt dreinschaute. „Guten Morgen… Ist heute irgendwas Besonderes? Du scheinst so gute Laune zu haben!“ Kaum hatte Pink sich an den Küchentisch gesetzt, stellte Green auch schon Pfannkuchen vor ihre Nase, mit extra viel Schokoladensoße. „Ach, eigentlich gibt es keinen bestimmten Grund.“ Pink sah die Pfannkuchen als Einladung zum Essen an und begann auch sofort, ihr Frühstück zu verzehren. „Hmmm! Lecker!“, schwärmte Pink. Das andere Mädchen grinste und setzte sich ebenfalls hin, allerdings ohne etwas zu essen, da sie bereits mit ihrem Frühstück fertig war. „Die habe ich ja auch gemacht. Aber das Beste daran ist: es ist eine billige Mahlzeit! So kannst du mir wenigstens nicht die Haare vom Kopf essen, wenn du schon hier wohnen musst.“ Pink lächelte munter; scheinbar konnte sie sich nicht daran erinnern, was heute auf sie zukommen würde. Doch Green hatte es nicht vergessen, denn sie war schon neugierig auf Pinks Geschichte: eigentlich wollte sie ja, dass das kleine Mädchen von sich aus begann, aber sie war scheinbar zu beschäftig damit, ihr Gesicht in Schokolade zu tauchen. Green blieb daher nichts anderes übrig, als selbst den ersten Schritt zu machen: „Pink, hast du vergessen, was du mir heute erzählen wolltest?“ Greens Lächeln war bei diesen Worten verschwunden, womit auch das breite Grinsen Pinks steif wurde, bis es sich vollständig auflöste. Zwar aß sie weiter, doch es sah bei Weitem nicht mehr so enthusiastisch aus wie zuvor. Green stand auf und legte ihre Hand auf Pinks Schulter; überrascht schreckte sie aus ihren Gedanken hoch und schaute zu Green hinauf, welche sie verständnisvoll anlächelte. „Wie soll ich weiterhin meiner Aufgabe nachgehen, wenn ich nicht die ganze Wahrheit kenne?“ Green konnte nicht deuten, ob es sich um Freudentränen handelten oder deren Gegenteil, doch in Pinks Augen sammelte sich Wasser, welches Pink sich hastig mit dem Ärmel ihres pinken Pyjamas wegwischte. „Ok.“ Green entfiel nicht, dass Pinks Stimme zitterte – war das Thema ihr denn wirklich so unangenehm? Zwar hatte Green es bereits geahnt, doch sie hätte nicht gedacht, dass es ein solch schlimmes Thema für Pink war und nachdem sie sich umgezogen hatte und vor ihr auf dem Sofa saß wie ein kleines, eingeschüchtertes Tröpfchen Elend, kam Green nicht darum herum, Mitleid mit ihr zu haben. Sie war eben doch nur ein Kind. Pink schien es sich schwer zu machen mit dem Anfangen, doch Green hatte dieses Mal nicht vor, den ersten Schritt zu tun - sie wartete also geduldig, bis Pink sich seufzend laut fragte, wo sie nur anfangen sollte. „Wohl am Anfang“, antwortete Green, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, doch es war ein eher kläglicher Versuch, der bei Pink nicht anschlug. „Aber genau daran kann ich mich nicht erinnern.“ Sie schaute zu Boden, während sie dies sagte und Green fragte sich schon, ob Pink sie übers Ohr hauen wollte, doch dann setzte das kleine Mädchen seine Erklärung fort: „Ich... habe mein Gedächtnis verloren.“ „Amnesie?“, kam es sofort aus Greens Mund gesprudelt. Pink nickte zaudernd. „Ich kann mich nur noch an die Zeit erinnern, die ich in der Dämonenwelt verbracht habe.“ Greens Hand rutschte von ihrem Kinn und überrascht sah sie ihre Gesprächspartnerin an, unsicher, was sie sagen oder fragen sollte. Doch zum Glück für sie nahm Pink ihr das ab: ohne sie anzugucken fuhr sie fort: „Ich wurde als kleines Kind mitgenommen und weiß nichts mehr von dem, was davor war. Seit diesem Tag habe ich in der Dämonenwelt in Gefangenschaft gelebt. An die Zeit davor kann ich mich nicht mehr erinnern… sie haben mir alles genommen. Familie, Freunde, Träume, mein Ich… ich weiß noch nicht mal, ob „Pink“ mein richtiger Name ist…“ Green schaute sie mit mitleidvollen Augen an und auf einmal brach das Gefühl in ihr aus, dass sie dieses kleine Mädchen beschützen musste und wollte. Es war ein ihr fremdes Gefühl, da ihr das Tun und die Gefühle anderer meistens egal waren; doch für dieses kleine Mädchen empfand sie Mitleid, als wäre sie ihre eigene Schwester. „Deshalb also war dieser Dämon hinter dir her... aber wozu brauchen die dich?“ Pink zuckte kurz. „Wegen meiner Schutzmagie.“ „Was wollten sie damit?“ Pink holte tief Luft. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wofür die ganzen Untersuchungen gut waren...“ Heiser brachte Green das Wort „Untersuchungen“ heraus, doch Pink schüttelte nur mit dem Kopf. Die Bedeutung dieser Geste war klar verständlich: Sie wollte nicht darüber reden. „Ich weiß es alles nicht mehr so genau... aber im letzten großen Kampf, in dem die Dämonen gegen uns kämpften, wurden sie in ihrer eigenen Welt versiegelt.“ Green kam unweigerlich ein Krieg in den Sinn und kaum hatte sie dies gedacht, blitzten die Bilder ihres Traumes vor ihrem geistigen Auge auf; etwas, was Pink nicht bemerkte. „Ich glaube, sie wollten mit meiner Magie versuchen, das Siegel zu brechen...“ Green nickte gedankenverloren; immer noch unsicher, was sie darauf erwidern sollte. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort, bis Green sie fragte, wie es ihr gelungen war, zu fliehen. „Das Siegel wird schwächer. Einige Dämonen können es überschreiten. Ich bekam mit, dass sie davon sprachen, dich umzubringen“, sagte Pink „Was?! Wieso wollen sie mich umbringen?! Das gibt doch keinen Sinn; ich bin doch nichts anderes als ein unbedeutender Mensch…“, sagte Green hysterisch, sofort um ihr eigenes Leben bangend. „Aber Green-chan, du bist doch kein Mensch! Du bist doch ein Wächter! Wie ich! Und die Dämonen töten Wächter, weil wir die Einzigen sind, die sie aufhalten können!“, antwortete Pink mit strahlenden Augen und abermals mit Tatendrang, etwas was Green nicht so ganz nachempfinden konnte, denn ihr gefiel es weniger, eine lebende Zielscheibe für die gesamte Dämonenwelt zu sein. „Kannst du mir eigentlich mal erklären, was genau „Wächter“ eigentlich sind?“ Pink holte mit der Faust aus, um eine glorreiche Pose zu vollführen, ehe sie triumphierend antwortete: „Wir sind die Beschützer der Menschheit!“ Ok, dachte Green, sie würde wohl keine genaueren Informationen erhalten. Da ihr dies nun bewusst geworden war, beschloss sie, das Thema wieder zu wechseln. „Erzähl bitte weiter, Pink. Wie bist du geflohen?“, fragte Green. Das Lächeln auf Pinks Gesicht verschwand. „Durch Zufall erfuhr ich von ihren Plänen und als ich deinen Namen hörte, klingelte es bei mir. Ich muss dich wohl irgendwie gekannt haben…“ Pink zuckte mit den Schultern, als wäre dieses Detail nicht weiter wichtig, was Green allerdings nicht so sah: denn sie war sich ganz sicher, dass sie Pink noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Obwohl dies deutlich in den Augen Greens zu sehen war, fuhr Pink fort, als hätte sie nichts gehört: „Ich setzte alles daran zu fliehen, weil ich deine Magie aktivieren wollte, damit du die Dämonen bekämpfen kannst. Aber ich wusste nicht wie… doch durch eine Unachtsamkeit von ihnen konnte ich das Siegel überwinden und fliehen - und so landete ich bei dir.“ Es stand so deutlich in Pinks gesamter Körperhaltung geschrieben, dass das Thema ihr überaus schwer fiel und dass sie bereits mehr gesagt hatte, als sie es eigentlich wollte. Dennoch war das Thema für Green nicht abgehakt und sie musste diese Chance jetzt nutzen, denn sie glaubte nicht, dass sie Pink jemals wieder dazu würde bringen können, mir ihr darüber zu reden. Doch gerade als sie dem kleinen Mädchen sagen wollte, dass sie stark daran zweifelte, dass sie sich bereits vorher schon einmal gesehen hatten, sprang Pink plötzlich auf. Die bedrückte Körperhaltung fiel von ihr wie ein ungewünschter Nebel und freudestrahlend fragte sie Green, ob sie nicht noch mehr Schokolade im Haus hätten. Überrumpelt von Pinks plötzlicher Veränderung gab Green nach. Mehr als zwei Jahre später würde sich das als ein Fehler herausstellen. Am nächsten Tag war das Gespräch mit Pink bereits Vergangenheit und die alltäglichen Probleme hatten Green wieder eingeholt und sich aufdringlich in den Vordergrund gedrängt: anstatt sich über Pink oder dir Todesdrohung der Dämonen Sorgen zu machen, war Green auf dem Heimweg, sich in Gedanken fragend, wie sie die nächsten Prüfungen überstehen sollte. Die frischgebackene Wächterin mit den eher menschlichen Problemen war so sehr in Gedanken versunken, dass sie erst, als sie beinahe wieder zu Hause war, bemerkte, dass sie den Heimweg nicht so alleine beschritten hatte, wie sie geglaubt hatte: bei dem letzten Fußgängerübergang bemerkte sie plötzlich, dass Gary neben ihr stand und über den gleichen Übergang gehen wollte. „Was machst du denn hier, Ookido?“, fragte Green mit großer Skepsis in der Stimme, welche sie nicht einmal versuchte zu verstecken. Der Angesprochene wandte sich überrascht an sie, als hätte er sie eben erst bemerkt: „Ich bin auf dem Heimweg. Ganz genau wie du, nehme ich an.“ „Seit wann haben wir den gleichen Heimweg? Du wohnst doch gar nicht in meiner Gegend?“ Eigentlich wusste Green nicht, wo ihr persönlicher Widersacher lebte, aber es wäre ihr gewiss aufgefallen, würde er bei ihr in der Nähe wohnen. „Ich habe mich nie dafür interessiert, wo du wohnst.“ Green drehte sich um und zeigte auf einen etwas weiter entfernten Wohnblock, während die Ampel ihnen mitteilte, dass sie die Straße nun überqueren konnten. „Dort wohne ich“, entgegnete Green mit diesem anschaulichen Beispiel und senkte ihren Arm wieder. „Was für ein Zufall; ich neuerdings ebenfalls.“ Ganz offensichtlich hatte sich ihr Leben gegen sie verschworen, denn das war eindeutig zu viel. Wie kam dieser Typ auf die Idee, ausgerechnet in ihre Gegend zu ziehen? Tokio war eine Metropole! Es gab tausend andere Wohnmöglichkeiten; warum war das Leben also so grausam? Womit hatte sie das verdient? Auf einmal jedoch fragte sich Green etwas anderes: war das Pink, welche am Ende der Straße stand und offensichtlich auf sie wartete, denn kaum, dass sie sie gesichtet hatte, kam das kleine Mädchen schon stürmisch auf sie zugerannt, obwohl Green diese Geste nicht erwiderte, sondern verwirrt stehen blieb, was Gary ihr gleichtat. „Was machst du denn hier?“, fragte Green, nachdem Pink strahlend bei ihr angekommen war. Diese zeigte auf etwas, etwas was sie in der Hand hatte: Greens Inlineskates. „Ich wollte sie dir nur vorbeibringen.“ Green sah Pink an, als würde sie sich fragen, ob das Mädchen noch ganz bei Trost war: was brachten ihr die Inlineskates, wenn sie nur noch wenige Meter von ihrem Zuhause entfernt war? Hätte Pink ihr diese zu Beginn des Tages gebracht, sähe der Fall anders aus. Dennoch bedankte sich Green ein wenig zögernd bei ihr und nahm sie entgegen, ohne sie anzuziehen. Green schielte zu Gary und bemerkte dabei, dass er Pink mit seinen kritischen Augen aufmerksam musterte. Pink bemerkte die plötzliche Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde und legte fragend den Kopf schief. Beide sagten nichts; es war Green, die die Stille und damit diese merkwürdige Situation unterbrach: „Pink, wir sollten langsam gehen. Ich habe genug von eingebildeten Igeln.“ Green überlegte langsam ernsthaft, ob sie Nachhilfe nehmen sollte. Die schlechte Note vom letzten Test spukte in ihrem Hinterkopf herum und vor ihren Augen türmten sich die Hausaufgaben. Das Problem dabei war, dass sie diese in knapp zwei Stunden abgeben sollte, denn natürlich hatte sie sie so lange vor sich hergeschoben, dass sie jetzt nur noch eine Pause hatte, um diese schreckliche Arbeit zu erledigen. Die Tatsache, dass Gary nun nicht nur in ihrer Nähe lebte, sondern auch gleich nebenan, war einfach zu schrecklich gewesen, als dass sie sich sofort von diesem Schock hatte erholen können. Doch wie erwartet verstand sie nicht einmal die Hälfte davon. Es brachte nichts, die Aufgabenstellung wieder und wieder zu lesen. Beständig zeigte sich das gleiche Resultat: Verwirrung. Wäre Sho in der Schule, hätte Green von ihr abschreiben können, doch diese hatte kurzerhand ihr Wochenende verlängert und war mit ihren Eltern auf einem Wochenendausflug. Sie hatten Green auch gefragt, ob sie nicht mitkommen wollte, aber sie hatte dankend abgelehnt - Pink im Hinterkopf habend. Green raufte sich die Haare, als die Aufgabe zum wiederholten Male keinen Sinn ergab. Vor sich hin fluchend wischte sie ihre Antwort mit der Rückseite ihres Bleistiftes weg; erst bei dieser wütenden Aktion bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde: Gary saß am Tisch neben ihr, vergraben in einem Haufen Büchern. Green sollte nicht darüber verwundert sein, ihn hier zu sehen; immerhin befanden sie sich in der Schulbibliothek - seiner persönlichen Domäne. „So schwer waren die Aufgaben doch gar nicht“, sagte er und zur Abwechslung, klang es nicht einmal beleidigend, sondern eher freundlich. „Für dich vielleicht nicht. Aber für mich“, antwortete Green und nahm wieder ihren Taschenrechner in Betrieb. Sie versuchte, nicht auf ihn zu achten, doch das wurde geradezu unvermeidbar, als er sich direkt vor sie setzte. Skeptisch sah sie von den Aufgaben auf und stellte Augenkontakt her. „Lass mich dir helfen“, sagte er überraschend zuvorkommend und streckte schon die Hand nach ihrem Heft aus. „Du willst dich doch nur über mich lustig machen.“ Gary schüttelte leicht den Kopf. „Werde ich nicht. Ich verspreche es dir.“ Mit leichter Schamesröte gab sie ihm ihr Heft; sich nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung gewesen war. Doch was war ihr denn anderes übrig geblieben? Die Pause war so gut wie vorbei. „Aber erklär es mir bitte langsam.“ Er begann das Heft zu überfliegen und Green machte sich auf neckische Bemerkungen gefasst, doch diese blieben aus. Gary schwieg, überflog nicht nur ihre heutigen Aufgaben, sondern auch die letzten. Mit einem Kloß im Hals bemerkte Green, dass er ihr gesamtes Heft unter die Luppe nahm und ihr unwohles Gefühl steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Erst nach einer ganzen Weile sah er auf. „Najotake.“ Green zuckte zusammen, als würde sie auf das Urteil eines Richters warten. „Ja?“, fragte sie mit leicht zitternder Stimme. Seufzend gab er Green ihr Heft zurück und sie war erstaunt, als er aus seiner Tasche sein eigenes Heft herausholte. „Du hast das Problem, dass du das Grundprinzip nicht verstanden hast. Wir haben nicht mehr genug Zeit, als dass ich es dir jetzt erklären könnte. Daher darfst du von mir abschreiben.“ Skeptisch sah Green ihn an, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er dafür nichts im Gegenzug haben wollte. Doch er fing bereits an, fortzufahren, ehe sie etwas sagen konnte: „Und heute nach der Schule gebe ich dir Nachhilfeunterricht. So lange, bis du es verstanden hast.“ Die Skepsis der Angesprochenen fiel in sich zusammen und erstaunt sah sie ihn an. „Und was willst du dafür?“ „Nichts. Nur eine fleißige Schülerin.“ Weder Green noch Gary sprachen besonders viel, als sie ein weiteres Mal ihren neuen, jetzt gemeinsamen Heimweg antraten. Schweigend, einen großen Abstand zueinander einhaltend, fanden sie schließlich den Weg nach Hause. Zwar war das die perfekte Gelegenheit für Green gewesen, das Thema anzusprechen, welches sie bereits am Vortag hätte besprechen wollen, doch wie hätte sie es anfangen sollen? Sollte sie ihn einfach fragen, ob er genauso menschlich war wie sie? Und obendrein auch noch in der Lage war, ihr einen Haufen Fragen zu beantworten? Wenn sie mit ihrer Vermutung falsch lag, wollte sie sich gar nicht ausmalen, wie peinlich das werden würde: sein Blick wäre garantiert Gold wert. Seufzend schmiss Green ihre Tasche schnell in ihr Zimmer; sich gegen das Umziehen entscheidend, da sie nicht wollte, dass Gary sich allzu sehr in ihrer Wohnung umsehen konnte. Doch sie war schon zu lange in ihrem Zimmer gewesen, denn schon hörte sie Gary sagen: „Najotake, hier liegt ein Zettel an dich adressiert.“ Auf diese Worte hin schritt Green schnell in das größte Zimmer ihrer Wohnung; der Kombination zwischen Stube und Küche, und gesellte sich zu Gary, um den Zettel zu lesen, der in pinker Glitzerschrift geschrieben stand: HOI YA! Kom heutte speter!!!! Binn in der Statt Schopppen!!!! Hoff wen ich wider da bin das ich den Fannkuchen bekomme!!!! Piink Green schaute sich denn Zettel genau an und las ihn ein zweites Mal, um zu begreifen, wie viele Fehler sich in nur zwei Zeilen befinden konnten. Pink konnte noch nicht mal ihren eigenen Namen schreiben… Aber eigentlich wunderte sich Green darüber, dass Pink überhaupt schreiben konnte. „Ich muss schon sagen, sie ist ja dümmer als du.“ Verwundert hatte er über Greens Schultern mitgelesen; eine Tat, die Green alles andere als höflich fand und sich daher erbost umdrehte. Und ihre Post dann auch noch mit einer Beleidigung kommentieren! Aber da Green nicht vorhatte, jetzt schon einen Streit anzufangen - immerhin musste sie noch einige Stunden mit ihm aushalten - verzichtete sie darauf, sich zu ausgiebig zu verteidigen. „Anstatt hier große Sprüche zu klopfen, könnten wir ja mal anfangen.“ Je schneller sie in die Puschen kommen würden, desto schneller war sie ihn auch wieder los, dachte Green, während sie unbemerkt eine Grimasse schnitt. Keine zehn Minuten später waren die zwei auch schon vertieft in die unheimlichen Abgründe der Mathematik - oder eher gesagt nicht beide, sondern eigentlich nur Gary: Green ging in diesen Tiefen eher verloren. Fieberhaft versuchte sie, die Aufgabe zu lösen, doch irgendwie klappte es nicht so recht. Gary nippte an seinem Orangensaft, welchen Green ihm unhöflicherweise viel zu spät angeboten hatte und sah ihr etwas belustigt dabei zu, wie sie ihren Kopf zerbrach. Er besah sich ihre Aufgabe genauer und bemerkte sofort den Fehler. „Najotake, gib mal her. Du machst gleich am Anfang einen entscheidenden Fehler…!“, sagte Gary, nahm sich dann das Heft und legte dieses so hin, dass Green jeden seiner Schritte sehen konnte. Langsam tippte er die Zahlen in den Rechner ein und untermauerte dies mit Erklärungen. Green lauschte seinen Worten eifrig, war aber doch etwas verunsichert, als Gary ihr nun den Taschenrechner und das Heft zurückgab, mit den Worten, dass sie jetzt an der Reihe war. Sie schluckte, als wären die Aufgaben ein Dämon, den es zu besiegen galt. Zuerst zögernd ging sie an die Aufgabe, bis sich das wackelige Eis unter ihr festigte und sie die Aufgaben schlussendlich auf dem Papier hatte. Die Resultate erschienen sogar logisch... Green war überrascht. Mit ernster Miene gab sie ihm das Heft und gespannt wartete sie auf sein Urteil. „Na bitte, geht doch.“ „Ist es…richtig?!“, fragte Green sicherheitshalber nach, da sie das Unfassbare nicht glauben konnte. Als er bekräftigte, dass sie die Aufgabe tatsächlich richtig gemacht hatte, starrte das Mädchen die Aufgabe lange an. Er sprach bereits munter über die nächste Aufgabe, ohne zu bemerken, dass Green seinen Worten nicht folgte. „Die Aufgaben sind doch… wirklich…richtig?“, fragte Green mitten in seine Erläuterung hinein. Da er unterbrochen wurde, sah er genervt auf und erwiderte: „Natürlich - oder willst du eine schriftliche Erklärung dafür haben?“ Er wollte gerade da weiter machen, wo er stehen geblieben war, doch Green unterbrach ihn ein weiteres Mal und diesmal ließ sein Herz einen Schlag aus. „Danke, Gary!“ Gary konnte sich nicht erklären, warum er so darauf reagierte, aber ihre Stimme zusammen mit dem ungewohnten Anblick eines lieben Lächeln auf ihrem Gesicht brachte ihn kurz aus dem Konzept. „W-Wir sollten keine Zeit verschwenden und da weitermachen, wo wir aufgehört haben, Najotake.“ Die Angesprochene sah ihn unschuldig und ein wenig überrascht an, als sie bemerkte, dass er stotterte. Dieser eingebildete Idiot war doch in Wirklichkeit nicht etwa schüchtern? „Du kannst mich auch einfach Green nennen.“ Die Antwort kam schneller als erwartet. „Von mir aus.“ Die beiden schwiegen sich an. Green war leicht rot und als sie Gary ansah bemerkte sie, dass auch er leicht rot war. Sie lächelte etwas unsicher, denn die Situation war ziemlich plötzlich ziemlich peinlich geworden. „Ähm, sollten wir nicht langsam weitermachen?“ Fertig gestellt: 14.08.08 Kapitel 4: Winteralbtraum Teil 1 -------------------------------- Der Zug ratterte über die Schienen, voll beladen mit munteren Schülern, die es gar nicht abwarten konnten, ihr Reiseziel zu erreichen, um sich mit voller Energie in die Klassenreise hineinzustürzen - mit allem, was dazugehörte. Sho war eine von denen, bei der die Freude sich am deutlichsten zeigte: ihr Gesicht strahlte regelrecht. Zwar war sie mit ihrer Familie schon so gut wie überall auf der Welt gewesen und so sportlich wie Green war sie auch nicht, als dass sie Feuer und Flamme für das Skifahren wäre, doch sie freute sich auf das, was eine Klassenfahrt von einer normalen Reise unterschied. Außerdem basierte die Reise auf einer Idee Shos und ihre Familie hatte einen Großteil der Reise finanziert.   Green teilte die Euphorie ihrer Freundin nicht: Missmutig starrte sie aus dem Fenster und beobachtete die vorbeisausende Landschaft. „Ach Green, nun komm schon: wir fahren in die Berge! Das ist doch einfach wunderbar! Hach… ein wahrer Wintertraum!“ Sho schwärmte weiter, sprach von der Romantik und dem Flair eines Kamins, gepaart mit Schnee und einem Kakao – dazu noch der passende Mann... „Wohl eher ein Winteralbtraum…“, sagte Green eher zu sich selbst als zu der schwärmenden Sho, welche die leisen Worte ihrer Freundin dennoch gehört hatte und sie nun verwundert ansah, während sie fragte, was sie gesagt hatte. Doch die Befragte schüttelte den Kopf. „Ach nichts, ist nicht so wichtig. Sag mal….schneit es zu dieser Jahreszeit in Hokkaidô?“, ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie dies sagte, ganz so als würde diese Vorstellung sie bereits frösteln lassen. Ihre Freundin sah sie verwundert an, was bei Greens Frage auch nicht gerade verwerflich war und antwortete:    „Ähm, Green, hast du bei den Vorbereitungen geschlafen? Skiunterricht steht auch auf dem Programm und du magst doch eigentlich alle sportlichen Aktivitäten? Als wir damals in Österreich wandern gewesen sind, warst du doch nicht zu bremsen!“ Greens Antwort war ein Seufzen und sie zog ihre Jacke enger um sich, da ihr schnell klar wurde, dass dies wahrscheinlich wirklich ein Winteralbtraum werden würde.     Der Schnee knirschte unter den munteren Füßen der Schüler, die das letzte Stück zu Fuß zurücklegen mussten und rief nicht gerade schöne Erinnerungen in Greens Gedächtnis hervor. Erinnerungen, die sie schon verdrängt hatte, die sie nur noch in ihren Albträumen heimsuchten… Sie versuchte nicht in den Himmel hinaufzusehen, welcher weiß sein würde, verschleiert durch die weiße Pracht von oben. Es genügte, die kleinen Flocken vor ihren Augen zu sehen, welche sich mit dem am Boden liegenden Weiß vereinte, um ein unwillkürliches Zittern in Green hervorzurufen, obwohl sie zwei Jacken anhatte, welche sie eigentlich vor der Kälte beschützen sollten. Ein Klaps auf den Rücken ließ sie aus ihren Tagträumen erwachen und sie sah Shos Gesicht neben ihrem.  „Green, du siehst nicht gut aus. Du bist etwas bleich im Gesicht...“ Shos Sorge um Green wurde von ihren Klassenkameraden unterbrochen, denn diese hatten nun das Hotel ausfindig gemacht, in welchem sie vier Tage lang übernachten sollten. Nicht ohne Grund waren sie kurz sprachlos, welches Sho in vollen Zügen genoss und als Bestätigung auffasste - denn das Hotel hatte sie immerhin ausgesucht, da es ihre Familie war, welche die Klassenfahrt zu mehr als 60% finanziert hatte , wie so viele Arrangements der Schule; manchmal fragte sich Green daher halb im Scherz, wem die Schule überhaupt gehörte. Sho liebte den Luxus, daher konnte man sich in etwa vorstellen, wie deren Bleibe aussah, welche man gewiss nicht mit einer ordinären Jugendherberge vergleichen konnte.   Green war im gewissen Sinne schon auf solch einen Anblick vorbereitet gewesen, da sie immerhin mit Sho zusammen gelebt hatte und sie in diesen paar Jahren ein paar Mal zusammen im Ausland gewesen waren, daher war sie wenig überrascht, als sie das luxuriöse, westlich angehauchte Hotel betraten und ihre Zimmer zugeteilt bekamen, welche sehr schön eingerichtet waren. Schon als sie die beiden Freundinnen den Fuß über die Schwelle ihres gemeinsamen Zimmers setzten, begrüßte sie eine gemütliche, warme Atmosphäre. Mit einem prüfenden Blick untersuchte Sho die Minibar, während Green sich auf das Himmelbett fallen ließ und sich erst einmal entspannt austreckte, die Schuhe dabei von ihren Füßen kickend.   „Wir haben Zimmer 443. Das dürfen wir bloß nicht vergessen, denn hier gibt es genug Zimmer, um sich zu verirren.“ Kurz nach diesen Worten schritt Sho weiter begutachtend durch das Zimmer und öffnete das große Fenster der rechten Zimmerwand, gleich neben dem Bett Greens. „Ach, ist diese Aussicht nicht einfach herrlich! Und wie schön der Schnee glänzt! Ich glaube, wir können sogar Schlittschuh laufen!“ Shos Augen strahlten regelrecht vor Freude, als sie die schneeweiße Landschaft vor dem Fenster erblickte, im Gegensatz zu Green, die sich die Decke über den Kopf schob.  „Wollen wir mal gucken, wie das Eis aussieht? Im Programm des Hotels steht, dass sie Schlittschuhe zum Verleih anbieten. Heute haben wir immerhin nichts Schulisches auf dem Programm; das müssen wir doch ausnutzen!“ Als die übereifrige Sho sich zu Green umdrehte, wurde sie allerdings enttäuscht, denn überrascht stellte der Rotschopf fest, dass ihre Freundin zu schlafen schien, denn sie antwortete ihr weder noch reagierte sie irgendwie auf die Worte Shos. Skeptisch verengten sich die Augen des Rotschopfes, als sie sich über die auf dem Bett liegende Green beugte, doch es sah tatsächlich so aus, als wäre sie eingeschlafen. Ob sie sie wecken sollte? Immerhin konnte sie noch nicht tief im Land der Träume versunken sein und es sollte somit nicht besonders schwer sein, sie zu wecken. Doch obwohl Sho nicht die größte Lust darauf verspürte, alleine das Eis auf dessen Tauglichkeit zu überprüfen, ließ sie Green schlafen; immerhin hätte sie wahrscheinlich sowieso keine Lust auf das Schlittschuhlaufen, dachte Sho, als sie sich Jacke, Schal und Handschuhe nahm und das Zimmer daraufhin verließ. Sobald der erste Schnee kam, begann Green merkwürdig zu werden…      Ein kühler Wind kräuselte Greens Haare. Sie kniff die Augen zusammen und drehte sich unruhig zur Seite, wobei ihr Glöckchen sanft auf die blaue Decke fiel. Das Mädchen war tief in ihrem Schlaf versunken und wurde nicht einmal von dem kalten Wind des offenen Fensters geweckt: eher das Gegenteil war der Fall, die Kälte des Windes schien sie noch weiter in den unheilvollen Schlaf zu locken. ... auch, dass sie nicht mehr alleine im Zimmer war, bemerkte sie nicht. Ruhig und reglos blieb sie liegen, bewegte sich auch nicht, als der Eindringling näher kam. Zu tief hinab hatte sie der Traum gerissen, ließ sie alles andere um sich herum vergessen. Erst als er nach dem Glöckchen griff, reagierte das Mädchen, indem sie das Handgelenk des ungebetenen Gastes packte. Der Eindringling erstarrte innerlich, wagte es kaum zu atmen, obwohl sie nach wie vor schlief und es daher offensichtlich war, dass sie aus Reflex gehandelt hatte. Ohne sie zu wecken befreite er sich gekonnt von ihren zierlichen Fingern und startete einen erneuten Versuch: das Ziel lag nun zum Greifen nah, doch gerade als seine Fingerspitzen es fast berührten, flüsterte Green: „…es…es ist so…kalt…“ Diese leise gemurmelten Worte ließen ihn mitten in der Bewegung erstarren, denn zusammen mit diesen Worten war eine Veränderung in der Schlafenden geschehen. Auf einmal hatte Green ihre Augen fest zusammengekniffen, ihr Atem kam in unruhigen Schüben und ihr Gesicht war plötzlich kreidebleich geworden. Obendrein machte sich auch noch ein weiterer Störfaktor bemerkbar, denn auf dem Gang waren Schritte zu hören.   Die Tür wurde förmlich aufgeschlagen und Sho stand zwischen Tür und Angel. Sie erblickte zuerst das offene Fenster und dann, mit leichter Frustration, die nach wie vor schlafende Green. Sho war extra kurz vor dem Aufbruch noch einmal zurückgegangen, in der Hoffnung ihre Freundin wäre vielleicht wieder aufgewacht. Leider wurde sie enttäuscht, denn wie sie deutlich sehen konnte, war ihre Freundin nach gänzlich von ihren Träumen eingenommen. Also blieb Sho nichts weiter übrig als sich auf dem Absatz umzudrehen, um das Zimmer zu verlassen und Green damit mit ihren Albträumen alleine zurückzulassen.     Schnee, überall Schnee...Kälte, die verschluckt...grauer Himmel, von hohen, weißen Tannen verhüllt…     Schadenfrohes Gelächter füllte Greens Kopf; Erinnerungen, die ihren Kopf beinahe zerspringen ließen.    „Schwester Green, willst du es nicht wenigstens noch mal versuchen? So schwer ist es wirklich nicht!“ Verschwommen, wie ein altes, von der Zeit mitgenommenes Bild, erschien der flehende Ausdruck eines braunhaarigen Mädchens vor ihr: in seiner Hand waren zerschlissene Schlittschuhe zu sehen, welche das Mädchen nun langsam senkte; wahrscheinlich, weil es verstand, dass es keinen Sinn hatte, Green dazu zu überreden, mit ihm auf das Eis zu gehen. Stattdessen nahm es mit seinen kleinen behandschuhten Händen Greens und versuchte, sie warm zu reiben. Wie oft hatte sie diese Geste wiederholt? Wie oft blieb diese Geste unbeantwortet?   Kälte, die dich nie wieder freilassen wird... Die dich festhält....       „Die wird es doch nie lernen. Die ist einfach zu blöd dazu! Stimmt doch, Green? Gib es doch einfach zu: Du hast Angst davor, dich zu blamieren!“   Wegen der du die Kraft verlierst, weiter zu gehen...   Das Mädchen, welches Green die Schlittschuhe geben wollte, achtete nicht auf die Zurufe der anderen Kinder. Weiterhin rieben seine kleinen warmen Finger Greens, stetig versuchend, diese warm zu bekommen. Die Hände des kleinen Mädchens waren immerzu warm… Greens dagegen waren immer kalt. „Mach dir nichts aus denen! Du musst nicht, wenn du nicht willst.“ Das Gelächter der Gruppe wurde noch lauter. „Stellst du dich jetzt etwa auf ihre Seite, Kari?!“   Die Müdigkeit und Schwäche in dir erweckt....   Die Angesprochene beachtete sie nicht weiter, denn obwohl sie so ein kleines, zerbrechliches Mädchen war, besaß sie einen starken Charakter, der sie vor der dunklen Welt um sie herum bewahrte und Beleidigungen aller Art abprallen ließ. Doch an Green prallten sie nicht ab. Bei ihr trafen sie immer einen wunden Punkt – und anstatt wie das andere Mädchen darüber zu stehen, zeigte die Provokation der anderen Kinder ihre Wirkung: Green befreite sich aus den wärmenden Händen des Mädchens und prompt verstummte das Gelächter, machte einer aufmerksamen Neugierde Platz. Erstarrt doch lauernd sahen sie zu, wie Green sich die Schlittschuhe anzog und zögernd Halt am Rand der Schlittschuhbahn fand. Ihre Beine zitterten, als sie den ersten Schritt machte und kaum hatte sie sich ganz vom Geländer gelöst, fiel sie auch schon der Nase lang hin.      Wallender Schnee…   Die Reaktion kam schnell, da sie genau auf dies gelauert hatten. Laut, schadenfroh und hämisch erfüllte ihr Lachen die Luft und im gleichen Takt wie der Schnee vom Himmel fiel, rollten die frustrierten Tränen an Greens gerötete Wangen herab. Ihr Gesicht war rot vor Tränen und wieder einmal hasste sie sich für diese Schwäche. Sich und den verdammten Winter.   ...der keinen Laut durchlässt...   „Heulsuse! Heulsuse! Seht ihr: Ich habe es euch doch gesagt! Green kann noch nicht mal einen kleinen Schritt auf dem Eis machen!“   ... du wirst dich alleine mit dem Schnee vereinen...   Das Gelächter wurde immer lauter in Greens Kopf: tausendfach wiederholte es sich und breitete sich genauso schnell und wallend in ihrem Körper aus, wie die Kälte es tat. Die Kälte umarmte sie, wollte sie nicht mehr loslassen, würde sie nie wieder loslassen... Umso lauter das schadenfrohe Lachen wurde, umso mehr fachte es den Hass in ihrem Körper an; Hass auf all jene, die sie in ihrer Kindheit ausgelacht hatten, auf die, die sie allein gelassen hatten, einfach auf alle!   Die Mischung aus Kälte und Hass entwickelte sich zu einer Spirale, die sich in sie hineinzubohren schien, doch schlussendlich riss sie Green auch aus dem Schlaf. Obwohl ihr gesamter Körper vor Kälte bebte, war sie bedeckt von Schweißperlen und schweratmend blieb sie liegen, starrte verklärt an die Decke, als hätte sie Fieber. Sie versuchte an nichts zu denken, doch das Lachen hallte immer noch wie ein Echo durch ihren Geist. Ohne dass sie es bemerkt hatte, hatten sich ihre Hände um ihr Glöckchen geklammert, als würde es ihr helfen können, die Schatten der Vergangenheit zu bewältigen.      Nachdem Green lange und ausgiebig warm geduscht hatte, war es auch irgendwann Zeit für das Abendessen. Sie fühlte sich ein wenig besser, auch wenn das heiße Wasser die Kälte nicht vollends besiegen konnte. Wie auch? Die Kälte kam von innen, wie sollte das Wasser ihr dabei behilflich sein, eben diese Kälte zu bekämpfen? Auch die wärmende Suppe, welche Green sich vom Büffet geholt hatte, konnte die beißende Kälte nicht besiegen, obwohl sie eindeutig gut schmeckte, was Sho absolut nicht fand, obwohl sie ordentlich reinhaute, nachdem sie zu spät zum Abendessen kam: angeblich hatte sie die Zeit beim Schlittschuhlaufen total vergessen, obwohl sie mehr über die dort gesehenen ach so gut aussehenden Männer sprach als über den Schlittschuhlauf, worüber Green erleichtert war. Erst spät waren die beiden Mädchen wieder in ihrem Zimmern, da sie zuvor noch mit ihren Klassenkameraden zusammengehockt hatten, um über dieses und jenes zu sprechen. Sho war vollkommen erschöpft und wollte direkt ins Bett gehen; sie hatte nicht einmal mehr genug Energie, um darüber zu diskutieren, ob das Fenster über Nacht offen bleiben sollte oder nicht, obwohl Sho stets mit offenen Fenster schlief und Green sich sofort dagegen äußerte. Als Green sich gerade bettfertig machte, kam Sho jedoch noch etwas in den Sinn, was sie noch sagen wollte, bevor sie den Schlaf im Empfang nehmen wollte: „Warum hast du das Fenster denn wieder aufgemacht, wenn du mit geschlossenem Fenster schlafen willst?“ Die Angesprochene rief vom Badezimmer aus, dass sie kein Fenster aufgemacht habe, denn sie hätte die ganze Zeit geschlafen und in dieser Kälte käme sie auch niemals auf eine solche Idee, da sie sich nicht erkälten wolle. „Du hast das Fenster wohl nicht richtig geschlossen.“ Nach diesem Vorwurf von Green setzte Sho sich doch noch einmal auf. „Habe ich aber!“, beharrte sie weiterhin. „Außerdem sind das die gleichen Fenster, die ich auch in meinem Zimmer habe. Die verschließen sich automatisch nach dem Zuziehen.“ „Ein AutoLock-Schloss“, ergänzte Green und wurde nun ein wenig nachdenklicher, anders als Sho, die dies spannend zu finden schien: „Uhu! Dann ist vielleicht jemand bei uns eingebrochen: wie spannend! Aber sind diese Schlösser nicht unaufbrechbar?“ Green musste beim Zähneputzen die Augen verdrehen: es gab wohl keine andere Person außer Sho, die sich über einen Einbruch freuen würde. Vielleicht lag es daran, dass sie sich das, was gestohlen wurde, im Falle eines Einbruchs einfach wieder kaufen konnte, denn Geldsorgen hatte sie sicherlich nicht.    Nachdem Green im Badezimmer fertig war und ihren Pyjama angezogen hatte, kam sie wieder in das Zimmer zurück, wo sie Sho vertieft in Gedanken vorfand. Wahrscheinlich schrieb sie bereits eine spektakuläre Story in ihrem Kopf für die nächste Schülerzeitung, immerhin war Sho nicht umsonst dafür berüchtigt, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen; gab es auch nur den leisesten Verdacht auf eine brauchbare Story, so wurde sie so weit ausgearbeitet, bis es zu einer spannenden und interessanten Schlagzeile wurde. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb die Schülerzeitung so beliebt war, auch wenn jeder wusste, dass an den Artikeln nicht einmal die Hälfte wahr war - Shos Schreibstil fesselte ein breites Publikum und sie konnte die haarsträubendsten Erzählungen plausibel machen, so dass man zweimal darüber nachdenken musste, ob ein Artikel entgegen jeder Erwartung tatsächlich der Realität entsprach oder nur eine fantasievolle Verflechtung und Umerzählung wirklicher Geschehnisse war. Green hatte jedoch nicht viel Lust darauf, irgendeine Einbruchstory über ihr Hotelzimmer zu lesen, daher versuchte sie, es ihrer Freundin auszureden: „Ein AutoLock-Schloss ist nicht unaufbrechbar. Es ist schwerer zu öffnen, aber es gibt kein Schloss, welches sich nicht öffnen lässt - man muss nur wissen wie.“ Shos Augen fingen an zu leuchten und sie beugte sich leicht zu ihrer Freundin vor. „Glaubst du denn wirklich, dass hier jemand eingebrochen ist?“ Green schüttelte den Kopf und erwiderte: „Zum einen fehlt uns nichts: ich habe gerade nachgeguckt und unser Geld ist noch da und auch alles andere, bei dem es sich gelohnt hätte, gestohlen zu werden.“ Jetzt sah Sho sie skeptisch an, denn woher wusste Green, wo ihr Geld war? „... und zum anderen bezweifle ich stark, dass jemand aus unserer Klasse in der Lage ist, ein AutoLock Schloss vom Typ APX D3 von Xerion aufbrechen kann.“ Die Angesprochene sah sie lange und mit großen Augen schweigend an, wobei klar und deutlich in ihrem Gesicht zu lesen war, dass sie mal wieder von Greens kriminell veranlagtem Wissen überrascht war und wahrscheinlich wollte sie am liebsten sofort zu ihrer Geldbörse greifen, um zu überprüfen, ob der Inhalt wirklich noch komplett war. Green lächelte nur unschuldig und erwiderte auf Shos Reaktion: „Allgemeinwissen.“  „Okay, dann habe ich eindeutig kein allgemeines Allgemeinwissen.“     Kaum hatten die beiden Mädchen mit dem Reden aufgehört, waren sie auch schon eingeschlafen. Green hatte das Schloss noch mehrere Male vor dem Schlafengehen untersucht und überprüft, ob es auch wirklich verriegelt war. Sie glaubte nicht daran, dass jemand eingebrochen war, denn sowohl am Schloss als auch im Zimmer waren keine Anzeichen für ein Einbruch zu entdecken und dennoch schlief sie mit ihrem Geld unter ihrem Kopfkissen, denn man konnte ja nie wissen und Vorsicht war bekanntlich besser als Nachsicht. Doch ein Einbrecher erschien diese Nacht nicht; stattdessen geschah etwas anderes wahrlich Merkwürdiges. Ganz langsam erhob sich das geflügelte Glöckchen von der Brust seiner Besitzerin, leuchtete mit einem silbrigen Schein und gab plötzlich ein ohrenbetäubendes Klingen von sich, von dem Green auch sofort aus dem frischen Schlaf gerissen wurde. Mit noch geschlossenen Augen griff sie nach ihrem Glöckchen und das Klingen erstarb sofort. Verschlafen rieb Green sich die Augen und gähnte erst einmal herzhaft, das Glöckchen noch in der rechten Hand haltend. Erst dann bemerkte sie, dass das Glöckchen einen Lichtkreis um sich herum gebildet hatte. Green starrte es an, unsicher, ob sie einfach so tun sollte, als hätte sie das Licht nur in ihrem Traum gesehen, dann schaute sie fragend zu Sho, ob diese etwas bemerkt hatte, doch ihre Freundin schlief den Schlaf der Gerechten. Es erschien ihr merkwürdig, dass sie von dem enormen Lärm ihres Glöckchens nicht aufgewacht war: War es etwa so, wie Pink es gesagt hatte, dass nur Green selbst das Glöckchen hören konnte?   Die frischgebackene Wächterin seufzte tief bei dem Gedanken, hinaus in diese Eiseskälte zu gehen und einen zu groß geratenen Dämon zu bekämpfen. Sofort beschloss sie, dass sie es nicht tun würde und ließ sich wieder in das warme Kissen fallen, denn sie hatte beschlossen, dass eine solche Aktion mitten in der Nacht nicht besonders schlau war sondern viel eher dumm und gefährlich. Sie hatte die Augen schon wieder geschlossen, doch fand den ersehnten Schlaf nicht, denn die Worte Pinks verhinderten es: „Es ist unsere heilige Aufgabe!“ „Pink, lass mich in Ruhe schlafen!“, zischte Green, doch es brachte alles nichts - schlafen konnte sie nicht mehr und ganz offensichtlich wollte ein Dämon unbedingt geschlachtet werden. Ohne Sho zu wecken zog Green sich extrawarme Klamotten an und schlich mit zitterndem Körper hinaus; zunächst auf den Gang, dann aus dem Hotel heraus, ohne bei diesen nächtlichen Stunden gesehen zu werden, denn ihr war natürlich klar, dass sie sich Strafen einhandeln würde, wenn man erfuhr, dass sie zu dieser Uhrzeit das Hotel verlassen hatte.    Die eiskalte Nachtluft kam ihr sofort entgegen und ihr lief ein Schauer über den Rücken, denn es beschlich sie der Gedanke, dass sie wohl die erleuchtete Auffahrt samt Straße verlassen müsste, um sich in den dunklen Wald zu wagen, welcher sie mit stockfinsterer Dunkelheit begrüßte gepaart mit einer beißenden Kälte. Wie sollte sie unter diesen Umständen kämpfen? Nichtsdestotrotz schleppte Green sich tapfer durch den Schnee und versuchte sich einzureden, dass es nicht kalt war. Doch dieser Versuch hatte eher kläglichen Erfolg und die Kälte konnte sich Stück für Stück durch ihre Haut bis zu ihren Knochen hindurch fressen. Wie viele Grad es wohl waren? Eine Frage, auf die sie eigentlich keine Antwort haben wollte, denn sie spürte deutlich, dass sie definitiv unter dem Gefrierpunkt lagen. Das einzige halbwegs Positive an dieser Situation war, dass sie wenigstens keine Angst vor der Dunkelheit um sie herum haben musste, denn nach wie vor leuchtete das Glöckchen, welches nun auf ihrer ausgestreckten Hand lag, sanft und leuchtete ihr somit den Weg. Das Klingen war ebenfalls wiedergekehrt und wurde mit jedem weiteren Schritt durch diese eiskalte Hölle lauter, womit es ihr perfekt den Weg zu dem Dämonen zeigte.  Viel zu lange dauerte es, bis das Leuchten des Glöckchens von der Dunkelheit plötzlich verschluckt wurde wie auch das sanfte Klingen. Da sich Greens Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich auf einer großen Lichtung befand. Der Mond war nun auch aus der Wolkendecke hervor gebrochen und reflektierte sich matt auf dem zugefrorenen Eis eines großen Sees: es musste der See sein, auf dem Sho ein paar Stunden zuvor Eislaufen gewesen war, denn deutlich waren die Eingravierungen der Schlittschuhe auf dem Eis im matten Licht zu erkennen.   Green spürte bei diesem Anblick wieder das Gefühl von Hass in sich hochkommen, zusammen mit den Bildern ihrer Vergangenheit, die spöttisch vor ihrem inneren Auge herum tanzten. Sie schüttelte den Kopf, um sich davon nicht ablenken zu lassen, denn es war wichtiger, sich jetzt auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, als sich selbst in der Vergangenheit zu verlieren. Denn obwohl sie hier nirgends etwas Bedrohliches ausmachen konnte, geschweige denn einen Dämon, war Vorsicht geboten, immerhin hatte sie ihr Glöckchen hierhin geführt und das sicherlich nicht ohne Grund. Sie sah auf eben dieses herunter, welches jetzt wieder wie ein ganz normales Glöckchen aussah und den Blick Greens stumm erwiderte. Doch als würde es das Gegenteil beweisen wollen, strahlte das Glöckchen plötzlich in einem grellen Licht und wieder ertönte ein ohrenbetäubendes Klingen, nur diesmal um einiges lauter als zuvor - so laut, dass Green das Glöckchen fallen ließ und sich die Ohren zuhalten musste. Schnell überwand sie jedoch den ersten Impuls, da sie nicht ohne Waffe stehen wollte, wenn der Dämon sich dazu entschied, aufzutauchen: hastig bückte sie sich, um das schreiende Glöckchen wieder aufzuheben und sogleich verweilte es tonlos. Green seufzte erleichtert. Was war das denn gewesen, dachte sich Green, als sie ihr Glöckchen skeptisch im Schatten begutachtete, als wäre es kaputt gegangen.   Warte – im Schatten?! Sie war doch auf einer Lichtung…wo kam da ein Schatten her---   Eine gewaltige Kraft entfachte ein wahres Höllenfeuer an Schmerzen, als diese ihren Rücken entzweite. Der Druck war so enorm, dass sie weggeschleudert wurde und erst kurz vor dem Rand des zugefrorenen Sees zum Stillstand kam. Ihre Augen vor Schmerzen fest zusammenkneifend und das Etwas in Gedanken bereits verfluchend, was nicht nur die Kleidung auf ihrem Rücken zerfetzt hatte, sondern sie auch vor Schmerzen aufstöhnen ließ, versuchte Green, sich aus dem Schnee wieder aufzurichten, um dem Etwas ins Gesicht zu sehen.  Doch dies war gar nicht so einfach; denn das „Etwas“ stellte sich als ein übergroßer Dämon von geschätzten 10 Metern heraus, welcher sich schon für den nächsten Angriff bereit machte. Green schwang das Glöckchen, wodurch es sich in ihre treue Waffe verwandelte, um einem erneuten Angriff aus dem Weg zu gehen - auch sie war damit bereit; bereit, diesem zu groß geratenen Dämon für diesen Schmerz büßen zu lassen! Green war bewusst, dass dies nicht leicht werden würde, denn die Kraft des Dämons war enorm - doch scheinbar hatte dieser Dämon dafür einen Mangel an Gehirnzellen, denn ohne Konzept oder Plan schlug er wild um sich und zerschmetterte bei dieser zerstörerischen Geste einige der umstehenden Bäume. Es fiel Green trotz ihrer Verletzung nicht besonders schwer auszuweichen, da dieses Wesen nicht in der Lage war, zu zielen: der Größenunterschied wurde nun plötzlich zum Vorteil, denn es war leicht für Green zwischen seinen Angriffen hindurch zu schlüpfen und damit auszuweichen. Ewig würde Green jedoch nicht ausweichen können, denn ihre Rückenverletzung begann sie zu schwächen und zu verlangsamen: sie musste dem Kampf schnell ein Ende setzen. Sie nutzte eine weitere Attacke des Dämons für dieses Vorhaben aus: durch die entstehende Druckwelle der Attacke war es Green möglich, diese als Aufschwung zu missbrauchen und als sie hoch genug war gekommen war, gerade so über die Baumkronen sehen konnte, holte sie mit ihren Glöckchenstab aus: „DARKLIGHTNING!“ Die Energie in ihren Stab bündelte sich und landete einen direkten Treffer. Gerade wollte Green sich stolz auf die Schultern klopfen, als sie, immer noch mitten in der Luft hängend, erstaunt feststellte, dass der Dämon nicht mal eine Schramme hatte. Der Dämon nutzte es aus, dass Green nicht ausweichen konnte: ein weiterer dunkler Strahl wurde auf sie abgeschossen und dieser traf abermals ins Ziel. Blut war kurz vor der runden Mondscheibe zu sehen, als der Strahl den Arm der Wächterin am Arm erwischt hatte; zu allen Überfluss war es auch noch der Arm, welcher den Stab führte und auf Grund der plötzlichen Schmerzen ließ Green ihn los, womit er in den Schnee hinab fiel. Seine Besitzerin hätte neben ihm landen müssen, doch im letzten Moment konnte sie noch mit ihrem gesunden Arm Halt an einem Ast finden. Doch die Aussichten auf einen Sieg waren auf einmal ziemlich eingeschrumpft und ihr war klar, dass es ihr, mit nur noch einem Arm zur Verfügung, schwer fallen würde, der nächsten Attacke des Dämons auszuweichen, worauf sich dieser bereits vorbereitete.    Schnell suchten Greens Augen den Boden nach ihren Stab ab, doch sie musste feststellen, dass ihre Waffe sich einen wahrlich ungünstigen Landungsplatz gesucht hatte, denn sie lag nicht weit entfernt von den klauenbesetzten Füßen des Dämonen. Wenn Green ihre Waffe zurückholen wollte, bestand nicht nur für sie ein gewisses Risiko, von ihm zertrampelt zu werden, sondern auch ihre Waffe war in eben dieser Gefahr. Aber ohne ihre Waffe würde es ein schwieriges Unterfangen sein, lebend aus dieser Sache heraus zu kommen… Green spürte, wie ihre Finger, welche sich verzweifelt um den Ast klammerten, langsam taub wurden und mit einem mulmigen Gefühl schätzte sie die Meter zum Boden und stellte fest, dass das nicht gerade wenige waren. Da ihre Auswahlmöglichkeiten nur aus zwei Alternativen bestanden, nämlich sich entweder fallen zu lassen oder von der nächsten Attacke direkt getroffen zu werden, schwang Green sich in letzter Sekunde vom Ast herunter, womit der abgefeuerte Strahl knapp über ihrem Kopf hinweg sauste und ihre Haare aufwirbelte, wobei sicherlich einige versenkt wurden. Green wusste nicht, ob sie von Glück oder Pech sprechen sollte, als sie in einem großen Haufen Schnee landete und beinahe darin unterging: ihre Beine dankten ihr ganz gewiss, denn ohne diesen Landeplatz wären diese vielleicht jetzt gebrochen... doch der Rest ihres Seins war alles andere als dankbar für den plötzlichen Kälteschub. Green verfluchte sich selbst und ihre Schwächen, als sie sich von den Schneemassen befreite und schnell zu einem Sprung ansetzte, um ihren Stab zurückzuholen, denn die unkoordinierten Angriffe des Dämons hatten ihr genug Zeit dafür gelassen. Der Schnee und dessen Kälte hatten die Schmerzen ihres Rückens und ihrer linken Schulter ein wenig betäubt: dennoch schwächten die Verletzungen sie und ihr war klar, dass ihr Körper nicht mehr lange mitspielen würde. Und sie konnte nicht ewig ausweichen. Aber ihre einzige Angriffsmöglichkeit zeigte keine Wirkung und Pink war über hundert Kilometer entfernt von ihr und konnte Green nicht helfen. Sie sah ihren Stab flehend an, als würde dieser plötzlich über eine Hilfsoption verfügen, doch alles, was das Ding tat, war sie anzuschweigen und tatenlos zuzugucken, wie dessen Besitzerin vom ewigen Ausweichen langsam müde wurde und ihre Verletzungen ihren Rücken zunehmend rot färbten. Gerade als sie zum - wie es ihr vorkam - tausendsten Male ausgewichen war, gaben ihre Beine nach und sie fiel in den weißen Schnee.   Es war aus: hinter ihr hörte sie schon den Dämon, der sich für den Endschlag bereit machte. Sie klammerte sich an ihren Stab  –  sie wollte nicht sterben! Dieses Ding musste doch noch mehr drauf haben als eine einzige läppische Attacke! Als sie schwach die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf die zwei Energieleisten, die in dem Stab eingebaut waren. Die schwarze war zirka bis zur Hälfte gefüllt; das war die Energie, die sie in ihren vergangen Kämpfen absorbiert hatte, aber was war mit der anderen Leiste? Der weißen Leiste? Wahrscheinlich durch ihren leichten Anflug von Panik begriff sie recht schnell, dass es doch noch einen Ausweg gab und somit flehte Green ihre lahmen Beine an, dass sie doch bitte noch einen Augenblick lang durchhalten mögen und ihr verzeihen mögen, dass sie sich nun wieder aufrichtete. Aus reiner Verwunderung, dass Green überhaupt noch in der Lage war aufzustehen, vergaß der Dämon seine Attacke und seine großen, gelben Augen starrten sein Opfer, welches nun angriffslustig ihren Stab hinhielt, entgeistert an. Es musste einfach auf diese Art funktionieren, denn wenn sie dunkle Energie mit dem Stab aufnehmen konnte und sich damit die schwarze Leiste auffüllte, musste man doch auch die weiße Energie auffüllen können: vielleicht musste sie einfach die dunkle Energie in weiße Energie umwandeln und ihr Stab funktionierte damit als eine Art Filter? Einen Versuch war es wert – da ihr ohnehin keine anderen Auswahlmöglichkeiten übrig blieben, musste sie alles auf diese Karte setzen. Der Dämon, der sich Greens Verhalten natürlich nicht erklären konnte und auch nicht länger darüber nachdachte als nötig, holte aus und feuerte eine gewaltige Energie auf Green ab, im Glauben, es wäre die letzte Attacke. Konzentriert schloss sie die Augen und hoffte inständig, dass ihr Plan aufging – es musste einfach auf diese Art und Weise funktionieren! Sie spürte die gewaltige Energie, die auf sie zukam und auch wie ihre Hände, die den Stab umklammerten, zu beben begannen. Als sie auch noch ein Gefühl von Schwindel überkam, spürte sie langsam die Panik in sich – so war das nicht geplant! Ihr Stab begann ebenfalls zu beben – oder waren es ihre nervösen Finger, die ihn dazu brachten? Als Green plötzlich deutlich spürte, wie der Stab alle Energie in sich aufgenommen hatte,  wusste sie auch ohne die Augen zu öffnen, dass die weiße Leiste hatte sich halb aufgeladen hatte und auf einmal, ohne zu wissen, woher dieses Gefühl kam, schien das Mädchen ganz genau zu wissen, was sie zu tun hatte. Von einer plötzlichen Leichtigkeit beseelt nahm sie wieder eine weitere Attacke des verwirrten Dämons als Aufschwung und im Mondlicht erhob sie den Stab, ehe eine glockenhelle Stimme die kalte Nacht durchhallte: „Du wagst es, ihr Leid zuzufügen, du Kreatur der Dunkelheit? Niemals mehr sollst du diese Tat wiederholen können! SPIRIT OF LIGHT!“ Im gleichen Moment wie die glockenhelle Stimme diese Worte ausgerufen hatte, hatte sich ein grelles Licht um die Spitze des Stabes gesammelt, wo es sich zu einem Strahl bündelte, welcher wie ein Kanonengeschoss auf den Dämon zuraste und ihn sofort, kaum dass der Strahl seinen Rumpf durchbohrt hatte, in winzig kleine leuchtende Fünkchen zerfetzte. Mit einen Schrecken bemerkte Green plötzlich, dass sie mitten in der Luft hing, doch es blieb ihr keine Zeit drüber nachzudenken, wie sie hier hin kam, denn sie stürzte schon auf den zugefrorenen See zu. Ohne etwas dagegen machen zu können, durchbrach ihr Körper das Eis und das kalte Wasser umschloss sie, zog sie hinab in die Schwärze.     „Warum rettest du sie?“ Rote Haare, gesprenkelt von dem weißen Schnee, welcher nun wieder sanft herunterfiel, wehten im kalten Wind der Nacht. Mit einer gewandten Geste strich er sich seine Haare hinters Ohr, obwohl er es mochte, wenn sie sich im Wind wogen und beobachtete weiterhin das Geschehen unter ihm. Eine Antwort auf seine nachdenkliche, doch auch vorwurfsvolle Frage erhielt er natürlich nicht, denn er hatte sie eher an sich selbst gestellt. Vom ersten Moment an bis zum Schluss hatte er alles beobachtet, ohne groß von den Ereignissen überrascht zu werden. Das einzige, was ihn verwunderte, war das Ende des Kampfes gewesen - denn seinen Informationen zufolge hatte die Wächterin dunkelblaue Augen. Hatten seine eigenen Augen ihn getäuscht, als er für einen kurzen Augenblick weiße Augen zu sehen geglaubt hatte? Und auch, dass er sie rettete, wunderte ihn. Warum tat er das? Der Rothaarige schüttelte verärgert den Kopf und sagte sich, dass er sich zu viele Gedanken machte. Er war nicht der Typ für so etwas - er war ein Typ, der handeln musste.   Er grinste, da ihm die nächste Handlung wirklich überaus gefiel – das war eine Aufgabe, die ganz nach seinem Geschmack war. Sein Grinsen wurde breiter und im Mondlicht blitzen seine etwas spitzeren Zähne gefährlich auf, ehe er sich von der Lichtung abwandte und von den Schatten verschluckt wurde.     Kapitel 5: Winteralbtraum Teil 2 -------------------------------- Die Sonne des späten Nachmittags brach durch die dicken Schneewolken hervor und erhellte ein beinahe ausnahmslos in Blau getauchtes Zimmer: blaue Sessel, blauer Bettbezug, blaue Gardinen – sogar der Pyjama des Mädchens, welches im Bett lag, besaß einen bläulichen Ton. Als die Strahlen der Sonne in das Zimmer hineinkamen und auf das Gesicht des Mädchens schienen, regte es sich zum ersten Mal seit mehr als zehn Stunden, um schlussendlich langsam zu erwachen. Verschlafen sah Green sich um und schnell veränderte sich ihr schlaftrunkener Blick; er nahm einen verwirrten Ausdruck an, als sie bemerkte, in was für einem Zimmer sie war – und dass sie das verlassene Zimmer nicht kannte. Mit dämmernder Skepsis setzte sie sich in dem blauen Bett auf und beäugte diese fremde Umgebung, in der das Einzige, was als ihr privates Hab und Gut gelten würde, ihre eigenen nassen Kleider waren, welche über der Heizung hingen. Obwohl Green deutlich das Pochen ihrer Verletzungen spürte, dämmerte ihr plötzlich, wo sie sich befand: gütiger Gott! Sie war in einem Jungenzimmer! Und irgendjemand, wahrscheinlich ein männliches Individuum, hatte ihre Kleider gewechselt!  Green wurde rot vor Scham und sprang aus dem Bett – ihre Verletzungen straften diese übereilige Tat sofort, was die Wächterin zu einem ärgerlichen Fluchen brachte, doch dabei fiel ihr auf, dass der Zimmerbewohner nicht nur ihre Kleidung gewechselt hatte, sondern auch Verband um ihre Wunden gebunden hatte. Doch Green war zu sehr von Scham erfüllt, um irgendeine Form von Dankbarkeit in sich zu spüren. Kurzerhand fing sie an, das Zimmer zu untersuchen. Mit gekonnten Fingern und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, suchte sie das Zimmer nach Informationen ab, die sie wohlmöglich zu dem Zimmerbewohner führen könnten. Nach fünfzehn Minuten stellte sich jedoch heraus, dass ihre Suche vollkommen umsonst war. Sie fand nicht einmal so etwas wie ein Haar - mit anderen Worten musste Green zu anderen Mitteln greifen, wenn sie herausfinden wollte, wem dieses Zimmer gehörte. Sie nahm die Türklinke in die Hand, um eben diese zu öffnen, damit sie sehen konnte, welche Nummer dieses Zimmer besaß. Doch genau in dem Moment, wo sie auf den Gang trat, hörte sie eine wohlbekannte Stimme:  „Green! Na endlich hab ich dich!“ Die Gerufene drehte sich um und sah Sho, wie sie winkend auf sie zugerannt kam. Ehe Green etwas sagen konnte, fing Sho bereits an, sie mit Fragen zu belagern: „Sag mal, wo warst du?! Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, als ich bemerkt habe, dass du nicht in deinem Bett lagst! Und …“ Dann musterte sie Green und verstummte kurz.  „Was ist das für ein Schlafanzug?“ Ihre Verwunderung blieb nicht lange erhalten, denn plötzlich grinste Sho und ihre Freundin wusste sofort weshalb. „Ich weiß genau, was du denkst, Sho. Aber so ist das alles nicht gewesen …“ Doch Sho hörte gar nicht auf sie. „Was hattest du denn in einem Jungenzimmer verloren, huh?“ Green sprach sofort dagegen an und beteuerte, dass sie sich ganz und gar nicht rumgetrieben hatte – und dass Sho nicht von sich auf andere schließen sollte. „Und wie erklärst du mir, dass du hier bist? Und dass du einen anderen Schlafanzug anhast? UND dass du mir nichts gesagt hast?!“ Ja, das waren gute Fragen – wie sollte sie es ihr erklären? Es gab keine Erklärung … keine, die sie Sho erzählen konnte jedenfalls. Sie konnte ihr wohl kaum sagen, dass sie gegen einen Dämon gekämpft hatte und dass sie hier wieder aufgewacht war – dass sie selbst keine Ahnung hatte, wie sie hierher gekommen war. Da fiel Green noch etwas Anderes ein, was ihre Wut auf den Zimmerbewohner doch senkte: Er musste sie aus dem See gerettet haben … „Die Beweise liegen klar auf der Hand, Green!“, unterbrach Sho ihre Gedanken mit erhobenem Finger und einem Grinsen. „Die Beweise kannst du dir an den Hut stecken.“ „Und wie willst du mir das hier erklären?!“ „Glaub doch, was du willst“, antwortete Green erschöpft von dieser Diskussion und Shos unbändiger Neugierde. Das letzte Wort war für Green gefallen und Sho schwieg – fürs Erste. Doch Green war sich nicht sicher, ob sie nicht bereits eine weitere Schlagzeile im Kopf hatte. Man würde meinen, dass Sho keine Story über ihre Freundin schreiben würde, aber das war leider nicht der Fall: Sie machte vor gar nichts Halt. Plötzlich bemerkte Sho Greens Verband an ihrem Arm und ihr Grinsen verschwand. „Ähm, Green woher hast du diese Verletzung?“ „Ach, das … die kommt von einem Stur- …“, weiter kam sie jedoch nicht, denn ihr fiel Shos geschocktes Gesicht auf. Es konnte ja nichts mit ihrer Verletzung zu tun haben, da sie dies ja bereits kommentiert hatte - doch Green musste nicht fragen, Sho gab bereits eine Antwort auf Greens Verwunderung: „Wie willst du in diesem Zustand nur tanzen! Ganz zu schweigen von einem Kleid …“ Shos Antwort löste die Verwunderung Greens keineswegs auf, sondern steigerte sie viel eher: Fragend sah sie sie an, während Sho ihre Hände vor lauter Schreck vor ihr Gesicht schlug. Irgendwie konnte Green sich nicht vorstellen, dass der plötzliche Schreck etwas damit zu tun hatte, dass deren Lehrer sicherlich nicht über Greens lange Abwesenheit erfreut sein würden – es wäre nicht Shos Art, sich über so etwas Gedanken zu machen. Schneller als es Green lieb war, veränderte sich auch schon der Gesichtsausdruck ihrer Freundin und entschlossen ballte sie ihre Faust. Ratlos sah Green dieser Geste zu, doch langsam wurde sie dann doch unruhig. „Keine Sorge, Green! Das bekommen wir schon hin, verlass dich auf mich.“ „Was bekommen wir hin?“ „Na, das wirst du doch wohl nicht vergessen haben.“ „Ich befürchte ja“, antwortete Green mit wachsender Nervosität. „Heute Abend ist der von mir organisierte und daher famose … Tanzabend!“ Die Angesprochene schlug sich die Hand vor ihr Gesicht, da es ihr plötzlich wie Schuppen vor den Augen wieder einfiel: Shos vollkommen abstruse Idee. Sie hatte Green tatsächlich davon erzählt, nur hatte diese es in dem ganzen dämonischen Trubel vollkommen verdrängt – namentlich die Idee Shos, einen Tanzabend zu veranstalten. Dort sollten laut ihrer Planung nicht nur alle aus deren Klasse teilnehmen dürfen, sondern auch alle anderen Besucher des Hotels, welche sich in deren Alter befanden. Ein kluger Schachtzug, immerhin kannte Sho alle ihre Mitschüler überaus genau und wusste, dass sie noch mehr Gäste anlocken musste, wenn sie sich erfolgreich und gut verkuppeln wollte. „Ich komme nicht mit“, sagte Green automatisch, nachdem ihr klar wurde, was Sho vorhatte. „Natürlich tust du das!“, antwortete Sho mit erhobenem Zeigefinger und fuhr auch schon fort: „Ich bin sicher, dass ich ein Kleid dabei habe, wo man deine Verletzungen nicht sieht.“ „Ich mache bei deinem verdammten Spiel nicht mit, Sho. Aus, Ende.“ „Musst du dieses kitschige Gehängsel anhaben?“ Sie zeigte auf das Glöckchen, welches um den Hals ihrer Freundin unscheinbar hing und lenkte Green davon ab, dass sie sich eigentlich darüber aufregen wollte, dass Sho ihre Meinung offensichtlich nicht zur Kenntnis nahm. „Ja, muss ich. Es ist mir sehr wichtig.“ Green wollte gar nicht herausfinden, was passieren würde, wenn sie es nicht bei sich trug. Pink hatte, kurz nachdem sie es ihr anvertraut hatte, gesagt, dass es wichtig war, dass sie es immer bei sich trug - und das war das einzige Mal, dass Pink ernst gewesen war, was wohl was heißen musste. Sowieso wollte Green es nicht ablegen. Nicht nur weil es ihre Waffe war, sondern auch, weil sie auch ohne Pinks Worte spürte, dass sie das Glöckchen regelrecht brauchte, wobei sie nicht genau wusste, woher dieses Gefühl stammte. Selbst beim Sport, wo man ja eigentlich keinen Schmuck tragen durfte, legte sie es nicht ab, was Sho bereits gewundert hatte. Als Sho es sich einmal angeschaut hatte und Green es für diesen Zweck abgelegt hatte, hatte sie eine unheimliche und ihr unerklärliche Nervosität gespürt. Eben dieses Gefühl war es, was ihr sagte, dass sie ihr Glöckchen bei sich haben musste … dass sie unter keinem Umstand davon getrennt sein wollte. Es war ihr egal, welche und ob es Konsequenzen haben würde, sie ertrug dieses Gefühl des Entzugs schlichtweg nicht. Nur wusste die Wächterin nicht, wie sie es dem Mädchen ihr gegenüber erklären sollte. Der Gedanke, dass sie von einem Glöckchen abhängig war, klang schon merkwürdig genug – es auszusprechen und es erklären zu wollen, war reiner Wahnsinn. Doch Sho fragte nicht. Sie sah Green zwar missvergnügt an, doch das hatte eher damit zu tun, dass Green sich ihren Kleidungsvorstellungen nicht unterordnen wollte. „Gut“, sagte sie dann schließlich. „Ich finde schon etwas, wo das Ding nicht so sehr auffällt und was deine Verbände versteckt.“ „Musst du nicht, ich hab doch gesagt, dass ich nicht mitgehe …“ Die Angesprochene ignorierte ihre Proteste weiterhin. Sie ging an ihr vorbei und ließ Green, obwohl sie ihr hinterherrief, auf dem Gang vor dem fremden Zimmer alleine zurück.     Green war schlecht gelaunt, als Sho am Abend ihren gesamten Bestandteil an Kleidern auf dem Boden ausgeleert hatte, um auch ja den richtigen Überblick über ihr Hab und Gut zu haben. Ihre Freundin fragte sich, wie sie all diese Kleider in ihren Koffer bekommen hatte, denn es handelte sich um eine richtige Auswahl an Kleidern. Doch dies war nur ein mitwirkender Faktor für ihre schlechte Laune: der Hauptgrund allerdings war der, dass sie nichts über das geheimnisvolle Zimmer und den noch geheimnisvolleren Besitzer herausgefunden hatte – obwohl sie es mit allen Mitteln der Kunst versucht hatte. Kurz nachdem sie sich angezogen hatte, hatte sie es auf normalen Wege probiert, indem sie an der Rezeption um Auskunft gebeten hatte. Doch die Frau weigerte sich; es verstieße gegen die Regeln, meinte sie. Green war nicht in der Stimmung, sich über Regeln Gedanken zu machen - als ob sie es jemals getan hätte. Auf diese Weise fand sie herzlich wenig heraus, nämlich gar nichts. Dazu kamen noch die pochenden Schmerzen ihrer Verletzungen, die sie bei jeder noch so kleinen Bewegung an den gestrigen Kampf qualvoll erinnerten. Warum war diese engelshafte Frau nicht wieder erschienen, um sie zu heilen? Diese Verletzung war zwar nicht tödlich wie die erste, aber schmerzen tat sie dennoch. Momentan war es ihr auch nicht so wichtig, wer diese Frau war; Hauptsache, ihre Schmerzen würden verschwinden. Aber sie sollte es vielleicht lieber hinterfragen, genau wie sie ihren fragwürdigen Retter hinterfragte – und alles andere! Was war nur in diesem einen Monat aus ihrem Leben geworden? Wäre Pink nicht bei ihr aufgekreuzt, wäre das alles nicht geschehen und sie würde sich in diesem Moment nur über Shos Einkleidungsversuche aufregen – oder darüber, dass ihr Lehrer ihr mit heftiger Strafarbeit gedroht hatte, sobald sie wieder in der Schule waren. Wenn die Minazaiis nicht ihre Adoptionseltern wären, hätte man ihr wahrscheinlich mit Schlimmerem gedroht.   „Wer ist Pink?“ „Pink ist … huh?“ Green wandte sich überrascht an Sho, deren ahnungsloser Blick dem von Green momentan sehr ähnlich war. Konnte Sho plötzlich Gedanken lesen oder wie war sie plötzlich auf Pinks Namen gekommen? Diese Frage musste Green ihr nicht stellen, denn sie kam selbst zu einer Antwort: Sho hatte Greens Handy in der Hand. Umgehend sprang Green vom Fenstersims, auf dem sie eben noch gesessen hatte, herunter und wollte das Handy gerade zurückerobern, als die etwas größere Sho sich so renkte und streckte, dass sie nicht herankam. „Sho, gib es mir“, sagte Green geduldig und ohne auf Shos Spielereien einzugehen. „Wer ist Pink?“, wiederholte Sho grinsend ihre Frage. Die Angesprochene seufzte tief und überlegte kurz, bis sie sich dazu entschied, einen von Shos Schwachpunkten auszunutzen: Green streckte die Hände aus, packte ihre Freundin unter den Armen und begann sie zu kitzeln. Obwohl Sho sich verzweifelt zur Wehr setzte und versuchte, jegliches Lachen zu unterdrücken, gelang es ihr nicht lange und schnell erfüllte ihr Gelächter deren Zimmer und sie verlor Greens Handy. Die Besitzerin fing es auf, ehe es zu Boden fiel und erlöste Sho von ihren unfreiwilligen Qualen. „Green!“, sagte Sho immer noch lachend. „Das war gemein!“ Die Angesprochene klappte ihr Handy auf und sah sage und schreibe 36 Anrufe in Abwesenheit – alle von Pink. „Einige Dinge gehen dich nun mal nichts an, Sho!“, antwortete Green, ihre Augen jedoch nicht von dem Display abwendend. „Das ist ja wohl noch gemeiner! Ich dachte, wir wären Freundinnen - und Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander!“ Green steckte ihr Handy in ihre Rocktasche und erhob den Zeigefinger, welchen sie vor Shos Gesicht platzierte und meinte: „Jeder, der vor dir keine Geheimnisse hat, ist dumm.“ Sho wusste, dass Green das nicht böse meinte und lächelte ein wenig beschämt. „Aber ich kann dir versichern, dass es kein Junge ist“, meinte Green, denn natürlich war ihr klar, dass es Sho darum ging. „36 Anrufe sind aber schon ziemlich viel.“ „Ja, sie ist sehr … eigen.“ „Ich würde das eher aufdringlich nennen. Oder vielleicht ist etwas bei ihr passiert?“ Dies löste doch Unruhe in Green aus. Etwas passiert? Das könnte sehr wohl wahr sein. Was wenn irgendein Dämon aufgetaucht war? Was wenn sie Pink wieder mitnehmen wollten? Und Green war viel zu viele Kilometer von ihr entfernt, konnte ihr nicht helfen … Die Wächterin schluckte, während sie ihre kleine, pinke Freundin anrief. Sie bemerkte kaum Shos neugierigen Blick dabei. Doch Pink nahm das Handy nicht ab, es ertönte nur das monotone Piepen in Greens Ohr: was ihre Nervosität nicht gerade minderte. „Ach, Green, mach dir keine Sorgen! Was soll ihr schon passiert sein“, sagte Sho in der Absicht Green aufzuheitern, da sie ihren bleichen Blick bemerkt hatte. Was sollte schon passiert sein? Eine Menge! Aber das konnte Green ihr wohl nicht sagen. Was sollte sie tun? Es später noch einmal versuchen? Und selbst wenn etwas passiert war … wie sollte Green zu ihr gelangen? Green wunderte sich plötzlich über sich selbst und ihre Gedanken. Dafür, dass sie Pink so gut wie nicht kannte, machte sie sich ganz schöne Sorgen um sie – etwas, was sie überhaupt nicht gewohnt war. „Komm, Green. Ich hab dir ein Kleid ausgesucht. Du probierst es später noch einmal mit dem Anrufen.“ Auch Sho war wohl aufgefallen, dass Green sich ernsthafte Gedanken um Pink machte, denn ihre Stimme klang besorgt und verwundert. Sie war es wohl genauso wenig gewohnt, dass Green sich solche Sorgen um andere machte wie umgekehrt. Doch versuchend dies zu überspielen, hielt Sho ihr das genannte dunkelblaue Kleid hin. Green seufzte und ergab sich ihrem Schicksal.     Mit hochgesteckten Haaren, gehüllt in feine Stoffe und auf hohen Schuhen, waren Green und Sho wie so viele andere auf dem Weg zu dem von Sho organisierten Tanzabend. Doch kaum waren sie um die erste Ecke gebogen, packte der Rotschopf Green am Arm und zerrte sie zurück. Green keuchte auf, da Sho zu ihrem Leid den kaputten Arm gepackt hatte und ihre Freundin in diesem Moment leider herzlich wenig darauf achtete. Wahrscheinlich würde sie sich mehr Sorgen um das eventuelle Brechen der Hacke von Greens Schuhen machen, als um ihren Arm. „Was zum Teufel?!“, zischte Green ihrer Freundin zu, doch diese zeigte nur um die Ecke. Die Wächterin blickte um eben diese, doch zog den Kopf sofort zurück, wie Sho es auch tat. Zum einen hatte Green festgestellt, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren und zum anderen, dass ihr privater Nachhilfelehrer dort gerade eine angestrengte Diskussion mit einem rothaarigen Jungen führte. Green hatte das gleiche gedacht wie Sho, als sie ihn gesehen hatte: dass dieser Junge wahrlich einfach unverschämt gut aussah. „Was hat unser Klassenstreber mit einem so heißen Typen zu tun?“, fragte Sho Green leise. Diese wusste, dass es sie verdammt nochmal nichts anging, was die beiden zu diskutieren hatten, aber sie war ebenfalls zu neugierig, was die beiden miteinander zu tun hatten. Nur leider sprachen sie sehr leise, obwohl sie sich zu streiten schienen: „... ich komme sehr gut alleine zurecht … Du musst dich nicht einmischen!“, sagte Gary. „Ich will dir doch nur helfen!“ „Helfen?! Du machst alles nur viel schlimmer, als es ohnehin schon ist.“ „…. Du kannst dich auf mich verlassen … Du weißt doch, ich ...“ „…-ver, ich weiß ganz genau, dass du nur deinen Spaß haben willst … Du nimmst nichts seriös …“    „Vertrau mir! Ich weiß, was ich tue ...“ „Immer wenn ich diesen Satz gehört habe, ging irgendetwas schief.“ Das war das letzte Wort, was die beiden Mädchen hörten, obwohl sie angestrengt lauschten. Doch nur wenige Sekunden versuchten sie verzweifelt, etwas zu hören, ehe ihnen bewusst war, dass nichts mehr zu hören war. Green kam aus deren Versteck hervor und war genau wie Sho überrascht, niemanden mehr vorzufinden. Wie war es möglich, dass der Gang, wo er doch eine Sackgasse war, ausgestorben vor ihnen lag?     Green nippte unruhig an einem Weinglas, welches natürlich nicht mit Wein gefüllt war, sondern mit Orangensaft, Sho dabei beobachtend, wie sie immer wieder den Tanzpartner wechselte. Von Weitem grinste sie immer mal wieder Green zu und forderte sie mit ungeduldigen Handbewegungen dazu auf, sich ihr anzuschließen, indem sie sich ebenfalls einen Tanzpartner suchte. Doch Green verzichtete, denn sie weigerte sich weiterhin, sich auf Shos Spiel einzulassen. Obendrein hatte sie keine Lust, mit einem Jungen aus ihrer Klasse zu tanzen. Nicht, dass sie nicht tanzen konnte; damit hatte das gewiss nichts zu tun. Ihre Verletzungen hörten nicht auf zu pochen und zu brennen, weshalb sie der Tanzfläche lieber fernblieb: Außerdem sah sie immer wieder nervös auf ihr Handy, welches sie mitgenommen hatte, falls Pink sie wieder anrief, doch der letzte Anruf war am Vormittag gewesen. Gerade als Green das Handy abermals aufklappte, um Pink wieder anzurufen, wurde ihr Vorhaben unterbrochen; von einer ihr unbekannten Stimme, die sie zum Tanzen aufforderte. Während Green sich umdrehte, antwortete sie monoton: „Nein, tut mir leid, mir geht es nicht gut …“ Die Wächterin geriet ins Stottern, als sie denjenigen erkannte, der vor ihr stand: es war der rothaarige Junge, den sie vor etwa einer Stunde mit Gary zusammen gesehen hatte. Seine schulterlangen roten Haare glänzten im Licht, wie auch seine dunklen roten Augen, die seine Haare ziemlich gut ergänzten. Ein charmantes Lächeln zierte sein perfekt zugeschnittenes Gesicht, welches kindlich, aber doch männlich zugleich wirkte. „Schade, dass es dir nicht gut geht“, sagte der gutaussehende Unbekannte und sein Lächeln wurde zu einem leichten Grinsen, welches ihm sogar noch besser stand als das Lächeln und beschämt bemerkte Green, dass sie rot geworden war bei diesem Anblick. Sie schluckte, ohne es zu bemerken. „Ich hätte dich zu gerne zum Tanzen entführt.“ „I-ich denke, ein Tanz kann nicht schaden.“ Oh Gott! Dachte Green – seit wann war sie so schüchtern und begann zu stottern? Kam das nur von seinem vorteilhaften Aussehen? Green versuchte, sich abzulenken, denn sie musste an etwas anderes denken: Was hatte er mit Gary zu tun? Über was hatten sie gesprochen? Wer war er?! Das waren die Fragen, die sie sich stellen sollte und vielleicht würde ein Tanz ja ein wenig Aufklärung geben. Wenn sie wenigstens seinen Namen herausfinden würde … dann könnte sie Untersuchungen anstellen. Sie beschloss für sich selbst, dass dies eine gute Ausrede war – eine, mit der sie leben konnte.   Green klappte das Handy wieder zu und verdrängte die Schüchternheit schnell hinter einem gelassenen Lächeln. „Aber ich möchte erst einmal wissen, mit wem ich das Vergnügen habe. Aus meiner Klasse bist du auf jeden Fall nicht.“ Diese Aussage brache ihn zum Lachen, doch es hielt nicht lange, ehe er wieder lächelte. „Du gefällst mir.“ Das warf Green umgehend wieder aus dem Konzept. Was für ein Charmeur! Und wahrscheinlich war er auch noch ein Casanova – und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. „Mein Name ist Nakayama Siberu“, antwortete er und streckte daraufhin seine Hand nach Green aus, in einer geübten, doch unheimlich eleganten Art. Das Mädchen bemerkte, wie ihr Herz sich beschleunigte, als sie seine Hand ergriff, er sie festhielt und sie von ihrem Stuhl hochzog. „Und dein Name ist?“, fragte er, als er sie bereits auf die Tanzfläche begleitet hatte und die Hand an ihre Taille gelegt hatte. Green gestand sich ein, dass sie das mochte. Sie mochte, dass gerade ein langsames Lied gespielt wurde. Sie mochte seine roten Augen, die sie anstrahlten, obwohl sie so dunkel waren. „Najotake Green.“ Er grinste wieder, erwiderte nichts auf ihren ungewöhnlichen Namen, obwohl die meisten sofort fragten, wie man auf die Idee kam, sein Kind nach einer Farbe zu benennen. Er drückte sie ein wenig fester an sich, bewegte sich zur Musik ohne die Augen von ihr zu lösen, was auf Gleichsamkeit beruhte. Green fiel sofort auf, dass Siberu ein geübter Tänzer sein musste, denn er musste nicht auf seine Bewegung oder Schritte achten. „Darf ich dich Green-chan nennen?“ Die Angesprochene kicherte ein wenig dezent, drückte seine Hand ein wenig fester und sagte, mit einem schelmischen Lächeln: „Wird das nicht etwas zu persönlich?“ „Und wenn ich will, dass es persönlich wird?“ Greens Herz begann schneller zu schlagen, als er sie so anlächelte, um seine Worte zu unterstreichen. Doch so leicht würde sie es ihm nicht machen. Er sollte sich nicht einbilden, dass sie sich ihm ausliefern würde, nur weil er mit so einem guten Aussehen gesegnet war und dazu noch mit schmeichelnden Worten umgehen konnte. Außerdem wusste Green genau, dass man solchen Jungs am wenigsten vertrauen sollte. „Ich glaube, du solltest nicht so voreilig sein, Siberu-san.“ Diese Aussage gefiel ihm nicht, das bemerkte sie sofort und der Triumph erfreute sie, denn sie war stolz darüber, dass sie standhaft geblieben war und gekontert hatte. Wenn Sho an ihrer Stelle gewesen war, hätte sie sich Siberu sicherlich ohne Wenn und Aber um den Hals geworfen. Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrer Freundin herüber, die zwar immer noch einen Tanzpartner hatte, aber doch mehr auf Green und Siberu konzentriert war als auf ihn und das Tanzen. Green konnte nicht sagen, ob es Eifersucht oder Begeisterung war, was sie in ihren Augen sah. Wahrscheinlich eine Mischung von beidem. Doch gerade als Green sich wieder Siberu zuwenden wollte, entdeckte sie hinter Sho noch jemanden, der ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Nahe der Tür lehnte Gary sich mit verschränkten Armen an die Wand und sah den Tanzenden zu. Nein, er sah Green und Siberu zu, die anderen interessierten ihn nicht. Doch irgendwie war sein Blick nicht nur bloße Neugierde, sondern irgendwie finster und ernst. Green fragte sich, ob das wohl Eifersucht zu bedeuten hatte … doch irgendetwas sagte ihr, dass es nicht so war. Aber was war es dann? Hatte es etwas mit dem Gespräch zwischen den beiden zu tun? „Green, wo guckst du denn hin?“, unterbrach Siberu ihre Gedanken und sie wandte sich sofort von dem Stachelkopf ab und zurück zu dem genauen Gegenteil. Siberu grinste, sah aber nun ebenfalls zu Gary. „Ich glaube, da ist jemand eifersüchtig.“ Green ging nicht darauf ein, da sie sich sicher war, dass Gary nicht eifersüchtig war. „Kennst du ihn?“ Siberu sah sie wieder an und deutete ein Achselzucken an. „Oberflächlich würde ich sagen. Aber, Green, was interessiert mich das? Du interessierst mich. Und ich will diesen Tanz mit dir genießen.“ Dieser Satz hatte seinen erwünschten Effekt. Green wurde rot und dachte nicht darüber nach, skeptisch zu werden, was sie normalerweise geworden wäre. Ihr fiel nicht einmal auf, dass Siberu Gary ein überlegenes Grinsen zusandte und dieser sich wütend abwandte. Als das Lied vorbei war, wollte Green eigentlich weitertanzen, doch Siberu entschuldigte sich. „Ich muss leider wieder los. Meine Zeit hier war nur begrenzt.“ Green gefiel das nicht; ihre Hand, die immer noch in Siberus lag, drückte sie ein wenig fester als sie ihn fragte, ob sie sich wiedersehen würden. Er zog das Mädchen näher an sich heran und Greens Herz machte einen gewaltigen Hüpfer, als Siberu ihre Haare küsste. „Das hoffe ich, immerhin will ich dich noch Green-chan nennen dürfen!“ Er schenkte ihr noch ein letztes Grinsen, ehe Green ihn in der Menge verlor. Kurz blieb sie stehen, sah ihm mit pochendem Herzen hinterher, ehe ihr bewusst wurde, was sie tat und darüber kopfschüttelnd errötete. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich herum, um wieder zum Tisch zu gehen, wo Sho bereits auf sie wartete, um einen ausführlichen Bericht zu hören. Green fing an, auf sie zuzugehen, wobei sie nun bemerkte, dass Gary nicht mehr im Saal war. Dann geschah es. Ein enormer Schmerz zuckte durch Greens Herz, als hätte man einen Teil herausgerissen. Ihr Sichtfeld verschwamm zuerst, ehe es sich verdunkelte, im Takt mit steigenden Schmerzen, die nicht von ihren Verletzungen stammten. Ihre Knie brachen ein, und ehe sie zu Boden stürzte, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren.     Von weit her drangen Stimmen an Greens Ohren. Sie konnte die Stimmen nicht verstehen, konnte nicht hören, was sie sagten oder zu wem sie gehörten. Alles, worauf sich ihre Sinne momentan konzentrierten, waren Schmerzen. Es waren keine stechenden Schmerzen, die ihren Körper heimsuchten, es war ein anhaltender Schmerz, der in ihr brannte … und sie hatte das Gefühl, dass es von Sekunde zu Sekunde schlimmer werden würde. Sie war schwach, müde, kaputt. Green konnte sich nicht einmal dazu aufbringen, ihre Augen zu öffnen oder sich überhaupt zu bewegen. Alles war in diesem Moment zu anstrengend. Nur eine Sache wollte sie haben, nur für eine Sache würde sie sich jetzt bewegen: „…Wo … ist … mein Glöckchen?“ Sie hatte ihr Glöckchen nicht bei sich. Es war nicht in der Nähe – sie spürte es. Wo war es? Wo war es? Jemand nahm ihre Hände, die sie hochgestreckt hatte, ohne es zu bemerken. „Green, wie schön, dass du wieder bei Bewusstsein bist …! Ich hab mir …“ Green öffnete die Augen, sah Sho an, welche sie nur verschwommen sehen konnte, und hörte den Rest ihrer Worte kaum noch. Sie wollte ihr Glöckchen haben. Alles andere war nicht von Bedeutung. „… du hast wahrscheinlich eine Blutvergiftung. Aber das wird schon wieder, Green! Du musst dich einfach nur ausruhen. Bleib im Bett, bis ein Arzt kommt.“ Nein, ein Arzt würde ihr nicht helfen können. Es war das Glöckchen … warum war es nicht in ihrer Nähe? „Der Arzt des Hotels ist nur leider außer Haus und momentan wütet ein Schneesturm, es kann also kein Arzt kommen … ruh dich einfach aus, Green. Alles wird gut …“ „S-Sho … ich brauche das Glöckchen …“ „Es ist nicht hier, Green.“ „…Wo ist … es? … Ich brauche … es …“ „Ich werde es für dich suchen, ja? Ich finde es, das verspreche ich dir. Aber jetzt ruh dich aus.“ Sho verstand es nicht. Wie sollte sie es auch verstehen? Sie spürte nicht diesen Schmerz in ihrer Brust, dieses verzweifelte Verlangen … Wieder wurde ihre Sicht von kleinen schwarzen Pünktchen gesprenkelt und sie spürte, wie die Bewusstlosigkeit sie wieder zu sich holen wollte, doch sie konnte Sho noch etwas sagen: „…Ich muss … mit Pink reden …“ „Ruh dich aus, Green.“ Und wie auf Befehl verlor Green wieder das Bewusstsein.     Doch egal wie verzweifelt Sho suchen würde, sie würde es nicht finden, denn es befand sich komplett außerhalb ihrer Reichweite. Gänzlich an einem anderen Ort, weit entfernt von irgendwelchem Schneetreiben und in einer sternenklaren Nacht, wo sicherlich nicht geschlafen wurde, so wie Green es nun gezwungenermaßen tat. Der Person, welche das Glöckchen hatte, war viel eher nach Feiern zumute, während sie das kleine Schmuckstück immer wieder in die Luft warf, um es gekonnt wieder aufzufangen. „Schade, schade, schade … warum musste die Kleine gerade die Glöckchenträgerin sein? Sie wäre sicherlich eine gute Partie gewesen.“ Er seufzte tief und fing das Glöckchen wieder auf, um es dann auf seinem Zeigefinger zu balancieren, wo es im Licht des Halbmondes glänzte. Er besah es sich kurz und fragte sich, ob es wahr war, was man sich über dieses Ding erzählte, denn es sah ziemlich unscheinbar aus. Bevor er sich jedoch in diesen Gedanken verlaufen konnte, spürte er, wie jemand hinter ihm auftauchte, doch dies brachte ihn nicht dazu, sich zu seinem Besucher umzudrehen, denn ihm war klar, wer ihm Gesellschaft leistete und genauso wusste er auch, dass er jetzt eine Standpauke zu hören bekommen würde.    „Silver, was in aller Welt hast du vor?“ Der so Angesprochene richtete sich auf und wandte sich dem Besucher nun doch zu. „Was ich hier mache? Ich tue das, was du schon längst hattest tun sollen!“ Silver sah ihn neckisch mit einem Grinsen an, doch sein Gegenüber blieb ruhig. „Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ „Du bist doch nur eifersüchtig, Blue. Glaubst du etwa, ich hätte deinen Blick vorhin nicht bemerkt?“ Der Angesprochene verdrehte die Augen und seufzte erschöpft. „Silver, du hast mal wieder keine Ahnung. Jetzt gib mir das Glöckchen.“ „Warum sollte ich, bitte schön? Ich habe es bekommen, du warst ja nicht dazu in der Lage.“ „Ich wiederhole mich ungerne, aber: Du hast schlichtweg keine Ahnung.“ „Was willst du mit dem Glöckchen, huh? Die Lorbeeren einheimsen, die ich mir verdient habe?“ Jetzt seufzte Blue wieder, diesmal allerdings mit einer Spur Ärgernis. „Ich könnte mich ein drittes Mal wiederholen, aber langsam wird es mir zu blöd.“ Er streckte die Hand aus und verlangte ein weiteres Mal nach dem Glöckchen. Silver sah zuerst seine Hand an, dann steckte er das Glöckchen in seine Hosentasche und stellte sich in Angriffsposition. „Dann wirst du schon gegen mich kämpfen müssen.“ Sein Gegenüber schüttelte genervt, aber auch erschöpft den Kopf. „Dass du immer alles mit Gewalt aus dem Weg räumen musst.“ „Das klingt ja wie ein Vorwurf - als ob das so unnormal wäre für uns Dämonen!“ Silver grinste und machte eine abweisende Handbewegung, als er sagte, er müsse sich das Glöckchen schon auf diese Art holen müssen, ansonsten würde er es gewiss nicht bekommen. „Mein werter Bruder wird doch wohl nicht eingerostet sein?“, sagte Silver herausfordernd. Der Angesprochene seufzte ein weiteres Mal, schien jedoch immer noch nicht Lust am Kämpfen gefunden zu haben. Er verschränkte die Arme und sagte: „Sag, Silver, wie geht es eigentlich Rui?“ Silvers Kampfhaltung fiel vollkommen zusammen, als er bei dem Klang von diesem Namen zusammenfuhr, doch nicht nur das, er wurde augenblicklich blass. „D-Das wagst du nicht …“ Die unsichere Stimme des Rotschopfes entlockte dem Bruder ein kleines Grinsen. „Ich glaube, sie vermisst dich ganz schön, immerhin warst du die letzten zwei Tage hier, nicht wahr, Silver? Ich denke, es wäre nett von mir, wenn ich sie rufen würde – du vermisst sie doch sicherlich auch.“ „Nein, Blue, nein! Das machst du nicht, ich warne dich …!“ „Wenn du mir das Glöckchen gibst, überlege ich es mir vielleicht anders.“ „Nie im Leben!“ Das Grinsen von Blue wurde noch breiter, wahrscheinlich, weil er wusste, dass er das Glöckchen so oder so erhalten würde. Um seinem Bruder zu beweisen, dass er es ernst meinte, hob er langsam den Arm und wie auf Kommando unterbrach ihn Silver bei seinem Versuch, Rui zu rufen. „Ja, ja schon gut! Ich geb es dir, nur lass Rui da bleiben, wo der Pfeffer wächst!“ Wieder grinste Blue, als er die Hand austreckte und das Glöckchen verlangte. Wiederwillig sah der Rotschopf seinen Bruder an, grummelte ein paar Schimpfwörter, ehe er das Schmuckstück aus seiner Tasche holte und es Blue gab. „Das war unfair.“ „Wie gesagt, Silver. Man muss nicht alles mit Gewalt lösen.“ Blue ließ das Glöckchen nun in seine eigene Tasche gleiten und wollte gerade aufbrechen, als Silver ihn davon aufhielt: „Liegt mein Gefühl richtig, wenn es mir sagt, dass du damit nicht in unsere Heimat zurückkehrst?“ Blue antwortete ihm nicht, sondern sah nur hinaus in die dunkle Nacht. Am Horizont verfärbte der Himmel sich bereits langsam; die Schwärze verblasste und würde bald die ersten Strahlen der Sonne freigeben. „Du weißt, wenn du das jetzt tust, bist du deinen Rang los, wenn nicht sogar …“ Jetzt war es Silver, der seufzte. „Und das alles nur wegen eines Mädchens? Das passt gar nicht zu dir, Aniki. Ich erkenne dich kaum wieder.“ Der Angesprochene wandte sich von dem anfänglichen Morgengrauen ab und sah seinen kleinen Bruder an. „Du missverstehst die ganze Sache, du hast …“ Silver unterbrach ihn mit etwas zu lauter Stimme: „Dann erklär es mir doch! Ich verstehe das hier nämlich wirklich nicht.“ „Ich erklär es dir, wenn ich Genaueres weiß. Bis dahin …“ Blue erhob den Finger und sagte langsam und deutlich, als würde er mit einem Kleinkind reden: „Misch dich nicht ein! Es ist besser für dich, glaub mir.“ Mit diesen Worten verschwand Blue im Nichts. Silver sah auf den Fleck, wo sein Bruder gerade noch gestanden hatte und wiederholte seine Worte in einem genervten Tonfall. Besser für ihn? Das sah Silver anders, nämlich genau umgekehrt. Es war für Blue besser, wenn Silver sich einmischte, solange es noch nicht zu spät war.     In Greens Zimmer herrschte eine tödliche Ruhe, wenn man von ihren regelmäßigen schwachen Atemzügen absah. Draußen tobte weiterhin der Schneesturm und untermalte die Stille des Raumes mit seinem unbarmherzigen Rhythmus verbreitet durch die klappernden und pochenden Fensterscheiben. Sho saß noch an Greens Bett, kämpfte mit der Müdigkeit, die immer mehr an ihr nagte. Doch Sho wollte dem Drang nach Schlaf nicht nachgeben; sie musste wach bleiben. Jemand musste auf Green aufpassen – auch wenn Sho nicht viel mehr tun konnte, als regelmäßig den kalten Waschlappen auf Greens Stirn zu wechseln. Der Versuch, gegen das steigende Fieber zu kämpfen, schien jedoch vergeblich zu sein. Sie verstand es nicht … so langsam konnte das Fieber doch sinken, doch stattdessen schnellte die Temperatur nur weiter aufwärts. Sho machte sich schreckliche Sorgen um sie und wünschte sich, der Schneesturm würde endlich nachgeben, so dass ein Arzt zu Hilfe eilen konnte. Der Rotschopf seufzte tief und überlegte, ob sie etwas lesen sollte, um wach zu bleiben, als ihre Augen ein weiteres Mal zufielen. Sie schreckte noch einmal erschrocken über sich selbst auf, doch konnte sich nicht mehr lange gegen die Müdigkeit wehren, die sich über sie senkte. Kaum dass Sho eingeschlafen war, öffnete Green langsam die Augen. Ihr Sichtfeld war unscharf und schien auch nicht im Sinn zu haben, sich irgendwie zu verbessern. Ihr Herz pochte unablässig und im immer schnelleren Takt, bis sie jemanden verschwommen vor ihrem Bett ausmachte. Sie wusste nicht, wer es war, denn sie konnte ihn nicht erkennen. Aber eins wusste sie: Er hatte ihr Glöckchen. Greens Hände streckten sich nach der Person aus, ohne dass sie über diese Bewegung nachgedacht hatte; es geschah vollkommen automatisch. Sie sagte etwas, verlangte das Glöckchen. Ihr gesamter Körper verlangte nach dem Glöckchen. Sie wusste, sie würde es sich mit Gewalt holen, würde er es nicht herausrücken. Wenn es sein müsste, würde sie dafür töten. Aber er gab es ihr. Und kaum lag das kleine Ding in ihren Händen, spürte Green, wie sich ihr gesamter Körper entspannte. Ihre Schmerzen ließen nach, ihr Sichtfeld klärte auf, sie gewann wieder an Farbe und ihr Herz beruhigte sich. Bis sie denjenigen erkannte, der vor ihrem Bett stand und sie aufmerksam beobachtete: „G-Gary?!“     Fertiggestellt: 25.03.09 Kapitel 6: Liebe auf den ersten Blick? -------------------------------------- Green hielt sich die Hand vor den Mund, um ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. Es war kein Wunder, dass sie müde war: Sie war in der gestrigen Nacht unsanft aus dem Bett geworfen worden, um ihre Pflicht zu erfüllen - oder ihre heilige Aufgabe, wie Pink sie so gerne nannte. Green nannte es Schlafraub; und das, obwohl sie gerade erst von der Klassenreise zurückgekommen war und den Schlaf daher eigentlich gut gebrauchen konnte. Doch sie war froh darüber, dass es Pink gut ging, denn sie hatte sich schon ziemliche Sorgen um das kleine Mädchen gemacht, als sie es nicht hatte erreichen können. Merkwürdigerweise hatte Pink sich nicht daran erinnern können, weshalb sie Green so oft angerufen hatte – das hatte Green noch am gleichen Tag herausgefunden, nachdem sie wieder aus dem Fieberschlaf erwacht war. Das Merkwürdige war allerdings, dass Pink ihr auch keine Antwort darauf hatte geben können, warum sie das Handy nicht abgenommen hatte, als Green versucht hatte, ihre Mitbewohnerin anzurufen. Sie wusste gar nichts davon, sagte sie – doch wirklich wundern tat es Green nicht. Eigentlich sollte sie gar nichts an dem Verhalten Pinks wundern. Die Ereignisse der Klassenfahrt beschäftigten ihre Gedanken wie auch ihr Sein, da sie paranoid darauf achtete, dass das Glöckchen immer und zu jeder Zeit unter ihrem Oberteil verborgen lag. Sie wusste immer noch nicht, wie es ihr abhandengekommen war. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es ihr jemand hätte gestohlen haben können – das hätte sie doch bemerkt – aber genauso unwahrscheinlich war es auch, dass sie es einfach so verloren hatte. Sie hätte doch bemerkt, wenn es heruntergefallen wäre, oder etwa nicht? Der Körper der Wächterin reagierte ja sogar, wenn sie das Glöckchen auch nur einen halben Meter von ihr entfernt auf den Tisch legte. Aber etwas anderes beschäftigte sie noch mehr als das Glöckchen … „G-Gary?!“ Green starrte ihr Gegenüber geschockt an, während sie das eben erst zurückerhaltene Glöckchen an sich klammerte und spürte, wie ihr Körper sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr wiederherstellte. Doch der Angesprochene sah sie weiterhin einfach nur aufmerksam an und hatte sich immer noch nicht vom Fleck bewegt. Da er nicht auf ihre Frage antwortete und auch sonst nicht reagierte, beugte Green sich vor in ihrem Bett, obwohl sie am liebsten aufstehen wollte, um zu ihm gehen; doch zum einen wollte sie Sho nicht aufwecken, die mit dem Kopf auf ihrem Bett schlief und zum anderen fühlte sie sich noch nicht imstande aufzustehen. „Gary, was zum Teufel geht hier vor!?“, flüsterte sie, im Versuch ihre Stimme unter Kontrolle zu halten und endlich reagierte der Angesprochene. Er schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich werde es dir erklären, aber nicht hier.“ Gary machte einen Wink zu Sho und Green verstand, was er mit dieser Geste meinte. „Ruh dich erst einmal aus. Wir reden später.“ Damit drehte er ihr den Rücken zu, und ehe Green etwas tun oder sagen konnte, verließ er ihr Zimmer und die Wächterin konnte nichts anderes tun, als ihm verdattert hinterher zu starren. Auf dieses „später“ musste Green ganze vier Tage warten: vier Tage, in denen sie immer ungehaltener und ungeduldiger wurde, da sie sich entsetzlich viele Gedanken über den Vorfall machte und unheimlich viele Thesen aufstellte: eine unwahrscheinlicher als die andere. Sie war kurz davor zu verzweifeln und Pink hatte nicht gerade dagegen gewirkt. Green hatte sie gleich am ersten Tag, wo es ihr wieder gut ging, angerufen und endlich auch erreicht. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie Pinks quitschige Stimme hörte, doch lange hielt die Erleichterung nicht an, ehe sie schnell von eben dieser Stimme genervt wurde. Pink erzählte ihr von irgendeinem Alptraum, der absolut keinen Zusammenhang hatte und an den sie sich selbst kaum noch erinnern konnte. Obwohl Pink den Inhalt vergessen hatte, schien es ihr von größter Bedeutung, Green davon zu erzählen und diese hörte auch zu, um einen Sinn in Pinks Traum zu finden. Schon nach fünf Minuten entschloss sie, dass sie Pink nichts davon erzählen wollte, was bei ihr vorgefallen war, da sie bereits Kopfschmerzen von ihrer Stimme hatte. Sie würde es in ihre eigenen Hände nehmen. Dazu kam sie auch, als sie Gary zufällig alleine auf dem Gang traf. Sie hatte bereits den Mund geöffnet, um sich mit ihm zu streiten, als er sagte, sie würden sich am letzten Tag der Klassenreise auf der Lichtung treffen, wo Green gegen den Dämon gekämpft hatte. Gut, damit hatte sie wieder neues Gedankenfutter. Zum Ersten wusste er von Dämonen. Zum Zweiten wusste er von ihrem Kampf und zum Dritten würde sie ihm am liebsten den Kopf abreißen, weil er es so entsetzlich spannend machte. Daher war ihre Begrüßung auch recht unfreundlich, als sie ihn auf der Lichtung sah. „Ich sollte dich umbringen, du verdammter …!“ Sie stampfte durch den weißen Schnee herüber zu ihm und funkelte ihn böse an, wie er da so arrogant an einen Baum gelehnt stand und schneidend antwortete: „Solltest du wirklich. Aber wie ich sehe, hast du deine Waffe nicht umgewandelt.“ Greens Blick lockerte auf, blieb aber nach wie vor skeptisch. „Was geht hier eigentlich vor? Woher weißt du das alles? Bist du etwa auch ein Wächter?“ Überraschenderweise begann Gary zu lachen; nicht besonders laut, sondern eher in sich hinein, doch es genügte, um Green rot werden zu lassen, da sie sich veräppelt fühlte. „Nein, Green, eher das Gegenteil.“ Die Angesprochene wurde bleich und nahm ein paar Schritte rückwärts, hatte aber merkwürdigerweise nicht im Sinn, ihre Waffe hervorzuholen. „Du bist… ein Dämon?!“ Sie holte tief Luft und er sah ihr an, dass ihr tausend Gedanken durch den Kopf liefen, als er bejahte. „Um korrekt zu sein, bin ich ein Halbdämon.“ „Warum hast du mich dann gerettet?“ Gary wusste, dass diese Frage kommen würde und er wusste, was er antworten würde: „Weil ich nicht wollte, dass du stirbst.“ Diese simple Aussage ließ Green erröten und brachte sie aus dem Konzept. Im Gegensatz zu Gary, der ernst blieb. „Du … willst mich also nicht umbringen?“, fragte die Wächterin unsicher. „Nein.“ „Und was machst du dann hier, so als Dämon? Bringst du andere um?“ Gary deutete ein Kopfschütteln an, ehe er antwortete: „Ich mache dasselbe, was du machst, Green. Ich mache meinen Schulabschluss.“ Auf Greens Gesicht erschien ein schiefes Lächeln, als sie die Augenbrauen hob. „Weißt du, wenn mir das jemand anderes gesagt hätte, hätte ich ihm nicht geglaubt. Aber dir glaube ich das sofort; du bist so ein verdammter Streber.“ Er nahm das als Kompliment auf, während Green mit dem Kopf schüttelte und wieder ein wenig näher heranging, so dass sie einen Meter vor ihm stand. Sie sah zu ihm hoch und deutete schon ein leichtes Grinsen an, was Gary ein wenig beunruhigte. „Wenn du ein Dämon bist, dann kannst du doch sicherlich kämpfen.“ „Ja?“ Sein mulmiges Gefühl verstärkte sich. „Kannst du gut kämpfen?“ „Worauf willst du hinaus?“ Ohne Vorwarnung packte sie seine Hände und strahlte ihn fast schon mit einer kindlichen Euphorie an. Gary mochte das nicht, aber er wusste nicht warum. Er mochte das merkwürdige Gefühl ihrer Hände nicht, wie auch das Gefühl in ihm, denn er kannte es nicht und er verstand es auch nicht. Und er mochte Dinge nicht, die er nicht verstehen konnte. „Wir können uns doch zusammentun! Du hast doch gesagt, dass du nicht willst, dass ich sterbe und ich bin nicht so gut im Kämpfen, ich könnte jemanden gebrauchen, der mich unterstützt!“ „I-Ich halte das für keine gute Idee…“ „Warum nicht?“ „Hast du mir nicht zugehört? Ich bin ein Däm-“ „Ein Halbdämon“, unterbrach Green Gary. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir natürliche Feinde sind. Du bist eine Wächterin.“ „Heißt doch nicht, dass wir es sein müssen. Ich sehe dich nicht als meinen Feind, auch wenn du mich manchmal ziemlich nervst.“ Diese Aussage brachte nun ihn aus dem Konzept, da er nicht verstehen konnte, wie Green dieses Thema so locker nehmen konnte und wie sie überhaupt auf die Idee kam, sie würden zusammenarbeiten können. Green bemerkte, dass er nachdachte, interpretierte es jedoch verkehrt: „Also?“ „Green …“ Sie löste sich von ihm und sagte grinsend (anscheinend war sie sich ihrer Sache sicher, obwohl Gary nicht begeistert von der Idee war), dass sie ihm Zeit lassen würde, bis sie wieder in der Schule waren. Mit diesen Worten schloss sie das Gespräch ab und hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt, als er sie aufhielt: „Wie kannst du dir so sicher sein, dass ich dich nicht belüge?“ Green lachte, als er das sagte, und antwortete lächelnd: „Ich glaube gar nicht, dass du lügen kannst, Gary!“ Seitdem war Gary nicht mehr in der Schule gewesen – aus rein praktischen Gründen, wie Green wusste. Denn ihr neuer Nachbar und Kampfgefährte in spe war gleich nach deren Rückkehr erkrankt. Er hatte sich in den Bergen wohl einen Virus eingefangen und lag nun mit Grippe im Bett; so unwahrscheinlich das auch klingen mochte, wenn man bedachte, dass er immerhin ein Dämon war. Die Wächterin hatte ihm eben dies unter die Nase gerieben, doch er hatte nur genervt geantwortet, dass er ja wohl trotzdem krank sein durfte und dass es etwas damit zu tun hatte, dass er zur Hälfte ein Mensch war. In diesem Gespräch fiel Green zum ersten Mal auf, dass es Gary nicht zu gefallen schien, wenn sie ihn auf seine menschliche Hälfte ansprach oder sie auch nur erwähnte. Anscheinend sah er sich selbst mehr als Dämon. Ob er sich für seine menschliche Hälfte schämte? Pink war überhaupt nicht von Gary und dessen Dämonensein begeistert. Sie meinte, Green solle Gary auf der Stelle töten – oder auf jeden Fall umziehen. Er war doch ein Dämon und Wächter töten Dämonen, wie umgekehrt – das waren ihre Worte, die sogar ziemlich ernst klangen. Doch Green schüttelte diese Worte von sich und wollte davon nichts hören, denn sie war zu sehr von der Vorstellung begeistert, einen Kampfpartner zu haben, anstatt sich mit Naturgesetzen herumzuplagen. Sie wusste nicht, ob es etwas damit zu tun hatte, dass sie Gary schlichtweg nicht zutraute, dass er ihr etwas Böses antun wollte oder ob es mit ihrem unterbewussten Hang zum Regelbrechen zusammenhing. Doch Pink hatte nicht vor, aufzugeben und so bestand sie dauerhaft darauf, Green zu begleiten, wenn diese Gary besuchte, und beäugte die beiden plötzlich mit größter Skepsis. Drei Mal war Green bei ihm gewesen im Laufe der einen Woche, die seit der Klassenfahrt vergangen war und diese drei Besuche hatten ausgereicht, um Pink ebenfalls flachzulegen. Nun hatte Green zwei Patienten, obwohl Gary wohl nicht als Patient galt, da sie ihm nur Medizin brachte. Green selbst war absolut unberührt geblieben und fühlte sie frisch und munter, als sie im Mathematikunterricht saß. Okay, frisch war vielleicht etwas übertrieben, da sie in der letzten Nacht wieder einen Dämon eliminiert hatte, aber krank war sie jedenfalls nicht. Die Verletzung, die ihr der Dämon während der Klassenfahrt zugefügt hatte, war wieder so gut wie verheilt. Green sah aus dem Fenster, da es der Unterricht wieder einmal nicht vermochte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen; stattdessen starrte sie in den trüben Himmel an diesem grauen Novembertag und überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der Winter auch nach Tokio vordrang. Gerade als sie sich das fragte, weckte sie etwas aus ihren Gedanken: der Unterricht war von etwas unterbrochen worden. Sie wandte ihr Gesicht zur Tafel und umgehend öffnete sich ihr Mund überrascht. „Das ist euer neuer Mitschüler, Nakayama Siberu.“ Green traute ihren Augen nicht, aber es war wirklich Siberu, der da vor der Tafel stand und eben seinen Namen in Hiragana geschrieben hatte. Die Mädchen waren hin und weg von Siberus selbstbewusstem Auftreten und seinem hervorragenden Äußeren, doch das war es nicht, was Green dieses Mal umhaute. Es war ganz und gar sein simples Dasein: die Tatsache, dass ihr Mathelehrer ihn gerade als deren neuen Mitschüler vorgestellt hatte. Nicht, dass Green sich nicht freute, ganz im Gegenteil! Sie war begeistert davon und sie verfluchte ihr Herz nicht einmal, als es vor Freude einen Hüpfer machte, als sie bemerkte, dass er sie ansah. Green musste sich eingestehen, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen. „Ist der Platz noch frei?“, fragte Siberu, als er durch die Reihe gegangen war, um zu Green zu gelangen. Diese hätte glatt vergessen, dass der Platz neben ihr Gary gehörte und sie hätte ihn Siberu auch überlassen, wenn der Lehrer Siberu nicht den Platz hinter Green gegeben hätte. Green sah über die Schulter hinweg zu ihm, denn sie hatte ihm tausend Fragen zu stellen, doch auf ihren fragenden Blick, bekam sie nur ein vielsagendes Grinsen. „Schlagt bitte Seite 144 auf.“ Die Schüler folgten der Anweisung des Lehrers und man hörte, wie die Bücher aufgeschlagen wurden; Sho hatte jedoch ihren Blick nicht auf das Buch gerichtet, da sie vollauf beschäftigt damit war, die neue Situation zu analysieren. Einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob er wohl mit ihr verwandt war: wegen der roten Farbe seiner Haare, was eindeutig eine natürliche Farbe, genau wie in ihrem Fall, war. Aber Sho kannte ihren Stammbaum recht gut und wusste, dass sie noch nie von einer Familie namens „Nakayama“ gehört hatte. Ob er wohl eine Freundin hatte? Hm, vielleicht wäre die bessere Frage wohl eher, wie viele er momentan hatte. Ohne Zweifel war er ein Casanova; Sho hatte einen Blick für sowas und im Moment schien dieser Siberu wohl einen Blick auf Green geworfen zu haben. Ob Sho sie warnen sollte? Aber Green wusste es sicherlich selbst. Allerdings war ihre Freundin noch nie wirklich verliebt gewesen und ihrer Röte nach zu urteilen, war dies Liebe auf den ersten Blick. Sho gefiel das nicht. Aber sie konnte nicht sagen, ob es etwas mit Eifersucht oder Sorge zu tun hatte. Ein wenig später begutachtete Green stolz ihr mit einer roten Schleife zusammengebundenes Werk: selbstgebackene Kekse - und sie war mit sich selbst doch recht zufrieden, da sie nicht nur gut aussahen, sondern auch fabelhaft rochen. Dazu kam, dass sie wusste, dass sie gut schmecken würden, denn Green konnte gut kochen und dazu gehörte auch das Backen. Das war auch der Grund, weshalb Sho während des Hauskundeunterrichtes dauernd versucht hatte, einen der kleinen brauen Kekse zu ergattern, welche sich auf Greens Blech befunden hatten. Sie selbst war nämlich absolut nicht in der Lage, auch nur irgendetwas in die Richtung von Essbarem zu vollbringen, da sie noch nie darauf angewiesen gewesen war, sich selbst etwas zu kochen. „Green, du hättest mir wenigstens einen abgeben können! Du hast so viele gemacht … und du weißt genau, dass man meine nur als Drohung gebrauchen kann!“ Die Angesprochene schüttelte weiterhin den Kopf, als sie ihre Jacke über ihre Schuluniform anzog. „Glaubst du, ich weiß nicht, warum du mir keine abgibst?“ Die Angesprochene sah Sho fragend von unten herauf an, da sie sich niedergekniet hatte, um die Kekse in ihre Tasche zu packen. „Warum fragst du denn, ob du einen abhaben kannst, wenn du weißt, dass sie nicht für dich bestimmt sind?“ Sho sah missgestimmt aus, als sie antwortete: „Ich glaube, dieser Typ ist nicht für dich geeignet, Green.“ Green blinzelte sie kurz an, ehe sie sich aufrichtete und ihre Freundin mit dem Zeigefinger anstupste, nicht ohne dabei breit zu grinsen. „Na, man wird doch wohl nicht eifersüchtig sein, was, Sho?“ Das Grinsen Greens wurde ein ganzes Stück breiter, als sie bemerkte, dass Sho rot geworden war, weil ihre Freundin sie offensichtlich ertappt hatte. „Ich bin nur besorgt um dich! Das ist alles.“ „Danke, Sho, aber ich denke, ich kann auf mich aufpassen.“ „Aber solche Typen sind nur auf Spaß aus.“ „Wie gesagt, Sho. Ich kann auf mich aufpassen, ich gehe nicht mit einer rosaroten Brille durch die Welt.“ Sho seufzte, schien aber nicht im Sinn zu haben, aufzugeben. Doch Green unterbrach sie: „Sag, musst du heute noch zu deiner Redaktion?“ Dieses Ablenkungsmanöver hatte Erfolg, denn es brachte Sho dazu, nachzudenken und schon schüttelte sie den Kopf, als sie die Antwort auf Greens Frage gefunden hatte. Der Wächterin gefiel diese Antwort nicht, da das bedeutete, dass sie heute alleine nach Hause gehen musste, da Sho sie nicht mitnehmen konnte. Das Problem dabei war, dass die Wächterin bereits bemerkt hatte, dass es regnete und nicht nur ein wenig: Es regnete in Strömen. Natürlich hatte Green gerade heute ihren Regenschirm vergessen und leider musste sie selbst noch zur Rhythmischen Gymnastik, was bedeutete, dass Sho jetzt frei hatte und sie nicht. Mit anderen Worten: Green konnte nicht mit ihr nach Hause fahren, in einer warmen und bequemen Limousine. „Ich kann James sagen, dass er dich nachher nach Hause bringen soll. Du hast doch sicherlich keinen Regenschirm dabei.“ „James“ war nicht der richtige Name von dem privaten Butler der Minazaiis, doch sie hatten Spaß daran, ihn so zu nennen, da der Name so herrlich stereotyp wäre. Green hatte lange Zeit nicht einmal bemerkt, dass er in Wirklichkeit einen anderen Namen trug. „Nein, danke, Sho. Ich komm schon alleine heim, ist ja nicht das erste Mal.“ Sho gefiel diese Aussage nicht, das fiel Green sofort auf, dennoch sagte Sho nichts, sondern verabschiedete sich von ihrer Freundin, die sich gerade ihre Sporttasche über den Rücken geworfen hatte. Sho ging jedoch nicht hinaus in den Regen, ohne Green vorher ein weiteres Mal vor Siberu zu warnen. Green schüttelte nur ratlos mit dem Kopf und sah vom Fenster aus, wie Sho in die warme Limousine hüpfte. Wenn sie sich so die dunklen Wolken ansah, bereute sie es ein wenig, das Angebot ihrer Freundin nicht angenommen zu haben, immerhin musste sie in diesem Mistwetter auch noch einkaufen. Green seufzte und wollte sich gerade zur Gymnastik aufmachen, als sich ihr Nachmittag plötzlich erhellte und alle Gedanken über den Regen verdrängt waren. „Siberu-san!“ Perfektes Timing, dachte Green, als sie Siberu vor sich sah, einen Regenschirm geschultert. Er grinste, zum einen erfreut darüber, sie zu sehen, aber auf der anderen Seite schien es ihn wohl doch zu ärgern, dass sie weiterhin das Suffix bewahrte. Sie schritt zu ihm und fragte ihn, wie sein erster Schultag gewesen war. „Gut“, antwortete er jedoch mit mangelndem Interesse, dies änderte sich jedoch, als er Folgendes sagte: „Ich hatte ja einen schönen Rücken, auf den ich gucken konnte.“ Green erwiderte sein Grinsen, als sie antwortete: „Liegt es in deiner Natur, so viele Komplimente von dir zu geben?“ „Wenn das Mädchen so hübsch anzusehen ist wie du, ja.“ Das ließ Green doch als Antwort gelten und ihr Grinsen wurde zu einem süßen Lächeln. Wie auch Siberus. „Soll ich dich denn nach Hause bringen?“, fragte er sie, nachdem sie sich einige Sekunden lang angelächelt hatten. Anscheinend hatte er bemerkt, dass sie, im Gegensatz zu ihm, keinen Regenschirm dabei hatte. Green konnte sich schon vorstellen, dass er sehr auf seine Haare achtete und es sicherlich nicht mochte, wenn sie vom Regen durchweicht waren. Green freute sich über sein Angebot, doch mehr aufgrund seiner Anwesenheit als wegen der praktischen Vorzüge, dennoch zögerte sie mit dem Annehmen, da sie Shos Worte noch im Ohr hatte und diese sie auch dazu brachten, das Angebot abzulehnen, immerhin musste sie noch zum Training der Rhythmische Gymnastik. Doch er reagierte anders, als sie es erwartet hatte: „Rhythmische Gymnastik? Da warte ich doch gern auf dich!“ „Wirklich? Du willst echt deine Zeit für mich opfern?“ „Ich würde dir gern zusehen, oder störe ich dich?“ „Was? Ach, so habe ich das nicht gemeint! Natürlich darfst du zuschauen, du musst nur ruhig sein. Aber das dauert schon eine Stunde.“ „Das macht mir nichts aus. Im Gegenteil.“ Siberu klappte seinen Regenschirm auf, weil sie das Gebäude verließen und in den Regen schreiten mussten, um die Turnhalle zu erreichen. Er hielt den Schirm schützend über sie, jedoch ebenfalls darauf bedacht, dass seine Haare nicht nass wurden, was Green in ihrem Verdacht, was seine Haare anging, bestätigte. Da plötzlich fielen Green ihre gebackenen Kekse wieder ein und kaum, dass sie daran gedacht hatte, bat sie Siberu darum, doch bitte stehen zu bleiben. Sein Lächeln wurde zu einem Ausdruck der Verwunderung, als sie sich bückte, um etwas aus ihrer Tasche zu holen. Als sie endlich fand, was sie gesucht hatte, drückte sie es Siberu in die Hand. „Für mich?“ Sein fragender Blick, als er einen der Kekse aus der Tüte holte, ließ Green leicht erröten und dieses steigerte sich, als sie seine Frage bejahte. Ob es doch ein wenig zu altmodisch war? „Darf ich das als Andeutung sehen?“, fragte er mit einem bedeutungsvollen Grinsen. „Eine Andeutung? Für was?“ „Dafür, dass es zwischen uns beiden endlich persönlicher wird.“ Greens Herz beschleunigte sich nicht nur bei seinen Worten, sondern auch weil er sie wieder so charmant anlächelte. Eigentlich war sie gewillt, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen, doch dieses Lächeln zog einen förmlich in den Bann. Sie konnte nicht einmal auf sich selbst wütend sein, als sie es nicht sofort verneinte, sondern die Antwort ausschwieg, was er scheinbar als ein „Ja“ auffasste. Als er sich darüber freute, dass er sie endlich „Green-chan“ nennen durfte, lächelte auch sie erfreut, obwohl sie im Prinzip absolut gegen Spitznamen und Suffix aller Art war. Als sie an der Turnhalle ankamen, sagte Green, dass sie ihm im Gegenzug ebenfalls einen Spitznamen geben wollte. „Und? Was hast du dir ausgedacht, Green-chan?“ Siberu schien es zu genießen, sie so nennen zu dürfen, denn sein Grinsen war ziemlich erfreut, als er den schwarzen Regenschirm wieder zusammenklappte. „Ich werde deinen Namen verkürzen. Im Gegenzug dafür, dass du mich „Green-chan“ nennen darfst, nenne ich dich „Sibi“!“ Green trainierte an diesem Tag doppelt so hart, wie sie es normal tat und versuchte, Fehler zu vermeiden, die ihr gewöhnlich öfter unterliefen. Sie wollte sich Siberu von ihrer besten und vor allen Dingen schönsten Seite zeigen, doch umso mehr sie darauf achtete, keine Fehler zu machen, umso mehr schlichen sich in ihre Kür. Es passierte mehr als einmal, dass sie über die Gerätschaften stolperte und der Nase lang hinfiel – nicht gerade elegant oder vorzeigeprächtig. Siberu schien das jedoch amüsant zu finden, auch als sie auf dem Heimweg knallrot geworden war aufgrund ihrer Fehler. Sie hatte erwartet, dass er sich über ihre Peinlichkeiten lustig machen würde, doch das tat er nicht. Er kommentierte diese Fehler nicht einmal, wofür sie ihm dankbar war, denn er wusste natürlich, dass es ihr peinlich war. Sie gingen nebeneinander her, unter dem Regenschirm, welchen Siberu für beide hochhielt, um sie vor dem Regen zu bewahren. Immer wieder ertappte sie sich selbst dabei, wie sie zu ihm herüber sah und sie schallte sich selbst eine Närrin, dass sie Herzklopfen bekam, wenn sie ihn ansah. War das nur sein vorteilhaftes Äußeres oder war sie … wirklich in ihn verliebt? So schnell? Green war noch nie verliebt gewesen, sie wusste nicht, wie es sich anfühlte oder ab wann man sagen konnte „Ich bin verliebt“. War sie verliebt, wenn ihr Herz raste, wenn sie ihn nur ansah? Aber das war kein Grund, dauernd rot zu werden. Seit wann war sie denn so schüchtern? So war sie eigentlich nicht und Siberu war kein Grund, jetzt damit anzufangen. Die anfänglich fast romantische Stimmung bekam für Green jedoch schnell einen Abbruch, als ihr plötzlich etwas einfiel, was die ganze Zeit über erfolgreich von ihren Siberu-geprägten Gedankengängen verdrängt worden war: Sie musste noch einkaufen. Siberu schien das nicht zu gefallen, denn als sie ihm dies sagte, sah er sie ein wenig missbilligend an. „Können das nicht deine Eltern machen?“ Green antwortete schnell, ohne darüber nachzudenken und war, kaum dass sie es gesagt hatte, über sich selbst überrascht: „Ich bin ein Waisenkind. Ich habe keine Eltern.“ Daraufhin schwieg er. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander, wobei Green sich fragte, ob ihn dies nun aus der Bahn geworfen hatte? „Darf ich dich was fragen?“, seine Stimme hörte sich ruhig und plötzlich ernst an, als er sich nach mehreren Minuten des Schweigens dazu entschied, das Sprechen wieder aufzunehmen: „Wenn du alleine lebst … bist du dann nicht einsam?“ Daraufhin wurde Green doch ein wenig nachdenklich, und ohne, dass sie weiter darüber nachdachte, sprudelten auch schon die Worte unaufhaltsam aus ihrem Mund: „Wieso fragt man mich das immer? Sho fragt es auch öfter …Wieso glaubt ihr, dass ich einsam bin? Ich muss doch nicht gleich einsam sein, nur weil ich keine Eltern habe. Klar, es ist ruhig, aber alleine zu sein hat auch seine unschlagbaren Vorteile. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass andere um mich sind.“ Ihre letzten Worte sagte sie mit einem Anflug von Stolz, denn sie hatte ihr gesamtes Leben lang der Einsamkeit ins Gesicht gesehen; die Einsamkeit war oft ihr größter Feind gewesen … obwohl eigentlich immer Personen da gewesen waren, die ihr eine helfende Hand gereicht hatten, hatte niemand es vollbracht, durch diesen Schleier der Einsamkeit zu brechen und sie davon zu befreien. Vielleicht weil sie es selbst schaffen musste? Weil sie die Einsamkeit aus eigenem Antrieb heraus überwinden musste? Erst nachdem sie Shos Familie verlassen hatte, um sich eine eigene Existenz aufzubauen, hatte sie das Gefühl, die Einsamkeit niedergerungen zu haben. Sie war stark geworden. Und sie war stolz darauf. „Ich weiß nicht“, fing Siberu an und weckte Green aus ihren Gedanken. „Ich glaube, du brauchst jemanden, der an deiner Seite ist, Green-chan.“ Die Angesprochene konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und pikste ihn in die Seite. „Jemanden wie … dich?“ Siberu erwiderte das Grinsen und antwortete: „Vielleicht?“ Green errötete ein wenig, konnte dies jedoch hinter einem Grinsen gekonnt verstecken. Sie antwortete nicht; nicht weil ihr keine geeignete Antwort einfiel, sondern weil es Zeit war, sich von dem rothaarigen Casanova zu verabschieden, da sie vor ihrem Wohnblock angekommen waren. Siberu hatte vor, sie nach oben zu begleiten, doch Green lehnte ab, auch wenn sie es genossen hätte, noch ein wenig mit ihm zusammen zu sein. Zum einen war der Rest ihres Nachmittags sowieso mit Einkaufen und Hausaufgaben verbucht und zum anderen wollte sie vermeiden, dass er sich bei Pink ansteckte. „Okay, Green-chan. Dann morgen?“ Die Angesprochene war bereits dabei, die Treppen zum Wohnblock emporzugehen, als Siberu sie mit diesem Satz davon abhielt und sie sich noch einmal umdrehte. „Was, morgen?“ „Willst du morgen mit mir ausgehen?“ Green blinzelte ihn verwundert an, doch konnte nichts dagegen tun, dass sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie musste nicht lange über ihre Antwort nachdenken, da sie bereits klar war: „Gerne!“ Auch über ihre nächste Handlung dachte sie nicht nach, sondern tat es einfach: hastig sprang sie die Stufen wieder herunter, welche sie gerade erst hinter sich gelassen hatte und gab Siberu einen Kuss auf die Wange. Ehe er reagieren konnte, war Green wieder die Stufen emporgestiegen, und gerade als sich die elektronische Schiebetür öffnete, sagte sie mit einem Zwinkern: „Bis morgen, Sibi!“ Dann verschwand das Mädchen hinter der Tür und in der Eingangshalle, womit sie Siberu alleine im Regen zurückließ, der ihr hinterher sah. Nur einen Moment lang verblieb sein Gesicht regungslos, ehe sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Dieses Lächeln hatte allerdings nichts mit Freude oder ähnlichen Gefühlen zu tun, es ähnelte mehr dem Gefühl eines Dämonen, der sich über seinen baldigen Triumph freute – und leicht enttäuscht darüber war, dass der Weg so einfach war. Fertiggestellt: 20.04.09 Kapitel 7: Game Over -------------------- Schon seit mehreren Tagen verfluchte Gary sein Immunsystem. Er hasste es, krank zu sein: Wenn er krank war, konnte er nicht zur Schule gehen, und wenn es ihn richtig erwischt hatte, dann konnte er nicht einmal lernen – und Gary hasste es, am Ende eines Tages kein Ergebnis zu sehen. Dieser Drang stellte ein entscheidendes Problem dar, denn obwohl er krank war, zwang sich der Streber dennoch zum Lesen und das war seiner Genesung nicht gerade behilflich. Nicht nur seine menschlichen Eigenschaften waren davon betroffen, sondern auch die, die er seinem Dämonenblut zu verdanken hatte. Würde ein anderer Dämon sich dazu entscheiden ihn jetzt anzugreifen, wäre Gary ihm hoffnungslos unterlegen. Erschöpft ließ der Halbdämon das Buch fallen, zu welchem er seinen schwachen Körper gerade noch gezwungen hatte und es fiel aufgeschlagen auf den Teppich. Gary lag in seinem Bett, die Hand schlaff über der Bettkante hängend, bis er sich entschloss, vielleicht doch ein wenig zu schlafen. Schwach und mit verschwommener Sicht sah er auf die Digitaluhr, welche auf seinem Nachttisch stand und stellte fest, dass dies bereits der vierte Tag seiner Erkrankung war, was ihn gewaltig störte. Er grummelte etwas, beschwerte sich bei seinem Körper. Lange konnte er sich jedoch nicht darüber aufregen, ehe die Schwäche ihn packte und er einschlief … … nur um kaum fünfzehn Minuten später mit einem gewaltigen Schrecken zu erwachen. Das Gesicht eines Mädchens war über seinem aufgetaucht, keine dreißig Zentimeter von seinem eigenen entfernt. Es war Green, die ihn überrascht anlächelte und sich über Garys geschockten Gesichtsausdruck zu freuen schien. „Hey, du bist ja doch wach!“ Damit beugte sie sich wieder hoch, als Gary sich aufrappelte und sich mühselig in seinem Bett aufsetzte. Obwohl er krank war, sah er sie skeptisch an, doch er kam nicht dazu, die Frage zu stellen, die in dieser Situation selbstverständlich wäre, da Green zuerst eine stellte. „Es wundert mich etwas, dass du mich bemerkt hast. Ich hab mich bemüht, leise zu sein, um dich nicht zu wecken.“ „Ich hab dich nicht gehört. Ich hab dich …“ Gary hustete und bekam das letzte Wort nur schwer hervor, so dass Green es wiederholte, um sich sicher zu sein, dass sie es richtig verstanden hatte: „“Gespürt“?“ Gary nickte, zu mehr war er nicht in der Lage und ein weiteres Mal verfluchte er seine Gesundheit, als seine Sicht schon wieder verschwamm. Eigentlich war er nicht in der Verfassung, etwas anderes zu tun als zu schlafen, doch er rappelte sich dennoch auf, um es Green zu erklären: „Ich habe deine Aura gespürt. Jedes nicht-menschliche Wesen, welches auch nur einen Funken Magie in seinem Körper speichert, besitzt so eine.“ Green mochte das Wort „nicht-menschlich“ nicht, auch wenn sie wusste, dass es sehr wohl auf sie beide zutraf. „Aber warum spüre ich sowas nicht?“ „Weil du höchstwahrscheinlich noch selbst zu schwach bist.“ Green war darüber nicht beleidigt, sondern grinste nur und meinte, dass es daher umso wichtiger war, dass er schnell wieder auf den Beinen wäre, denn sie müsse ja beschützt werden. „Wie bist du eigentlich hier rein gekommen?“, fragte Gary, ohne auf ihre Antwort einzugehen. „Durch die Tür, wie denn sonst?“ „Die war doch … abgeschlossen?“ „Kein Hindernis für eine Frau wie mich!“ Wenn möglich wurde Gary noch bleicher bei der Vorstellung, wie Green sich ihren Weg geebnet hatte. „Bist du etwa … eingebrochen?“ Weiterhin grinste Green vielsagend, doch eine konkrete Antwort bekam ihr Gegenüber nicht, was ihm nicht gerade gefiel. Doch noch weniger gefiel ihm der Gedanke, dass so jemand wie Green, deren Gedanken oft finanzieller Natur waren, in der Lage war, in anderer Leute Wohnungen einzubrechen. Besonders nicht in seine. Sollte er sein Bargeld und seine Kreditkarte lieber unter dem Kopfkissen bewahren? Ach, Quatsch, das würde Green doch nicht machen … oder doch? „Wir haben übrigens einen Neuen in der Klasse!“ Dass sie das Thema wechselte, machte sie noch verdächtiger, dachte Gary, doch das Thema interessierte ihn leider, so dass er darauf ansprang. „Ach, wirklich? So mitten im Schuljahr?“ Die Angesprochene beugte sich nun wieder vor und wenn möglich wurde ihr Grinsen noch breiter. „Ja! Und weiß du was?“ Er schüttelte nur den Kopf. „Er ist mein Freund!“ Verwirrt wurde sie angesehen, doch auch überrascht über diese Aussage. „Dein Freund?“ Green richtete sich wieder auf und zwinkerte triumphierend. „Freund-Freund! Du weißt schon; wir sind zusammen. So was hast du doch sicherlich schon mal irgendwo in deinen Büchern gelesen!“, witzelte Green, doch Gary ließ sich davon nicht ärgern. „Nach einem Tag? Na, das kann ja nichts Tiefgründiges sein.“ Das gefiel ihr offenbar nicht als Antwort. „Genauer genommen kannte ich ihn schon vorher. Ach, du kennst ihn übrigens auch. Außerdem gibt es sowas wie Liebe auf den ersten Blick.“ Auf das Letztere sprang Gary nicht an, sondern eher darauf, dass er den unbekannten Neuling kennen sollte. „Tue ich?“ „Ja, es war der …“ In diesem Moment piepte ihr Handy und als Green es aus ihrer Tasche herausholte, breitete sich abermals ein erfreutes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Wenn man vom Teufel spricht!“ Sie hielt ihrem genervten Nachhilfelehrer das Handy vor die Nase, so dass er gerade mal erkennen konnte, dass es sich um eine SMS handelte, ehe sie ihr Handy wieder in ihre Tasche gleiten ließ. „Er holt mich ab. Na, was sagst du nun?“ „Was soll ich schon dazu sagen?“ Sie grinste weiterhin, ein Grinsen, welches er nicht nachvollziehen konnte. Damit verabschiedete sie sich von ihm und tänzelte förmlich aus seiner Wohnung, jedoch nicht ohne ihm ein „Gute Besserung“ zu wünschen und darauf hinzuweisen, dass sie ihm Reste von Pinks und ihrem gestrigen Abendessen in den Kühlschrank gestellt hatte. Eigentlich wusste Green nicht, ob sie mit Siberu zusammen war. Immerhin hatte keiner der beiden darüber gesprochen und es somit „offiziell“ gemacht. Sie waren einfach so zusammen, verbrachten so viel Zeit wie möglich miteinander: egal ob während des Unterrichtes oder in den Pausen. Natürlich verlief das Erstere nicht ohne Folgen und so landeten sie schnell vor der Tür, was sie weniger störte: So konnten sie ungestört miteinander reden und rumalbern. Green mochte Siberus Gesellschaft, es war so ein unbekümmertes und sorgenloses Beisammensein. Sie hatte das Gefühl, jemanden auf ihrer Wellenlänge gefunden zu haben. Als hätten sie sich gesucht und gefunden, wie Sho es ironisch formulierte, als sie die beiden in einer Pause skeptisch beobachtete. Wie sie es am Vortag abgemacht hatten, wollten sie heute zusammen etwas unternehmen, etwas, was absolut nach Greens Geschmack war: Sie wollten durch ein Shoppingzentrum schlendern, da es immer noch regnete und sie somit nichts unternehmen konnten, es sei denn, sie wollten dauerhaft unter einem Regenschirm verweilen. Bei diesem Date bemerkte Green schnell, dass Siberu ganz offensichtlich keine Geldsorgen besaß. Nicht nur, dass er Green in eines der besseren Shoppingzentren Tokios entführte, er meinte auch noch, dass er ihr gerne etwas kaufen würde, wenn sie ihm die Erlaubnis dazugeben würde. Erlaubnis! Welches Mädchen würde es ablehnen, Kleidung geschenkt zu bekommen, welche es sich frei auswählen durfte und dazu auch noch in so einem Laden? Green gewiss nicht. Green hatte so etwas noch nie mit einem Jungen unternommen, hatte jedoch oft von Sho gehört, dass es die reinste Hölle war: Männliche Wesen könnten einfach nicht verstehen, dass man sich vielleicht noch ein, zwei oder mehrere Male im Spiegel angucken müsse, ehe man das ausgesuchte Kleid kaufen könne. Auch Green war bereits oft mit Sho Einkaufen gewesen und sie konnte den Begleitern ihrer Freundin nur recht geben, wenn sie sich über Sho aufregten: Sho brauchte einfach zu lange. Doch Siberu war nicht viel besser. Nicht nur, dass er Green prüfend ansah, wenn sie etwas anprobiert hatte und es ihm zeigte, er war bei sich selbst mindestens genauso kritisch; saß auch nur eine Falte verkehrt, wollte er es nicht kaufen, obwohl es ihn ansonsten perfekt kleidete. So war es auch er der leer ausging, als sie die Boutique verließen. „Danke, Sibi, aber das war echt nicht nötig“, sagte Green und nickte zur Tüte, die ihr neues Kleid beherbergte und welche Sibi trug - er hatte darauf bestanden. „Und wie das nötig war! Du siehst umwerfend darin aus, Green-chan. Hätte ich es nicht gekauft, hätte ich ein Verbrechen begangen.“ Immer noch hatte Green sich nicht daran gewöhnt, dass Siberus Sprachgebrauch größtenteils aus Komplimenten bestand und immer noch hatte sie kein Mittel gegen ihre aufkommende Röte gefunden. Seit wann war es so leicht, sie zum Erröten zu bringen? Auf diese Frage erhielt Green keine Antwort, denn sie wurde von der Ausstellung eines Schmuckgeschäftes in den Bann gezogen. Siberu stellte die Tüte ab und folgte ihrem Blick, doch als er den Preis der Schmuckstücke sah, musste er schlucken; das war jetzt doch etwas zu teuer. „Sind die nicht schön?“, hauchte Green an die Scheibe, ohne dabei die Preise zu beachten oder seine Reaktion und den Umstand, dass sein Konto sich nicht nach jedem Gebrauch wie von magischer Hand wieder aufladen würde. „Ja - und sie würden dir sicherlich auch stehen, aber …“ Er nahm ihre Hand, um ihren Blick von den Ketten abzulenken: Dieses Unterfangen schien erfolgreich, denn sie sah ihn wieder an. Zuerst mit einem Funken von Erwartung, dann veränderten sich jedoch die Gefühle, die er in ihren Augen lesen konnte, als er sie ein wenig näher an sie heranzog, um grinsend ihr Glöckchen in die Hand zu nehmen, welches aus dem Oberteil ihrer weinroten Schuluniform herausgerutscht war. Von einem Moment auf den anderen veränderten sich die Gefühle in ihrem Gesicht und es war deutlich, dass sie diese Situation nicht mochte und Siberu war sehr wohl klar, dass ihre Unzufriedenheit nicht daher rührte, dass er sie zu sich gezogen hatte. Siberu achtete nicht auf ihren widerstrebenden Blick und sagte grinsend: „Du hast doch schon eine Kette, die dir gut steht, also wozu brauchst du eine andere?“ Er ließ das Glöckchen los und sein Grinsen wurde zu einem verführerischen Lächeln, als er sich ihr noch ein wenig mehr näherte. Erst als er Greens Glöckchen losgelassen hatte, wurde sie sich der Situation bewusst – dass sie sich nur wenige Zentimeter von Siberu entfernt befand, was dafür sorgte, dass ihr Herzschlag einen enormen Schub bekam. „Aber …“, hauchte er sanft auf ihre Haut, während er ihre linke Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. Green hoffte, er konnte nicht hören, wie schnell ihr Herz in diesem Moment schlug. Was würde er tun? Er würde doch nicht etwa … Nein, würde er nicht, wie sie schnell herausfand und ihre insgeheimen Fantasien somit enttäuscht wurden, denn grinsend sagte Siberu: „Du hast ja gar keine Ohrlöcher!“ Damit ließ er sie los und vor Schreck wäre Green beinahe zusammengesackt, da dies alles andere war als das, worauf sie vorbereitet gewesen war. Empörte Worte der Überraschung brachen sofort aus ihrem Mund hervor, doch Siberu ließ sich davon nicht beeindruckend, als er antwortete: „Ich wollte doch nur schauen, ob du Ohrringe hast, nichts weiter. Was hast du denn gedacht?“ Sein Grinsen wurde überlegener, da er natürlich genau wusste, was sie gedacht hatte. Green grummelte etwas, sagte jedoch nichts, da eine Antwort wohl nicht von Nöten war. „Wieso hast du keine Ohrlöcher? Hast du Angst vor dem Stich?“ Die Röte von vor zwei Sekunden holte die Wächterin wieder ein und wieder war dies Antwort genug. „Warum willst du das wissen?“, fragte Green ihren grinsenden Begleiter. „Wegen der Kette. Ich kann mir diese …“ Er machte eine lässige Bewegung zum Schaufenster und fuhr fort: „… leider nicht leisten und du hast ja sowieso etwas, was deinen schönen Hals ziert. Also hab ich zu Ohrringen tendiert, aber du hast ja keine Löcher.“ Ehe Green zu einer Antwort imstande war, packte Siberu ihre Hände und nun schien sein Gesicht beinahe nur aus einem Grinsen zu bestehen, als er sagte, dass man das ja ändern könne. Green wurde bleich, doch schon zog er sie hinter sich her und seinem Tatendrang konnte sie nicht viel entgegensetzen. Es konnte ja auch nicht so schlimm sein. Immerhin hatte sie schon ein Loch in der Magengegend gehabt, da konnte ein kleines Löchlein in ihrem Ohr doch nicht so weh tun … Woanders in Tokio hatte ein Halbdämon gerade das Gefühl, neugeboren zu sein. Die vielen Stunden Schlaf hatten wahre Wunder bewirkt und endlich musste er nicht mehr im Bett lesen, sondern saß an seinem Schreibtisch, gut bestückt mit den Büchern, welche er noch mal lesen wollte, da er vorher nicht imstande gewesen war, sie vollends in sich aufzunehmen. Dazu noch die wohltuende Suppe Greens und absolute Ruhe. Gary konnte zwar nicht behaupten, dass er wieder putzmunter war, denn er spürte immer noch eine gewisse Schwäche, welche an seiner Konzentration zerrte, doch genauso deutlich spürte er, dass es wieder bergauf ging. Morgen müsste er vielleicht noch der Schule fern bleiben, aber dann würde er endlich wieder am Unterricht teilnehmen können. Er brannte danach, da er unbefriedigten Tatendrang in sich verspürte. Gary seufzte zufrieden, lehnte sich zurück und schlug das erste Buch zu, woraufhin er gleich das nächste nahm. Weit kam er nicht. Doch leider war die schrille Stimme eher zu hören, als die Aura zu spüren war und so riss es den Halbdämonen beinahe vom Stuhl: „GREEN-CHAAAAAAN! ICH …“ Gary blinzelte und sah zum zweiten Male an diesem Tag ein Mädchen in seinem Schlafzimmer. Dieses war jedoch um einiges aufgebrachter und verwirrter als das erste Mädchen des Tages. Obendrein war sie den Tränen nahe, doch man konnte dennoch eine merkwürdige Entschlossenheit in ihren hellen blauen Augen erkennen, die an die verbissene Entschlossenheit eines Kindes erinnerte. Bevor Pink sagen konnte, was sie hierher gebracht hatte, unterbrach sie einen Hustenanfall und Gary erinnerte sich daran, dass Green gesagt hatte, dass ihre Mitbewohnerin ebenfalls krank war. „Vielleicht solltest du lieber wieder ins Bett gehen“, schlug Gary vorsichtig vor, in der Hoffnung, sie würde auf ihn hören. Offensichtlich war dieses Vorhaben ohne Erfolg: „Wo ist Green-chan? Was hast du mit ihr gemacht du … Dämon du!“ Ja, jetzt fühlte er sich natürlich unheimlich beleidigt, dachte Gary ironisch. Doch ehe er antworten konnte, schien Pink etwas aufzufallen. „Und warum bist du hier?“ „… Weil das meine Wohnung ist, falls dir das nicht aufgefallen ist.“ Pink schien ernsthaft darüber nachzudenken, auch wenn Gary nicht verstand, was es da groß zum Nachdenken gab. Leichte Unsicherheit zeichnete sich auf ihrem kindlichen Gesicht ab und sie sah sowieso durcheinander aus mit ihrem viel zu großen Schal und ihrem zotteligen blonden Haar, welches zur Abwechslung mal nicht zusammengebunden war, sondern sich wie ein Gestrüpp um ihren Kopf wandte. Doch dann war die Entschlossenheit plötzlich wieder zurückkehrt. „Du bist also in der Lage, Doppelgänger zu erschaffen! Du bist gefährlicher als ich dachte!“ Eine Weile sah er sie einfach nur schweigend an und fragte sich ernsthaft, was mit diesem Mädchen nicht in Ordnung war. War es ihre Krankheit? Hatte er auch so einen Unsinn gesagt, als er im Bett lag? „Tut mir Leid dich enttäuschen zu müssen, doch Doppelgänger erschaffen liegt nicht im Bereich meiner Fähigkeiten“, antwortete Gary leicht ironisch, doch Pink achtete weder auf seinen Unterton noch auf seine Worte. „Egal was du vorhast, ich werde es nicht zulassen!“ „Das einzige, was ich vorhabe, ist, in Ruhe zu lesen. Ich weiß nicht, was daran verwerflich ist.“ „Aber wer ist denn …“ „Wer ist was? Pink, versuch bitte nachzudenken.“ Die Angesprochene bemerkte nicht, dass sie gerade beleidigt wurde und tat wie geheißen. „Ich spüre eine dämonische Aura bei Green-chan.“ Jetzt wurde Gary hellhörig. Eine dämonische Aura? Wie konnte das sein? Er spürte gar nichts, weil seine Sinne noch beeinträchtigt waren von der Krankheit, die in seinen Gliedern saß. Doch wie konnte Pink etwas spüren? Sie war noch wesentlich weiter von der Genesung entfernt als Gary. War ihr Sinn für Auren etwa ausgeprägter als seiner? Dieser Gedanke gefiel Gary nicht, da er Pink nicht gerade viel zutraute und es beschämend war, wenn gerade sie in etwas besser war als er. Ein anderer Gedanke als Pinks Fähigkeit schlich sich jedoch an die Oberfläche: „Warte mal. Warum dachtest du, ich hätte einen Doppelgänger erschaffen?“ „Weil die Aura deiner ähnelt. Oh! Hast du vielleicht einen Zwilling?“ Gary erhob sich aus seinem Sessel und stand auf. Pink sah ihm dabei zu, wie er seine Jacke nahm und ihre Augen wurden groß. Es war jedoch Gary, der sie zuerst ansprach: „Wo ist Green?“ „Sie wollte etwas mit ihrem Freund machen … shoppen oder so. Was hast du vor?“ Der Halbdämon seufzte tief, trank den Rest seiner Suppe und war zusammen mit Pink schon auf dem Weg raus. Das Lesen musste wohl auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Von wegen nur ein kurzer Stich!“ Green machte den Fehler und berührte ihre Ohrläppchen, welche jetzt von blauen Ohrringen geziert wurden und stellte abermals fest, dass es mit Schmerzen verbunden war. Siberu zu ihrer Rechten sagte nichts und tat nichts anderes, außer neben ihr herzugehen, während Green sich sicherlich alle zwei Sekunden beschwerte. Obendrein war sie sich sicher, dass er sich in Gedanken köstlich über sie amüsierte, was sie nur noch mehr missvergnügt stimmte. „Du hast es gut, du bist nicht gezwungen, diese Tortur durchzustehen!“ Erst jetzt reagierte er, da er nicht drum herum kam, sie auf diese Aussage hin verwundert anzusehen. Dann strich er seine roten Haare beiseite und zum Vorschein kam ein kleiner, runder schwarzer Ohrring, welcher in seinem linken Ohr steckte. „Wie du siehst, habe ich deine sogenannte „Tortur“ auch heil überstanden“, antwortete er und unterstrich seine Worte noch mit einem neckischen Grinsen. „Außerdem muss ich zugeben, dass mir diese „Tortur“ unheimlich gut gefallen hat“, fügte er noch hinzu, woraufhin Green ihn skeptisch ansah, als sie ihn fragte warum. „Erstens stehen dir die Ohrringe und zum anderen ... spüre ich seit fünfzehn Minuten meine Hand nicht mehr.“ Zuerst starrte sie ihn verwirrt an, da sie seine Anspielung erst beim zweiten Nachdenken verstand. Doch dann schaute sie zu ihrer Hand, die immer noch krampfhaft Siberus Hand umklammerte. Sie war so mit den Löchern beschäftigt gewesen, dass sie vergessen hatte, seine Hand loszulassen. Die Röte stieg abermals in ihr hoch und sofort ließ sie seine Hand los. Immer noch grinsend führte er ein paar Handbewegungen durch. Dann sagte er: „Du hast wirklich einen festen Griff für ein Mädchen.“ „Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll“, antwortete Green nicht unbedingt begeistert, doch immer noch mit leichter Röte, die sich sofort steigerte, als er von sich aus ihre Hand nahm. Nicht nur das, er legte seine Finger zwischen die ihren, so dass ihre Hände eine geschlossene Einheit bildeten. Green sah deren Hände an, dann zu ihm, wo ihre Augen von einem sanften Lächeln empfangen wurden. „Lass uns an einen Ort gehen, wo ich dich von deinen Schmerzen ablenken kann.“ Als Siberu und Green das Shoppingcenter verlassen hatten, war bereits die Nacht angebrochen. Es war kühl in den Straßen Tokios, doch es schneite nicht, da die Schneewolken sich verzogen hatten, um den Blick auf die Sterne freizugeben, wenn man nicht gerade zwischen Wolkenkratzern unterwegs war. Doch das waren die beiden nicht mehr. Siberu hatte Green von den belebten Straßen weggeführt und sie gingen, immer noch Hand in Hand, durch den verlassenen Park. Nachdem Siberu und Green eine ganze Weile munter geschwatzt hatten, schwieg er. Green wurde langsam kalt, doch trotzdem dachte sie nicht an den Heimweg. Sie lehnte sich an seine Schulter und lauschte der Stille, die sie umgab. Green schaute Richtung Himmel, froh darüber, die Schneewolken nicht mehr sehen zu müssen, sondern vom Licht der Sterne begrüßt zu werden. Irgendwie romantisch … Green drückte sich fester an ihn. Er seufzte tief, aber sie konnte nicht sagen, ob es ein positives oder negatives Seufzen war. Aber warum sollte es schon ein Negatives sein? Sie sah zu ihm hoch, um die Gefühle in seinen Augen lesen zu können, doch dieses Vorhaben wurde vereitelt. Denn er hatte sich zu ihr herumgedreht und sah direkt in ihre Augen, was sie sofort aus dem Konzept brachte. Er sagte nichts, als er seine Hand von Greens löste, nur um diese an ihrem Hinterkopf zu platzieren, um sie so näher an sich ran zu ziehen. Obwohl die Wächterin ein wenig überrumpelt war von seiner plötzlichen Annäherung, störte es sie nicht im Geringsten. Sie legte sogar ihre Arme um seine Hüfte, in der Hoffnung, das Verlangen danach, noch tiefer in seinen dunklen Augen zu versinken, gestillt zu bekommen. Gerade als Green die Augen schloss und sich deren Lippen beinahe berührten, schrillten sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf. Ihre nächste Handlung geschah instinktiv, als sie sich aus seinem Griff befreite und geschickt zurücksprang. Sie krallte ihr Glöckchen an sich und starrte Siberu auf einmal feindselig an. Nicht ohne Grund: Er hatte nicht nur nach ihrem Glöckchen gegriffen, sondern auch daran gezogen, als wollte er es von ihrem Hals reißen. Siberu war ruhig stehen geblieben, mit den Händen in den Hosentaschen und einem gelassenen Grinsen im Gesicht. „Du scheinst etwas aus deiner Lektion gelernt zu haben, Green-chan.“ „Wovon redest du?“, fragte Green nun etwas unsicherer, aber immer noch mit Widerwillen in den Augen. Doch eine Antwort erhielt sie nicht. Urplötzlich verschwand der Rotschopf aus ihrem Blickfeld und sie taumelte ein paar Zentimeter rückwärts, als sich ihre Nasenspitzen genauso urplötzlich berührten. „Aber um an meine Schnelligkeit heranzukommen, brauchst du noch einige Jahre Training.“ Ohne dass Green diesmal etwas dagegen tun konnte, riss er ihr das Glöckchen aus der Hand und von ihrem Hals. Die Wächterin griff noch danach, doch Siberu war zu schnell aus ihrer Reichweite verschwunden, als dass ihr Vorhaben gelingen konnte. „Armes, kleines Green-chan. Schon wieder hat man dir deine Seele genommen. Vielleicht solltest du besser darauf aufpassen?“ Noch waren die Symptome des Glöckchenverlustes nicht stark genug, um Greens Sein einzunehmen, wahrscheinlich, weil das Glöckchen ihr trotzdem noch zu nah war: nur ein leichtes Zucken ihrer Hände zeigte ihre Nervosität. Da der Entzug noch nicht allzu schlimm war, konnte sich Green noch auf andere Dinge konzentrieren als darauf ihr Schmuckstück zurückzubekommen und deshalb spürte sie etwas anderes zusätzlich in sich aufkommen; ein Gefühl, welches dadurch gestärkt wurde, dass Siberu sie weiterhin angrinste, während er das Glöckchen auf seinem Finger balancierte. Zuerst war es Entsetzen, weil sie sich zusammenreimen konnte, was passiert war, was sie zugelassen hatte … doch schnell spürte sie, wie das Gefühl des Entsetzens der nahenden Traurigkeit und Verzweiflung wich. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte Green dennoch, in der Hoffnung, es gäbe eine andere Erklärung als ihre, die sich dann als falsch herausstellen würde. „Verstehst du es denn nicht? Es ist doch eigentlich ganz einfach und simpel …“ Er unterbrach sich selbst und kurz zeigte sich sein Gesicht verwundert, wurde jedoch sofort wieder zu seinem erfreuten Grinsen, als er sagte: „Oh, wir bekommen Besuch, Green-chan!“ Kaum hatte er dies gesagt, tauchte kein geringender als Gary wie aus dem Nichts genau vor Greens Augen auf. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und konnte sich ihr überraschtes Gesicht daher nur vorstellen, als sie fragend seinen Namen über die Lippen brachte. Gary sagte etwas, was eindeutig an Siberu gerichtet war, denn Green verstand kein Wort von dem, was er sagte: Er sprach in einer Sprache, die ihr absolut fremd war. Der Dritte im Bunde schien ihn jedoch verstehen zu können, denn er lachte beinahe schon boshaft. „Warum sprichst du denn in unserer Sprache mit mir, Blue? Hast du etwa etwas zu verbergen?“ „“Blue“? „Unsere Sprache“?“, fragte Green und sah Gary verwirrt an, da sie nun einige Schritte nach vorne gegangen war, um nicht mehr hinter ihm zu stehen. Langsam spürte Green, dass es ihr alles zu viel wurde: die ganzen Fragen in ihrem Kopf, die nach Antworten verlangten, die sie eigentlich nicht haben wollte … und die beiden Jungs, die für mehr und mehr unbeantwortete Fragen sorgten … aber auch für Beweise, die die Theorie untermauerten, die sie nicht untermauert haben wollte. „Das erklär ich dir später …“, antwortete Gary, doch Siberu unterbrach ihn. „Warum nicht jetzt? Wir haben doch alle Zeit der Welt!“ Gereizt wandte Gary sich von Green ab und funkelte den grinsenden Rotschopf wütend an. „Was treibst du schon wieder für Spielchen, Silver?! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich aus dieser Angelegenheit raushalten sollst!“ Daraufhin kicherte der Angesprochene und zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch: Ich bin unverbesserlich.“ „Was geht hier eigentlich vor?“, fragte Green, gerade als sie sah, dass Gary die Fäuste geballt hatte. „Ja, wirklich, man sollte dich mal aufklären“, antwortete Siberu, steckte das Glöckchen weg und tauchte wieder mit einer ungeheuren Geschwindigkeit vor ihr auf: scheinbar sogar zu schnell für Gary, denn dieser drehte sich gerade erst zu den beiden herum, als es bereits zu spät war. „Es war ein Spiel. Ein wirklich leichtes und enttäuschendes Spiel.“ Green blinzelte, starrte in seine roten, nun kalten und teilnahmslosen Augen. „Ein … Spiel?“ Ihre Theorie war wahr. Siberu war ein Dämon. Er war es gewesen, der ihr das Glöckchen das erste Mal geklaut hatte. Er wollte sie … umbringen. „Silver!“, rief Gary dazwischen, doch wurde von dem Angesprochenen überhört und langsam breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht des Rotschopfs aus. „Ja, ich hab dich angelogen. Sorry, Green-chan. Das Spiel ist nun vorbei.“ Green starrte ihn entgeistert an, scheinbar verstand sie seine so simplen Worte nicht und konnte nichts anderes tun, als Siberu anzustarren, bis sich langsam die Wahrheit in ihren Augen bemerkbar machte und man deutlich die nahende Verzweiflung sehen konnte, die seine Worte ausgelöst hatten: Ihre blauen Augen weiteten sich langsam, umso mehr sie seine Worte verstand. Es gelang ihr jedoch nicht, etwas zu erwidern, da Siberu wieder aus ihrem Sichtfeld verschwand, da Gary dem nicht länger zusehen wollte und gezielt nach ihm getreten hatte; dem war Siberu mit Leichtigkeit auswichen und er hatte scheinbar gar nicht weiter darauf geachtet. Auch wenn er nun wieder einige Meter von Green entfernt war, sah er sie weiterhin an; sah, wie ihre Augen langsam glasig wurden, wie ihre Schultern zu zittern begonnen und freute sich schon darauf zu sehen, wie die Tränen bald ihren Weg finden würden. „Eigentlich wollte ich nur wissen, was an dir so toll ist, dass man so viel aufs Spiel setzen muss.“ Bei diesen Worten sah er kurz zu Gary und schüttelte dann nur ratlos mit dem Kopf und wandte sich wieder Green zu, die nun den Boden ansah. „Aber ich habe nichts gefunden, was es wert wäre. Das Einzige, was ich gefunden habe, ist ein schwaches Mädchen, das sich nicht wehren kann und obendrein ziemlich leichtgläubig ist. Ein paar süße Worte reichen schon aus! Mit anderen Worten ein typisches Mädchen, was nicht nach meinem Geschmack ist.“ „Schwach?“, war das Einzige, was Green darauf erwiderte, immer noch mit dem Blick Richtung Boden. Siberu ärgerte sich über ihre Reaktion und darüber, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte – wozu war das gesamte Spiel gut gewesen, wenn er nun nicht die Krönung sehen konnte? Doch gerade, als der Rotschopf sie dazu bringen wollte, nach oben zu sehen, traf der Angriff Garys zum ersten Mal ins Ziel: in Siberus Magengegend. Der Angriff war so stark, dass es ihn nach hinten warf und es war seinen athletischen Fertigkeiten zu verdanken, dass er sich keine schwereren Verletzungen zuzog, denn er hielt sich einfach an einem Ast fest, machte einen Überschlag und stand schon elegant, als wäre nichts passiert, auf dem Ast und pfiff anerkennend. Gary ging nicht darauf ein, sondern schrie zu ihm hoch: „Hast du ihr denn nicht wirklich schon genug angetan?!“ Daraufhin schüttelte Siberu den Kopf, als müsste er über die Antwort nachdenken. „Ach, Blue. Du bist so ein elendiger Spießer. Warum lässt du mir nicht einfach meinen Spaß? Warum musst du dich immer einmischen?“ „Das sagt der Richtige.“ „Ich will dir nur helfen.“ „Nein, du willst nur deinen Spaß.“ Dem hatte Siberu augenscheinlich nicht viel entgegenzusetzen. Er grinste daher nur ein wenig entschuldigend und deutete damit wohl an, dass Gary ins Schwarze getroffen hatte. „Du willst das Glöckchen zurück, nicht wahr?“ Garys Blick verdunkelte sich; diesmal hatte der Rotschopf den Treffer versenkt und überlegen und auch mit einer gewissen Vorfreude sagte er: „Diesmal wirst du es dir schon mit Gewalt holen müssen. Dein Rui-Trick wird dir nicht gelingen; da hab ich Vorkehrungen getroffen. Also regeln wir unsere kleine … Meinungsverschiedenheit ganz, wie es sich für Dämonen gehört!“ Gary wusste, dass er recht hatte und dass es diesmal keine Möglichkeit gab, dies ohne Gewalt zu lösen. Dennoch zögerte er und sah noch einmal über seine Schulter zurück, wo Green weiterhin versteinert auf den Boden starrte. Ihre Knie hatten nachgegeben und so hockte sie nun auf dem Boden. Sie bemerkte nicht einmal, dass er sie ansah. Nicht nur, dass Gary kein Freund von Gewalt war und damit auch nicht gerade seiner dämonischen Natur entsprach, er schätzte es auch nicht, dass Green ihn kämpfen sah. Er wusste nicht, warum, aber diese Vorstellung gefiel ihm nicht. Aber es blieb ihm keine andere Wahl, denn so, wie er sein Gegenüber kannte, würde er das Glöckchen nicht herausrücken, weil man ihn lieb fragte. Im Gegensatz zu Gary entsprach er, was das Kämpfen anging, ganz und gar seiner dämonischen Natur. Gary wandte sich wieder von Green ab und sah zu Siberu, der ihn erneut angrinste, wahrscheinlich weil er begriffen hatte, dass sie nun endlich kämpfen würden. Als wäre ein Startsignal ertönt startete Gary den ersten Angriff, indem er auf Siberu zuraste, ihn an den Schultern zu packen bekam und sie damit beide vom Baum herunter warf. Mit aller Kraft drückte er seinen Kontrahenten in den sandigen Steinboden, wobei er die Geschwindigkeit des Sturzes für sich ausnutze. Doch kaum, dass Siberu den Boden berührt hatte, sprang Gary auch schon von ihm weg, da sein Kontrahent bereits dunkle Magie in seinen Handflächen gesammelt hatte und sie gerade Gary entgegenwerfen wollte, als dieser auswich. „Hey, warum hast du mich nicht mit Magie angegriffen, als ich am Boden lag?“ Mit diesen Worten startete Siberu einen weiteren Gegenschlag, wobei er kurz nach Ausführen der Attacke, die Gary blocken konnte, vor ihm auftauchte, seine rechte Hand in dessen Schulter stemmte und sich über ihn hinweg schwang. Kaum war er hinter Gary, holte er mit seinem Bein aus, doch dieser konnte wieder mithilfe seines Arms blocken. „Dein typischer Trick“, sagte Gary, ohne auf Siberus vorige Provokation einzugehen oder die Stärke seines Tritts. Der Rotschopf grinste. „Und du bist in den letzten Jahren ganz schön eingerostet. Oder wäre „verweichlicht“ vielleicht das bessere Wort?“ Scheinbar hatte Gary langsam genug von Siberus Provokationen, denn die Stärke seiner Abwehr bekam auf einmal einen so großen Schub, dass er Siberu scheinbar mit Leichtigkeit zurückdrängen konnte. „Ich habe es dir schon einmal gesagt, Silver. Du verstehst das nicht und glaube mir: Es ist besser für dich!“ Das Grinsen des Angesprochenen wich, wahrscheinlich, weil er deutlich in den Augen seines Gegenübers sah, dass es sein vollster Ernst war. „Warum sagst du es mir denn nicht einfach? Wir haben doch immer zusammengearbeitet … aber nein, stattdessen verschweigst du mir alles und lässt mich allein!“ Einen Augenblick lang konnte man deutlich anhand seiner sich verändernden Gesichtszüge erkennen, dass sein Kampfgeist bröckelte; einen Moment lang wirkte er sogar verletzt und dieser kleine Moment wurde ausgenutzt. Nicht von Gary, sondern von der dritten Person im Bunde. „Wie zur Hölle …“, fluchte Siberu, der plötzlich die Spitze eines Stabes in seinen Nacken spüren konnte. Gary wirkte genauso verwundert wie der Rotschopf, da er ebenso wenig mit Greens Einschreiten gerechnet hatte wie Siberu. Obendrein wirkte Green alles andere als verzweifelt. Entschlossenheit zeigte sich in ihren Augen, ihrem Gesicht und ihrer Haltung. Wie war das möglich? „Du bist nicht der Einzige, der weiß, wie man stiehlt.“ Siberu sah über die Schulter mit düsterem, aber auch erstaunten Blick zu ihr. Nach wie vor hielt er seinen Angriff gegen Gary aufrecht, doch beide waren eher auf Green fokussiert. „Wie kann es sein, dass du nicht heulend am Boden hockst?“ Ein kurzes, beinahe triumphierendes Lächeln huschte über Greens Gesicht. Sie festigte ihren Griff um ihren Stab, als sie antwortete: „Weil ich nicht schwach bin.“ Überraschung über diese Aussage zeigte sich in Siberus Gesicht und Gary sah auch, dass er beeindruckt von Greens Entschlossenheit war und besonders davon, dass sie nicht so gehandelt hatte, wie er es erwartet hatte. Diesen Moment nutzte Gary, um seine Gegenwehr fallen zu lassen und aus der Schusslinie zu verschwinden, da er bereits an Green erkannt hatte, was sie vorhatte. Obwohl er Greens Vorhaben schon vor Siberu verstanden hatte, war er nicht weniger geschockt über ihren Entschluss. Er hatte nicht erwartetet, dass Green einen so unerschütterlichen Willen hatte, dass sie sogar die Waffe gegen jemanden erhob, den sie einige Stunden vorher noch ihren „Freund“ genannt hatte. „Du hast vor, mich anzugreifen, Green-chan? Mich, deinen Sibi?“ Kurz zuckte etwas über Greens Gesicht und sie musste sich auf die Lippen beißen, aber sie ließ ihren Stab dennoch nicht los. Aha, dachte Siberu: Sie war also doch nicht so stark, wie sie tat. Doch da irrte er sich, was er schnell feststellte. „Für mich war es kein Spiel. Ich habe es ernst gemeint …“, sagte Green aufrichtig, während das Licht in der rechten Leiste ihres Stabes zu pulsieren begann. Ihre Augen zeigten sich kurz weich und fast schon liebevoll, ehe sie sich festigten und sie sagte: „Aber wenn es für dich nur ein Spiel war, dann ist hier das Game Over! SPIRIT OF LIGHT!“ Keine halbe Stunde später gingen Gary und Green wieder Richtung Nachhause, als wären sie nur gerade von der Schule heimgekehrt. Sie schwiegen, dennoch war etwas zu hören. Etwas, was normale Menschenohren nicht gehört hätten: deutlich konnte Gary Green weinen hören. Sie ging ein kleines Stück weiter vor ihm, fühlte sich unbeobachtet, da weder ihre Schultern bebten noch ihre Hände zu ihrem Gesicht erhoben waren. Sie dachte, er bemerke es nicht, doch die Ohren eines Halbdämons waren empfindlicher als die eines Menschen. Siberu war nicht ausgeschaltet, dies war beiden bewusst. In der Zeit, wo Green ihre Waffe zum Angriff bereit gemacht hatte, hatte er Unmengen von Möglichkeiten zum Ausweichen gehabt und er hatte sie sicherlich genutzt: in der letzten Sekunde. Was hatte er damit bezweckt? Wollte er nur testen, ob Green wirklich so stark war, dass sie ihn angreifen würde? Beide kramten ihre Schlüssel aus deren Taschen, als sie vor den jeweiligen Haustüren standen. Verstohlen sah Gary zu Green herüber und sah, dass keine Träne zu sehen war auf ihrem Gesicht; nicht einmal Anzeichen dafür. Sie öffnete die Tür mit einem Klacken und hielt sie einen Spaltbreit auf, als sie sich zu Gary herumdrehte und ihn anlächelte. „Danke für deine Hilfe“, sagte Green simpel und verschwand dann schon in ihrer Wohnung, wo sie hörbar von Pink begrüßt wurde. Gary hatte den Schlüssel bereits im Schloss, doch drehte ihn nicht herum, da er immer noch auf den Punkt sah, wo seine Nachbarin eben noch gestanden hatte. Kapitel 8: Dämonische Brüder ---------------------------- Der Wecker klingelte pünktlich um halb sieben, doch Green war nicht gewillt, aufzustehen. Vollkommen erschlagen lag ihre Hand auf dem Ausknopf ihres digitalen Weckers, doch sie zog ihre Hand nicht zu sich unter die Decke zurück, nachdem der Weckruf verklungen war. Sie hatte nicht gut geschlafen - höchstens ein paar Stunden und das ärgerte sie. Es ärgerte sie maßlos, dass die Ereignisse der letzten Nacht sie und ihren Schlaf so sehr beeinflussten. Es ärgerte sie, dass sie immer wieder darüber nachgedacht hatte … sie ärgerte sich über sich selbst und über ihre naive Dummheit, dass sie auf so ein gespieltes Theater hereingefallen war. Sie war doch sonst nicht so blauäugig. Aber noch mehr ärgerte sie sich darüber, dass sie traurig war; dass es jetzt nicht einfach als dummer Fehler abgehakt war, sondern sie nach wie vor beschäftigte. Denn obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, merkte Green, dass sie in der Nacht geweint haben musste, da ihre Augen brannten. Fluchend zog sie ihre Hand zurück und schmiss sie sich gegen ihre Stirn. Eine Position, in der sie einige Minuten lang verweilte, denn eine Unlust hatte sich ihrer bemächtigt. Sie hatte keine Lust aufzustehen und zur Schule zu gehen, nur um Shos „Ich hab‘s dir doch gesagt“ zu hören und sich damit noch ein weiteres Mal anhören zu müssen, wie dumm sie doch gewesen war. Aber worauf sie noch weniger Lust hatte, war, sich in diesem Bett zu verkriechen, nicht zur Schule zu gehen, um dann später, wenn sie sich endlich aufgerappelt hatte, besorgte Blicke zu bekommen, wie ein armes, verlassenes Mädchen, dass von jemandem sitzen gelassen wurde. „Soweit kommt‘s noch!“ Und mit diesen entschlossenen Worten schwang sie ihre Beine aus dem Bett; sie würde Sho einfach sagen, dass sie selbst die „Beziehung“ abgebrochen hatte, ehe etwas Festeres daraus hätte werden können. Sie würde nie wieder ein Wort über Silver verlieren und würde diese Episode als die peinlichste in ihrem Leben verdrängen. Und in dieser Episode gab es weder Siberu noch Silver. Es gab einfach nur irgendeinen Dämon, der sie hereingelegt hatte und den sie wie die anderen namenlosen Dämonen ausgelöscht hatte.     „Green! Ziel auf seine Beine und bring ihn damit zu Fall!“ Als ob ihr das nicht selbst eingefallen wäre bei einem Dämon, der so dünne Beine hatte, dass es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein müsste, dass das Wesen überhaupt in der Lage war, seinen enormen Oberkörper aufrecht zu halten - denn das Fleisch, was an seinen Beinen scheinbar komplett fehlte, war eindeutig an seinem Oberkörper zu finden. Daher war es wohl wirklich kein Kunststück, wenn man herausfand, dass es am besten war, auf seine Beine zu zielen. Dennoch, auch wenn sie es sich bereits selbst gedacht hatte, war sie froh über diesen Tipp, der von ihrem neuen Kampfgefährten stammte: Gary hatte sich endlich dazu bereit erklärt, Green bei ihren nächtlichen Aufgaben zu helfen, sogar ohne dass Green „besondere Geschütze“ hatte auffahren müssen. Es war ein gutes Gefühl jemanden dabei zu haben, auf den man sich verlassen konnte. Pink hatte sie bisher zwar meistens begleitet, aber ein Gefühl der Verlässlichkeit rief sie nicht gerade hervor. Daher war sie jetzt auch daheim, besonders da Gary angemerkt hatte, dass es vielleicht nicht so schlau war, Pink zum Kampfgeschehen mitzunehmen, wenn die Dämonen nach ihr trachteten. Und so war diese kühle Novembernacht ihre zweite gemeinsame Nacht des Kämpfens. Schnell hatte Green bemerkt, dass Gary kein offensiver Kampfgefährte war, sondern eher ein unterstützender Stratege, denn seine Bewegungen waren äußerst wohl durchdacht und seine Ratschläge sehr hilfreich; er besaß ein großes Allgemeinwissen über die Dämonen, fand unheimlich schnell deren Schwachstellen heraus und auf welche Art und Weise Green diese am besten für einen schnellen Sieg ausnutzen konnte – so weit sie es jedenfalls bis jetzt beurteilen konnte. Green tat wie geheißen und zielte mit ihrem Darklightning auf die Beine des Ungetüms, nachdem sie hektisch einem Angriff ausgewichen war. Ihr Vorhaben schien erfolgreich, denn sie zerstörte seine Balance, indem sie zwei seiner vier Beine mit ihrer Attacke traf und er zu Boden ging, nicht ohne den selbigen unter deren Füßen zum Erzittern zu bringen. „Gotcha!“, rief Green begeistert zu Gary, der nach der letzten Attacke des Dämons mehrere Meter von ihr entfernt gelandet war, um auszuweichen. Dieser schien jedoch nicht so begeistert wie sie zu sein und ahmte schon gar nicht ihre siegreiche Pose nach. Mit ernstem Blick bellte er: „Worauf wartest du?! Bereite dem Ganzen ein Ende, ehe er sich wieder aufrichtet!“ „In Ordnung, Chef!“, antwortete Green grinsend, ohne seinem ernsten Ton irgendeine Beachtung zu schenken und stattdessen aus den Augenwinkeln heraus die Leisten ihres Stabes überprüfend: für einen Light Spirit würde die Energie gerade noch reichen und diese würde der Dämon zu spüren beko- Weiter kamen Greens Gedanken nicht, denn angesichts der ungeahnten Wendung, die sich vor ihr auftat, stockte nicht nur ihr Gedankengang, sondern auch ihr Atem: unter scheinbar enormem Schmerzaufwand und begleitet von einem überaus ekligen Geräusch von sich windenden Gedärmen und brechenden Knochen wuchsen dem Dämon innerhalb von nur kürzester Zeit zwei missgestaltete Flügel aus dem Rücken. Ein Profi auf dem Gebiet der Dämoneneliminierung hätte es sicherlich vollbracht, den Dämon zu erlegen, ehe er seine Flügel vollständig ausgebreitet hatte, doch Green stand dem Geschehen eher angewidert gegenüber und war weit davon entfernt, wie ein Profi zu reagieren, denn ein solcher hätte sich wohl nicht von diesem Anblick beeindrucken lassen und stattdessen sofort zu einem weiteren Angriff ausgeholt. „Green!“ Die Stimme Garys brachte zwar Greens Gedanken dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen – und selbige schrien ihr zu, dass ihr Körper sich auch lieber in Bewegung setzen sollte - aber dieser reagierte nicht. Erst als der Dämon mit einem markerschütternden Gebrüll dazu ausholte, derjenigen den Kopf abzureißen, die es gewagt hatte, ihn seiner Balance zu berauben, wachte die junge Wächterin aus ihrer Starre auf: In letzter Minute gelang es ihr mehr schlecht als recht auszuweichen und sie stolperte dabei fast in Gary hinein, der ihr scheinbar zu Hilfe geeilt war. „Ich bin in einem Horrorfilm gelandet“, keuchte Green, die Augen auf den fliegenden Dämon gerichtet, der sich scheinbar behäbig umorientieren musste, nachdem sein Opfer aus seiner Schusslinie verschwunden war. „Daran solltest du dich langsam gewöhnt haben“, antwortete Gary kritisierend und fügte hinzu: „Nichtsdestotrotz ist er durch die Metamorphose geschwächt! Ein Treffer müsste genügen, um ihn zu töten, wenn du ihn triffst.“ „Das „wenn“ gefiel mir dabei nicht“, antwortete Green kurz bevor sie wieder dazu gezwungen waren auszuweichen, diesmal in verschiedene Richtungen springend. Anscheinend hatte der Dämon es wirklich nur auf die Wächterin abgesehen, doch nach der vorigen Erfahrung war Green vorbereitet. Denn schon während sie Letzteres gesagt hatte, hatten sich die Leisten ihres Stabes aufgeladen und ein leichter Schimmer umgab diesen. Doch es kam anders als von den drei Kontrahenten geglaubt: Ein schwarzer Blitz schoss vom Himmel herab, spießte den überrumpelten Dämon in Sekundenschnelle in der Mitte auf und die zwei schmatzenden Hälften knallten erschütternd zu Boden, wo sie sich in einem dichten Nebel auflösten. „Was zur …“, fragte Green sich selbst, doch schnell verzerrte ihr Gesicht sich zuerst überrascht, dann missvergnügt, denn das, was sie vor sich sah, gefiel ihr gar nicht und auch Gary schien nicht besonders begeistert, wie Green bemerkte, als er neben ihr landete. „Hi!“, sagte ein unheimlich gutaussehender Dämon, dessen rote Haare im Wind wehten und dessen Grinsen sogar von Weitem gut zu erkennen war: Silver. Es war nicht so, dass sie direkt überrascht darüber war, ihn wieder zu sehen, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Attacke ihn ausgelöscht hatte. Doch sie wusste nicht, was sie dann war – wie sie die Gefühle in sich deuten sollte, denn zu viele sprudelten plötzlich empor; zu viele wollten die Oberhand erlangen, bis es zuletzt ihr Widerwille war, der diesen Kampf gewann. „Dachte mir, ich helfe euch mal.“ „Danke, wir verzichten!“, antwortete Green daher schnell, ehe sie noch dazu verleitet wurde, eine andere Stellung zu beziehen. Ohne ihn weiter zu beachten, drehte sie sich von dem Neuankömmling weg und wollte gerade mit erhobenem Haupt davon schreiten, als sie den Rotschopf plötzlich nicht mehr hinter sich wusste, sondern ihn vor sich sah. „Och, Green-chan, sei doch nicht so …“, fing er mit einer vermeintlich netten und auch leicht flehenden Stimme an, kurz davor, ihre Hand zu ergreifen, um den bittenden Ausdruck in seiner Stimme noch zu unterstreichen. Während Gary die Augen verdrehte und die Arme verschränkte, entriss Green ihre Hand entschlossen aus Silvers Griff und antwortete giftig: „“Green-chan“ ist nicht zugegen, Silver!“ Mit Absicht betonte sie jeden einzelnen Ton in seinem Namen extra und genoss es beinahe, wie verletzt er sie ansah, sich natürlich bewusst, dass er dies nur vortäuschte, so wie er alles andere vortäuschen konnte. Aber nicht mit ihr! Nicht noch einmal! Zweimal fiel sie nicht auf denselben Trick rein; wie kam er auf die Idee, dass sie das tun würde? Hielt er sie für so dumm und naiv? Gerade als Silver den Mund öffnete, um zu kontern, sah Green über die Schulter hinweg und kommandierte: „Gary, wir gehen!“ Ohne von Silver Notiz zu nehmen, begann sie sich zu entfernen, doch der Blick, den sie Gary gesandt hatte, ließ keinen Widerspruch gelten und selbst Gary, der sich eigentlich nie etwas sagen ließ, entschied sich diesmal dazu, dass es vielleicht besser war, Greens Worten Taten folgen zu lassen; außerdem war er doch auch ein kleines bisschen schadenfroh, als Silver ihn flehend ansah – anscheinend in der Hoffnung, Gary könnte Green dazu verleiten, es sich anders zu überlegen – wofür Gary nur ein ratloses Schulterzucken übrig hatte. „Aber, Green-cha-“, versuchte Silver es noch einmal, doch wurde diesmal von Green unterbrochen, die ihren Stab umgewandelt hatte und ihn über die Schulter hinweg drohend in seine Richtung hielt, mit den Worten: „Ich habe es bereits einmal getan und wenn du mich nicht in Frieden lässt, werde ich den „Light Spirit“ so oft einsetzen, bis du nur noch aus Funken bestehst!“     Diese Aussage schien gewirkt zu haben, denn Silver hatte die Verfolgung aufgegeben und so waren Gary und Green auf dem gemeinsamen Heimweg. Im Gegensatz zu vorigen Kämpfen war es noch nicht einmal besonders spät und so war der normale Weg durch den Stadtpark auch noch recht menschenerfüllt. Dies hinderte Green nicht daran, das unvermeidliche Thema anzusprechen, nachdem sie eine ziemlich lange Zeit geschwiegen hatten. „Er ist also wieder da.“ Gary sah aus dem Augenwinkel zu ihr, doch blickte gleich wieder nach vorne, da er keine besonderen Gefühle in ihrem Gesichtsausdruck ausmachen konnte: Sie versteckte sie fein säuberlich. „Unkraut vergeht nicht – du hast doch nicht ernsthaft damit gerechnet?“ „Nein, nicht wirklich.“ „Gehofft?“ Nach dieser plötzlichen Frage schwieg Green kurz, ehe sie ein leichtes Zucken mit den Schultern andeutete, worauf Gary nicht weiter einging, da er es für unangebracht hielt. Ihre nächsten Worte überraschten ihn daher schon ein wenig: „Wie steht ihr beiden zueinander?“ Gary war nicht nur über die Frage an sich verwundert, sondern auch darüber, dass sie überhaupt gestellt wurde. „Green, das wird dir doch aufgefallen sein?“ Sie sah ihn jetzt wieder an, verwundert, wie es schien. Als sie ein Kopfschütteln andeutete, antwortete er mit einem Seufzen: „Silver ist mein kleiner Bruder.“ Green blieb auf der Stelle stehen und starrte ihn verwirrt an. „Dein … Bruder?!“ Noch einmal musterte sie ihn ganz genau und auf einmal ging ihm ein Licht auf, weshalb sie dies tat. „Ihr … seht euch nicht besonders ähnlich“, bemerkte Green, wobei sie mit den Augen besonders bei den Haaren hängen blieb. Der Angesprochene kam nicht umhin die Augen zu verdrehen und auch ein ärgerlicher Seufzer entglitt ihm. „Sagen wir die Gene waren sehr eindeutig verteilt.“ Mit diesen Worten begann er deren Weg fortzusetzen, während Green noch kurz verwirrt auf dem gleichen Fleck verweilte, ehe sie sich doch dazu entschied weiterzugehen. „Aber das heißt ja, dass er auch ein Halbdämon ist?“ „Ja, das ist er auch.“ „Aber dann kennt ihr euch ja richtig gut?“ „Ja, das kann man wohl so sagen.“ Kurz schwieg sie, überdachte scheinbar ihre neue Frage zu dieser neuen Situation: „Warum hast du dann nicht für ihn Partei ergriffen, jetzt und auch vor einer Woche?“ „Wie wir bereits festgestellt haben: ich kenne ihn; ihn und seine Fähigkeiten. Mir war klar, dass er einen Angriff deinerseits überleben würde und Silver ist … wie soll ich sagen? Es gibt kein Adjektiv, welches ihn passend beschreiben könnte. Sagen wir es so: Manchmal hat er für seine Spielereien eine Strafe sehr wohl verdient“, antwortete Gary ernst, während er dabei Green ansah, die langsam nickte. „Dann wäre dir ja von Anfang an klar gewesen, dass er nur mit mir gespielt hat, wärst du da gewesen und nicht krank im Bett.“ „Das wage ich nicht zu beurteilen. Im Allgemeinen ist sein Liebesleben sehr … wechselhaft. Silver ist eine Person, die nicht viel ernst nimmt und das gehört jedenfalls nicht zu den wenigen Dingen, die er ernst nimmt. Er ist ein Spielkind, welches nur darauf aus ist, sich selbst zu amüsieren, am liebsten auf Kosten anderer.“ „Du sprichst ja nicht gerade gut von ihm.“ „Alles, was ich sage ist, dass du aufpassen solltest. Sieh es als eine gut gemeinte Warnung, denn ich habe es noch nie erlebt, dass er einem Mädchen hinterher läuft.“ Und mit diesen Worten mitsamt einem „Gute Nacht“ ließ er Green allein im Treppenhaus zurück.     Garys Lieblingszeit des Tages war eindeutig der Morgen. Er mochte diese Zeit des Tages einfach aufgrund von mehreren Faktoren: was ihm besonders gut gefiel war die Tatsache, dass die Gänge der Schule um diese Uhrzeit noch nicht überfüllt waren. Es herrschte eine angenehme Ruhe an diesem Ort, der normalweise von einem regen Treiben dominiert wurde, von widerhallenden Schritten, Reden und Gelächter. Jetzt hörte er nur seine eigenen Schritte und nur von Weitem die der anderen, wenigen Anwesenden; das Kratzen von Bleistiften und das Tippen auf den Computertastaturen; Geräusche, die er hören konnte dank seines dämonischen Gehörs, wenn er an dem Lehrerzimmer vorbeiging. Ehe er an diesem Morgen jedoch in das Klassenzimmer ging, holte er sich noch ein neues Buch aus der bescheidenen Schulbibliothek und schlug dann den Weg zum Klassenzimmer ein, nicht ohne einen vorbeigehenden Lehrer zu grüßen. Während er die Hand an die Schiebetür des Klassenzimmers legte, überflog er bereits die erste Seite des neuen Buches und er fühlte eine gewisse Vorfreude in sich aufsteigen, als er bemerkte, dass er mal wieder ein gutgeschriebenes Buch gefunden hatte. Doch das wohlige Glücksgefühl verflog schnell wieder, als er die Tür geöffnet hatte und sein geliebter Morgen ruiniert wurde. „Wir müssen reden, Aniki.“     Etwa eine halbe Stunde später füllte sich das Klassenzimmer, da die ersten Schüler eintrudelten. Die weiblichen Schüler waren regelrecht entzückt davon, Silver wiederzusehen und hatten sich sofort um ihn geschart und plagten ihn nun mit Fragen, wo er denn so lange gewesen sei und was er getan hätte! Da die gesamte Aufmerksamkeit auf dem Rotschopf lag, bemerkte niemand, dass eine gewisse Feindseligkeit immer mal wieder durch den Klassenraum vibrierte, wenn die Blicke der beiden dämonischen Brüder sich trafen. Erst als Green dazu kam, veränderte sich die Situation. Sie kochte bereits vor Wut, ehe sie Silver überhaupt mit eigenen Augen erblickt hatte, denn Sho war ihr entgegengerannt, um ihr sofort von seiner Anwesenheit zu berichten. Nachdem er vor einer Woche plötzlich verschwunden war, hatte Sho natürlich nach ihm gefragt, obwohl Green ihr wie geplant gesagt hatte, dass sie die Beziehung mit ihm beendet hatte. Die Wächterin war auf die halbherzige Ausrede gekommen mit einem kranken Familienmitglied, welches er besuchen musste - dass diese Ausrede nicht mit Silvers übereinstimmte, interessierte sie dabei herzlich wenig. Sie hatte immerhin nicht damit gerechnet, dass Silver jemals wieder zu seiner Identität als „Siberu Nakayama“ zurückkehren würde. „Oh, hi, Green-chan!“, grüßte der Rotschopf sie erfreut, doch ihre Antwort war alles andere als das. Sie antwortete mit einem mindestens genauso feindlichen Blick wie dem, den die Mädchen ihr zuwarfen, als sie hörten, wie freundlich er sie begrüßt hatte. Als die junge Wächterin sich gerade dazu entschieden hatte, ihn und seine Mädchenschar einfach zu übersehen, erschien er plötzlich vor ihr mit einem breiten Grinsen und schnappte ihre Hand mit den Worten: „Komm, ich zeig dir etwas!“ Und schon zog er sie grinsend aus dem Klassenzimmer mit einem so harten und festen Griff, dass es Green, trotz Protests, nicht möglich war, sich aus diesem zu befreien. „Ey, wo wollt ihr hin? Der Unterricht fängt doch gleich an!“, rief Sho ihnen hinterher, als Silver Green vom Klassenzimmer fortführte, obwohl ihre Proteste recht eindeutig waren. Kaum, dass sie um die Ecke gebogen waren, stand Gary ebenfalls in der Tür und rannte den beiden zielsicher hinterher, während Sho nach wie vor in der Tür stehen blieb und den Dreien nachsah, mit einem verwunderten Blick im Gesicht, welcher ihre verwirrten Gedanken widerspiegelte.     Kaum hatten Siberu und Green die Ecke passiert, waren sie verschwunden – nur um kurz danach in ihren eigenen vier Wänden wieder aufzutauchen: Etwas, was Green absolut nicht nachvollziehen konnte – hatte Silver sie etwa teleportiert? War so etwas für die Dämonen möglich? Doch lange lenkte sie sich nicht mit diesem Gedanken ab, denn sie hatte ein anderes Problem: ein gutaussehendes Problem mit roten Haaren. Dieser hatte Green buchstäblich an die Wand genagelt, indem er seine Arme neben ihren Kopf ausgestreckt hielt, so dass Green zwischen diesen stand: mit den Armen über ihrer Brust verschränkt und einem sehr widerspenstigen Blick, der momentanen Lage nicht besonders angepasst, wie Silver fand - doch es gefiel ihm natürlich. Er sah in ihre dunklen Augen und stellte fest, dass sie keine Anzeichen von Schwäche zeigten; wie schön sie waren, ein wirklich schönes Dunkelblau – so tief, so unerforscht. Warum war ihm das vorher gar nicht aufgefallen? „Was willst du? War der eine Light Spirit etwa nicht deutlich genug für dich?“ Sein durchdringender Blick veränderte sich, wurde schleierhaft, als würde ihn etwas bedrücken. „Hattest du mit der Attacke vor, mich umzubringen?“ Wieder dieselbe Frage, die Green bereits einmal zu hören bekommen hatte und welche sie die ganze Nacht lang, nein, die letzten Tage, gequält hatte, denn sie hatte keine Antwort darauf gefunden. Hatte sie ihn wirklich mit Tötungsabsicht angegriffen? Hatte sie mit Absicht die Energie der Attacke reguliert? „Das fasse ich als ein „Nein“ auf“, sagte Silver plötzlich, ohne dass Green überhaupt etwas dazu gesagt hatte. Überrascht aber auch skeptisch sah sie ihn an, verwundert darüber, dass er so schnell eine Antwort gefunden hatte, obwohl sie so lange dafür gebraucht hatte und bis jetzt immer noch keine gefunden hatte. „Du wolltest mich umbringen – es war reine Notwehr. Du bist ein Dämon wie alle anderen auch, und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, töte ich solche wie euch. Wie kommst du also darauf, dass ich dich nicht töten wollte?“, fragte sie und versuchte sich nicht von seinem fast schon lieben Grinsen ablenken zu lassen. „Du hast zu lange gezögert, Green-chan.“ Diesmal ging Green nicht auf die Anrede ein, sondern konterte verbissen: „Das ändert nichts daran, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will, Silver. Das wirst du ja wohl bereits bemerkt haben. Also, was willst du noch hier?“ „Eine zweite Chance“, kam es wie aus der Pistole geschossen, als hätte er nur auf diese Frage gewartet. „“Eine zweite Chance“?“, wiederholte Green skeptisch und fügte hinzu: „Wozu?“ Der Rotschopf atmete tief durch, schloss kurz die Augen, ehe er das aussprach, was er auf dem Herzen hatte: „Ich liebe dich.“ Er ließ die Worte kurz im Zimmer hängen, während Greens Gesichtszüge sich langsam veränderten; scheinbar wusste sie nicht, was sie fühlen sollte; jedenfalls nicht, was sie ihm zeigen wollte. Überraschung zeigte sich in ihrem Blick, sie öffnete den Mund erstaunt, um etwas zu sagen, doch schloss ihn wieder; anscheinend sprachlos. „Und ich brauche eine zweite Chance, um dir das zu beweisen.“ Endlich erwachte Green aus ihrer Starre und antwortete: „Für wie dämlich hältst du mich eigentlich? Glaubst du ich, würde zweimal auf den gleichen Trick hereinfallen?“ Überraschenderweise schien ihm diese Antwort zu gefallen, denn er lächelte in sich hinein, ehe er sich scheinbar für eine andere Pose entschied und ehe Green sich versah, hing sie plötzlich in der Luft in einer dem Tango ähnlichen Pose. Silver hatte sich nach vorne über sie gebeugt und den Arm um ihren Rücken gelegt, doch die Überraschung über diese plötzliche Posenänderung hielt nicht lange, aber bevor sie etwas sagen konnte, hatte er bereits angefangen: „Ich kann dir nicht verübeln, dass du mir nicht glaubst, Green-chan. Aber glaub mir, ich meine es ernst und um dir das zu beweisen, brauche ich eine zweite Chance.“ „Ach?“, fing Green an, ohne irgendwie auf diese merkwürdige Stellung einzugehen; diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. Sie versuchte sich auch nicht zu befreien, wahrscheinlich, weil sie wusste, dass es sowieso nichts brachte, da er zu stark war und daher reagierte sie mit Ignoranz. „Woher kommt diese plötzliche Meinungsänderung? Hast du nicht gemeint, ich wäre kein Mädchen nach deinem Geschmack, da ich schwach bin?“ „Ja, das habe ich gemeint, aber ich muss …“ Silvers Worte wurden jäh unterbrochen von dem Geräusch einer aufgeschlagenen Tür, welches jedoch schnell von einem anderen Geräusch übertönt wurde, denn als Green ihren Kopf nach hinten beugte, sah sie die kranke Pink verkehrt herum vor sich stehen, in der aufgeschlagenen Tür ihres Zimmers: „Green-chan!“, schrie sie und fügte kreischend hinzu: „Ich spüre einen Dämon, der vernichtet werden muss!“ Sowohl Silver als auch Green verstanden Bahnhof und beide konnten sich Pinks plötzliches Dasein und ihre Worte nicht erklären, doch die Wächterin war schneller darin, diese Situation für sich einzusetzen und machte einen dezenten Wink mit dem Zeigefinger auf Silver und fügte mit einer gespielt angstvollen Stimme hinzu: „Pink, du musst mich retten!“ Green kannte Pink, Silver allerdings nicht und so war er recht überrascht darüber, dass Pink Greens Aufforderung ohne zu fragen Folge leistete und mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit, trotz Krankheit, sauste das kleine Mädchen auf Silver zu, der Green losließ und aus ihr unerklärlichen Gründen gelang es Pink, Silver zu Boden zu werfen. Doch damit nicht genug: Sie verhinderte sogar, dass er sich wieder aufrichten konnte, indem sie sich auf ihn setzte, mit den Knien vorwärts. Silver wehrte sich im ersten Moment nicht: Anscheinend war er zu sehr davon geschockt, dass er von so einem kleinen, obendrein kranken, Mädchen regelrecht flachgelegt worden war. Während Green sich aufrichtete und ruhig ihren Rock glatt strich, rief Pink: „Jetzt, Green-chan! Ich halt ihn fest und du besiegst ihn!“ „Was zur Hölle geht denn hier vor?“, ertönte plötzlich die nüchterne Stimme Garys durch das entstandene Chaos, und als Green sich umdrehte, entdeckte sie ihn in der Tür mit einem fragwürdigen Blick, als er seinen Bruder unter Pink bemerkte.  „Sag mal, wo warst du so lange?!“, fragte Green empört, da sie schon lange mit seinem Auftritt gerechnet hatte. Ehe Gary allerdings antworten konnte, unterbrach ihn Silver: „Ach, Aniki, wie schön dich zu sehen!“ Und auf einmal war Pink überhaupt kein Problem mehr für ihn; schnell war sie beiseitegeschoben und schon stand Silver zwischen Gary und Green. „Habe ich mich gerade versehen, oder wurdest du soeben von Pink …“, begann Gary mit einem recht amüsierten Blick an Silver gewandt, doch dieser unterbrach ihn, bevor er seine Worte vollenden konnte und sagte: „Ich finde, du sagst Green-chan, dass sie mir doch eine zweite Chance geben soll.“ „Gib mir einen Grund, warum ich das machen sollte.“ „Und als ob ich auf Gary hören würde!“, fügte Green hinzu, und gerade als Silver einen flehenden Ausdruck aufsetzte, wurde er von Pink unterbrochen, die scheinbar nicht gewillt war, gegen ihren Feind so schnell aufzugeben: Sie startete einen weiteren Frontalangriff, dem er diesmal allerdings elegant auswich, da er nun darauf vorbereitet war. Gerade als sie einen weiteren Versuch wagen wollte, ging Green dazwischen, indem sie ihre übereifrige Mitwächterin an den Schultern packte. „Keine Sorge, Pink. Silver …“ Sie wollte gerade sagen, dass er nicht ihr Feind war, aber entschied sich doch dafür, ihren Satz ein wenig umzuformulieren: „Um ihn kümmern wir uns später.“ „Aber Green-chan!“, protestierte Pink, doch Green achtete nicht auf sie, sondern hielt sie nur fest, während sie ihre Aufmerksamkeit den beiden Brüdern zuwandte. „Gary, dein Bruder hat mir gerade seine Liebe gestanden.“ Mit erhobenen Augenbrauen sah Gary zu seinem Bruder und sagte: „Du hast ihr deine Liebe gestanden?“ „Ja, natürlich habe ich das! So sagt man das in dieser Welt, wenn man mit einem Mädchen zusammen sein will, weißt du?“ „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal von dir hören würde“, antwortete Gary mit Skepsis sowohl in seinen Augen als auch in seiner Stimme. „Dann bestätigst du mir also meinen Verdacht, dass ich das nicht für bare Münze nehmen soll?“, fragte Green an Gary gerichtet, doch ehe dieser antworten konnte, tat Silver es: „Doch natürlich sollst du! Ich lüge nie!“ Ein ironisches Lachen von Gary ließ Green vermuten, dass dies wohl kaum der Wahrheit entsprach und auch Green hob zweifelnd die Augenbraue. Doch Silver überhörte es gekonnt und fuhr fort, als wäre nichts geschehen: „Aber wir müssen ja nichts überstürzen, wir haben ja jetzt Zeit.“ „Wie, wir haben jetzt Zeit?“, wiederholte die Wächterin zögernd und sah dabei eher zu Gary, als wäre das plötzlich alles seine Schuld. Dieser schien sich der Schuld bewusst zu sein, denn er drehte sich weg, scheinbar beschämt über sich selbst. Gerade als Green dies hinterfragen wollte, packte Silver ihre Hände und verkündete: „Ab heute wohne ich nebenan! Ich werde bei Blue einziehen.“ „W-Wie bitte?!“, entfuhr es Green während sie beide zweifelnd an sah; der eine grinste wie ein kleines Kind, der andere schlug sich die Hand an die Stirn, scheinbar weniger darüber erfreut. „Ja! Ist das nicht toll?! Jetzt können wir zusammen zu Abend essen, zur Schule gehen, Nachhause gehen, Hausaufgaben machen … und ich kann dich von der Aufrichtigkeit meiner Gefühle überzeugen!“ Zum Glück wurde sein Wortschwall unterbrochen, denn Greens Glöckchen strahlte in diesem Moment auf und umgehend sprang Silver alarmiert zurück, doch er war nicht der Grund, weshalb das Glöckchen aufstrahlte. „Ein Dämon ist in der Nähe.“ Alle sahen zu Gary, der dies gesagt hatte, Silver scheinbar darüber erleichtert, dass es nicht er war, auf den das Glöckchen reagiert hatte. Trotz seiner ersten nervösen Reaktion war er der Erste, der kampfbereit war, obwohl niemand gefragt hatte, ob er mitkommen wollte: „Oh yeah, time for some action!“, sagte Silver erfreut und war schon drauf und dran loszusprinten, während Green die kurze Ablenkung nutzte, um ihr Wort an Pink zu richten: „Sag, Pink, warum hat das Glöckchen eigentlich weder auf Gary noch auf Silver reagiert?“ Verwundert wurde sie angesehen, scheinbar war Pink das gar nicht aufgefallen und scheinbar wusste sie auch keine Antwort, weshalb Green ihr auf die Sprünge helfen wollte: „Ist es, weil sie Halbdämonen sind?“ Das schien Klick zu machen bei Pink, denn sie antwortete: „Nein, damit kann das nichts zu tun haben.“ „Mit was dann?“ „Vielleicht weil dein Unterbewusstsein merkt, dass … aber das kann doch eigentlich nicht sein?“ „Komm, Green-chan, Dämonen warten nicht!“, unterbrach Silver nicht nur ihr Gespräch, sondern auch ihre Handlung, denn im Nullkommanichts hatte er sie auf seine Arme gehoben und statt mit ihr aus der Tür zu stürmen, rannte er zu ihrem Balkon, öffnete die Glasschiebetür und es gelang Green gerade noch Garys wütende Stimme zu hören und den Mund zu öffnen, ehe Silver vom Balkon heruntersprang und damit aus dem siebten Stockwerk. Die junge Wächterin spürte, wie ihre Haare vom Wind durchgewirbelt wurden und verzweifelt klammerte sich Green an Silver, presste die Augen zusammen und fluchte, als könne sie dies vor dem harten Asphalt bewahren. Es gelang ihr nicht einmal, sich Gedanken um ihren Tod zu machen, als es schon vorbei war: Silver landete elegant auf dem Boden und ließ Green herunter, die ihn mit zitternden Beinen und mit offenem Mund anstarrte, aber keinen Ton herausbrachte, so dass Silver mit einem Zwinkern erläuterte: „Dämonen können fliegen, Green-chan.“ „…Aha.“ „SILVER!“ Gary tauchte neben den beiden auf, scheinbar hatte er die Treppe genommen, denn er schien ziemlich aus der Puste zu sein, als er seinen Bruder anklagend ansah, wie es nur ein großer Bruder tun konnte, während Silver aussah, wie nur ein kleiner Bruder aussehen konnte, der gerade etwas Verbotenes getan hatte. „Wir sind hier nicht in unserer Heimat oder in irgendeiner Provinz! Das hier ist Tokio, eine Metropole mit mehr als 8.400.000 Einwohnern auf einer Fläche von gerade mal 600 km², mit einer Bevölkerungsdichte von um die 13.000 Einwohnern pro Quadratkilometer - da kannst du doch nicht ernsthaft annehmen, dass kein Mensch dich entdecken würde, wenn du am helllichten Tag fliegst!“ Silver sah zu Green, die ihn auch ansah, beide mit einem Grinsen auf dem Gesicht. „Ist er nicht ein verdammter Spießer?“, fragte Silver und Green ergänzte: „Nicht zu vergessen: ein elender Streber!“ Beide kicherten, als sie erkannten, wie gleich gesinnt sie gedacht hatten, bis Green sich plötzlich wieder bewusst wurde, was sie da eigentlich tat und sich von ihm abwandte. „Wie schön, dass ihr euch da einig seid“, bemerkte Gary eher säuerlich, ehe Pinks laute Stimme mühelos vom Balkon zu hören war: „Green-chan! Warte, ich komme mit!“ „Nein, Pink, nein, bleib oben! Wir schaffen das schon alleine! Leg dich lieber ins Bett!“ „Aber, Green-chan! Das sind doch auch Dämonen! Bist du dir sicher, dass …“ „Mach dir keine Sorgen, Pink! Du darfst auch die Schokolade haben, die im ...“ Und schon war Pink nicht mehr zu sehen, da sie wahrscheinlich die Küche unsicher machte.     Der Dämon befand sich in deren unmittelbarer Gegend – etwas, was Gary als beunruhigenden Faktor charakterisierte, doch weder Silver noch Green lauschten seinen warnenden Worten.  Silver war dafür zu aufgeregt, fieberte dem Kämpfen entgegen und meinte schon nach Garys zweitem Satz, dass er solcherlei Warnungen bereits gewohnt sei, da sein Bruder immer Tendenzen dazu hatte, ihm den Spaß zu ruinieren – man solle doch einfach nicht hinhören, wie er Green erzählte, als kenne sie Gary nicht selbst schon lange genug. Es war mehr als offensichtlich, dass Silver sehr darauf erpicht war, irgendwie mit ihr ins Gespräch zu kommen, doch Green blockte seine Versuche mit einer lässigen Kälte ab, genauso wie seinen Vorschlag, dass er sie doch tragen könne. Was war sie denn – eine Prinzessin, die nicht alleine gehen konnte? Er sollte sich bessere Möglichkeiten zum Schleimen ausdenken, wenn er unbedingt wieder bei ihr punkten wollte. Ihr Ziel hatten sie bereits gesichtet, doch scheinbar war es nicht von der mutigen Art, denn es floh, sobald Green auch nur ihren Stab umgewandelt hatte. Ohne auf die Proteste seiner neuen Mitstreiter zu achten, hatte Silver kurzerhand das Kommando übernommen und zur Verfolgung des Feiglings angesetzt, welche nun plötzlich auf den Dächern Tokios stattfand, denn ihr Feind war eilig in die Lüfte gestiegen – und somit auch Silver, welcher sich die überraschte Green geschnappt hatte und die Verfolgung aufnahm. Gary gefiel diese Verfolgungsjagd natürlich absolut nicht, immerhin hatte er vor wenigen Minuten erst mahnend die Stimme erhoben. Sein Widerspruch verklang jedoch schnell in der kühlen Mittagsluft, denn Silver hatte einen Affenzahn drauf, was es Green nicht einmal ermöglichte, die Tatsache zu genießen, dass es ihr vergönnt war, durch die Lüfte zu sausen. Dieser Schnelligkeit war es zu verdanken, dass sie den Flüchtling schnell eingeholt hatten und Silver hatte nicht im Sinn, auf Garys Rat zu hören, dass sie ihn erst angreifen sollten, wenn er sich außerhalb des Stadtzentrums befand. „Feiglinge sollten bestraft werden!“, sagte der Rotschopf, als Green schon spürte, dass er eine Hand von ihrem Körper löste (was ihr gar nicht gefiel bei einer Höhe von mehr als zweihundert Metern), um abermals die Attacke einzusetzen, mit der er bereits deren letzten Gegner ausgelöscht hatte. Green sah nicht, wie der schwarze Blitz den Dämon vom Himmel herunter holte, sondern hörte nur den Knall des Aufpralls und bemerkte sogleich, wie ihre Füße den festen Boden wieder zurückbekamen. „So, Green-chan“, sagte Silver, während er Greens Rock glatt strich, von deren Feind überhaupt keine Notiz nehmend, der sich unter Schmerzen wieder aufrichtete. „Jetzt siehst du einem Profi bei der Arbeit zu!“ Ehe es Green gelang zu antworten, war Gary bereits hinzugekommen und übernahm für Green das Antworten: „Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ Der große Bruder kam allerdings nicht dazu seine Empörung über den Kampfort, der auf einem der vielen Hochhäuser von Tokio stattfand, preiszugeben, denn der dritte Dämon hatte anscheinend etwas dagegen: Mit seinen Klauen holte er aus, um einen der drei zu erwischen, doch diese sprangen in verschiedene Richtungen und im gleichen Moment, wo Green bewusst wurde, dass deren Gegner es mal wieder nur auf sie abgesehen hatte, bemerkte sie, dass deren Gegner anscheinend nicht nur enorm lange Gliedmaßen besaß, sondern auch in der Lage war, diese aufzulösen. Kaum als seine Faust auf den Beton des Hochhauses aufschlug und den Boden zum Erzittern brachte, löste diese sich in wabbelnden schwarzen Rauch auf, was seine Schnelligkeit erhöhte, denn kaum hatte seine Faust sich aufgelöst, war sie abermals bereit Green anzugreifen, welcher es nur mit Müh und Not gelang, auszuweichen. Doch das war nicht der einzige Vorteil, wie sich schnell herausstellte, als Silver ihn ein weiteres Mal mit seinem Blitzangriff attackierte: Der Dämon löste sich auf, als die Attacke ihn traf, und materialisierte sich geradewegs hinter Green, welche gerade noch seinen Schatten sah, ehe Gary sie gewaltsam aus der Schusslinie stieß. Beide fielen zu Boden, jedoch einige Meter von dem Einschlagsloch des Dämons entfernt. Green lag auf dem Betonboden, während er beinahe auf sie fiel. Doch keiner der beiden nahm von dieser etwas ungünstigen Position Notiz: Gary richtete sich sofort wieder auf, und während Green ihren Stab wieder zu sich holte, da sie ihn kurz aus der Hand verloren hatte, schrie Gary Silver Folgendes zu: „Benutz zur Abwechslung bitte mal dein Gehirn!“ Doch Silver hörte nicht hin, er war zu sehr damit beschäftigt, Spaß zu haben. Das Gute daran war, dass dieser Spaß den Dämon ablenkte, denn er ging auf seine Kosten: Silver war wohl aufgegangen, dass es nichts brachte, den Dämon direkt anzugreifen, also machte er sich einen Spaß daraus, um ihn herum zu springen wie ein zu groß geratener Gummiball. Dabei wich er geschickt den Attacken des Feindes aus, nicht nur, indem er um ihn herum sprang, sondern auch auf den Dämon drauf, was des Öfteren dazu führte, dass dieser sich selbst attackierte, da Silver einfach zu schnell war, um von ihm erwischt zu werden. Einen wirklichen Sinn konnte man dahinter allerdings nicht erkennen, denn obwohl der Dämon sich selbst angriff, fügte er sich keinen sichtbaren Schaden zu, da die gerammten Stellen sich einfach wieder in schwarze Substanz auflösten. Nichtsdestotrotz hatte Silver eindeutig Spaß. „Er ist wirklich sehr athletisch“, konstatierte Green. „Ein verdammtes Spielkind ist er!“, fluchte Gary ärgerlich und wandte sich dann an Green, die ihren Stab mit beiden Händen festhielt und gebannt Silvers Schauspiel beobachtete. Als sie jedoch Garys Blick bemerkte, drehte sie sich zu ihm herum. „Wir müssen die Strategie ändern, beziehungsweise erst einmal eine aufstellen“, fing Gary entschlossen an und fuhr sogleich fort: „Es bringt nichts, wenn wir ihn angreifen; die einzigen Attacken, die effektiv sind, sind deine. Im letzten Kampf hast du keinen „Light Spirit“ eingesetzt, du müsstest also ohne Probleme einen ausführen können. Ich nehme an, dass eine Attacke ausreichen wird, falls du einen Volltreffer landen kannst. Solange Silver ihn ablenkt, wird das kein Problem darstellen.“ Green warf einen kurzen Blick auf die Leiste ihres Stabes, was bestätigte, dass sie wirklich noch genug weiße Magie übrig hatte, um einen „Light Spirit“ einzusetzen. „In Ordnung, das wird zu schaffen sein“, antwortete Green mit einem selbstsicheren Nicken und sah sich schon nach einem geeigneten Ort um, von dem sie Anlauf nehmen konnte, wobei ihr etwas einfiel und sie sich sofort wieder herumdrehte: „Aber ich werde dabei sicherlich auch Silver treffen. Es ist unmöglich ihn nicht zu treffen, wenn er herumspringt wie ein wildgewordener Flummi.“ „Kümmer du dich um einen Platz, von dem du angreifen kannst und ich sorge dafür, dass er nicht in der Schusslinie ist.“ „Aber, Gary, schau dich mal um: wir sind auf einem Hochhaus, die einzige Erhöhung ist das Treppenhaus und ich sehe schon von Weitem, dass ich nicht genug Anlauf nehmen kann und außerdem fliege ich wahrscheinlich herunter vom Druck der Attacke. Ein „Darklightning“ wäre etwas anderes …“ „Gut, Planänderung“, sagte Gary erschöpft, doch konzentrierte sich sofort wieder, während Silver weiterhin Spaß hatte. Der Boden erzitterte des Öfteren und Green fragte sich langsam nervös, wie lange sie hier noch unbehelligt bleiben würden und wie lange das Gebäude noch standhielt: Ein umstürzendes Hochhaus mitten in Tokio war vielleicht nicht gerade wünschenswert ... erst recht nicht, wenn sich darin Leute befanden. „Ich habe eine Idee“, sagte Gary und sah Green an, welche seinen ernsten Blick fragend erwiderte. „Aber sie ist riskant und du musst mir vertrauen.“ „Ich muss dir … vertrauen?“ Green sprach das letzte Wort aus, als wäre es ein Fremdwort für sie. Vielleicht war es das auch; vielleicht war die Gabe des Vertrauens sogar fremd für sie. Sie hatte noch nie jemandem so richtig vertraut … sie hatte immer nur sich selbst und ihren eigenen Fähigkeiten vertraut. Und jetzt verlangte gerade Gary, dass sie ihm vertrauen sollte? Gerade ihm, den sie die längste Zeit deren Beziehung auf dem Tod nicht ausstehen konnte? Gerade ihm sollte sie vertrauen, auch noch in so einer bedrohlichen Situation?  „Green, es eilt.“ Von Garys Stimme aus ihren Gedanken gerissen, sah Green auf und traf seine dunkelgrünen Augen und ohne noch einmal darüber nachzudenken, sagte sie plötzlich: „Okay! Lass es uns angehen!“ Und schon im nächsten Moment bereute Green es und fragte sich, was sie da eigentlich tat. Sie wollte die eben gesagten Worte zurücknehmen, ehe sie ihren Satz abgeschlossen hatte, doch war das bereits zu spät, denn Gary bemerkte ihre eigentlichen Beklemmungen nicht: „Gut“, antwortete Gary, der natürlich nicht ahnte, welche Ehre ihm zuteilwurde. Er konnte nicht wissen, dass er die erste Person war, der Green vertraute und welche Bedeutung dies hatte. „Dann gib mir deine Hand.“ Kaum hatte er dies gesagt, streckte er schon seine Hand aus, welche Green einen Moment schweigend ansah, während es vor ihnen wieder krachte und donnerte. „Kurze Erklärung, da wir nicht mehr viel Zeit haben: Ich werde mit dir hochfliegen und dich in einer Höhe von 35 Metern fallen lassen, woraufhin du deinen „Light Spirit“ einsetzen wirst und ich dafür sorge, dass Silver aus der Schusslinie ist.“ Green nickte zögerlich und kaum, dass sie das getan hatte, hatte er auch schon ihre Hand ergriffen, sie zu sich gezogen und auf die Arme gehoben, als würde sie nichts wiegen. Erst als sie in die kalte Abendluft hinauf stiegen, wurde sie augenblicklich bleich: „… fallen lassen?!“, wiederholte sie fassungslos, denn sie konnte nicht glauben, dass das erste Mal, dass sie jemanden vertraute, zu so etwas missbraucht wurde. „Vertrau mir.“ „Fallen lassen?! Du hast nicht gesagt, dass das Vertrauen tödlich endet!“ „Wenn man die Strategie anzweifelt, ist das kein Vertrauen, Green“, antwortete Gary sachlich auf Greens etwas panischen Tonfall, fügte jedoch noch hinzu, dass sie sich bereit machen sollte, denn sie hatten die geeignete Höhe erreicht. Die junge Wächterin starrte ihn ungläubig an und man konnte ihr anmerken, dass sie mit sich selbst rang, da sie ihm eigentlich widersprechen wollte. Statt es jedoch zu tun, sagte sie schnippisch, aber doch ziemlich nervös: „Ich warne dich, falls ich hier bei sterbe, werde ich dich aus dem Reich der Toten heimsuchen!“ Mit diesen Worten aktivierten sich die Leisten von Greens Stab und im gleichen Moment, in dem dieser zu leuchten begann, ließ Gary Green fallen. Greens erste Intuition war panisch zu schreien, doch sie widerstand dieser Versuchung und entfesselte ihre Attacke: „SPIRIT  OF LIGHT!“ Die weiße Leiste ihres Stabes leerte sich mit einem Zug, bündelte die aufgesogene Energie in dem Glöckchen, welches an der Spitze des Stabes angebracht war, damit eben diese wie ein Torpedo strahlenförmig abgeschossen werden konnte und in sein Ziel traf. Mit voller Wucht hatte der Strahl von Greens Attacke den Dämon getroffen und ausgelöscht, doch ehe dies geschah, hörte Green mit halbem Ohr wie Gary irgendetwas rief und kaum eine halbe Sekunde später kam ihr Fall zu einem Ende. „Gut gemacht, Green-chan!“ Ungläubig öffnete die Angesprochene zögerlich die Augen und fand sich in den Armen von Silver wieder, der sie kurz vor dem drohenden Aufprall aufgefangen hatte und nun erfreut grinste, als er sie absetzte. Doch kaum, dass ihre Füße den Boden berührten, gaben diese erst einmal nach und sie sackte auf den Betonboden, ihre Kraft fand sie jedoch schnell wieder, als Gary sich zu den beiden gesellte. „Du hast also damit gerechnet, dass er mich auffangen würde?! Was ist, wenn er genau in diesem Moment weggeguckt hätte?“ Gary wies diese Anklage sofort zurück: „Egal wie unzuverlässig Silver ist, ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann.“ Der Rotschopf lachte über diese Bemerkung und gab seinem Bruder einen Knuff in die rechte Schulter. „Wir sind eben ein gutes Team, Aniki!“ „Wir sind ein effektives Team, ob wir ein gutes sind, ist eine andere Frage.“ Sofort schwand Silvers Lächeln. „Was soll das denn heißen?“ „Ich erinnere dich nur an die Mission in Ägypten, dann weißt du, was ich meine.“ „Warum musst du immer auf alten Kamellen rumhacken!“ „Du hast um eine Ausführung gebeten.“ „Das war nicht meine Schuld und das weißt du ganz genau! Das Problem war …“         Während die beiden so langsam anfingen sich zu streiten, blieb Green auf dem Boden hocken, sich nicht darum scherend, dass ihre Schuluniform so schmutzig wurde. Dem Streit der beiden Brüder lauschte sie nur mit halbem Ohr: zu erschöpft war sie. Nicht direkt vom Kampf, sondern von ihrem Lebenswandel. Erschöpft, aber gleichzeitig auch mit einem wohligen Gefühl der Freude, nein, es war beinahe schon viel mehr als nur Freude. Diese Freude galt nicht ihrem Überleben sondern kam daher, dass sie stolz auf sich war, dass sie jemandem zum ersten Mal in ihrem Leben vertraut hatte und dass sie diese Tat nicht zu bereuen hatte. Irgendwie war dieser Gedanke läppisch, immerhin vertrauten alle Menschen mehr oder weniger, doch für Green war es ein Grund, um stolz auf sich zu sein – besonders nachdem sie ihre „Menschenkenntnisse“, auch wenn es sich hier um Dämonen handelte, bereits verloren geglaubt hatte, nachdem Silver sie so enttäuscht hatte und sie auch auf sich selbst wütend gewesen war. Gerade als sie aufstehen wollte, sah sie eine Hand vor ihrem Gesicht und bemerkte, dass diese Silver gehörte. „Komm, ich helfe dir“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, doch Green lehnte ab, nicht ruppig oder ärgerlich, sondern mit einem leichten Grinsen. „Ich kann schon selbst aufstehen.“ Mit diesen Worten tat sie das auch und bemerkte dabei, dass sein Blick auf ihr ruhte; ein Blick, den sie nicht ganz nachvollziehen konnte. Es war ein zufriedener Blick, als hätte er etwas bestätigt bekommen, was ihn erfreute. „Ich habe dir vorhin nicht gesagt, warum ich meine Meinung geändert habe“, sagte er plötzlich hier auf dem Dach eines Hochhauses, welches nun dringend eine Renovierung nötig hatte. „Ich habe mich geirrt. Du bist stark, Green-chan.“ Green errötete ein wenig über dieses Kompliment und war froh, dass sie so schmutzig war, so konnte er die Färbung wenigstens nicht sehen. „Deswegen bin ich in dich verliebt. Du bist die Erste, die bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat und du wirst auch die Erste sein, um die ich kämpfen werde. Und glaub mir, Green-chan, ich bin sehr hartnäckig.“ Sie seufzte, aber nicht unbedingt genervt, sondern eher geschmeichelt. „Es bringt nichts, es dir ausreden zu wollen, oder?“ Er schüttelte den Kopf; auch er war schmutzig, wie Green auffiel. „Ich liebe dich nicht, aber …“, sagte Green und atmete tief durch, sich bewusst, dass sie eigentlich zu voreilig war, aber sie konnte einfach nicht anders: „Ich würde dich dennoch gerne wieder „Sibi“ nennen.“ Überrascht sah er sie an, doch dies hielt nicht lange, ehe sich seine Lippen zuerst zu einem Lächeln formten und dann zu einem erfreuten Grinsen. „Es wäre mir eine Freude!“     Keiner der drei bemerkte es. Sie bemerkten weder die magische, auf dem Boden erschienene Linie, die sie übertraten, noch achteten sie auf ihre Armbanduhren, deren Zeit für die Dauer des Kampfes stehen geblieben war und die nun plötzlich weiter lief, sobald sie die Linie passiert hatten. Zu sehr beeilten sie sich, sich vom Kampfesort zu entfernen, denn Gary ermahnte sie dringend, dass sie verschwinden sollten, ehe jemand kommen würde – als Einziger war er natürlich skeptisch darüber, dass sie so oder so noch nicht bemerkt worden waren, immerhin waren die Attacken seines Bruders nicht sonderlich unauffällig und in dem Hochhaus, dessen Dach sie nun ramponiert hatten, befanden sich Büros. Doch obwohl er sich wunderte, kamen seine skeptischen Gedanken nicht in die Nähe der Wahrheit. Und so kam er auch nicht auf die Idee, dass sie wohlmöglich beobachtet wurden. „Ich kann den Verdacht bestätigen, dass sich eine Wächterin mit dem Feind verbündet hat. Ich wiederhole: Ich bestätige den Verdacht des Kriegsverrates!“                             Fertiggestellt: 08.11.09         Kapitel 9: Der Freundschaftsrabatt ---------------------------------- Es war für Green früher ganz normal gewesen, die freien Sonntage mit ihrer Ziehfamilie zu verbringen; wenn diese sich denn in Japan aufhielt, denn die Minazaiis waren in der Welt zu Hause. Doch nun war es ein merkwürdiges Gefühl sich in dem pompösen Haus der Minazaiis aufzuhalten und das, obwohl sie mehrere Jahre unter diesen teuren Decken gelebt hatte und nach wie vor noch jeden Winkel des gewaltigen Hauses kannte. Es war auch nicht das Haus, welches sich ihrer Kenntnis entzog, es waren viel eher seine Bewohner, die auf einmal befremdlich auf sie wirkten, obwohl sie sie eigentlich kennen sollte. Sie konnte nicht genau sagen, woher das Gefühl stammte… doch sie fühlte sich fremd, als würde sie nicht mehr zu dieser normalen menschlichen Welt gehören. Kaum, dass Green dies beim Frühstück dachte, verdrängte sie den Gedanken sofort wieder – sie war immer noch ein Mensch, egal, wie Pink sie nennen mochte. Die Familie der Minazaii war eine große, fast nur aus Frauen bestehende Familie, welche überall auf der Welt verteilt war. Die zwei jüngsten Geschwister, die Zwillinge Minako und Hinako, gingen beide auf ein Internat in England, während die ein Jahr ältere Schwester von Sho, Fumiki, Wirtschaftsökonomie in den Vereinigten Staaten studierte und die Älteste war in Italien als Informatikstudentin zu Hause. Wenn die Eltern nicht mit ihrer Softwarefirma beschäftigt waren, flogen sie auf der Welt umher, um ihre Mädchen zu besuchen; wie auch an diesem Sonntag, an welchem Akiko, die Mutter der Mädchen und Greens Adoptionsmutter, mal wieder in Japan war, um Sho – und Green, zu besuchen. Sie war alleine gekommen und würde auch nach dem Frühstück wieder fliegen, denn sie müsse einen Auftrag in China unter Dach und Fach bringen, wie sie es so schön formulierte. Im gleichen Atemzug erzählte sie ihren beiden Töchtern, dass sie erst im neuen Jahr wieder in Japan sein würde, denn sie würde Weihnachten bei Fumiki in den Vereinigten Staaten verbringen. „Ihr könnt natürlich beide mitkommen“, sagte Akiko und legte ihre Stäbchen beiseite, während Green unruhig auf ihrem Sitzkissen hin und her rutschte; die Tatsache, dass sie im japanischen Teil des Anwesens frühstückten, verfluchend: Sie mochte es nicht auf Knien zu sitzen, schon gar nicht beim Essen. Obwohl sie nun schon so viele Jahre in Japan lebte, fiel es ihr einige Male wirklich schwer, sich mit der japanischen Tradition und Kultur zu identifizieren, so gerne sie es auch wollte. Zum Glück bemerkten weder Sho noch Akiko Greens inneres Stöhnen über die Sitzposition, denn sie wollte nicht, dass man auf sie Rücksicht nahm, immerhin hatte sie ihr altes Land und die damit verbundene Kultur hinter sich gelassen. „Ach was, Ka-san, Green und ich bekommen schon ein alleine ein Weihnachtsfest auf die Beine gestellt. Da musst du dir gar keine Sorgen machen!“ Als Sho dies verkündete, sah Green sie skeptisch von der Seite an, die Essstäbchen noch im Mund habend: Von diesen Plänen hatte sie aber bis jetzt noch nichts gehört und sie wusste auch nicht gerade, ob sie so begeistert war von dieser Idee. Irgendwie witterte sie, dass Sho etwas Bestimmtes damit bezweckte. „Ihr beide alleine an Weihnachten?“, begann Akiko, sie beide misstrauisch ansehend, obwohl es deutlich war, dass das Misstrauen eher Sho galt, denn natürlich kannte sie ihre Tochter genauso, wie auch Green es tat: „Was hast du vor, Shoyoki?“ Breit grinste das Mädchen und lehnte sich rüber zu Green, wo sie ihre Hände auf ihre Schultern legte: „Nichts als ein schönes Weihnachtsfest!“ „Du weißt, dass James über die Feiertage frei hat, nicht wahr, Shoyoki?“ Über die Einwände, dass sie keinen Butler hätte, der sie über die Feiertage hinweg würde umsorgen können, lachte Sho nur; was Green noch skeptischer machte, denn die Kochkünste ihrer Adoptivschwester reichten vom Gefrierschrank bis zur Mikrowelle. „Das macht gar nichts; ich bin mir sicher, dass Green uns schon was Feines herzaubern wird.“ „Kein Männerbesuch.“ Akiko hatte natürlich sofort ins Schwarze getroffen, wie ein peinliches Schweigen umgehend bewies. Dennoch beeilte sich Sho, alle unausgesprochenen Vorwürfe von sich zu schieben und ihrer Mutter zu versichern, dass sie nichts derlei im Sinn hatte. Akiko glaubte ihr nicht; aber als Green ihrer Adoptivmutter ihr Wort gab, dass sie schon auf Sho aufpassen würde, vertraute sie darauf. „Es gibt da noch etwas, was ich mit euch besprechen möchte“, wechselte Akiko nun das Thema lächelnd: „Hinako wird euch ein halbes Jahr lang besuchen, da sie hier ein halbes Jahr als Austauschstudentin bleiben wird. Sie hätte ihr Auslandsstudium natürlich auch woanders machen können, aber sie hat gesagt, sie würde ihr Heimatland vermissen – und euch natürlich.“ Da konnte Green nur von Gegenseitigkeit sprechen, denn Hinako, oder eher Firey, wie sie von Green und Sho aufgrund ihres hitzigen Temperaments genannt wurde, war von den vielen anderen Minazaii-Schwestern die einzige, mit der Green einen engeren Kontakt hatte und daher freute sie sich über diese Nachricht. Besonders als Akiko verkündete, dass Firey bereits zu Weihnachten kommen würde – und dass sie natürlich auf ihre jüngere Schwester aufpassen sollten. „Bei uns ist Firey in den besten Händen überhaupt!“   Der Fahrstuhl war mal wieder kaputt – dieses Schild verspottete Green, als sie in die kleine Eingangshalle ihres Wohnblocks gelangte, nachdem sie sich von der Familie Minazaii verabschiedet hatte. Dank ihrer Sportlichkeit kam sie nicht aus der Puste, als sie die sieben Stockwerke hinter sich ließ, die sie zu der Etage führten, auf welcher sich ihre Wohnung befand – wo sie bereits erwartet wurde: „Sibi! Was machst du denn hier?“ Der Rotschopf lehnte mit seinen Ellenbogen am Treppengeländer und grinste sie erfreut von oben an, während Green die letzten Stufen nahm, um auf der siebten Etage anzukommen. „Ach, mir war nach dem Umzug langweilig und da dachte ich mir, dass ich hier auf dich warte.“ Für einen Moment wusste Green nicht, wovon er sprach, bis ihr wieder einfiel, dass der Rotschopf ja am Vortag verkündet hatte, dass er von nun an bei seinem Bruder gleich neben ihr wohnen würde. „Ihr seid ja ganz schön schnell – und das, obwohl der Fahrstuhl kaputt ist. Oder habt ihr den etwa auf dem Gewissen?“ Siberu grinste unschuldig und hob erklärend den Zeigefinger, welchen er hin und her bewegte als er antwortete: „Green-chan, mache niemals den Fehler und unterschätze uns Dämonen. So ein kleiner, mickriger Umzug ist doch überhaupt kein Problem für uns!“ „Ich hatte total vergessen, dass du nun neben mir wohnen wirst“, erwiderte Green gleichgültig klingend und ohne auf seine Worte einzugehen: es machte viel zu viel Spaß ihn zu ärgern und es gelang ihr offensichtlich auch, denn Siberu sah ein wenig beleidigt aus. Sich davon allerdings nicht beeindrucken lassend entgegnete er grinsend, dass sie nun herrlich viel Zeit miteinander verbringen könnten – sie könnten diese wunderschöne Zeit ja gleich mit Eisessengehen einläuten lassen. Doch Green lehnte umgehend etwas kühl ab: „Bild dir nicht zu viel darauf ein, dass ich dich wieder „Sibi“ nenne. Das bedeutet nämlich nicht, dass ich mich wieder auf dich einlasse.“ Obwohl ihr Blick ungerührt war, brachte es Siberus Grinsen nicht zum Erfrieren – stattdessen verformte es sich zu einem schalkhaften, selbstsicheren Lächeln. „Alles andere wäre ja auch langweilig.“ Greens Stirn runzelte sich vorsichtig, doch dieser Ausdruck hielt nicht lange, ehe er einem überraschten wich, als Siberu plötzlich beide Arme um ihren Körper schlang, um die verwirrte Wächterin stürmisch an sich zu drücken. Doch bevor er diese liebende Geste mit Worten untermalen konnte, öffnete sich die ihnen am nahesten gelegene Tür. „Werden wir die Nachhilfe heute im Treppenhaus abhalten?“ Hastig wimmelte Green sich Siberu vom Leib, ein wenig errötend, denn sie wollte nicht, dass Gary oder irgendjemand anderes auf die Idee kam, dass sie nichts aus ihrer Lektion mit dem Rotschopf gelernt hatte. Doch so schnell ließ sich Siberu nicht abwimmeln und schon schob er Green förmlich in die Wohnung der beiden, unter dem augenrollenden Blick seines großen Bruders, da ihm natürlich klar war, dass Siberu sich herzlich wenig für die Nachhilfe Greens interessierte. „Soll ich dich herumführen?“, fragte er euphorisch, während die Wächterin ihre Schuhe auszog und in blaue Hausschuhe schlüpfte. „Sibi, diese Wohnung ist genauso aufgebaut wie meine; da gibt es wohl kaum etwas zum Zeigen. Außerdem war ich hier schon mal.“ Sofort schielte Siberu seinen Bruder anklagend von der Seite an und grinste: „Ach, mein Aniki hatte Mädchenbesuch?“ Den kleinen Anflug von Röte verdrängend ignorierte Gary Siberus neckischen Kommentar, indem er ihn darauf hinwies, dass er doch nun bitte in sein Zimmer verschwinden möge, damit sie sich der Nachhilfe widmen konnten: „Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass du an Algebra interessiert bist.“ „Nein, nicht wirklich. Aber Green-chan kann ja zum Abendessen bleiben!“ „Welches Abendessen denn?“, fragte Gary seinen kleinen Bruder verwundert, doch sofort wurde sein Blick misstrauisch: „Wenn du glaubst, nur weil wir jetzt zusammen hier leben, dass ich dich dann bekoche, dann liegst du falsch. Für deine Ernährung bist du selbst zuständig.“ „Als ob ich etwas von dir essen würde! Du kannst doch gar nicht kochen. Wahrscheinlich hast du die ganze Zeit von Instantnudelsuppe und Sandwiches gelebt.“ Der leichte Anflug von verräterischer Röte auf Garys Gesicht sagte Green, dass Siberu mit dieser Vermutung gar nicht so falsch lag. „Nein, ich meinte natürlich, dass Green-chan was kocht. Du hast mir doch erzählt, dass du gut kochen kannst, oder, Green-chan? Du hast mich neugierig gemacht! Jetzt möchte ich mich auch selbst davon überzeugen.“ Absolut hart und ohne rot zu werden, antwortete Green im vollen Ernst: „Ja, ich kann kochen. Gegen Bezahlung.“ Es war unglaublich, wie ruhig sie bei solchen Worten aussehen konnte, obwohl sie eigentlich ziemlich vermessen waren – besonders in Anbetracht dessen, dass Gary keine Bezahlung für seinen Nachhilfeunterricht nahm. Eben dieser Gedanke schoss ihm in diesem Moment durch den Kopf; vielleicht sollte er es sich doch noch mal überlegen, ob er nicht doch eine geldliche Entlohnung für seinen Unterricht verlangen sollte. „Und? Wie viel würdest du haben wollen?“ Die falsche Frage, fand Gary, denn für Green schien es ein Geschäftsgespräch zu sein: „Ich nehme 2000 Yen pro Stunde. Die Ingredienzen müsst ihr jedoch selbst bezahlen.“ „Das ist ja Wucher!“, entfuhr es Gary empört: „Dafür kann ich ja beinahe fein essen gehen!“ Unschuldig zuckte Green mit den Schultern und erwiderte mit einem ebenso unschuldigen Lächeln: „Meine Kochkünste sind dem Preis angepasst, denn ich habe mich auf jeden Fall nicht von Instantnudeln ernährt!“ Sie grinste breit, als sie sah, wie Gary wieder rot wurde, worauf Siberu seinerseits nicht achtete, denn dieser war dabei, Green um einen Freundschaftsrabatt anzubetteln: „Freundschaftsrabatt?“, wiederholte Green mit einer ehrlichen Verwunderung: „Seit wann sind wir denn Freunde?“, schmollend zog Siberu die Unterlippe hoch und es war schwer auszumachen, ob er nun wirklich verletzt war von Greens Worten oder ob er nur so tat als ob. Zu einer Antwort kam er allerdings nicht, denn Gary beschloss, dass er auf dieses Thema keine Lust mehr hatte und fand, dass es nun wirklich an der Zeit war, mit der Nachhilfe anzufangen; obwohl er sich eingestehen musste, dass seine Lust darauf nun kräftig in den Keller gerasselt war. „Ich denke, wir sollten langsam anfangen, Green. Silver, gehst du nun bitte?“     Pink besaß kein Eigenkapital – was Green schon ziemlich verwundert hatte, immerhin hatte Pink sie doch mit einem Diamantenarmband erpresst, aber offensichtlich stammte dieses nicht aus irgendeiner unerschöpflichen Quelle und so müsste Pink sich eigentlich glücklich schätzen, dass Green sie umsonst bei sich wohnen ließ. Green musste sich selbst auch immer wieder dazu bringen nicht über die Extraausgaben nachzudenken, denn diese würden sie womöglich noch davon abbringen, den guten Samariter zu spielen. Wenn sie Pink allerdings ansah und sich vorstellte, wie dieses kleine Mädchen alleine klarkommen sollte, wenn Green sie rauswarf, dann wurde ihr schnell klar, dass sie gar keine andere Wahl hatte. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie Pink verwöhnte. Das Zimmer, in welchem Pink nun lebte, hatte Green vorher nicht gebraucht und so war es ziemlich kahl und leer. Ein Bett stand nun darin und das waren eigentlich auch die Grenzen von Greens Mitgefühl, immerhin glaubte sie nicht, dass sie das für Pink ausgegebene Geld jemals wiedersehen würde. Doch Pink schien es auch gar nicht so wirklich zu interessieren und das bis jetzt recht leere Zimmer war für sie ohne Belang, denn ihr Herz quellte beinahe über vor Freude. Der Grund für diese ekstatischen Gefühle war die Tatsache, dass Green ihr neben dem Bett doch noch etwas geschenkt hatte: Als Green von ihrer Klassenreise zurückgekehrt war, hatte sie ihrer kleinen Mitbewohnerin ein Geschenk mitgebracht. Pink kannte den genauen Grund für das Geschenk nicht; ihr war auch nicht bewusst, wie glücklich sie sich schätzen musste, dass Green ihr ein Geschenk gemacht hatte, denn alles, was sie interessierte war, dass sie ein 30cm großes HelloKitty-Plüschtier ihr Eigen nennen konnte. Es war nun schon eine Weile her, dass Green ihr dieses Geschenk gemacht hatte, dennoch bereitete das kleine Kätzchen ihr nach wie vor eine enorme Freude und sie konnte das Plüschtier gar nicht oft genug quietschend an sich drücken. Sie saß zusammen mit eben diesem Plüschtier, liebend von ihr Hellokitty-chan genannt, auf ihrem Bett und sprach mit ihm, als könnte es ihr auf irgendeine Art eine Antwort geben. Doch plötzlich verstummte Pink, mitten in der Frage, ob sie ihr nicht Schokolade holen sollte, denn sie würde doch gerne mit ihr teilen. Der Gedanke an Schokolade war jedoch schnell verflogen und horchend legte Pink den Kopf in den Nacken, während sie ihre Augen schloss und dabei Hellokitty-chan in ihre Arme nahm. Einige Sekunden verharrte sie in dieser Position, bis sie ihr Wort wieder an ihr Plüschtier richtete: „Hast du das auch gehört, Hellokitty-chan?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stand Pink zusammen mit ihr vom Bett auf und schritt direkt auf das Fenster zu, welches sie entschlossen öffnete, um sich samt Hellokitty-chan über die Fensterbank zu lehnen. Sie hang mehr schlecht als recht und hätte Green gesehen, wie Pink sich beinahe aus dem Fenster hangelte, hätte sie sie alarmiert vom Fenster weggezerrt. Doch es war niemand da, der Pink hätte vom Fenster wegbringen können – nur der stumme und tatenlose Zuschauer namens Hellokitty-chan, welcher nun nur noch fester gedrückt wurde und wäre es eine echte Katze, so hätte sie jetzt wohl nach Luft geschnappt. „Ich glaube ... Hellokitty-chan, ich glaube, nein, ich bin mir sicher! Was sagst du? Ich soll Green-chan Bescheid sagen? Ja! Ja, das glaube ich auch!“ Umgehend war das Fenster komplett uninteressant und Pink aus dem Zimmer gerannt. Die Haustür wurde aufgeschlagen und schon hämmerte Pink an der Haustür der Nachbarn, immerhin wusste sie, wo ihre Mitwächterin sich in diesem Moment aufhielt. Ein sichtlich verwirrter Siberu öffnete ihr die Tür, doch es gelang ihm nicht, seine Verwunderung über Pinks plötzlichen Besuch in Worte zu fassen, ehe sie sämtliche Höflichkeit ignorierte und sich energisch an ihm vorbeidrängte. Seinen empörten Ausruf hörte sie nicht, da sie direkt auf die verwunderte Green zustürmte, die Hände auf den niedrigen Tisch abstützend, wo Green und Gary saßen und sich mit Algebra beschäftigten. Doch bevor sie sagen konnte, was ihr so dringend das Herz belastete, kam Green ihr zuvor: „Keine Sorge, Pink – das Glöckchen hat nicht reagiert. Das Einzige, was es im Moment zu bekämpfen gibt, sind diese Formeln.“ Sie lachte unbeschwert und machte einen Wink zu ihrer Kladde, doch Pink überzeugten diese Worte nicht und ihre Entschlossenheit brachte es ebenfalls nicht ins Wanken, was Gary sofort skeptisch machte. „Ich kann auch keine anderen magischen Auren spüren außer unseren eigenen“, mischte sich nun auch Siberu mit einem genervten Tonfall ein, obwohl man deutlich aus seinen Worten heraushören konnte, dass sich auch eine leichte Vorfreude auf einen eventuellen Kampf unter der Oberfläche seiner Ärgernis verbarg. „Aber es ist wahr!“, begann Pink nun stürmisch, das Plüschtier fest an sich drückend: „Hellokitty-chan und ich haben es beide deutlich gespürt und wir spüren es auch noch immer!“ „Also sorry, Pinkylein, aber ich glaube nicht, dass du besser darin bist, Auren zu erspüren, als wir“, spottete Siberu mit einem herablassenden Selbstbewusstsein, welches Gary nicht teilte, immerhin hatte er bereits einmal deutlich vor Augen geführt bekommen, dass Pink ein ausgeprägteres Gespür für Auren hatte als er – und offensichtlich auch als sein kleiner Bruder und Greens Glöckchen. Daher war er auch der Einzige, der die kleine Pink ernst nahm und bereits dabei war, seine Bücher zusammenzupacken. „Wo befindet sich der Dämon, Pink?“ Alle drei sahen ihn verwundert an, doch aus verschiedenen Gründen, wie sich schnell herausstellte. Pink vergrub ihr Gesicht beinahe in ihrem Plüschtier, doch ihren Schmollmund konnte es dennoch nicht verbergen: „Ich bin hier, um Green-chan zu holen ... und nur Green-chan!“ Diese mischte sich nun sofort ein: „Pink, ich gehe nicht ohne die beiden.“ „Aber das sind auch Dämonen! Die können dir weh tun!“ „Also ich tue Green-chan gewiss nicht weh!“ Green wählte Siberus Einwurf zu überhören, immerhin hatte das vor gut einer Woche noch gänzlich anders ausgesehen. Doch diese Tatsache änderte nichts daran, dass sie nicht gegen irgendeinen Dämon in den Kampf ziehen würde, ohne die beiden an ihrer Seite zu haben. Drei waren immer besser als nur ein Kämpfer und obendrein waren die Zwei eindeutig besser als sie – und wenn Halbdämonen ihre Überlebenschance erhöhten, konnte sie auch über deren Dämonenblut hinwegsehen. „Pink, die beiden sind mir eine Hilfe. Und solange der andere Dämon im Endeffekt tot ist, ist doch alles in Ordnung, oder?“ „Aber ich kann dir auch helfen! Du brauchst die doch gar nicht! Ich und Hellokitty-chan werden dich mit aller Macht beschützen!“ Wenn Green nicht bereits an Pinks Kompetenz gezweifelt hatte, dann tat sie es spätestens nach diesem letzten Satz. Dennoch kam sie nicht drum herum, von Pinks Enthusiasmus gerührt zu sein und daher lächelte sie mitfühlend, als sie ihrer Mitbewohnerin die Hände auf die Schulter legte. „Im Ernst, Pink; ich finde das ja wirklich total süß von dir, aber... Ich glaube in den Händen von Sibi und Gary bin ich besser aufgehoben.“ Diese Worte schockierten das kleine Mädchen offensichtlich maßlos; sie taumelte sogar rückwärts, als hätte Green sie geschlagen. Es sah sogar danach aus, als würde sie sich weinend abwenden wollen, doch während Gary das ganze Szenario eher skeptisch beobachtete, beschloss Siberu nun, sich einzumischen: Freundschaftlich platzierte er seine Hand auf Pinks Schulter und zwinkerte sie grinsend an, als sie schockiert zu ihm aufsah: „Keine Sorge, Pink-chan – Aniki und ich passen schon auf Green-chan auf, das ist doch unsere heilige Aufgabe!“ Sowohl Gary als auch Green hoben bei dieser Formulierung zweifelnd die Augenbrauen, doch beide kommentierten sie nicht, denn es schien, dass eben diese Wortwahl bei Pink tiefen Eindruck hinterließ und sie gab sogar nach: „Aber ich werde mitkommen! Ich und Hellokitty-chan werden darauf aufpassen, ob ihr eure heilige Aufgabe auch ja erfüllt!“     Wie oft sie ihr auch versicherten, dass Green schon nichts zustoßen würde, so war es komplett unmöglich, Pink von ihrem Vorhaben abzubringen; sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie eine Hilfe sein könnte; nicht nur, um den Dämon zu finden, sondern auch, um ihn zu besiegen.   „Pink, wenn du uns hingebracht hast, versteck dich bitte-“ Green gelang es nicht einmal, ihren Satz zu Ende zu bringen, da schüttelte Pink schon vehement den Kopf und das, obwohl sie schon fast angekommen waren, was jetzt nicht nur die beiden Halbdämonen spürten, sondern Green auch schon anhand ihres Glöckchens hören konnte. Deutlich demonstrierte der Kampfort, wie ausgeprägt Pinks Gefühl für Auren war, denn er befand sich weit außerhalb Tokios, was nicht nur Green überraschte, sondern auch die beiden Brüder. Besonders Siberu war so gar nicht darüber erfreut, dass so jemand wie Pink besser darin sein sollte, Auren zu erspüren; Gary verwunderte es viel mehr als dass er sich gekränkt fühlte. Pink hatte ihnen in Tokio in etwa die Richtung sagen können, von wo aus sie den Dämon spürte –  den genauen Standpunkt konnte sie allerdings nicht festlegen. Sie spürte nur, dass er sich weit weg im Osten befände, sagte sie. Gary war ja eigentlich gegen das Teleportieren, doch schnell stellte sich heraus, dass ihnen gar keine Möglichkeit übrig blieb: Zuerst landeten sie, noch innerhalb Tokios, 30 km östlich in Katsushika. Doch Pink hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und ihnen so mitgeteilt, dass sie noch nicht weit genug östlich waren – also teleportierten sie sich weitere 30 km gen Osten, nun außerhalb Tokios, wo man bereits deutlich spürte, wie sehr Siberu daran zweifelte, dass Pink überhaupt irgendwie einen Dämon ausfindig machen konnte, immerhin reagierte das Feingefühl der beiden Halbdämonen nicht im Geringsten und Greens Glöckchen ebenfalls nicht. Dennoch unternahmen sie noch einen weiteren Versuch, denn Pink wollte sich nicht davon abbringen lassen, dass sie einen Dämon spürte – und beim nächsten Versuch, nun definitiv auf dem Land, reagierten endlich auch die anderen auf eine dämonische Aura. Doch das Licht des Glöckchens war schwach; er war noch nicht besonders nah. „Wisst ihr, was ich merkwürdig finde?“, fragte Green, während sie durch das kniehohe Gras wanderten, welches alte, schon längst unbenutzte Schienen überwucherte: „…dass die Dämonen immer alle zu warten scheinen. Ich meine, wie viel Zeit ist vergangen, seitdem Pink die Aura gespürt hat? 20 Minuten?“ Unglaublich, sich vorzustellen, dass sie so viele Kilometer in so kurzer Zeit hinter sich gelassen hatten: Der Lärm der Metropole Tokios war hier nicht einmal mehr zu erahnen. Es war kalt, da es bereits Richtung Abend ging; es war kurz nach 16 Uhr und die Wintersonne hing kurz über dem Horizont, ihre glühenden Strahlen reichten noch knapp über die Baumkronen, wo sie langsam verschluckt wurden. Die morgendlichen Schneewolken hatten sich verzogen und gaben einer wahren Farbenpracht Raum, sich auf dem Himmel zu entfalten.  Es war ein wunderschöner Abendhimmel, doch der Wind, der ihnen ins Gesicht wehte, war kühl und verriet, dass der Winter nah war. „Das kann ich dir leicht erklären, Green-chan!“, grinste Siberu, der nun plötzlich vor ihr aufgetaucht war und nun gekonnt rückwärtsging; ohne dabei über die Holzbalken der Schienen zu stolpern. „Weil wir Dämonen nun einmal alle kämpfen wollen; am besten natürlich gegen einen starken Gegner. Gegen Menschen zu kämpfen ist natürlich nicht so abwechslungsreich – sie haben einen anderen Unterhaltungswert.“ Sofort bemerkte Siberu, dass dies vielleicht nicht die besten Worte waren, um bei Green zu punkten und so beeilte er sich, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen: „Aber natürlich nicht für mich; ich rede natürlich von den anderen Dämonen! Ich habe an so etwas natürlich keinen Spaß; natürlich nicht.“ Obwohl Greens ungläubiges Gesicht wahrscheinlich schon Antwort genug war, öffnete sie dennoch den Mund, um ihre Zweifel an Siberus Worten auszudrücken. Sie kam allerdings nicht dazu, denn Pink, die auf den alten Schienen mit ausgestreckten Armen balancierte, kam ihr dazwischen: „Hab ich‘s dir nicht gesagt, Green-chan!? Dämonen sind alle nur gemein! Total gemein!“ Einen Moment lang wirkte Siberu so, als hätte er das Bedürfnis, Pink ihr Plüschtier grausam entreißen zu wollen, welches sie trotz aller Proteste der anderen drei mitgenommen hatte. Es war sicher in ihrem Hellokittygeformten-Rucksack verstaut, doch da ihr Plüschtier eine Größe von 30 Zentimeter besaß, hing der Kopf aus der Tasche heraus und Green konnte nichts dagegen tun, dass dieser Anblick doch ein wenig befremdlich auf sie wirkte: ein Hellokitty-Plüschtier in einem Hellokitty-Rucksack. Es sah ein wenig so aus, als würde das eine Kätzchen das andere verschlingen. Doch die beinahe schon gemütlich wirkende Schlendertour war schnell vorüber, was Gary noch eher bemerkte, als dass Green realisierte, dass ihr Glöckchen nun an Intensivität gewonnen hatte. Er war vor den anderen gegangen und stoppte nun abrupt, womit Siberu, der nach wie vor rückwärtsgegangen war, nun gegen ihn prallte: „Hey! Kannst du denn nicht aufpassen--“, beschwerte der Rotschopf sich sofort, obwohl es eigentlich eher an Gary lag, sich über das Verhalten seines Bruders zu ärgern, doch er hörte die Proteste seines Bruders nicht, da er sich nun an Green wandte, die einige Meter hinter ihnen zum Stillstand gekommen war: „Du solltest deine Waffe zücken.“ Auf diese Idee war die Angesprochene bereits selbst gekommen, denn das Schreien des Glöckchens wurde von Sekunde zu Sekunde lauter: Bedeutete das, dass der Dämon plötzlich auf dem Weg zu ihnen war? Es gelang dem Glöckchen noch in allerletzter Sekunde, sich zu verwandeln – der Stab leuchtete sogar noch – als ein heftiger Windstoß ihre Haare in den Himmel fegte, als ein, wie Green aus den Augenwinkeln heraus zu erkennen glaubte, zwergenhafter Gegenstand durch die kleine Gruppe hindurchraste. „Haha! Das ist wohl ein ganz Schneller, was?“, ertönte Siberus Stimme, welche erwartungsvoll, aber auch herausfordernd klang. Green wollte sich umdrehen, denn dort vermutete sie, dass der Dämon sich befinden würde, doch schon hatte Gary ihr Handgelenk gepackt und brachte sie ziemlich unsanft zum Rennen, indem er sie ruppig hinter sich herzerrte, während Siberu sich breitgrinsend Pink schnappte und sie sich kurzerhand auf den Rücken warf, als wäre sie nichts weiter als ein Gepäckstück und obwohl er ein Mädchen auf dem Rücken hatte, überholte er Gary und Green in Windeseile. Es war offensichtlich, dass Siberu gerade mit seiner Schnelligkeit angeben wollte, als Pink an einer für ihn recht ungünstigen Stelle Halt fand; an seinen Haaren - und die wütende Reaktion folgte sofort: „Lässt du wohl sofort meine Haare los?!“   Green wollte über ihre Schulter hinweg zurücksehen, um endlich zu erfahren, weshalb sie plötzlich so Hals über Kopf die Flucht ergriffen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, nicht über die Holzbalken der Schienen zu stolpern – lange musste sie sich darüber allerdings keine Gedanken mehr machen, denn plötzlich endete ihr Weg. Es ging bergab. Die drei Rennenden setzten zum Sprung an, Pink klammerte sich förmlich an die roten Haare Siberus und schon sprangen sie mehr oder weniger gleichzeitig den abwärtsgehenden Hügel herunter – in letzter Sekunde, wie sich schnell herausstellte, als eben über ihren Köpfen eine Feuersalve hinwegfegte. „HelloKitty-chan! Ich glaube, HelloKitty-chan brennt!“ Keiner der anderen drei interessierte sich für das Kuscheltier, als sie unsanft wieder landeten und sich sofort herum wandten; Siberu und Gary sofort Angriffsposition einnehmend, das Weinen Pinks nicht beachtend, die, während sie noch auf Siberus Schultern hockte, die verkohlten Ohren ihres Kuscheltieres beweinte. Doch ihr feuriger Gegner befand sich nicht mehr lange auf der oberen Hälfte des Hügels, wie sich schnell herausstellte, als der Boden plötzlich von einem Einschlag erschüttert wurde und hastig drehten sie sich ein weiteres Mal herum – um einen Augenblick lang erstaunt innezuhalten, denn ihr Gegner war nicht das, was sie erwartet hatten. Fünf Meter von ihnen entfernt hatte der Dämon einen kreisförmigen Krater entstehen lassen; ein Dämon, der aussah wie ein roter Fußball; mit derselben Größe. „Was … ist das denn?“, fragte Green skeptisch, ihren Stab mit beiden Händen an sich drückend, obwohl sie nichts Gefährliches an dem kleinen, kugelförmigen Dämonen entdecken konnte, außer dass Qualm von ihm aufstieg. Ihre beiden männlichen Begleiter schienen mit diesem absonderlichen Bild ebenfalls nichts anfangen zu können und auch ihre Augenbrauen hoben sich argwöhnisch, als zwei kleine Stummelärmchen aus dem roten Leib des winzigen Dämons hervor ploppten wie Blätter aus einer sprießenden Blume. Diese kleinen Stummelärmchen benutzte es auch sofort, um seine überdimensionalen gelben Augen zu reiben, als hätte es Schlaf darin. Kaum, dass es seine Kulleraugen geöffnet hatte, spürte Siberu auf einmal, wie Pink sich erwartungsvoll vorbeugte und ihre aufgeregte Kinderstimme unterbrach endlich die angespannte Stille: „Ouuuu, ist es nicht süß!?“ Süß? Deutlich stand den drei anderen ins Gesicht geschrieben, dass sie den kleinen Kullerdämonen nicht sonderlich süß fanden, doch die Stimme Pinks hatte die Stille gebrochen und als wäre Gary sich erst jetzt bewusst geworden, dass sie sich ja mitten in einem Kampf befanden und dass dieses kleine Wesen, egal wie „süß“ es angeblich aussah, sie gerade noch zu Asche verwandeln wollte. Hektisch wandte er sich an seinen Bruder: „Kannst du mit dessen Schnelligkeit mithalten?“ Die Antwort folgte wie aus der Pistole geschossen: „Aber natürlich kann ich das!“, entgegnete Siberu mit gekränktem Stolz: „Solche kleinen Viecher hänge ich doch zum Morgentraining ab! Während du in der Schule deine Zeit vergeudet hast, habe ich nämlich weiter trainiert! Also sieh zu und staune!“ Siberu wollte gerade losstürmen, als ihm schnell bewusst wurde, dass seine Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt war von einem Mädchen, welches ihre strahlenden Augen gar nicht von den kleinen Dämonen abwenden konnte, welcher sich nach wie vor die Augen rieb. „Allerdings kann ich nur etwas beweisen, wenn-“ In diesem Moment sprangen sie bereits auseinander, denn der Dämon hatte seine Putzarbeit hinter sich gebracht und schoss wie eine brennende Fackel durch sie hindurch. Schreiend stürzte Pink zu Boden, wo auch Green landete, da Gary sie in der letzten Sekunde beiseite gestoßen hatte – grob, aber gerettet. Die Wächterin wollte sich eben wieder aufrichten, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, dass das Viech stattdessen Garys Schulter gestreift hatte und die Hitze des kleinen Körpers hatte seine Jacke im Nu versengt. „Gary, du bist ja verle-“ „Green-chan, pass auf!“ Es war Pink, die ihr das zurief, doch zu spät und so begriff Green erst einige Sekunden später, dass die brennende Kugel senkrecht auf sie herunter gestürzt wäre und obwohl sie ihren Stab bereits gezogen hatte, wäre es ihr nicht gelungen, den pfeilschnellen Angriff abzuwehren, wäre Siberu nicht von der rechten Seite aus angesprungen gekommen, mit einem ausgestreckten linken Bein, welches den Dämon genau in der Mitte traf und ihn davon schleuderte wie einen brennenden Fußball.   „Hahahahaha! Wer ist nun der Schnellste, ha!?“ Triumphierend landete Siberu nehmen Green, welche sich nun aufgerichtet hatte und angriffsbereit beobachtete, wie der Dämon sich 20 Meter von ihnen entfernt aus den Trümmern eines alten Bahnhofsgebäudes befreite. „Silver!“, rief Gary, der Pink aufgeholfen hatte, seinem Bruder entgegen: „Du musst ihn dazu bringen stehen zu bleiben, damit Green ihn treffen kann! Ansonsten ist er zu schnell!“ „Alles klar, überlasst mir das Vorspiel! Green-chan, halt dich bereit!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, flitzte Siberu schon los; geschickt über die vielen Schienen springend und dabei athletisch das verrostete Schild, welches Gleis 2 markierte, als Sprungbrett benutzend, womit er einer weiteren Feuersalve des kleinen Dämons talentiert entging, um ihn von oben anzugreifen: Seine Hand sowie sein damit verbundener Unterarm leuchteten jäh in einem gefährlich wirkenden schwarzen Licht auf. Wie ein angreifendes Tier spreizte Siberu die Finger seiner linken Hand; richtete sie gegen den kugelförmigen Dämon und – er verschwand. „Achtung! Ich glau-“ Siberu gelang es nicht, seine Vermutung auszusprechen, was mit dem Dämon passiert war und dieses Mal war es Green, die den Angriff abwehrte; allerdings nicht ohne die Hilfe von Gary, welcher schnell bemerkt hatte, dass der Dämon sich 15 Meter von ihnen entfernt aus Glutfunken neu herzubilden schien. Kaum, dass er seine ursprüngliche Form wiedererlangt hatte, schoss er abermals brennend auf die Drei zu, wobei es deutlich war, dass er es auf Pink abgesehen hatte – doch er hatte die Rechnung ohne Green gemacht und die Form ihres Stabes schien die perfekte Ergänzung zur Form des Dämons zu sein: Anstatt ihn wie gewöhnlich mit einer Hand zu halten, platzierte sie nun beide Hände auf dem blanken Material, wie sie vor wenigen Tagen den Baseball-Schläger im Sportunterricht gehalten hatte. Allerdings ließ der Dämon ihr keine Zeit sich auf den Schlag vorzubereiten, und als er tatsächlich gegen ihren Stab prallte, verlor Green aufgrund der Kraft und Schnelligkeit des Dämons beinahe das Gleichgewicht. Doch sie hielt die Balance, indem sie ihre Füße in den Sand grub und auf ihre Magie zurückgriff: „DARKLIGHTNING!“ Die aufstrahlende Magie gab ihr genug Schwung, dass sie den kleinen Dämon zurückschleudern konnte. Sie hatte ein Lob für ihre beherzte Aktion erwartet und musste auch sagen, dass sie doch recht stolz war, als sie deren Gegner in einen alten Schuppen knallen sah, doch Gary war von ihrer Tat nicht so begeistert: „Bist du denn wahnsinnig, deine Magie für so etwas Dummes zu verschwenden?! Schau dir doch mal deine Leisten an! Mit einem „Darklightning“ wirst du ihn nicht besiegen können und nun reicht die übriggebliebene Magie nicht mehr für einen „Lightspirit“! Ohne eine solche Attacke werden wir ihn nicht besiegen können!“ „Wieso?“, antwortete Green ärgerlich: „Ich klau mir einfach neue Magie von ihm und wandle die um…“ „Ach, und du glaubst, du kannst Feuer mit deinem Stab aufnehmen?!“ Dem hatte Green in der Tat nichts entgegenzusetzen, doch sie schwieg, denn sie wollte den Vorwürfen Garys nicht zustimmen: Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. „Jetzt ich! Jetzt ich!“ Die beiden vergaßen ihre Auseinandersetzung sofort, als sie entsetzt sahen, wie Pink dem Dämon doch tatsächlich entgegen lief: angriffslustig und von den Taten der anderen angespornt, nun ebenfalls etwas zu tun. „Aber Pink kann doch gar nicht angreifen … Green, was machst du de–“ Doch Green hörte die überraschten Worte Garys nicht, entging seiner nach ihr greifenden Hand und interessierte sich auch überhaupt nicht für die Frage, wie Pink auf die Idee kam, den Dämon nun auch angreifen zu wollen, obwohl ihre Magie gar nicht dafür ausgelegt war; wie sie ihr doch selbst erzählt hatte.   Fakt war, sie kam auf diese Idee und ein anderer Fakt war, dass der Dämon sich bereits wieder gesammelt hatte und nun waagerecht brennend auf sie zujagte.   „PINK!“   Doch weder die Stimme Greens noch sie selbst erreichten Pink rechtzeitig; im gleichen Moment, wie das kleine Mädchen die Hand hob, um ihre Magie anzuwenden, wurde ihr beherzter Mut ihr zum Verhängnis, denn sie war schlichtweg nicht schnell genug. Mit einer unbarmherzigen Härte rammte die feurige Kugel Pinks Torso und nur eine klitzekleine Sekunde lang sah Green Pinks schmerzentstelltes Gesicht, bevor sie von der Wucht des Aufpralls direkt an ihr vorbeigeschleudert wurde. Green überlegte nicht. Sie drehte sich auf den Absätzen herum und stürmte sofort panisch los; auf das Mädchen zu, welches auf den Schienen gelandet war und nun in einer Grube zwischen den Holzbalken lag; unbeweglich, bis auf die vereinzelt auf ihrem Oberkörper tänzelnden Flämmchen. Gary rief ihr etwas zu, doch es wurde von den Ohren der rennenden Wächterin nicht gehört und genauso wenig bemerkte sie, wie die Luft um sie herum zu brennen begann und sie sah auch nicht, wie Gary, nun da er bemerkt hatte, dass Green für die Gefahr blind und für seine warnenden Worte taub war, zum Rennen angesetzt hatte. Unterbewusst musste sie jedoch bemerkt haben, dass Gefahr im Verzug war, denn mit sich beschleunigtem Atem und pochenden Herzen setzte sie zum Sprung an und warf sich so über die reglose Pink, um sie vor der nächsten feurigen Attacke zu beschützen und die Flämmchen auf ihrem Oberkörper mit einer Handvoll Sand zu ersticken. In diesem kritischen Moment hatte sie keine Sekunde darüber nachgedacht, dass sie eine Waffe in der Hand hielt – oder, dass es sie nun ebenfalls treffen würde. Es hätte sie wohl beide in Asche verwandelt, denn die Attacke war von einem weitaus größeren Kaliber als die anderen und die flammende Feuerwand hätte die beiden im Sand liegenden Mädchen eingeäschert, hätten die beiden Dämonenbrüder nicht im letzten Moment eingegriffen. Zwar war Siberu weiter weg gewesen als sein großer Bruder, doch seiner Schnelligkeit hatte er es zu verdanken, dass er ihn noch auf halbem Weg überholt hatte und auf seinen Bruder vertrauend eilte er den beiden Mädchen zu Hilfe, indem er sich nun ebenfalls auf sie warf, um sie mit seinem Körper zu beschützen – an der Zerstörungswut der Feuerwand hätte dies wahrscheinlich nichts geändert, doch auch wenn es Gary nicht gelang, rechtzeitig anzukommen, so streckte er, ähnlich wie Siberu es vor einigen Minuten ebenfalls getan hatte, die schwarzleuchtende Hand aus, spreizte seine Finger bis zum Anschlag und sammelte die drei mittleren Finger – als wäre dies das Kommando gewesen, schoss ein dünner Strahl bestehend aus Schwärze auf den Dämon zu und traf diesen genau, wie Gary es vorausgesehen hatte; nämlich so, dass die Schusslinie der Flammenwand verschoben wurde und den Himmel in Brand steckte. Kaum, dass Gary seine Hand wieder senkte, hastete er von Angst gelähmt auf sie zu; mit den Gedanken allein bei der Frage, wie es seinem Bruder ging. „Silver!? Silver, geht es dir gut?!“ Der Dämon ließ sich diese Einmischung allerdings nicht gefallen und kaum, dass das Feuer als Glut hinabnieselte, verschwand das kleine Wesen wieder – um hinter Gary aufzutauchen. „Aniki! Achtung!“, rief Siberu seinem Bruder zu, kaum, dass er sich wieder aufgerichtet hatte – doch zu spät. Gary war einen Moment zu sehr von seiner Sorge abgelenkt gewesen, als dass er schnell genug gehandelt hätte, um den Flammen des Dämons auszuweichen. Mit geschockten Augen wandte er sich herum, welche sich sogar weiteten, als er sah, was ihn davor bewahrte, verkohlt zu werden: eine pinkleuchtende Wand. Der Halbdämon wollte seinen Augen nicht trauen, doch Green wusste, dass es wahr war, denn sie sah, wie Pink schmerzverzerrt und unter offensichtlich größter Anstrengung ihre Hand einige Zentimeter erhoben hatte, um Gary vor den sengenden Flammen zu schützen. Auch wenn Gary es kaum glauben konnte, prallten die Flammen an der Wand ab und wurden an den Dämon zurückgeschickt. Dies wäre wahrscheinlich der perfekte Moment für Green gewesen, ihm den Garaus zu machen, doch sie befand sich nach wie vor noch über Pink, weshalb es ihr nicht gelang, diese Chance auszunutzen. Außerdem bemerkte sie in dem Moment, als Siberu ihr schnell auf die Beine half, dass Gary recht gehabt hatte: Die weiße Leiste, welche sie für den „Light Spirit“ benötigte, war komplett leer. „Aber Green-chan …“, begann Pink mit schwächelnder Stimme, als Green ihr nun aufhalf und sie dabei besorgt musterte; doch darauf achtete das kleine Mädchen nicht, denn für sie waren die Leisten von Greens Waffe wichtiger: „Du…“ Sie hustete und einen Moment lang schwankte sie auch, als wäre sie kurz davor umzustürzen, hätte Green sie nicht besorgt gestützt. „…hast doch… zwei Dämonen an deiner Seite. Die können doch deine Leisten… aufladen.“ Green warf den beiden Halbdämonen einen unsicheren Blick zu, wobei sie bemerkte, dass Gary bereits über die Idee nachzudenken schien: „Im Prinzip müsste das möglich sein. Unsere Magie ist die gleiche der anderen Dämonen.“  Noch ehe Green etwas dazu sagen konnte, hatte der feindliche Dämon sich bereits wieder aufgerappelt; wieder wollte er sie angreifen, doch dieses Mal war Siberu schneller. Sich bewusst, dass der Dämon Green verfolgen würde, schnappte er sich kurzerhand die Wächterin und nahm sie Huckepack – und Tatsache. Kaum, dass der Rotschopf einige Meter mit der überraschten Green gerannt war, verfolgte die kleine Kugel sie bereits. Dennoch wandte Siberu sich noch einmal seinem Bruder zu: „Warte an Gleis 1!“ Es waren nicht viele Worte. Doch die beiden Brüder brauchten nicht viele Worte, um sich zu verstehen. Bevor Gary in die andere Richtung rennen konnte, zum Gleis 1, welches gut 200 Meter von ihnen entfernt lag, wandte er sich pflichtbewusst an die angreifbar stehende Pink, doch sie kam ihm zuvor, denn obwohl ihr Körper mitgenommen war, brannte ein entschlossenes Feuer in ihren Augen. „Mach dir keine Sorgen; er wird mich nicht nochmal angreifen, er will doch nur Green-chan!“ Nicht im Sinn habend zu widersprechen nickte Gary und rannte los: allerdings nicht, ohne ihr versichern zu müssen, dass er auf Green aufpassen würde. Diese Aufgabe war nun Siberu zuteil. Dieser flitzte geschwind über die Schienen, ohne Probleme mit der relativ engen Lauffläche von knapp 15 Zentimeter zu haben, dabei immer wieder den brennenden Flammenstrahlen des Gegners ausweichend, welche in einem schnellen Rhythmus immer wieder vom Himmel herunterschossen; den Dämon allerdings verlangsamten, da er für diese immer wieder Luft holen musste. Dies war ein Glück für die Laufenden, denn natürlich war Siberu auch mit Green nicht so schnell, wie er es ohne sie gewesen wäre. „Entschuldige, dass ich dich nicht trage, wie es sich für einen Gentleman gehört, Green-chan!“, sagte er plötzlich, als müsste er sich gar nicht auf seine Schritte oder seine Umgebung konzentrieren; anders als die Angesprochene, welche den Kopf beständig über ihre Schulter hinweg erhoben hatte, um den Dämon im Auge behalten zu können. „Du weißt, ich würde dich gerne anders tragen, aber ich brauche meine Hände.“ Green wusste nicht, was sie antworten sollte; sie hatte momentan andere Probleme, als sich darüber zu pikieren, wie sie getragen wurde. Es war ihr eigentlich auch ziemlich egal, Hauptsache er ließ sie nicht fallen und dafür würde sie schon selbst sorgen, denn anders als Pink hatte Green sofort problemlos ihre langen Beine um Siberus Oberkörper geschlungen, sowie ihre Arme um seinen Hals. Sie waren eindeutig zu schnell, als dass Green es herausfordern wollte, in diesem Tempo herunterzustürzen; entweder würde sie sich das Genick brechen oder sie würde zu Asche verwandelt werden. Als sie sich jedoch vom wütenden Dämon abwandte und Siberus roten Hinterkopf verwundert ansah, bemerkte sie plötzlich etwas; einige seiner Haarspitzen waren verbrannt. Bei jedem anderen wäre dies vielleicht nichts Besonderes gewesen, doch bei Siberu war es das; seine roten Haare waren sein Ein und Alles und er hatte sie für sie aufs Spiel gesetzt – auch seine Kleidung war an einigen Stellen verbrannt und zeigte blutige Brandwunden. Die Feuerwand, die der Dämon vor einigen Minuten auf sie abgefeuert hatte und die Gary noch in letzter Sekunde von ihnen abgelenkt hatte, hatte Siberu dennoch gestreift. Lebensgefährlich war er nicht verletzt, aber er hätte sterben können, wenn Gary nichts getan hätte. Ohne zu zögern, hatte Siberu sich über sie geworfen, um sie zu beschützen. Green wollte etwas sagen; doch die Dankesworte, die sie in diesem Moment hätte sagen müssen, die sie sagen wollte, blieben ihr im Hals stecken – und im Fahrtwind. „Halt dich gut fest, Green-chan!“ Diese Warnung kam wahrlich genau rechtzeitig, ansonsten wäre Green wahrscheinlich wirklich heruntergestürzt, denn Siberu sprang plötzlich geschickt über den Stopper, als wäre es nichts anderes als ein Bock. Anstatt jedoch gleich wieder mit beiden Füßen auf den Boden zu landen, machte er in der Luft einen Salto. Verwirrt sah der Dämon sich um und entdeckte Siberu nun hinter sich, auf dem Dach von Gleis 2, wo er allerdings nicht auf seinen Verfolger gewartet hatte, sondern gleich weiter gerannt war. „Green-chan, ich werde mich gleich zum Gleis 1 teleportieren, und wenn ich „Jetzt!“ sage, streckst du deinen Stab senkrecht aus, in Ordnung?“ Greens Stimme war selbstbewusst, als sie ihm versicherte, dass sie bereit sei, denn ihr war klar, was er vorhatte. Doch obwohl sie sich bewusst war, was geschehen würde, presste sie die Augen zusammen, als Siberu sie nach wenigen Sekunden der Konzentration auf die entgegengesetzte Seite teleportierte. Dort verlor Green keine Zeit, und obwohl ihr ein wenig unwohl dabei war, einen Arm von Siberus Hals zu lösen, tat sie es dennoch; festigte ihren Griff um ihren Stab, wie sie es früher in mittelalterlichen Speerkämpfen getan hatten und genau so sah sie aus der Ferne auch, wie Gary auf sie zurannte, die schwarz glühende Hand allerdings hinter sich – um sie erst im letzten Moment, einige wenige Meter von den beiden entfernt, vor sich auszustrecken. Und genau wie in den alten Speerkämpfen trafen sie sich auch: die dunkle Magie Garys und das weiß leuchtende Glöckchen Greens, welche triumphierend verkündete, dass die Magie ausgereicht hatte, um ihre weiße Leiste zu füllen. „Super!“, jubelte Siberu erfreut und verkündete sofort: „Uns ist das kleine Mistviech auch dicht auf den Fersen; ich werde mich mal von dir trennen, denn ich möchte kein Licht in meine Wunden bekommen! Du hast nur eine Chance!“ Green war sich bewusst, dass sie nur eine Chance hatte, denn der Dämon war bereits zu nah, als dass sie es sich erlauben konnte, zwei Mal zu versuchen, ihn zu treffen – auch wenn sie jetzt noch genug Energie für eine zweite Attacke gehabt hätte. Die nächsten Schritte gingen Schlag auf Schlag: Siberu machte eine Vollbremsung und schneller als man gucken konnte, war er auch schon verschwunden, Green vorher natürlich herunterlassend. Diese, nun mit beiden Füßen fest auf dem alten Holzdach, funkelte dem heransausenden Dämon kampfbereit entgegen, dabei allerdings ein Grinsen nicht verbergen könnend, denn obwohl ihr bewusst war, dass dies ihre einzige Chance war, wusste sie, dass es gelingen würde. Sie wusste nicht warum. Aber in diesem Moment, wo sie alle von Brandwunden übersät, alle außer Puste waren und sie alle dem Tod von der Schippe gesprungen waren, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Dieses Gefühl war so überwältigend, dass sie beinahe lachend ihre Beschwörung gerufen hätte, doch ihre Stimme war felsenfest, als sie die heiligen Worte in den Winterhimmel rief: „SPIRIT OF LIGHT!“     Gegen die vielen Brandwunden war schnell ein Mittel gefunden – kaum, dass sie siegestrunken wieder in Tokio angekommen waren, offenbarte Gary ihnen, dass er einen kleinen Medizinschrank hatte, welcher mit allerlei Mittelchen gefüllt war; dabei das Kommentar Greens überhörend, dass er allerdings kein Mittel gegen eine ganz normale Grippe besaß. Das besaß er wirklich nicht, wie er ein wenig schmachvoll zugab, dafür aber etwas gegen Brandwunden und durch Feuer entstandenen Verletzungen im Allgemeinen. Jedoch kein normales, sondern ein Mittel aus der Dämonenwelt, wo man sich, laut Siberu, wohl öfter die Finger oder mehr verbrannte. Ausgerüstet mit diesem Mittel saß Green nun zusammen mit Pink und ihrem Kuscheltier in ihrem Zimmer, denn Pink hatte kurzerhand verkündet, dass die beiden Mädchen sich gegenseitig die geleeartige Creme auftragen würden, während die beiden Brüder sich behilflich sein würden. Green musste zugeben, dass sie doch ein wenig überrascht war, wie schnell Pink ohne sich zu genieren ihr Oberteil auszog und sich gekleidet in einem mitgenommenen Unterhemd vor Green aufs Bett setzte. So lange kannten sie sich immerhin noch nicht… aber wenn die Wächterin genauer darüber nachdachte, sollte sie sich wohl nicht darüber wundern; Pink hatte nun schon mehrere Male ihr Leben gerettet, da sollte so etwas wohl kaum ein Problem sein. Green presste ein wenig aus der Tube, während sie Pink sagte, dass sie sich herumwenden sollte, damit sie ihr die Schultern und den Rücken eincremen konnte, denn als das Feuer sie frontal getroffen hatte, hatte das Feuer sich auch zu ihrer Schulter hochgearbeitet. Zum Glück hatten sie es schnell genug gelöscht, bevor Schlimmeres passiert war. Green wollte gerade anfangen mit dem Auftragen, als sie plötzlich schockiert innehielt: auf Pinks Rücken befanden sich Narben; Narben, die aussahen wie die Überreste von Schnittwunden. Stammten die von ihren bisherigen Kämpfen? Nein, das konnte nicht sein, die Dämonen gegen die sie gekämpft hatten, hätten solche Narben nicht hinterlassen können. Außerdem schienen sie älter zu sein und … Green konnte sich nicht von dem Gedanken abbringen lassen, dass die Narben aussahen, als würden sie von Fäden stammen. So unauffällig wie möglich, dabei sorgsam die Brandwunden ihrer kleinen Freundin versorgend, beugte Green sich so vor, dass sie auch ihren Oberkörper sehen konnte und tatsächlich: hier sah sie ähnliche Narben. Auch am Hals erkannte Green eine; zwar kaum zu sehen, aber beim genauen Hinsehen doch vorhanden. Einen Moment lang spielte sie mit dem beunruhigenden Gedanken, dass Pink stranguliert worden war, bevor sie sich kennen gelernt hatten, doch irgendwie sah die Narbe an ihren Hals nicht danach aus – sie war auch zu dünn dafür. Die Neugierde pochte in ihr; eine beißende Neugierde, denn sie spürte förmlich, dass sich hinter diesen fadenartigen Narben nichts Gutes verbergen konnte. Sie wollte nach dem Grund der Narben fragen; fragen, wer sie ihr zugefügt hatte, denn es war unwahrscheinlich, dass sie sich so etwas selbst zugefügt hatte oder dass diese bei einem Unfall geschehen waren. Das Gelee hatte sie wohl bereits doppelt aufgetragen, so sehr war Green mit den Gedanken darin vertieft, wie sie Pink danach fragen sollte, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie darüber sprechen wollte. Aber warum hatte sie ihr dann so bereitwillig ihre Haut gezeigt? War ihr nicht klar, wie deutlich diese Narben zu sehen waren? Green kam es beinahe so vor, als würden sie ihr entgegen leuchten. „Green-chan? Soll ich nicht langsam deine Wunden eincremen?“ Die Angesprochene schreckte aus ihren verworrenen Gedanken empor und sah in Pinks besorgtes Gesicht, als sie über ihre Schulter zu ihr sah. „Tut dir etwas weh? Sehr weh?“ Natürlich schmerzten ihre Wunden, immerhin war auch sie von den Flammen des Dämons getroffen worden, doch als sie die unschuldigen Augen der kleinen Pink sah, die einfach nur um sie und das Plüschtier in ihren Armen besorgt war, schmerzte etwas ganz anderes in ihr; ein Schmerz, der weitaus schlimmer war als die Brandwunden an ihrem Körper – und als wäre Pink ihre Heilung gegen diese Schmerzen, schlang sie plötzlich ihre Arme um sie. Überrascht sah Pink Green an, doch sagte nichts, als sie sie an sich drückte: im Gegenteil. Nach ihrer kurzen Überraschung schmiegte sie sich sogar an Green und keiner der beiden schenkte den durch das Gelee entstandenen Flecken auf Greens Kleidung irgendeine Beachtung. Nein, denn in diesen Augenblick war das Einzige, was für Green wichtig war, das Gefühl, welches ihr vielleicht noch nicht ganz klar war, aber bereits in ihr wuchs: die Überzeugung, dass sie Pink beschützen würde und müsste; dass sie auf sie aufpassen würde, egal was noch kommen würde.     „Weißt du, was Green-chan vorhat?“ Das Mittelchen gegen die Brandwunden war beinahe komplett aufgebraucht, als Siberu noch einen Kleckser herausdrückte und ihn sorgfältig auf seinem linken Arm verteilte. Gary war bereits fertig mit dem Verarzten seiner Wunden und denen von Siberu; wobei er auch darauf verzichtet hatte, einige weniger brenzlige Wunden zu versorgen, da er die Creme für die anderen übrig gelassen hatte – er hatte diese selbstlose Tat natürlich nicht gesagt, aber Siberu hatte es kommentarlos bemerkt. „Nein, keine Ahnung“, antwortete Gary, während er einen neuen Pullover anzog, da sein voriger beim Kampf beschädigt worden war. Nachdenklich schaute Siberu drein; Gedanken, die Gary gut nachempfinden konnte, denn kaum, dass Pink mehr oder weniger Greens Wunden versorgt hatte, war diese plötzlich Hals über Kopf aus ihrer eigenen Wohnung verschwunden, wobei sie ausdrücklich betont hatte, dass Siberu und Gary dort bleiben sollten und auch ja nicht auf die Idee kommen sollten, etwas anderes zu tun. Beide Halbdämonen spürten, dass sie sich nebenan in deren Wohnung befand – aber was sie dort tat konnten sie nur erahnen. Auch Pink schien es nicht zu wissen, denn als sie, gekleidet in einen viel zu großen Pyjama von Green, aus dem Zimmer ihrer Mitbewohnerin kam, fragte sie die beiden Brüder sofort, was eben diese denn täte. Die beiden Angesprochenen schüttelten den Kopf und fügten hinzu, dass sie es nicht wüssten. Schweigend sah Pink die beiden an und es war doch ein etwas merkwürdiges Gefühl, mit Pink alleine in einem Zimmer zu sein, ohne von ihr wegen deren Dämonenblut verurteilt zu werden, wie es immerhin einige Stunden zuvor noch der Fall gewesen war. Sie schienen alle ein wenig peinlich berührt zu sein, doch Pink schien nichts mehr zu ihrem Halbdämonendasein sagen zu wollen. Lange währte die Stille allerdings nicht, denn Gary nutzte die Chance: „Ich möchte mich bei dir für deine Rettung vorhin bedanken, Pink. Ohne dich hätte ich mehr zu versorgen als ein paar Brandwunden.“ Die Angesprochene schien zuerst nicht ganz zu wissen, wovon Gary sprach; es war offensichtlich, dass sie erst einmal nachdenken musste, bis es ihr einfiel, doch dann strahlte sie über das ganze Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie jemandem geholfen hatte. „Und ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr Green-chan gerettet habt!“ Siberu grinste daraufhin und erwiderte: „Du magst sie wohl sehr, was, Pink?“ „Ja! Ich hab Green-chan total doll lieb!“ Kaum, dass Pink das gesagt hatte, klingelte plötzlich das Handy Siberus, doch gerade, als er es aus seiner Hosentasche herausholte, verstummte es schon. „Das war Green-chan“, erklärte der Rotschopf mit dem Blick auf dem Display seines Handys, von welchem er sich verwundert abwandte, um seinen Bruder anzusehen: „Ob das wohl bedeutet, dass wir in unsere eigene Wohnung dürfen?“ Gary war sich dessen nicht sicher, denn er konnte sich ebenfalls keinen Reim aus Greens eigenartigem Verhalten machen, weshalb er mit Bedenken die Schultern hob. „Ihr solltet gehen“, schreckte sie nun Pink aus deren verworrenen Gedanken hoch, breit lächelnd: „Ich denke, Green-chan hat eine Überraschung für euch!“     Schon als sie das Treppenhaus betraten, konnten sie erahnen, was es für eine Überraschung war; ein wohlriechender Geruch von gut gemachtem Essen trat ihnen in ihre empfindlichen Nasen. Sich an das Gespräch vom Mittag erinnernd verzog Gary allerdings schnell das Gesicht, obwohl es wahrlich nach leckerem Essen roch: „Ich hoffe, das müssen wir nicht bezahlen.“ Siberu antwortete darauf nicht, denn er war bereits begierig zur Tür gestürmt, dicht gefolgt von seinem misstrauischen großen Bruder. Als sie jedoch ihre eigene Wohnung betraten, wurden sie von etwas anderem überrumpelt als einem gut zubereiteten Essen:   „Willkommen zu Hause!“   Green konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, was diese drei simplen Worte in den beiden Brüdern auslösten. Nicht im Entferntesten. Die beiden Dämonen waren im Wohnungseingang gänzlich erstarrt; bemerkten auch nicht, wie die Tür hinter ihnen zuschlug, als hätten diese simplen Worte sie hypnotisiert und sie dazu gebracht, Green ungläubig anzustarren.  Sie stand einfach freudig lächelnd in dem kleinen Flur; die Haare zu einem Zopf gebunden, den Kochlöffel in der rechten Hand und war völlig ahnungslos.   „Sag mal, wollt ihr denn im Flur essen? Ich bringe nur schnell Pink ihre Portion; dann komme ich zurück!“ Es war das erste gemeinsame Abendessen, aber nicht das Letzte, wofür die beiden Brüder nicht bezahlen mussten. Beinahe stolz hatte Green ihnen verkündet, dass sie einen Freundschaftsrabatt zulassen würde, als Dankeschön für die Unterstützung im Kampf und wie sie errötet hinzufügte, natürlich auch für die Rettung vor den Flammen. Doch Green musste eigentlich nichts sagen; ihre Worte gingen auch in der allgemeinen Heiterkeit beinahe unter, denn sie hatte ihnen ein viel größeres Geschenk gemacht – auch, wenn sie es nicht mal erahnen konnte.     Etwas begann, sich zu bewegen. In eine Richtung, die keiner von ihnen erwartet hätte. Es war eine Spirale. Kapitel 10: Kaira, die Einzelkämpferin -------------------------------------- Leise fiel der Schnee vom pechschwarzen Himmel. Kein Licht vermochte es durch die dichte Wolkendecke zu brechen, weder das Sternenlicht noch das Licht des Mondes. Doch selbst wenn es einem dieser Lichter gelingen würde, die Dunkelheit zu durchbrechen, würde es nicht den Boden erreichen; den schneebedeckten Boden, auf dem ein kleines Mädchen irrte, denn hohe weiße Tannen verdeckten die Sicht zum Himmelszelt. Durch diese Eiseskälte kämpfte sich das Mädchen; kämpfte sich durch diesen schier endlosen Wald, mit seiner endlosen Dunkelheit und der beißenden Kälte. Der Schnee ging der Kleinen fast bis zu den Knien und dennoch hinderte sie dies nicht daran, ihren Weg fortzusetzen. Sie zog sich unentwegt weiter. Um alles in der Welt wollte sie nicht zurück.   Sie würde sich nicht herumdrehen, selbst wenn die Kälte sie verschlucken würde und sie sich mit dieser vereinen würde. Umkehren war keine Option. Niemals.   Der Atem des Mädchens nahm Konturen in der kalten Luft an, zeichnete sich einen Moment in der Dunkelheit ab, ehe er sich in dieser auflöste, wovon ihre dunklen Augen fasziniert wurden, ehe sie flehend zum Himmel hinauf schaute, obwohl die dichten Tannen ihr dies verwehrten. Sie tat dies nicht in der Hoffnung, ein kleines Lichtlein am dunklen Firmament zu finden, sondern in der Hoffnung und im Flehen, dass es doch endlich aufhören mochte zu schneien.   Warum fielen diese kleinen Pünktchen überhaupt vom Himmel? Warum blieben sie nicht dort, wo es doch so viel schöner war? Warum mussten sie herunterfallen und diese Kälte verbreiten? … und warum mussten sie alles verschlucken?   Das Mädchen senkte den Kopf wieder, atmete tief ein und spürte, wie die Kälte sich in ihrem Inneren verteilte, wie sie sie von Innen heraus peinigte und sie presste die Lippen aufeinander, als könnte dies die Kälte draußen halten, die sie doch schon längst eingenommen hatte. Sie wollte sich gerade weiterschleppen, als sie über irgendetwas im Boden stolperte und in den kalten Schnee fiel, welcher sie hart und unbarmherzig umarmte, ihre Kleider nässte und an ihrer Haut nagte, so dass sie schnell die Kraft verlor, sich weiter zu schleppen. Reglos blieb sie liegen.   …   „Glaubst du, dass Green-chan lieber weich gekochte Eier mag oder harte?“ Mit einem Seufzen, welches schnell von einem Gähnen abgelöst wurde, wachte Green auf, von einem ihr bis jetzt noch unbekannten Tumult geweckt, welcher ihr erst nach dem zweiten Herumdrehen bewusst wurde. Aber kaum als sie ihn bemerkte, saß sie plötzlich kerzengerade im Bett, den Wecker ausschaltend, der gerade anfing, laut zu kreischen. Es gelang ihr gerade noch die Beine aus dem Bett zu schwingen, als die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufging und Siberus Kopf in der Tür erschien, mit einem breiten Lächeln, welches Green gewiss nicht erwiderte. „Guten Morgen, Green-chan!“ „Was zur Hölle…“, war das erste, was Green an diesem ersten Dezember missbilligend sagte, obwohl sie bereits den angenehmen Geruch von einem fertigen Frühstück roch, und wenn sie sich reckte und streckte, um an Siberu vorbei zu sehen, dann erblickte sie auch Gary, der an einem gedeckten Frühstückstisch saß. Als er ihren Blick bemerkte, zuckte er nur mit den Schultern und Green verstand die Nachricht: er hatte genauso wenig eine Ahnung was das hier sollte wie sie und es war eindeutig auf Siberus Mist gewachsen. „Hübsches Nachtkleid…“ Diese Aussage eroberte sofort ihre Aufmerksamkeit, denn auch sie bemerkte, was Siberu bereits festgestellt hatte: vom Schlafen waren die Träger ihres schwarzen Nachtkleides verrutscht, denn Green war eine sehr unruhige Schläferin. Dies sorgte nun dafür, dass ihre Oberweite nicht vollends unter dem schwarzen Stoff verborgen lag; kaum hatte sie das bemerkt, nahm sie ihr Kissen und warf den breit grinsenden Rotschopf damit ab. „Raus hier, aber dalli!“ Obwohl Siberu lachend das Kissen aufgefangen hatte, hatte er die unmissverständliche Botschaft verstanden und während Green aufstand, um sich anzuziehen, schloss er die Tür hinter sich. Green brauchte nicht lange, um ihre mittlerweile wieder saubere Schuluniform herauszusuchen, diese anzuziehen und sich fertig zu machen; sie wollte immerhin wissen, was es mit diesem morgendlichen Besuch auf sich hatte. Dies war auch ihre erste Frage, als sie ihr Zimmer verließ, mit einer Bürste in der Hand und dabei, ihre Haare nach dem Schlaf zu zähmen. Was sie allerdings in der Küche vorfand, brachte sie kurz zum Schweigen, denn es war lange her, dass ihr Küchentisch so gedeckt war wie an diesem Morgen. Anscheinend war Siberu recht stolz darüber, obwohl er im Prinzip nichts anderes getan hatte, als ihren Kühlschrank zu plündern und alles auf den Tisch zu stellen, was sich in diesem befunden hatte. Zu Pinks Freude, denn so befand sich die gesamte Schokolade auf dem Tisch und offensichtlich war dies nun ihr Frühstück. Die eventuellen Karies hielten sie nicht davon ab und irgendwie freute es Green, ihre Mitbewohnerin so heiter zu sehen, denn seitdem sie ihre Narben gesehen hatte, war ein unbeschreiblicher Beschützerinstinkt in ihr entstanden, und auch wenn Pink die Narben nicht kommentiert hatte, hatte Green das Gefühl, sie hätte sie in ein Geheimnis eingeweiht.    „Guten Morgen, Green“, sagte Gary, während er einen Schluck von seinem Kaffee nahm und eine Seite in seinem Buch umblätterte, welches an ein Glas gelehnt stand. Anscheinend konnte ihn nichts davon abbringen, fleißig für die Schule zu sein. „Guten… Morgen“, antwortete Green ein wenig unsicher über diesen morgendlichen Besuch, was Siberu sofort für sich ausnutze. Er nahm ihr die Bürste aus der Hand und lotste Green zum Tisch, als wäre sie selbst nicht in der Lage, die zwei Schritte zu gehen. Wie es sich für einen Gentlemen gehörte, schob er ihr natürlich einen Stuhl heraus und bot ihr auch sogleich etwas zu trinken an. Doch gerade als er ihr Orangensaft einschenken wollte, erwachten Greens Sinne und damit ihre Widerwehr scheinbar zum Leben und sie nahm ihm den Orangensaft aus der Hand. „Glaub nicht, dass so etwas bei mir zieht, Sibi. Damit bewirkst du gar nichts“, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen, während sie sich den Saft selbst einschenkte. Siberu ließ sich davon natürlich nicht beirren und nahm neben Green Platz. „Sag, Green-chan, mir ist beim Tischdecken aufgefallen, dass der Inhalt deines Kühlschranks recht europäisch angehaucht ist: du hast weder Reis noch Soja und ich hab keinen Fisch gefunden. Und da habe ich mich gerade auf ein japanisches Frühstück gefreut!“ „Ich mag keinen Fisch“,  lautete Greens simple Antwort. „Oh, ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Japanerin finde, die keinen Fisch mag.“ „Ich bin keine Japanerin, ich komme aus Deutschland“, antwortete die Wächterin recht kühl und sachlich auf Siberus heitere Frage und auch ihr Blick war düsterer geworden. Verwundert über diese Reaktion warf der Rotschopf einen Blick zu seinem Bruder, der ein Schulterzucken andeutete, doch zu verstehen gab, dass Siberu nicht nachhaken sollte: dazu kam er auch nicht, denn gerade als er doch noch etwas dazu sagen wollte, wandte Green sich plötzlich wie vom Blitz getroffen zu ihm herum, mit einem recht aufgewirbelten Gesichtsausdruck, welchen weder Siberu, noch Gary verstehen konnten; Pink bekam nichts mit.  „Warte mal, Sibi, mir fällt da gerade ein winziges Randdetail auf.“ Nun sah sie nicht mehr nur Siberu an, sondern auch Gary, der gerade angefangen hatte, sein Brot zu beschmieren. „Esst ihr da gerade das Essen, was ich bezahlt habe?“ Gary, der Green nun schon länger kannte als Siberu, ahnte sofort, wohin dieser doch recht anklagende Satz führen würde und da er Schlimmes ahnte, legte er sofort das Messer von sich. Sein Bruder jedoch wirkte unschuldig, wie als hätte er vom Freundschaftsrabatt-Thema nichts gelernt und wählte natürlich die falschen Worte: „Ja, das tun wir, aber keine Sorge, Green-chan, ich habe das Geld bereits in deine Haushaltskasse gelegt!“ „Oh, das ist…“ Umgehend, als sie seine Worte ein weiteres Mal überdacht hatte, verschluckte sie sich an ihrem Orangensaft. Gerade als Siberu ihr helfend auf den Rücken klopfen wollte, verstarb der Hustenanfall bereits und die Wächterin vollführte ihren Satz aufgebracht: „Woher weißt du wo meine Haushaltskasse versteckt ist?!“ Siberu ahnte nach wie vor nicht die Gefahr, in der er schwebte und sagte grinsend, dass er sich ein wenig in ihrer Wohnung umgeguckt hatte – an Greens Gesichtsausdruck war sofort klar zu erkennen, dass ein „wenig umgucken“ eigentlich nicht genügte, um ihre Haushaltskasse zu finden. Einen Moment lang war sie zu sprachlos, um etwas zu erwidern und schluckte ihre Worte einige Male herunter, bis sie sich entschloss: „Wie kannst du es wagen, meine Wohnung zu durchforsten?! Meine Sachen gehen dich sowas von nichts an, absolut gar nichts!“ „Aber, Green-chan! Neugierde ist keine Sünde und…“ Sofort wurde er unterbrochen: „Da bin ich mir bei dir nicht so sicher…“ „…ich habe sogar ein wenig mehr reingelegt als notwendig.“ Gary sah sofort wie sich Greens Gesichtszüge entspannten, doch ehe sie etwas sagen konnte, sagte er: „Green, du bist doch nicht etwa käuflich?“ „Geld regiert die Welt, Gary“, antwortete Green, als wäre dies eine Entschuldigung; für den fassungslosen Gary war dies jedenfalls keine ausreichende Erklärung, doch schweigend sah er zu, wie Green Siberu mit strahlenden Augen fragte, wie groß dieses „Extra“ denn gewesen sei. Gary konnte nicht drum herum zu denken, dass er von Idioten umgeben war, während er das benutzte Geschirr vom Tisch räumte, als hätte er schon jeden Morgen hier gegessen. Das gestrige gemeinsame Abendessen war für sie alle unbewusst ein Eisbrecher geworden. Dennoch war Gary überrascht über sich selbst und seine ungezwungene Haltung und fragte daher hastig seine Mitschüler, ob sie nicht langsam aufbrechen sollten; er wolle nicht zu spät kommen. Niemand der Drei wunderte sich darüber; plötzlich war es selbstverständlich, dass sie den Schulweg zu dritt gingen. Erst als Green Pink einen schönen Tag wünschte und die Tür hinter sich schloss, blieb sie verwundert stehen. Sie sah die beiden an, die am Treppengeländer standen und auf sie warteten. Sie sprachen über irgendetwas Unwichtiges, während sie auf Green warteten. Sie warteten auf sie. Es war das erste Mal, dass jemand auf sie wartete. Es war das erste Mal, dass sie nicht alleine den Schulweg antrat – warum fiel ihr erst jetzt auf, dass sie früher den Weg immer alleine gegangen war? Warum freute sie sich jetzt, dass sie es nicht mehr tun musste, wo es sie doch nie gestört hatte? „Kommst du, Green?“, fragte Gary und es war recht deutlich zu hören, dass er es eilig hatte, doch das änderte nichts daran, dass Green beinahe schon ein wenig gerührt war, als sie mit den beiden deren Wohnblock verließ.         Als sie in der Schule ankamen, wurde den Dreien schnell bewusst, dass es nicht länger ein gehütetes Geheimnis war, dass Gary und Siberu verwandt waren. Falls sie vorgehabt hatten, es geheim zu halten, so war dies jetzt jedenfalls nicht mehr möglich, denn kaum als sie in die Klasse traten, rannte Sho ihnen bereits entgegen, ausgerüstet mit einem Kugelschreiber und einem Notizblock. Ohne Green überhaupt zu beachten, sprudelten die Fragen nur so aus Shos Mund heraus und ohne dass die beiden Brüder irgendetwas anderes taten, als sie fragend, beziehungsweise skeptisch anzusehen, flog Shos Kugelschreiber wie von Zauberhand über ihren Notizblock. „Ihr seid also Brüder? Wie groß ist der Altersunterschied, wie kommt es, dass ihr unterschiedliche Nachnamen habt? Warum seid ihr nicht gleichzeitig auf diese Schule gekommen und warum hat keiner von euch angegeben, dass ihr verwandt seid?“ „Darf ich fragen, warum dich unsere internen Familienangelegenheiten so überaus brennend interessieren?“, fragte Gary und sein skeptischer Blick fokussierte Sho, als er die Arme verschränkte. Natürlich war er nicht bereit, irgendwelche Antworten zu geben, doch Green bemerkte, dass Siberu diese fragwürdige Aufmerksamkeit Shos sehr wohl gefiel. „Oh, das ist ganz einfach“, sagte Sho und ein vielsagendes Grinsen tauchte auf ihrem Gesicht auf, als sie mit dem Ende des Kugelschreibers auf Siberu zeigte. „Siberu-kun (ein Grinsen breitete sich auf dessen Gesicht aus, als sie ihn so betitelte) ist laut den Leserumfragen im Laufe von sage und schreibe vier Tagen auf Platz Eins der beliebtesten Jungs der Schule gelandet. Da ich eine gute Journalistin bin (Gary hob die Augenbraue, als sie sich selbst so nannte), nehme ich natürlich Rücksicht auf meine Leserschaft, immerhin besteht die Schülerschaft dieser Schule zu 62% aus Mädchen. Daher, Gary… interessiert mich eurer Familiendrama, weil Siberu-kun mich und alle 62% interessieren.“ „“Familiendrama“?“, warf Gary dazwischen, als Siberu bereits Feuer und Flamme war für Shos Interesse an ihm; scheinbar kam es für ihn nicht als Überraschung, dass die Mädchen der Schule ihm verfallen waren. Zum Glück kam Siberu nicht dazu, seine Begeisterung auszuleben, denn deren Lehrer betrat den Raum und der Unterricht sorgte dafür, dass Shos Schlagzeile warten musste; vorerst.     Die unheilvolle Schlagzeile konnte leider nur bis zur Mittagspause verschoben werden, welche eigentlich ganz normal anfing, mit der Ausnahme, dass Green zum ersten Mal nicht mit ihrer Schulfreundin an einem Tisch saß, sondern sich mit Gary und Siberu einen Dreiertisch teilte. Beim Hingehen hatte sie sich nichts dabei gedacht, erst als sie bereits am Tisch saßen und Gary sie noch einmal den Stoff des Unterrichtes lehrte, fiel ihr auf, dass das, was sie in diesem Moment als natürlich empfand, eigentlich gar nicht so normal war. Sie hatte doch noch nie woanders gesessen als neben Sho – nicht einmal wenn diese krank gewesen war, hatte sie sich woanders hingesetzt; warum war es für sie plötzlich so natürlich, neben Siberu und Gary zu sitzen? Kaum, dass Gary das Mathematikbuch zugeklappt hatte, warnte er Siberu bereits anklagend davor, für irgendwelche nichtigen und unwahren Schlagzeilen zu sorgen. „Was sollte ich schon für unwahre Schlagzeilen in die Welt setzen?“, fragte Siberu, während er sich unauffällig umsah, um eindeutig zu genießen, dass über ihn gesprochen wurde. „Ich würde es dir zutrauen, dass du dir irgendein Familiendrama ausdenkst, nur um in der Schlagzeile zu landen und ich habe etwas dagegen einzuwenden, als ein Mittel zu fungieren, nur um deine Sucht nach Aufmerksamkeit zu stillen, haben wir uns verstanden, Silver?“ „Als ob ich es nötig habe, ein Familiendrama aus dem Ärmel zu schütteln, um in einer Schlagzeile zu landen“, antwortete Siberu und grinste seinen älteren Bruder überlegend und mit überzeugtem Selbstvertrauen an. „Ich glaube…“, fing der Rotschopf an, während er einen Bissen von seinem Sandwich nahm, den Blick auf ein paar Mädchen ruhend: „… dass dieses Schulleben sehr witzig werden wird.“ Green, die seinem Blick gefolgt war, ahnte Schlimmes; Schlimmes für sich, denn wieder bemerkte sie feindselige Blicke auf sich ruhen, nur weil sie mit dem derzeitigen beliebtesten Jungen der Schule an einem Tisch saß – wie würden sie reagieren, wenn sie erfuhren, dass sie sogar mit ihm zusammen gewesen war? Diese Mädchen konnten immerhin nicht wissen, dass Siberu bestimmte Ziele damit verfolgt hatte: von außen hatte es jedenfalls so ausgesehen, als wären sie ein junges Liebespaar – und genauso wirkte es auch, als Siberu seine Hand an ihre rechte Wange legte, ihr Gesicht zu sich schob, um ihr einen Klecks Sahne von der linken Wange zu lecken. Green und Gary erstarrten im gleichen Moment, als Siberu diese Aktion mit einem vielsagenden Lächeln durchführte und während Gary ratlos den Kopf schüttelte, zog Green ihren Kopf beinahe angewidert von ihm weg. „Was bitte soll das werden?!“, keifte Green ihn an, als sie ihre Wange abwischte, als wäre Siberu giftig. Dieser jedoch sagte grinsend, dass Neid das „Geschäft“ fördern würde. „“Geschäft“? Was für ein Geschäft bitteschön? Nein, nein, nein! Ich will es eigentlich gar nicht wissen, behalt es für dich“, sagte Green mit erhobenem Zeigefinger, welcher auf Siberu gerichtet war. „Du sollst mir einfach nicht zu nahe kommen, verstanden, Sibi? Zwischen uns beiden ist es aus, eindeutig aus. Wie oft soll ich mich eigentlich noch wiederholen?“ „Du weißt, dass ich nicht aufgebe. Ich bin nicht fürs Verlieren gemacht.“ „Du hast schon längst verloren, Sibi.“ „Oh, das sehe ich nicht so: in allen Spielen gibt es ein Rematch.“ „Gary! So sag doch was, dein Bruder bringt mich um den Verstand!“ Bei diesem Gefühlsausbruch lugte Gary über sein Essen hinweg und wollte gerade antworten, dass er froh sei, dass es zur Abwechslung mal nicht er war, der wegen seinem Bruder den Verstand verlor, als er als Erstes bemerkte, dass eine vierte Person hinzu gekommen war. Als seine Augen sich überrascht, aber auch mit bösen Vorahnungen weiteten, bemerkten auch Siberu und Green die vierte Person: Sho stand hinter ihnen mit einem recht eifrigen Kugelschreiber, welcher auf ihrem Block hin und her jagte. Als sie bemerkte, dass sie entdeckt worden war, sah sie grinsend auf und sagte: „Hi, ihr drei! Nun, jetzt könnt ihr mir ja gleich alle Einzelheiten erzählen, wenn ihr schon mal dabei seid…“ „Es gibt keine Einzelheiten, die du nicht schon kennst…“, zischte Green, doch das überhörte Siberu gekonnt, als er sein Essen beiseite schob und sich aufrichtete, sich zu Sho gesellte und seinen Arm grinsend um ihre Schuler legte. „Also ich sehe das anders und ich bin gerne bereit, ein wenig auszuführen!“, sagte Siberu, ohne auf Greens und Garys alarmierenden Blicke zu achten. Auch Sho übersah ihre Klassenkameraden gekonnt und nutzte die Gelegenheit, um den Neid der anderen Mitschülerinnen zu ernten und lehnte sich noch einmal extra an Siberu, der offensichtlich nichts dagegen hatte. Gerade als Green den unheilvollen Lauf der Geschichte unterbrechen wollte, drehten die beiden sich schnell herum und das Peace-Zeichen, welches Siberu Green noch einmal zuwarf, beruhigte weder ihre Wut noch ihre bösen Vorahnungen. Grummelnd setzte sie sich wieder zu Gary, welcher genauso unzufrieden aussah wie sie. „Mir schwant Übles…“ „… und mir eine Schlagzeile.“     Als die Mittagspause vorüber war, war Siberus Laune auffällig gut, was die Laune von Gary und Green nicht gerade besserte. Kurz bevor der Lehrer eintraf, wandte Gary sich zu seinem Bruder herum und Green hörte, wie er von den anderen Schülern unbemerkt Siberu etwas in deren dämonischer Sprache sagte, was außerordentlich böse klang. Green musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass Siberu dafür nur ein breites Grinsen übrig hatte. Obwohl die Wächterin sich eigentlich geschworen hatte, Siberu nicht zu beachten, drehte sie sich nun doch herum und sagte warnend:  „Sibi, wenn du auch nur irgendwas in Richtu …“ Doch in diesen Moment öffnete sich die Schiebetür und deren Lehrer kam herein und wie es sich für gute Schüler gehörte, standen diese sofort auf und verbeugten sich. Allerdings reichte Greens Höflichkeit nicht weiter als dies, denn als die Schüler sich wieder setzten, drehte sie sich abermals zum Rotschopf herum. „Sibi, was hast du Sho erzählt?!“ Grinsend lehnte Siberu sich zurück, während er mit seinem Bleistift spielte. „Nur wahre Begebenheiten!“ „“Wahre Begebenheiten“ - dass ich nicht lache!“ Überrascht wandte Green ihren Kopf zu ihrem Sitznachbarn, denn es wunderte sie, dass Gary sich vom Unterricht abhalten ließ: dieser war ihm doch normal heilig! Doch es war Gary gewesen, der dies zu Siberu gesagt hatte, wenn auch ohne sich umzudrehen und um einiges diskreter. „Ich glaube, ich weiß es besser als du“, antwortete Siberu grinsend und pikste seinem Bruder mit dem Bleistift in den Rücken. Doch ehe dieser darauf reagieren konnte, unterbrach deren Lehrer dieses Unterfangen: „Nakayama, könnten Sie bitte so höflich sein und dem Unterricht folgen?!“ Siberu antwortete nicht, jedoch setzte er sich wieder normal hin und tat so, als würde er zuhören. Diese Fassade hielt allerdings nicht lange, denn kaum hatte sich der Lehrer wieder der Tafel zugewandt, lag Greens Aufmerksamkeit wieder bei Siberu, auch wenn Gary ihr einen alarmierenden Blick zusandte. „Also, was hast du denn nun erzählt, Sibi?“ „Ach … so dies und das. Davon, dass wir beide zusammen waren … von unserem tragischen Familiengeheimnis …“ Während Green ihn nur fassungslos anstarrte, drehte Gary sich so schnell um, dass Green fürchtete, er habe sich den Hals verrenkt: „Wie bitte?!“ Diese Worte waren allerdings ein wenig zu laut, was Gary schneller erfuhr, als es ihm lieb war. „Nun ist aber genug! Najotake, Nakayama und Ookido RAUS, aber sofort!“     Weder Siberu noch Green trauten sich zu Beginn irgendwas zu sagen, denn Gary kochte vor Wut. Green war es gewohnt rauszufliegen und Siberu schien es nicht besonders zu stören … aber für Gary war es das erste Mal, dass er einen Wassereimer in der Hand hielt und draußen stehen musste. Er fluchte leise vor sich hin, etwas was Green noch nie von ihm gehört hatte und Siberu tat nichts anderes, als fröhlich vor sich hin zu grinsen; offensichtlich gefiel ihm die Lage. „Wenn wir schon einmal hier draußen sind“, fing Green an und richtete ihr Wort an Siberu: „Dann können wir ja gleich mal darüber reden, was du Sho erzählt hast.“ Dem schloss sich Gary an und sagte: „Von welchem „tragischen Familiengeheimnis“ ist die Rede?“ Siberu stellte den Wassereimer auf der Spitze seines Schuhs ab und während er seine so freien Arme hinter dem Kopf verschränkte, balancierte er den Eimer hin und her, ohne einen Tropfen zu verschütten. „Ach, siehst du Blue … Ich liebe es einfach, dich sauer zu sehen. Das ist ein ganz unvergleichlicher Genuss!“ „Soll das heißen, es war nichts anderes als ein … Witz?!“ „Sieh‘ es doch positiv, Aniki: auf diese Art und Weise sind wir von dem langweiligen Unterricht befreit und wir haben mehr Zeit für uns drei. Ich finde, wir gehen in ein …“ Gary schien da anderer Meinung zu sein, denn er unterbrach seinen fröhlichen Bruder: „Silver! Ich lasse mich von dir nicht vom Unterricht abbringen!“ „Also momentan bleibt dir gar nichts anderes übrig und genau genommen hast du dich selbst vor die Tür befördert, oder sehe ich das etwa falsch?“ „Genau genommen waren es jedoch deine Interaktionen, die mich dazu gebracht haben, laut zu werden“, antwortete Gary bissig, doch schien sich schnell eines Besseren zu besinnen und mit einem Seufzen sagte er: „Aber was erwarte ich eigentlich von dir? Du bist eben zu unreif, um die Vorteile eines effektiven Schultages zu erkennen.“ „Unreif? Nein, mir fehlt einfach nur das Strebergen, aber weißt du was? Da bin ich sogar richtig froh drüber, ansonsten würde ich wahrscheinlich so aussehen wie du.“ „Dann wärest du vielleicht mal weniger arrogant und dafür bescheidener.“ „Bescheiden kann nur jemand sein, der nicht genug hat, um arrogant zu sein. Außerdem wirkt Arroganz sehr anziehend auf das weibliche Geschlecht – aber davon hast du natürlich keine Ahnung.“ „Außerdem…“, zwang sich Green nun zwischen das nun mittlerweile recht hitzige Gespräch der beiden Brüder. „… seid ihr beide, was Arroganz angeht, auf dem gleichen Niveau, wenn auch auf verschiedenen Gebieten.“ Die beiden Brüder hörten auf sich zu streiten, auch wenn sie es nicht lassen konnten, sich noch weiterhin böse Blicke zuzuwerfen. Daher sah Green es als ihre Aufgabe an, sie abzulenken, indem sie das Thema zu einem etwas weniger Hitzigen wechselte: „Sibi hat recht, wenn wir schon hier draußen rumstehen, können wir die Zeit auch besser nutzen, als uns gegenseitig anzukeifen und ich hab sowieso noch etwas, was ich mit euch besprechen will …“ Die beiden Dämonenbrüder sahen Green fragend an, was Green als eine Aufforderung auffasste und fortfuhr: „Falls es euch noch nicht aufgefallen ist, in knapp einem Monat ist Weihnachten … und Shos Eltern feiern dieses Jahr Weihnachten in Italien. Deshalb hat sie mich gefragt, ob ich bei ihr feiern will und ich dachte mir …“ Green zuckte mit den Schultern, ehe sie fortfuhr: „Ob ihr nicht mit wollt. Na, was sagt ihr?“ „Wir feiern normalerweise das Weihnachtsfest nicht …“, sagte Gary nachdenklich, doch Siberu schien anderer Meinung zu sein: „Kein Grund, es diesmal nicht zu tun. Also ich bin dabei!“ Gary seufzte erschöpft und sagte: „Na, dann muss ich ja mit. Ich kann dich ja wohl kaum mit Green alleine lassen.“ Ehe Siberu einen erneuten Streit anfangen konnte, sagte Green: „Supi! Das wird toll! Bei der Gelegenheit könnt ihr auch gleich Shos kleine Schwester kennenlernen, sie wird nämlich auch da sein.“ Das schien Siberu von seinem Bruder abzulenken, als er von einem neuen Mädchen hörte und er wandte sich sofort Green zu, um weitere Informationen zu erfahren: „Sehen die zwei sich ähnlich?“ „Ja, es besteht eine gewisse Ähnlichkeit.“ Green unterbrach sich selbst kurz, ehe sie ausführte: „Okay, das ist vielleicht sogar ein wenig untertrieben. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Also alle. Es sind nämlich fünf Geschwister. Sie haben alle rote Haare, braune Augen…“ Während die Wächterin dies gesagt hatte, hatten Siberus Augen zu strahlen angefangen, womit ihr klar wurde, dass sie etwas Neues über ihren neuen Freund herausgefunden hatte: er stand ganz offensichtlich auf rote Haare, wahrscheinlich weil er so vernarrt in seine eigenen roten Haare war. „Allerdings, Sibi, ist Firey…“ „Ihr Name ist Firey?“, fragte der Rotschopf mit Begeisterung in der Stimme. „… ganz anders als Sho. Ganz anders. Ich glaube nicht, dass sie dich mögen wird.“ Offensichtlich sah Siberu dies als Herausforderung, denn er schnaufte verächtlich und führte eine elegante Handbewegung durch, wobei seine Hand auf seiner Brust endete. „Niemand kann mir widerstehen, Green-chan, niemand. Vor allen Dingen Mädchen nicht.“ Sowohl Green als auch Gary hoben bei diesem selbstbewussten Kommentar die Augenbrauen, obwohl Gary solche Kommentare bereits gewohnt war und sein Ärgernis verwandelte sich schnell zu einem Seufzen. Gerade als Green sagen wollte, dass sie fand, dass sie ihm sehr gut widerstand, fiel ihr ein, dass sie nicht gerade einen guten Start hingelegt hatte und sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen sollte. Stattdessen sagte sie: „Ich glaube, in Firey hast du deinen Meister gefunden.“ Mit diesen letzten abschließenden Worten von Greens Seite aus klingelte es erlösend und von einen Moment zum anderen füllte sich der Gang, daher gingen auch Siberus Worte kläglich unter: „Das werden wir ja sehen.“     Es war ein wahrlich anstrengender Tag gewesen und zu Greens Bedauern war er auch noch lange nicht vorbei, wie sie schnell herausfand, als Gary sie darauf hinwies, dass sie am nächsten Tag eine Mathematikklausur zu schreiben hätten, auf welche Green natürlich nicht vorbereitet war: sie hatte eher versucht, sie zu vergessen. Mit anderen Worten: Nachhilfe stand für diesen Nachmittag auf dem Programm, woran Siberu teilnehmen würde, weil er nicht vorhatte, von Greens Seite zu weichen: er selbst hatte Nachhilfe nicht nötig, so seine Aussage jedenfalls. Green konnte sich irgendwie nicht vorstellen, dass Siberu ein genauso großer Streber sein sollte wie Gary und fand auch schnell heraus, dass sie sich da nicht täuschte: Siberu meinte von sich selbst, dass er ein Meister im Abschreiben sei – er würde von seinem Bruder abschreiben; wozu hatte man sonst einen Streber als Bruder. Obwohl Siberu Green dies zugeflüstert hatte, hatte Gary es doch gehört - aber anstatt Siberu zurechtzuweisen, schmiedete er bereits einen Plan, um seine hart erarbeiteten Resultate vor den Klauen seines kleinen Bruders zu bewahren. Kaum als sie das Treppenhaus betraten, verdunkelte sich Greens Gesicht von einem Moment zum anderen, denn ihr war wieder eingefallen, dass heute der erste Dezember war. Mit anderen Worten; die Rechnungen waren pünktlich eingetrudelt und lagen nun in ihrem Briefkasten, ganz erpicht darauf, von Green herausgeholt und bezahlt zu werden. Während die beiden Brüder sich über irgendetwas unterhielten, steckte Green den Schlüssel in ihren Briefkasten und holte drei Briefe heraus. Die ersten beiden waren tatsächlich Rechnungen, während der Letztere unerwartet kam. „Oh“, sagte Green, ehe sie schweigend und mit großen Augen den Brief anstarrte. Siberu schien es brennend zu interessieren, von wem dieser Brief stammte, denn er sah ihr über die Schulter, um den Absender lesen zu können. Doch auch Gary interessierte es, denn ihm fiel auf, dass der Absender aus dem Ausland stammen musste, da er einen ausländischen Poststempel entdeckte. „Vom wem ist der Brief?“, fragte Siberu neugierig, doch wurde sofort von Green heruntergeschüttelt, mit den Worten, dass ihre privaten Angelegenheiten ihn nun wirklich nichts angingen. Natürlich wäre Siberu nicht Siberu, wenn er dies so einfach hinnehmen würde und so plagte er Green den gesamten Weg nach oben mit dem mysteriösen Absender. Als sie sechs Etagen höher waren, wirkte es so, als ob sie ihm am liebsten den Kopf abreißen wollte; anscheinend war dieses Thema eines, welches sie absolut nicht mit den Dämonenbrüdern teilen wollte. Anders als sein Bruder empfand Gary dieses nicht als weiter schlimm oder merkwürdig; merkwürdig wurde es erst, als sie beide bemerkten, wie Green den Brief, ohne ihn zu lesen, in eine Schublade ihrer Wohnung legte, welche mit einem Vorhängeschloss gesichert war. „Ich geh mich mal umziehen“, sagte Green und ging ohne weiteres in ihr Zimmer, wobei Siberu und Gary alleine in der Stube zurückblieben. Kaum dass Green sie allein gelassen hatte, bückte der Rotschopf sich sofort und nahm das Schloss unter die Lupe. „Silver, das geht uns nichts an.“ Doch auch Gary musste zugeben, dass er nun neugierig geworden war: was war so wichtig an diesem Brief, dass Green ihn wegschloss? Und das auch noch mit einem Vorhängeschloss? Siberu antwortete nicht, er war zu sehr damit beschäftigt, konzentriert das Schloss zu untersuchen, erst Garys nächste Frage, ob er den Absender lesen konnte, weckte ihn aus seinen Gedanken: „Ich konnte den Namen nicht lesen, Green-chan hat ihre Hand darüber gehalten.“ Es gelang Gary nicht, darauf zu antworten, denn schon kam Green förmlich aus ihrem Zimmer gestürmt. Die Frage, was denn los wäre, erübrigte sich, als sie beide das Glöckchen um Greens Hals leuchten sahen. „Die Nachhilfe muss wohl verschoben werden.“          „Warum teleportieren wir uns eigentlich nicht direkt hin? Dieses Mal spürt ihr und mein Glöckchen doch den Dämon?“, fragte Green, während sie mal wieder in den Armen Siberus lag, obwohl es diesmal nicht über die Dächer Tokios ging, sondern durch dessen Straßen; Siberu hatte darauf bestanden, sie tragen zu wollen. Nach eigener Aussage konnte er nicht mit ansehen, wie Green aus der Puste geriet und die Tatsache, dass die Wächterin gut in Form war und nichts gegen das Laufen hatte, wurde von ihm einfach mal überhört. „Teleportieren ist eher unschlau“, sagte Gary und fuhr fort: „Wir könnten uns zwar in die Nähe des Dämons teleportieren, doch dies könnte ins Auge gehen, da wir nicht kalkulieren können, wo genau unser Landungspunkt sein wird. Wenn wir Pech haben sollten, dann landen wir genau in seiner Angriffszone und dies wäre ein ungewünschtes Risiko, welches man umgehen sollte.“ „Stimmt, das leuchtet ein“, antwortete Green mit einem Nicken und wollte gerade fragen, wie man das Teleportieren lernen konnte, denn das empfand sie als doch recht spannend, als sie im Ichi-no-Hashi Park ankamen und sofort bemerkten, dass etwas nicht stimmen konnte, denn dieser war vollkommen menschenleer – und das an einem ganz normalen Nachmittag. Die Antwort auf diese Frage folgte sofort, als der Boden erschüttert wurde, woraufhin Siberu die Wächterin herunter ließ, damit sie sich für den Angriff bereit machen konnte; was sie auch sofort tat, indem sie ihr Glöckchen aktivierte und es die Form veränderte. „Ich übernehme den ersten Angriff!“ Und kaum, dass der diesmal etwas kleinere Dämon zwischen den Büschen und Bäumen zu erahnen war, sprang Siberu auf ihn zu und wich dessen erster Attacke geschickt aus, um zum Gegenangriff auszuholen. Gerade als Green zu ihm hin eilen wollte, um zusammen mit Siberu kurzen Prozess zu machen, änderte sich die Lage: eine fremde Stimme hallte durch den Park und schneller als einer der drei gucken konnte, verschwand der Dämon plötzlich spurlos, als hätte es sich von Anfang an nur um eine Illusion gehandelt. „Was zur Hölle…“, brachte Green gerade noch über die Lippen, als bereits das Nächste geschah: Siberu wurde förmlich vom Himmel herunter gerissen und von einer fremden Person zu Boden gedrückt, welche ein langes, strahlendes Etwas in ihren Händen hielt, welches  Green von weitem nicht erkennen konnte. Doch schnell verstand sie, dass diese Waffe todbringend sein musste, denn obwohl die Person außer Garys Reichweite war, tauchte hinter ihm ebenfalls die gleiche Waffe auf und im gleichen Moment, wo sie mit der Waffe ausholte, um Siberu zu töten, setzte sich auch die neben Gary todbringend in Bewegung. All dies geschah innerhalb von nur wenigen Sekunden und es war ungewiss, wie es ausgegangen wäre, wäre Green nicht eingeschritten: „AUFHÖREN!“ Beide Waffen verharrten augenblicklich – wahrlich in letzter Sekunde, denn bei beiden Dämonen war die Waffe, welche Green nun als übergroßen Sekundenzeiger identifizierte, aber um einiges schärfer war als ein normaler, kurz vor deren Pulsader. Jetzt wo die Gefahr kurzzeitig gebannt war, nahm sich Green auch die Zeit, den Angreifer genauer anzusehen. Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche Angreifer eine ‚Sie‘ war: eine junge Frau, die sicherlich zwei, drei Jahre älter war als Green, mit einem ernsten Gesichtsausdruck, welcher von kurzen violetten Haaren eingerahmt wurde. Von ihrem Gesicht her zu urteilen wirkte sie wie eine Frau, die nicht so oft etwas zu lachen hatte: es sah aus, als wären ihre Mundwinkel fest gefroren und als ob sie somit nicht in der Lage war, zu lächeln. Sie trug einen beigen Mantel, der nicht gerade so wirkte, als würde dieser sehr viel Bewegungsfreiheit bieten, doch zu hindern schien es sie nicht, wenn man daran dachte, wie schnell sie Siberu zu Boden genagelt hatte. Die Frau richtete sich nicht auf. Weiterhin drückte sie den Rotschopf mit ihrem Knie herunter auf die sandigen Fliesen des Parks und starrte Green feindselig, aber auch überrascht an. „Warum hinderst du mich daran, meine Aufgabe auszuführen?“ Ihre Stimme war hart, ernst und streng und sofort bekam Green das Gefühl, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Doch davon ließ sie sich nicht abbringen. „Weil ich nicht zulassen werde, dass du meine Freunde umbringst!“ Überrascht, nein viel eher geschockt wurde sie von der Fremden angesehen, doch auch Gary sah sie verwundert an und auch Green selbst war überrascht über die Beherztheit, die sie an den Tag legte, um die Haut von Siberu und Gary zu retten. Immerhin war deren Freundschaft noch recht bröckelig und die Bezeichnung „Freunde“ fiel Green immer noch schwer zu benutzen, als könne sie nicht so recht glauben, dass sie eben solche in den beiden gefunden hatte…und dennoch wusste sie ganz genau, dass sie nicht zulassen würde, dass ihnen etwas zustieß, um dafür zu sorgen, die Freundschaft, die bis jetzt noch bröckelig war, zu festigen. Was war in innerhalb von nur zwei Monaten aus ihrem doch so ordentlichen Leben geworden? Klar, sie hatte seit ihrer Geburt ein doch recht ungewöhnliches Leben geführt, aber die letzten Monate schlugen dem Fass fast den Boden aus. Nicht nur, dass sie ihre kostbare Zeit für das Ausschalten von Dämonen opferte, jetzt war auch noch ihr Schulalltag dämonisch angehaucht und eben diese Dämonen waren ihre Nachbarn und vielleicht sogar ihre… Freunde. Obwohl dieser Gedanke von einem Seufzen begleitet wurde, hatte sie im Prinzip nichts dagegen…und es war ein gutes Gefühl, über ihre „Freunde“ nachzudenken.  Ein spöttisches, aber unlustiges Lachen unterbrach Greens Gedanken, und als sie aufsah, bemerkte sie, dass das Lachen von der fremden Person kam und ganz offensichtlich ihr galt: „Ein solches Kriegsdelikt ausgesprochen zu hören, ist schlimmer, als es mit ansehen zu müssen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich solche Worte aus dem Mund eines Wächters hören würde. Hast du etwa irgendetwas missverstanden, Mädchen?“ Während die Fremde dies sagte, richtete sie sich nun auf – ein Moment, den Siberu nutzen wollte, um ihr zu entgehen, doch diese Möglichkeit gab sie ihm nicht, sondern setzte zielbewusst ihren Stiefel auf seinen Rücken und hielt den Rotschopf so auf dem Boden. „Aber du scheinst auch keine normale Wächterin zu sein. Zu welchem Element gehörst du?“ „Element …?“ Ein weiteres Mal schnaubte die Fremde verächtlich, ehe sie fortfuhr: „Du hast nicht nur offensichtlich etwas missverstanden, sondern bist auch noch überaus unerfahren. Wie kamst du auf die überaus intelligente Idee, einen Kampf gegen einen Dämon zu führen, ohne einen Zeitbann zu aktivieren? Bist du so erpicht darauf, unseren Mitwächtern Extraarbeit aufzuhalsen, Mädchen, oder glaubst du wirklich, dein Kampf wäre niemandem in einer Metropole wie dieser aufgefallen? Du kannst froh sein, dass ich einen errichten konnte, ehe die Menschen deinen … na, Kampf kann man das ja wohl kau-“ Es schien, als würde sie weiter ausführen wollen, doch sie wurde unterbrochen, als ein Headset-ähnliches Kommunikationsgerät an ihrem Ohr zu piepen begann. „Was gibt es?“, fragte sie unwirsch in das Mikrofon und fuhr fort: „Ich bin mitten in einem Auftrag, Asuka!“ Während deren Gespräch richtete sich Gary im Flüsterton nun an Green: „Was sagt sie?“ Überrascht wandte die Angesprochene ihren Kopf zu ihrem Nachhilfelehrer, der nach wie vor einen Sekundenzeiger drohend an seiner Pulsader hatte. „Wie „was sagt sie“? Sie redet doch recht klar und deutlich?“ „Wächter haben ihre eigene Sprache, Green. Es ist uns Dämonen nicht möglich, euch zu verstehen.“ Nun war Green sichtlich überrascht, denn sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie plötzlich eine andere Sprache gesprochen hatte. Als die Fremde sie angesprochen hatte, hatte sie einfach ganz automatisch geantwortet … erst jetzt als Gary es sagte, fiel ihr auf, dass die Worte, die aus ihrem Mund gekommen waren, keine japanischen gewesen waren. Wie war das möglich? „Was?!“ Sofort drehte Green sich wieder herum, als sie die Stimme der Fremden hörte, die nun aufgebracht ins Mikrofon schrie: „Das ist unmöglich, Asuka! Doch nicht so eine einfältige Göre mit einer solch schwachen Aura!“ Es sah so aus, als hätte sie noch eine Antwort bekommen, denn ihr Gesicht verdunkelte sich plötzlich, und als sie die Verbindung mit ihrem Gesprächspartner kappte, sah sie Green nicht mehr feindselig an, sondern direkt hasserfüllt. Doch das änderte nichts daran, dass sie sich aufrichtete und die beiden Waffen sich daraufhin in Luft auflösten – beiden Dämonen konnten wieder aufatmen. Siberu richtete sich sofort wieder auf, um sie scheinbar anzugreifen, doch Gary sendete ihm einen Blick, der ihm bedeutete, dass dies wohl keine so gute Idee war.  Ohne Zweifel kochte die Fremde beinahe über vor Wut, doch zwang sich dazu, diese zurückzuhalten, während sie auf Green zuschritt. Dennoch fühlte Green sich recht unwohl zumute, als sie vor ihr angekommen war, denn in ihren Augen sah Green nicht nur Hass, sondern auch Enttäuschung, die sie sich nicht erklären konnte. Wie konnte sie enttäuscht von Green sein, wenn sie sich doch gar nicht kannten?  Als sie den Mund öffnete, zuckte die junge Wächterin zusammen, als würde die Fremde sie schlagen wollen. Doch nichts dergleichen geschah, obwohl ihre Worte nicht weniger hart waren: „Ich bin Kaira Toki Kitayima, Elementarwächterin der Zeit, erster Rang.“ Verblüfft starrte Green das Mädchen ihr gegenüber an; erstaunt darüber, dass sie ihren Namen erfahren hatte, obwohl sich offensichtlich alles in Kaira sträubte, überhaupt mit ihr zu sprechen. Sie ließ Green auch nicht die Zeit, sich ebenfalls vorzustellen, denn sie fuhr sogleich fort: „Unsere heiligen Regeln besagen, dass ich mich vor dir verbeugen soll, dass ich dich ehren und respektieren soll. Aber das werde ich nicht tun! Ich verneige mein Haupt niemals vor einem Verräter, der mit dem Feind sympathisiert!“ Und damit ließ sie Green zurück, die nichts anderes tun konnte, als ihr verwirrt hinterher zu sehen, als ihre Mitwächterin zwischen den Bäumen verschwand, ohne noch ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln. Obwohl Green keinen Grund dafür hatte, starrte sie der eigenartigen Frau noch eine ganze Weile hinterher, doch wurde von Siberu aus ihren Gedanken geweckt: „Was hat diese Furie denn nun gesagt?“ Die Angesprochene wandte sich zu Siberu herum und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr verwirrter Zustand dies erschwerte: „Ich habe sie genauso wenig verstanden wie ihr.“        Fertiggestellt: 15.01.10   Kapitel 11: Schneeweiße Erinnerungen Teil 1 -------------------------------------------                  Schneeweiße Erinnerungen Teil 1          „Gary, wo hast du denn Sibi gelassen?“ Greens Stimme wurde von ihrem dicken weinroten Wollschal beinahe verschluckt, welchen sie sich um den Hals geschlungen hatte und der ihr beinahe bis zur Nase reichte. Es war ein kühler Morgen Anfang Dezember, daher war Greens Kleidungswahl verständlich, dennoch wunderte Gary sich doch ein klein wenig darüber, da die Temperatur noch nicht unter Null gefallen war; er selbst hatte es nicht für nötig gehalten, einen Schal anzuziehen - und Green trug nicht nur einen enorm dicken Schal, sondern auch Handschuhe und Ohrwärmer, als würde sie durch den tiefsten Winter stapfen wollen, obwohl es doch nur zur Schule ging.   „Er meinte, er wäre krank. Mit anderen Worten: er schwänzt.“ Gary zuckte ratlos mit den Schultern, um zu verdeutlichen, dass dies nichts Ungewöhnliches war. „Warum schwänzt er?“, fragte die Wächterin, während sie in die Metro stiegen, nachdem Green mal wieder vergebens darum gebettelt hatte, dass sie sich doch teleportieren könnten. Wozu hatte man eine Fähigkeit, wenn man sie nicht nutzte? Doch Gary ließ da nicht mit sich reden. Er meinte, dass dies nicht Sinn der Sache wäre und manchmal sollte man einfach so tun, als wäre man ein Mensch wie alle anderen auch – obendrein wollte er nicht gesehen werden, wenn er auf dem Schulgelände aus dem Nichts auftauchte. Natürlich wusste Green, dass er recht hatte, dennoch versuchte sie es immer wieder und sie war sich sicher, dass, wenn sie diese Fähigkeit ihr Eigen nennen könnte, sie es aller Vernunft zum Trotze tun würde. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Vielleicht hat er nur einfach keine Lust auf die Schule“, antwortete Gary, als wäre dies etwas Unnormales und enorm Verwunderliches in deren Alter. „Klingt plausibel. Allerdings hat er mich heute Morgen noch gar nicht besucht.“ „Was allerdings nicht plausibel klingt“, gab Gary zu und versuchte das Thema zu ändern, denn er hatte plötzlich eine leichte Ahnung, was es mit Siberus Schwänzen auf sich haben könnte, obwohl er ihn heute morgen gar nicht gesprochen hatte, außer der Mitteilung, dass sein kleiner Bruder „krank“ wäre und daher zuhause bleiben würde – dass er nicht krank war, das wussten sie beide. Jetzt, wo er so darüber nachdachte, kam ihm plötzlich der Gedanke, warum er „krank“ war – ob es etwas mit dem Vorhängeschloss in Greens Stube zu tun hatte? Für Siberu wäre es kein Problem dieses zu brechen, geschweige denn in ihre Wohnung zu gelangen und er hatte Gary den gesamten Abend mit merkwürdigen Überlegungen geplagt, von wem Green Briefe erhielt und warum diese so geheimnisvoll versteckt werden müssten. Daher würde es Gary nicht wundern, wenn sein Bruder just in diesem Moment versuchte, das Geheimnis zu lüften. „Wegen gestern Abend…“, fragte Gary daher, um vom eigentlichen Thema abzulenken; zu einem Gespräch, welches für ihn sowieso von größerem Interesse war und welches genau genommen auch wichtiger war, sagte Gary seinem Gewissen. Green sah ihn an und seufzte, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah. Ehe sie antwortete befreite sie ihren Mund von dem Schal, da es im Zug sowieso warm genug war – und voll genug, wie Green wie jeden Morgen bemerkte. „Gary, ich hab dir da doch schon alles erzählt. Was willst du denn noch wissen?“ „Sie hat nicht gesagt, wer sie war?“   „Nein, hat sie nicht. Wie ich bereits gesagt habe, hat sie nur darüber gemeckert, dass ihr meine Freunde seid. Wegen Dämonen und so“, antwortete Green während sie die Augen verdrehte. Sie hatte Gary nicht erzählt, dass die Fremde gesagt hatte, dass sie Green niemals respektieren würde, so wie es die „Regeln vorschrieben“, denn sie wusste nicht, was sie damit gemeint hatte. In ihren Ohren klang das alles ziemlich unzusammenhängend. „Verständlich.“ Green sah auf, aus ihren Gedanken geweckt.  „Findest du?“ „Green, Dämonen und Wächter sind seit Ewigkeiten verfeindet. Was wir gerade tun - freundschaftlich miteinander eine Konversation führen - ist im Prinzip nichts anderes als ein Verrat.“ „Ein Verrat - wem oder was gegenüber?“, fragte Green verwundert. „Unseren Rassen gegenüber“, antwortete Gary, als hätte er es auswendig gelernt. Greens verwundertes Gesicht wurde ernster, als sie seine Worte hörte und eine Weile schwieg sie, lauschte nur den Geräuschen der Metro, welche über die unterirdischen Schienen raste und ließ das Gerede der Menschen um sie herum über sich hinweg schwappen, wie auch die murmelnde Musik der vielen Musikspieler, welche in den Ohren der Menschen steckten und viel zu laut eingestellt waren. Erst als die beiden aus der Metro stiegen und den Weg Richtung Schule einschlugen, sagte Green: „Du bist wohl ein genauso großer Dämonenstreber wie du es in der Klasse bist, was?“ Von diesem merkwürdigen Satz überrumpelt starrte Gary seine Begleiterin an, skeptisch wie er diese Aussage nun interpretieren sollte. Umso mehr überraschte es ihn, Greens Lächeln zu sehen, welches größer wurde als sie ausführte: „Du hältst dich immer an die Regeln, egal welche es sind. Aber keine Sorge. Falls du zur Rechenschaft gezogen wirst, sagst du einfach ich war so süß, dass du dich hast überreden lassen!“ Green lachte, als sie sah, wie Gary rot wurde und ebenso lachend löste sie sich nun von seiner Seite, um einige Stufen der Treppe hinter sich zu lassen, die zum Eingang der Schule führten. Verdattert blieb der Halbdämon stehen, um ihr hinterher zu sehen, nicht verstehend, wie das Thema so leicht für sie abgehakt sein konnte. „Kommst du, Gary?“ Aber, obwohl er sie nicht verstehen konnte: süß war sie wirklich. „Ja, bin ja schon da.“ Das musste er sich eingestehen.       „Ist sie nicht einfach das Niedlichste, dass du jemals gesehen hast?!“ Obwohl Gary sich am Vormittag noch eingestanden hatte, dass Green schon irgendwo süß war, konnte er der Meinung seines Bruders nicht 100% zustimmen, denn so sehr war er von der Niedlichkeit des Mädchens nicht überzeugt, welches auf dem Bild zu sehen war, das Siberu ihm vor die Nase hielt. Seinem Bruder war es doch tatsächlich gelungen, die geheimnisvolle Schublade zu öffnen und er hatte nun dessen Inhalt in der Stube der beiden Brüder entleert. Ein mittleres Chaos war ausgebrochen, bestehend aus einem Haufen von Fotos und Briefen. Besonders die Fotos lagen in Siberus Augenmerk und nachdem Gary überrumpelt begrüßt worden war, setzte auch er sich auf deren Sofa, um sich die Fotos anzusehen, sich bewusst, dass dies ein Bruch der Privatsphäre war – aber im Prinzip war es Siberu gewesen, der diesen Bruch verübt hatte und er hatte Gary da mit hinein gezogen, indem er ihm das Foto unter die Nase gehalten hatte. Es war also im Prinzip nicht Garys Schuld, sondern Siberus. Ha, dachte der Stachelkopf, er war definitiv zu lange mit seinem Bruder und mit Green zusammen gewesen. Deren Einstellung zu Regeln färbte jetzt schon ab!          „Ist das wirklich Green-chan?“, fragte Siberu und zeigte auf die Fotos, die auf dem Tisch lagen, welche alle ein braunhaariges Mädchen zeigten. Allerdings war Siberus Frage nicht verwunderlich gewesen, denn besonders große Ähnlichkeit hatte dieses Mädchen nicht mit der Green, die der Rotschopf kennengelernt hatte. Das Mädchen auf den Bildern hatte nichts mit der selbstbewussten, immer lächelnden Green gemein, die sie beide kannten. Die Augen des abgebildeten Mädchens waren groß und erschienen unendlich tief zu sein; eine unendliche dunkelblaue Tiefe ohne einen einzigen Lichtfleck, der diese erleuchten konnte. Der Gesichtsausdruck war leer, ihre Lippen zeigten genau so wenig Gefühl wie ihre Augen; starr und ausdruckslos sah die kleine Green in die Kamera, als würde sie nicht bemerken, dass sie fotografiert wurde. Ihre Haare waren damals kürzer gewesen als heute; das hellbraune Haar, welches ihr bis zu ihren schmalen Schultern reichte, war zu zwei Zöpfen geflochten, was wirklich einen süßen Eindruck hinterließ, besonders, da die Schleifen beinahe übergroß waren, doch ihr Gesicht war so kalt, dass es nahezu unheimlich erschien; besonders wenn man daran dachte, dass sie zum Zeitpunkt des Bildes nicht älter sein konnte als sechs Jahre. „Da muss sie noch in Deutschland gelebt haben“, konstatierte Gary und fügte hinzu: „In diesem Waisenhaus.“ Nachdenklich ließ er seinen Blick über den Tisch gleiten, wo noch mehr Bilder das gleiche Motiv zeigten, doch alle Motive waren von derselben Ausdruckslosigkeit geprägt; auf keinem der Bilder lachte das kleine Mädchen. Manchmal saß es auf einer Schaukel und starrte in den Himmel, ohne zu bemerken, dass es fotografiert wurde, auf anderen lag es auf einem weiß bezogenen Bett, andere zeigten es beim Lernen, beim Ball spielen (wo es auch nicht lachte oder irgendeine Form von Enthusiasmus zeigte), Bilder, wo es lustlos im Essen herum stocherte oder durch den Schnee stapfte – dieses Bild war es, welches ihm besonders ins Auge sprang, denn es erinnerte ihn sofort an den heutigen Morgen. Auf dem Bild trug es einen genauso langen Schal, wie Green ihn am Morgen getragen hatte und eine große Mütze fiel tief in sein Gesicht hinein, so, dass seine leeren Augen kaum noch zu erkennen waren. „Woher weißt du das?“, fragte Siberu mit Skepsis in der Stimme und als Gary aufsah, wurde er auch ebenso beäugt. Doch davon ließ der Größere sich nicht beunruhigen und erwiderte seinen Blick: „Logisches Denken, Silver. Ehe sie nach Japan kam, war sie in Deutschland. Deine Green-chan ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, wusstest du das etwa nicht?“ Die Wortwahl seines großen Bruders schien ihn zu freuen, denn Siberu stolperte nicht darüber, dass Gary etwas über Green wusste, was er offensichtlich nicht wusste. Gary schüttelte innerlich mit dem Kopf; wie einfach es doch war, seinen Bruder zu beeinflussen. „Ich finde Green-chan auf den Bildern ja süß und so, aber warum sieht sie so…so…unnormal aus?“ Das erste Kommentar, was Gary daraufhin auf der Zunge lag, unterdrückte er, denn er musste an deren gemeinsame Kindheit denken, wo Siberu auf ziemlich vielen Bildern mehr Ähnlichkeit mit einem Mädchen gehabt hatte – doch das war ein Thema, auf welches er nicht angesprochen werden wollte, denn Siberu konnte sich wohl selbst nicht mehr erklären, warum er so gerne Zöpfe getragen hatte… „Das kann ich dir nicht erklären. Green und ich haben nicht so eine tiefe Beziehung zueinander, dass sie mir ihre Vergangenheit anvertraut.“ Auch dies schien Siberu zu freuen, denn er grinste breit: „Vielleicht vertraut Green-chan mir sie ja an!“ „Ja klar, deswegen bist du ja auch gezwungen, ihre Erinnerungsstücke zu stehlen.“ Der Angesprochene antwortete nicht darauf, sondern grummelte nur irgendetwas, was Gary wählte zu überhören. Statt zurück zu argumentieren, reichte er seinem Bruder nun einen der vielen Briefe mit den Worten: „Du kannst sie doch sicherlich übersetzen?“ Gary nahm den Brief mit zusammengekniffenen Augen entgegen, doch hatte nicht im Sinn ihn zu lesen, geschweige denn zu übersetzen. „Ja, ich kann deutsch, aber ich habe nicht im Sinne, mein Wissen dafür zu gebrauchen, in Greens Privatsphäre einzudringen. Das geht nun wirklich entscheidend zu weit.“ Wieder gelang es Siberu nicht zu antworten, denn sein Bruder unterbrach ihn, indem er fortfuhr: „Nutz deine Zeit lieber für etwas besseres, denn wenn Green es uns nicht erzählt, scheint es uns ja auch nichts anzugehen und mich interessiert auch nicht, mit wem sie schreibt.“ Eigentlich sollten dies Garys letzte Worte darstellen, doch Siberu kommentierte die Aussage seines Bruders recht effektiv: „Aber es interessiert dich, warum Green-chan solch ein Geheimnis daraus macht.“ Gary wurde ein wenig rot, da er ertappt worden war. Doch er ließ nicht klein bei und beharrte dennoch darauf, dass reine Neugierde ihm nicht die Berechtigung dafür gab. Dies waren nun endgültig seine letzten Worte und samt Tasche zog er sich in sein Zimmer zurück, um sich seiner Lieblingsbeschäftigung hinzugeben: dem Lernen.     Damit war das Thema für Gary erst einmal abgehakt: die Briefe, samt Green und Siberu, waren vollkommen im Fluss von Zahlen und Buchstaben verloren gegangen. Erst, als er Richtung Mitternacht seine Bücher beiseite gelegt hatte, um sich noch einen Mitternachtsnack zu machen, kamen diese Gedanken wieder zum Vorschein, denn Siberu hatte nicht hinter sich aufgeräumt und so lagen die Bilder mitsamt der Briefe noch in der Stube verteilt. Gary seufzte tief, doch ließ sich nicht davon abbringen in die Küche zu gehen, um den Kühlschrank zu erforschen. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich doch dazu, sich nur einen Tee zu machen und einen Apfel dazu zu essen. Während er darauf wartete, dass das Wasser im Wasserkocher zu brodeln begann, ertappte er sich selbst dabei, wie er über die Theke hinweg lugte, die die Küche und die Stube voneinander trennte. Das „Pling“ des Wasserkochers weckte ihn allerdings aus seinen Gedanken und schon wandte der Halbdämon sich seinem Tee zu, nur um beim Vorbeischreiten noch einen Blick auf das Chaos in der Stube zu werfen, welches ihn auch dazu verleitete, stehen zu bleiben. Er nahm einen Bissen von seinem roten Apfel, sah auf den Absender und ehe er sich versah, hatte er den Brief bereits in der Hand. Doch er drehte ihn nicht herum, denn in diesem Moment setzte seine Vernunft wieder ein – das konnte er doch nicht machen, das ging doch nicht… Aber er war ja nicht wie sein Bruder, er würde den Inhalt der Briefe ja für sich behalten! Er würde das neugewonnene Wissen ja nicht missbrauchen. Und schneller als er es bemerkte, hatte er schon den Brief geöffnet und wollte gerade anfangen zu lesen, als… „Auf frischer Tat ertappt!“ Verärgert über sich selbst sah Gary auf, als er diese Stimme hörte und entdeckte natürlich einen grinsenden Siberu, in dessen Zimmertür stehend. Wohlwissend, dass Gary in die Falle seines kleinen Bruders gelaufen war, konnte er seine Tat nicht leugnen und es ärgerte ihn ungemein. „Dann kannst du dein Wissen ja auch mit mir teilen, was, Aniki?“ Immer noch grinsend setzte der Rotschopf sich an den Tisch und stapelte die Briefe auf einen Haufen, dabei fröhlich summend. Es war nicht zu übersehen, dass er sich sehr darüber amüsierte, dass es ihm gelungen war, Gary eine Falle zu stellen, in die er auch noch hineingefallen war. Ohne einen Ton von sich zu geben, setzte Gary sich vor ihm hin und entschied sich dazu, das einfach über sich ergehen zu lassen. Ohne auf seinen erfreuten Bruder zu achten, überflog er den ersten Brief, jedoch nicht ohne Kommentar: „...was für eine Krakelschrift... wie von einer Sechsjährigen.“ „Du kannst es doch lesen?“ Gary schaute seinen Bruder über den Rand des Briefes stirnrunzelnd an. „Wenn man mich nicht unterbrechen würde, wäre es vielleicht möglich.“ Von diesem spitzen Kommentar ließ Siberu sich nicht beirren und sagte: „Gut! Dann schieß mal los!“ Doch sein großer Bruder zögerte. Sollte er seinem Bruder helfen? Er hatte den Brief ja schon halb gelesen...aber wenn Siberu den Inhalt des Briefes auch wusste, konnte Gary die Schuld immer noch auf ihn schieben, falls sie denn ertappt werden würden. Zwar war Gary eher nach einem Seufzen zumute, doch er räusperte sich und begann den Brief vorzulesen:   „Liebe Schwester Green...“ „Wie bitte?!“ „Silver, sei still! Immerhin sind die Wände ziemlich dünn – du willst doch nicht riskieren, dass Green etwas mitbekommt falls sie noch wach ist.“ Diesmal konnte er ein Seufzen nicht unterdrücken. „Ich lese die Fehler lieber nicht vor, denn in diesem Satz waren schon zwei...erinnert mich an Pink. Sei still, während ich vorlese, oder ich lasse es…:   Ich hoffe, dir geht es gut in Japan. Hier läuft alles wie immer. Es hat schon Anfang November angefangen zu schneien, gestern war es so schlimm, dass wir nicht raus durften! Das fand ich sehr schade... Wie du weißt liebe ich ja das Schlittschuhlaufen!   Stell dir vor! Wir haben einen Wettkampf gemacht wer am besten ist im Schlittschuhlaufen! Die Jungs haben es mal wieder ausgenutzt um anzugeben, aber ich hab gewonnen!   Letztens kamen wieder neue Kinder hierher, darunter auch ein Mädchen aus Amerika (glaube ich jedenfalls…). Sie versteht nur leider kein Wort Deutsch... es ist schwer mit ihr zu reden, auch die Lehrer kommen nicht gut an sie heran. Aber sie ist so hübsch! Ich glaube, darum wird sie auch schnell ein Zuhause finden. Ich hab noch keine neuen Eltern, aber ich will auch nicht weg. Ich will nur zu dir. Ich vermisse dich so!   Ich muss jetzt leider aufhören; gleich müssen wir essen.   Ich freu mich schon auf deine Antwort!   In Liebe, Kari   Ich warte auf dich."   Es herrschte Schweigen zwischen den Brüdern. Gary bemerkte sofort, dass Siberu enttäuscht war von dem Inhalt des Briefes: kein Drama, kein schreckliches Geheimnis. Es war ein ganz ordinärer Brief, ohne irgendetwas, was merkwürdig erscheinen könnte. „Die hat mehr Fehler als Pink...", begann Gary das Gespräch, während seine Augen die krakeligen Worte beinahe angewidert ansahen. „Ein Mädchen...“, Siberu sah zutiefst nachdenklich aus und ging nicht auf die Worte seines Bruders ein, während dieser den Brief auf den Stubentisch legte. „Eine Brieffreundschaft mit einem deutschen Mädchen, wahrscheinlich eine Bekanntschaft aus dem Waisenhaus, wo Green gelebt hat. Das würde auch erklären, warum dieses Mädchen Green mit „Schwester“ betitelt hat, obwohl sie keine leibliche Schwester hat.“ „Und du bist sicher, dass genau das im Brief stand?“ Seufzend, eine Spur genervt, richtete Gary sich auf und bemerkte sofort, dass Siberu dies gar nicht zu gefallen schien; er hielt bereits die anderen Briefe in der Hand, erpicht darauf, auch diese von seinem Bruder übersetzt zu bekommen. Doch diesen Zahn zog Gary ihm schnell, genauso schnell wie die Reste des Apfels in dem Mülleimer landeten. „Du wirst dich schon auf mich verlassen müssen...oder du kannst jedes einzelne Wort im Wörterbuch nachschlagen und ich bezweifle, dass du diese Schrift überhaupt entziffern kannst.“ Gary sah ihm an, dass sein Gegenüber etwas einwerfen wollte, anscheinend ahnte er das Ziehen des Zahnes, und fuhr fort: „Und genau das wirst du jetzt tun müssen, wenn du die Briefe übersetzen willst, denn ich werde ins Bett gehen. Also, Gu-“ „Aber du hast gerade einen Tee getrunken, das ist doch der perfekte Auftakt für eine lange Nacht!“ Seufzend schüttelte der Angesprochene den Kopf und federte sich von dem Rand der Küchentheke ab, an welcher er eben noch gelehnt hatte, um die Richtung zu seinem Zimmer einzuschlagen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich mich schlafen legen werde, aber ich werde auf jeden Fall etwas anderes tun, als dir dabei behilflich zu sein, Green auszuspionieren.“ Er sah, dass Siberu ihn unterbrechen wollte und kam ihm schnell zuvor: „Ein Brief war mehr als genug. Du wirst die Briefe und die Bilder morgen wieder zurückbringen, ohne, dass Green es bemerkt – und damit legen wir den Fall zu den Akten, haben wir uns verstanden?“ Siberu öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch nicht nur der Tonfall seines Bruders, sondern auch sein Blick, war der eines großen Bruders, welcher sein letztes Wort gesprochen hatte. Normal war Siberu niemand, der sich diesem Blick beugte, doch ehe er etwas erwidern konnte, wünschte Gary ihm schon eine „Gute Nacht“ und verschwand in seinem Zimmer. Der Rotschopf sah ihm kurz hinterher, hin– und her gerissen, ob er seinem Bruder so lange auf die Nerven gehen sollte, bis dieser ihm helfen würde, oder ob er die Briefe morgen wirklich zurückbringen sollte, in eine verschlossene Schublade, an die er so schnell wohl nicht wieder gelangen würde. Er sah sich die Briefe an und plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke; ein Gedanke, der ihm außerordentlich gefiel.     Die gepriesene Kraft des Koffeins hatte seine Wirkung gezeigt, denn Gary hatte erst kurz vor drei Uhr endlich Schlaf gefunden – nur um unsanft knapp drei Stunden später aus den Federn gerissen zu werden; von etwas anderem als seinem digitalen Wecker, welcher eigentlich erst eine Stunde später klingeln sollte und sich daher noch ruhig auf seinem Nachtschrank über einem Haufen Bücher türmte. Eigentlich war Gary kein Morgenmuffel, dennoch begrüßte er das schrille Kreischen der Türklingel nicht gerade; besonders nicht, nachdem ihm nur drei Stunden Schlaf vergönnt gewesen waren. Er wollte das Klingeln überhören und drehte sich noch einmal um, doch nachdem es auch nach verstrichenen Minuten nicht aufhörte, richtete Gary sich grummelnd auf, in Gedanken sowohl seinen Bruder verfluchend, dass dieser sich nicht dazu erbarmt hatte, die Tür zu öffnen, als auch die Person, die um halb sieben wie ein Verrückter an deren Tür klingelte. Als er Pink vor seiner Tür stehen stand, wunderte er sich daher wenig. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und wollte gerade höflich „Guten Morgen“ sagen, als Pink ihm zuvor kam: „Ich brauche deine Hilfe!“ Diese von Verzweiflung geprägten Worte wurden deutlich von ihrem Aussehen unterstrichen, denn die großen blauen Augen waren blank vor Tränen und offenbar hatte sie es eilig gehabt zu ihm zu kommen, denn sie hatte wohl vergessen sich wie sonst ihre Zöpfe zu binden und obendrein trug sie noch ihren „Hello Kitty“-Schlafanzug, versehen mit einer Kapuze, an der Katzenohren befestigt waren und die sich im gleichen Rhythmus wie Pink auf und ab bewegten.   „Was ist denn passi-“  „Ich brauch wirklich ganz, gaaaaaaaanz dringend deine Hilfe!“ Gary atmete tief durch, um seine Nerven nicht zu verlieren, an denen Pink gerade ordentlich zerrte, besonders als sie seinen Arm packte und flehend zu ihm empor sah: „Wirklich gaaanz dringend!“ „Es würde uns schon einen gewaltigen Schritt voranbringen, wenn du mir sagen würdest, worum es geht!“ Obwohl er sich kooperativ zeigte, befreite Gary sich aus Pinks Umklammerung worauf Pink nicht achtete, als sie endlich etwas anderes tat, als um Hilfe zu flehen: „Es handelt sich um Green-chan!“ Die Neugierde, aber auch Besorgnis spiegelte sich sofort in den grünen Augen des Halbdämons wieder, als er Pink fragte, ob sie in einen Kampf geraten war oder anders in Gefahr schwebte. Die Antwort Pinks beruhigte ihn jedoch schnell: „Nein, ich glaube… ich glaube, sie ist krank.“ „Okay, also keine akute Gefahrenlage. Warte, ich zieh mich nur schnell um…“ Die letzten Worte wählte Pink geschickt zu überhören, als sie sich wieder seinen Arm schnappte und den nur in einen blauen Pyjama gekleideten Gary durch das Treppenhaus in die Wohnung nebenan zerrte. Dort angekommen zeigte sie auf Greens Zimmertür, als wüsste Gary nicht, wo sich diese befand. Ohne etwas zu sagen, drückte sie ihm daraufhin ein Fieberthermometer in die Hand und presste ihn in Richtung der Tür. „Pink! Ich kann selbst gehen!“ „Gary? Bist du das?“ Im gleichen Moment wie Green, ebenfalls im Pyjama, an der Tür ihres Zimmers auftauchte und ihn verwundert, aber auch ein wenig angstvoll ansah, verschwand Pink in ihrem eigenen Zimmer und ließ die beiden alleine im Wohnzimmer. Gary warf Green das Thermometer hin, welches sie geschickt auffing, doch ehe sie etwas sagen konnte, fragte er sie: „Also Green, warum willst du die Schule schwänzen?“ Ohne rot zu werden, oder sich anders zu verraten, antwortete Green gekonnt: „Ich weiß nicht, was du meinst. Ich schwänze für gewöhnlich nicht.“ „Dann hast du dir offensichtlich ein Beispiel an Silver genommen, aber nicht alle Tricks gelernt. Du solltest auf die Anzeige des Thermometers sehen, ehe du es jemand anderem zeigst, denn ich bezweifle stark, dass du 51° Fieber hast.“  Nun wurde Green doch ein wenig rot, als er sie auf frischer Tat ertappte, doch wählte das Schweigen anstatt irgendetwas zu erwidern. „Wir schreiben heute keinen Test oder Ähnliches. Was hält dich davon ab zum Unterricht zu erscheinen?“ „Das geht dich nichts an.“ Kühn verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust und entlockte Gary damit ein Paar hochgezogene Augenbrauen. Er fühlte sich wie ein Vater, der seine ungezogene Tochter daran erinnerte, dass sie Verantwortung zu tragen hatte; Verantwortung für sich selbst und dass es sich nicht gehörte, der Schule fern zu bleiben. „Ich komm nachher vorbei und hole die Hausaufgaben ab.“ Dies schienen Greens letzte Worte zu sein, denn sie wandte sich von Gary ab und wollte sich gerade in ihr Zimmer zurückziehen, doch Gary hielt sie von diesem Vorhaben ab: „Green, das ist…“ Doch ehe er mit dem Tadeln anfangen konnte, unterbrach sie ihn schon: „Gary, ich hab gesagt, es geht dich nichts an.“ Und mit diesen Worten verschwand Green in ihrem Zimmer und hinterließ Gary alleine im Wohnzimmer, der gewiss nicht gewillt war, ihr hinterher zu gehen. Stattdessen ging er zurück in seine eigene Wohnung, wo Siberu gerade aus der Dusche kam und dabei war, seine Haare zu bürsten. Er schien Garys schlechte Stimmung zu bemerken, denn er wollte offensichtlich etwas sagen, doch sein Bruder kam ihm zuvor, denn ihm fiel etwas an Siberu auf, was seine Laune nicht gerade besserte; er trug nicht seine schwarze Schuluniform, sondern seine Freizeitkleidung. „Hast du etwa auch nicht vor zur Schule zu gehen?“ „Wieso „auch nicht“?“ Gary hatte nicht vor, die eben geführte Diskussion noch einmal zu führen und schüttelte daher nur ratlos mit dem Kopf, doch auch eine Spur verärgert. Ehe er in seinem Zimmer verschwand, um sich ebenfalls umzuziehen, allerdings um in seine Schuluniform zu schlüpfen, sagte er: „Frag Green doch selbst, sie ist ebenfalls von akuter Bocklosigkeit befallen.“ Damit war das Thema für Gary gegessen und abgestempelt zu den Akten gelegt, denn er wollte sich nicht von der Unlust der beiden den Tag samt des Unterrichts verderben lassen. Der Gedanke, dass es sich bei beiden nicht um Unlust handelte, kam ihm nicht; jedenfalls nicht in der ersten Stunde, sondern erst, als Sho ihn in der Mittagspause in der Bibliothek aufsuchte, mit der Frage wo Siberu und Green steckten. Der Angesprochene seufzte, doch antwortete, dass Siberu krank war. Doch gerade als er Green ebenfalls für krank erklären wollte, unterbrach Sho ihn: „Und Green hat dir sicherlich gesagt, dass sie krank ist, nicht wahr?“ Überrascht sah Gary sie an, doch sein Blick wurde nicht erwidert; stattdessen sah Sho hinaus zum Fenster, welchem Gary nur einem kurzen Blick schenkte: draußen schneite es nach wie vor; es hatte in der Nacht angefangen und Tokio in ein weißes Kleid gehüllt. Doch viel interessanter als den Schnee fand Gary Shos Blick, denn es war nicht oft vorgekommen, dass er sie ernst gesehen hatte. Sie bemerkte seinen Blick und wandte sich vom Fenster ab, mit den Worten: „Green mag keinen Schnee.“ Mit diesen Worten kehrte Sho ihm den Rücken zu und wollte gerade zwischen den Bücherreihen verloren gehen, doch Gary hielt sie auf: „Was meinst du damit?“ Nur einen kurzen Moment blieb der Rotschopf stehen, schien einen Augenblick zu überlegen, ob sie es ihm sagen sollte oder nicht. Letzten Endes deutete sie ein Zucken mit den Schultern an und sagte, ohne sich umzudrehen: „Ja, was mein‘ ich wohl damit…mir hat sie es nie erzählt. Vielleicht erzählt sie es dir ja?“      Egal wie lange Gary über die Worte Shos nachdachte, er konnte keine Antwort darauf finden, was hinter ihren Worten lag, genauso wenig wie er eine Idee hatte, was mit Green los war, denn er glaubte nicht mehr, dass es einfach nur damit etwas zu tun hatte, dass sie keine Lust auf die Schule hatte: immerhin war sie stets sehr erpicht darauf zur Schule aufzutauchen,  da es Geld kostete. Es lag etwas anderes dahinter. Gary hob den Kopf zum weißen Himmel: Es hatte aufgehört zu schneien, denn es war kälter geworden. Sollte Greens Verhalten etwa wirklich etwas mit dem Schnee zu tun haben? Er konnte sich dies nur schwer vorstellen und konnte sich im Moment nicht genau daran erinnern, ob Green auch das letzte Jahr zu gleichen Zeit gefehlt hatte.    Mit dem Kopf schüttelnd ging der Halbdämon in den Wohnblock, holte die Post aus dem Briefkasten und stieg die Treppen empor, um seine Tasche in dem Wohnzimmer seiner Wohnung abzustellen und sich erst einmal umzusehen, doch sein Bruder war nicht anwesend. Noch einmal schüttelte er den Kopf und verschwand daraufhin in seinem Zimmer, um sich umzuziehen. Er verschwendete keine Gedanken daran, wo sein Bruder stecken könnte, denn das plötzliche Verschwinden seinerseits war er bereits seit langem gewohnt. Er würde schon wieder kommen. Gerade als er seine vorgezogene Alltagskleidung, einen einfachen schwarzen Pullover, über den Kopf gezogen hatte, klingelte es an der Tür und das gute Gespür des Halbdämons verriet ihm, dass es Green war und sofort war seine Neugierde von Neuem geweckt. Als er die Tür öffnete, wunderte er sich zu allererst über das breite Lächeln, welches das Gesicht der Wächterin zierte; immerhin war das letzte Wort, welches sie an ihn gerichtet hatte, doch ziemlich ruppig gewesen und alles andere als freundlich. Doch auf dem zweiten Blick stich ihm etwas ins Auge, was ihn noch mehr verwunderte: obwohl Green nur eine Tür neben ihm wohnte und somit nur ein paar Schritte zwischen den beiden Wohnungen lagen, hatte sie sich nicht nur eine Jacke angezogen, sondern auch einen Schal. „Hallo, Gary! Ich wollte die Hausaufgaben abholen, kann ich reinkommen?“ Und ohne, dass es ihm gelang zu antworten, drängte Green sich an ihm vorbei in die Wohnung. Während er Green zweifelnd ansah, schloss er die Haustür hinter sich und offensichtlich bemerkte Green seinen Blick, denn sie erklärte ungeduldig: „Es ist kalt da draußen. Die Heizung des Treppenhauses muss kaputt sein.“ „Du trägst eine Jacke und einen Schal; ich denke, du wirst es überleben.“ Einen kurzen Moment sahen sich die beiden an, ohne etwas zu sagen, bis Greens Augen sich eine Spur verengten und Gary sich bereits auf eine Diskussion vorbereitete, doch diese blieb aus. Stattdessen setzte sie wieder ihr Lächeln auf und dieses Mal stach einem die Falschheit des Lächelns nur so ins Auge; sie war gar nicht zu übersehen. Wozu war dieser Aufstand ihrerseits nur gut? Es konnte doch nicht wirklich etwas mit dem Schnee und der dazugehörigen Kälte zu tun haben…oder etwa doch? Es war sehr ersichtlich, dass Green etwas gegen dieses Klima hatte, doch nur wegen niedrigen Temperaturen so ein ungewöhnliches Verhalten? „Was ist los mit dir, Green?“ Gary wusste nicht, ob es einen neuen Nutzen hatte, Green direkt darauf anzusprechen, aber er war einfach zu neugierig und anders als Siberu mochte er den Weg hintenherum nicht. Er zog es vor, Informationen direkt von der Quelle zu erhalten. Doch offenbar war Green keine sprudelnde Quelle, die bereitwillig Informationen herausrückte. Ihr Lächeln verschwand nicht, doch wurde ein wenig steif, als sie antwortete: „Ich weiß nicht, was du meinst, Gary. Mir geht es eben nicht so gut und die niedrigen Temperaturen tun meinem Immunsystem nicht gut.“ „Du hast ein ausgezeichnetes Immunsystem; du warst nicht oft krank.“ Green hob verblüfft die Augenbraue und sagte grinsend: „Ach, das weißt du? Hast du Buch geführt oder was?“ Umgehend wandte Gary sein Gesicht ab, doch Green entfiel nicht, dass er rot geworden war; anscheinend war es ihm peinlich, dass er wusste, wann sie in der Schule war und wann nicht. Darüber grinsend befand Green das Thema für abgehakt und wollte gerade wieder zu ihren Hausaufgaben zurückkehren, doch Gary schien etwas dagegen zu haben. Seine Wangen waren weiterhin mit einem leichten Rotschimmer bedeckt, doch sein Gesicht zeigte dennoch Ernsthaftigkeit, als er sie wieder ansah und sie fragte: „Sagtest du nicht, dass du mir vertraust?“ Das Grinsen auf Greens Gesicht verschwand, als er diese unfaire Waffe gegen sie anwandte; eine Waffe, die sie selbst vor einiger Zeit auf sich gerichtet hatte, als sie sich auf die Sache mit dem Vertrauen eingelassen hatte. Schon bereute sie es. Aber warum? Sie wusste, dass zum Vertrauen auch Risiken gehörten und dass das Erzählen der jeweiligen Geheimnisse dazu gehörte. Offenheit war ein Fundament des Vertrauens – doch so weit war Green noch nicht. Sie war neu auf dem Gebiet und diesen Schritt wagte sie nicht zu gehen. „Meine Vergangenheit geht niemanden etwas an. Ich hinterfrage deine auch nicht.“ Ihre Antwort fiel ruppiger aus, als sie es geplant hatte, denn eigentlich war sie nicht irritiert darüber, dass er sie ausfragte. Vielleicht war sie über sich selbst irritiert. Nachdem Green kurz schweigend in eine andere Richtung gesehen hatte, blickte sie wieder zurück zu Gary, welcher sie ebenfalls schweigend ansah. Er schien nicht weiter nachfragen zu wollen; das konnte sie in seinen Augen sehen, doch da war mehr… „ANIKI! ICH HABS! ………….. Green-chan!?“ Umgehend wirbelten sowohl Gary als auch Green herum, als sie diese Stimme hörten, die einer Person gehörte, welche urplötzlich in der Wohnungstür stand. Gary wurde sofort skeptisch, als er seinen Bruder in der Tür stehen sah; besonders als ihm auffiel, dass er etwas in der Tasche hatte. Ihn beschlich das komische Gefühl, dass das Theater von gestern Abend noch nicht vorbei war. Doch auch Siberu wurde skeptisch, wenn auch aus einem anderen Grund: ihm schien nicht zu entgehen, dass die Stimmung zwischen Green und Gary angespannt war. Zwar konnte er nicht beurteilen, was die Spannung hervorrief, doch es gefiel ihm ganz und gar nicht, denn natürlich gingen seine Gedanken in eine vollkommen entgegengesetzte Richtung als zuvor: „Stör ich etwa?“ Er musste nichts weiter erklären, es war nur allzu deutlich, woran er dachte und sofort schlug die Röte in Garys Gesicht mit neuer Kraft zurück. Schneller, als dass Green reagieren konnte, hatte Siberu die Arme von hinten um Green geschlungen und drückte sie an sich, während er sagte: „Keine Sorge, Green-chan! Die schlimmen Gedanken verschwinden gleich wieder, gaaaanz ruhig, alles wird gut, jetzt bin ich ja hier.“ „Eeeeh, ich glaube, du hast da was missverstanden, Sibi…“ Gary schüttelte den Kopf und himmelte mit den Augen, ehe er sich herum drehte und ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer verschwand: offenbar wurde es ihm zu bunt, dachte Green – oder hatte sie ihn etwa verletzt? „Der kann doch jetzt nicht einfach abhauen! Na warte, das wird ein Nachspiel geben, Aniki…!“ Das Mädchen in seinen Armen entschied sich dazu, dass es wohl besser war, den Rotschopf in dem Glauben zu lassen, dass zwischen ihr und Gary „irgendetwas“ vorgefallen war, als ihm die Wahrheit zu sagen: sie konnte nicht noch einen gebrauchen, der sie mit Fragen löcherte. Stattdessen befreite sie sich mühselig aus der Umarmung und nahm ein paar Meter Sicherheitsabstand, worüber Siberu nicht gerade begeistert schien. Trotzdem setzte er schnell wieder ein Grinsen aufs Gesicht und um sie dazu zu bewegen länger zu bleiben, fragte er sie, weshalb sie eigentlich gekommen war – sie war jawohl kaum wegen Gary gekommen, sagte er mit einem vielsagenden Grinsen. „Nein, ich bin wegen meinen Hausaufgaben gekommen…nichts weiter.“  „Achso. Die Hausaufgaben“, entgegnete Siberu ein wenig verstimmt; anscheinend hatte er geglaubt, sie würde antworten, dass sie wegen ihm gekommen war. Doch anstatt sich von ihrer Antwort entmutigen zu lassen, entgegnete er: „Was hältst du davon, wenn wir sie zusammen machen?“ Sämtliche Alarmglocken Greens läuteten, als er diesen Satz sagte, unterstrichen mit einem breiten Grinsen, denn auch ihr war klar, dass ihn die Hausaufgaben nicht interessierten. Anstatt sich etwas anmerken zu lassen, grinste Green ebenfalls, als sie dankend ablehnte.  „Danke, Sibi, aber obwohl Gary ein ziemlicher Langweiler ist, mache ich die Hausaufgaben doch lieber mit ihm.“ „Also mit mir sind die Hausaufgaben sicherlich… unterhaltsam.“ „Sibi, sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ Sein Grinsen verschwand, als sie diese Frage stellte und verwundert sah er sie an; die Frage, wie sie plötzlich auf dieses Thema kam stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dennoch antwortete er wahrheitsgemäß: „Ich bin 15.“ Überrascht schwieg Green, als sie diese Antwort hörte: er war nur 15?! Bedeutete  das, dass sie für einen Typen geschwärmt hatte, der ein ganzes Jahr jünger war als sie? Irgendwie fiel ihr schwer zu glauben, dass er erst 15 sein sollte, immerhin reagierte er auf einige Dinge gänzlich anders, als andere in seinem Alter.  „Du bist eindeutig frühreif; deine Betonung des Wortes „unterhaltsam“ war nämlich sehr zweideutig.“ „Hahaha, ja, bin ich wahrscheinlich! Liegt wohl an meinem Dämonenblut.“ Das Grinsen des Rotschopfs wurde breiter, während er in sich hinein lachte; scheinbar fasste er es als ein Kompliment auf, was eigentlich nicht Greens Intention gewesen war. Sie war immer noch von sich selbst erstaunt, dass sie tatsächlich für einen Jungen geschwärmt hatte, der so viel jünger war als sie.  Sie entschied sich dazu, dass es besser war, wenn sie jetzt ging; besonders falls Gary sich dazu entscheiden sollte, aus seinem Zimmer zu kommen, denn auf eine zweite Runde des vorigen Gespräches war ihr nicht zumute. Überraschenderweise kam Siberu ihr zuvor: „Deine Hausaufgaben bring ich dir morgen rüber, oki? Fertig, versteht sich…“ Dankend ergriff Green dieses Rettungsseil und mit strahlendem Gesicht sagte sie: „Gut! Danke, Sibi! Du bist wirklich der Einzige, auf den ich mich verlassen kann!“ Das Lachen Siberus wurde eine Spur erfreuter, als ihm diese Ehre zuteilwurde, welches er auch noch aufrecht erhielt, bis Green sich von ihm verabschiedete und die Wohnung verließ. Doch kaum war die Wächterin aus der Tür verschwunden und diese hinter ihr geschlossen, löste sich dieses Lächeln in Luft auf und an seiner Stelle trat ein boshaft triumphierendes Lächeln, als er folgendes verkündete:  „Aniki…ich verlange eine Stellungnahme von dir!“ Diese Worte ließ er kurz im Raum hängen, sich bewusst, dass sein Bruder es auf jeden Fall gehört hatte, bis er sich von der Tür abwandte und sich an das Sofa lehnte, wo er, mit Blick zu Garys Zimmertür, sagte: „Sonst erzähl ich dir auch nicht, was ich herausgefunden habe…“     Siberu kannte die Neugierde seines Bruders gut genug, um sich selbst bereits als Gewinner zu küren, denn natürlich hatte Gary gesehen, dass sein kleiner Bruder ein Objekt in der Tasche gehabt hatte. Diese Tatsache, zusammen mit seiner Abwesenheit an diesem Tage und dazu noch Greens mysteriöses Geheimnis, brachte ihn schnell aus seinem Zimmer - wenn auch missvergnügt, denn ihm war seine Schmach bewusst. Doch bevor er seine Neugierde befriedigt bekam, wusste Siberu diese Situation noch für sich auszunutzen, indem er erst einmal ein anderes Thema ansprach: „Also, spuck‘s aus; hast du dir nun ein Beispiel an mir genommen oder nicht?“ Gary hatte genauso wenig Lust Siberu reinen Wein einzuschenken wie Green es gehabt hatte, denn er wusste nicht so recht, ob er das Wissen, was er an diesem Tag erhalten hatte, oder eher die Spekulationen, denn Wissen konnte man das nicht so recht nennen, teilen sollte. Siberu würde ihn wahrscheinlich genauso zweifelnd angucken, wie Gary dieses Problem ansah. Da Gary am Fenster lehnte und hinaussah, fiel ihm auf, dass es wieder angefangen hatte zu schneien. Hieß das etwa, dass Green wieder nicht zur Schule auftauchen würde? Was für eine Ausrede würde sie sich diesmal einfallen lassen? „Hej, ich rede mit dir.“ Garys Augen wandten sich widerspenstig vom Fenster ab und sahen zu seinem Bruder. „Ich habe schon lange gelernt, dein schwachsinniges Gelaber zu überhören.“ Und Siberu hatte gelernt, seine Einwände und Versuche das Thema zu wechseln, zu ignorieren. Siegessicher stemmte er die Hände in die Hüfte und sagte: „Du kannst es auch gleich aufgeben; du besitzt weder das Können und die Fähigkeiten – ganz zu schweigen vom Aussehen! -  um dich mit mir messen zu können. Also, lass mich dir eins gesagt haben: Green-chan gehört mir, klar?“ Erschöpft himmelte Gary mit den Augen und entschied sich, darauf nicht weiter einzugehen.  „Gut, wenn wir dieses Thema jetzt abgehakt haben, können wir ja fortfahren. Was hast du herausgefunden?“ Der Rotschopf überlegte kurz, ob er die Diskussion nicht doch weiter ausführen wollte, doch die Worte brannten zu sehr auf seiner Zunge, um noch weiter zurückgehalten zu werden und so erzählte er seinem Bruder, was vor zwei Stunden passiert war.     Besagte zwei Stunden vorher befand Siberu sich am anderen Ende von Tokio, mitten im feinen Schneegestöber, welches die Straßen weiß malte und die vielen großen Häuser um ihn in eine malerische Winterlandschaft tauchten, die hier, fernab von Tokios Getümmel und Chaos, ungestört schlummerte. Siberu zog sich die schwarze Kapuze weiter ins Gesicht, während er sich nach dem Haus, oder eher der Villa, umsah, welche er suchte. Eigentlich hatte er nichts gegen den Schnee, aber dennoch störte ihn das Klima im Moment, denn zu kostbar war ihm seine Frisur.    Vor einem großen Haus, welches im westlichen Stil gebaut worden war, blieb Siberu stehen, nicht, weil ihm sein sechster Sinn verriet, dass sich in so einem Haus viel zu holen befand, sondern weil das goldene Ziffernblatt, welches sich aus dem Schnee erhob, ihm verriet, dass es sich hierbei um das von ihm gesuchte Haus handelte. Um sicher zu sein, wischte er den restlichen Schnee des Hausschildes weg und ein Name kam zum Vorschein: Kitayima. Genau der Name, den er gesucht hatte. Siberu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen – wie er sich auf das freute, was ihm bevorstand! Er mochte dieserlei Vorhaben; kleine, reizvolle Herausforderungen, die den Alltag in der Menschenwelt auflockerten und für Spannung sorgten; ein Gedanke, den Green zu teilen schien, wenn er an die letzte Woche dachte … sie war überraschend gut gewesen, musste Siberu zugeben. Green hatte beinahe ein natürliches Talent dafür. Aber nein! Nicht jetzt darüber nachdenken; über Green konnte er später genug schwärmen – Konzentration! Doch anstatt die Klingel zu betätigen tat er so, als würde er das Haus bewundern und ging daraufhin weiter, als wäre nichts geschehen. Erst, als er aus einem sicheren Abstand andere Personen an dem hohen Haustor vorbei gehen sah, entschied er sich, dass die am Zaun befestigte Kamera genug gesehen hatte und teleportierte sich hinter den zwei Meter hohen Zaun an die linke Hauswand, an die er sich drückte, um nicht gesehen zu werden. Da er das Haus nicht vom Inneren kannte, wäre es nicht schlau gewesen, sich direkt hinein zu teleportieren, da er womöglich noch mit etwas zusammen gestoßen wäre. Das Fenster zu seiner rechten war dunkel und als er hinein lugte, sah er, dass es sich um einen kleinen Raum nur mit Uhren gefüllt handelte. Da er Uhren nicht als gefährlich einstufte teleportierte er sich hinein und wurde prompt von dem Ticken der vielen Zeitmesser begrüßt. Große, kleine, moderne, antike; alles was man als Uhr bezeichnen konnte, sammelte sich hier in diesem Raum zusammen, aufgeräumt und geputzt. Doch anstatt dieser Sammlung Respekt zu zollen, wurde Siberu eher wahnsinnig von dem aufdringlichen Ticken der vielen Uhren und legte daher eilig sein Ohr an die einzige Tür, die er finden konnte; schnell fand er heraus, dass der Flur, der dahinter lag, verlassen war. Doch nicht nur sein Gehör verriet ihm dies, sondern auch sein dämonischer Instinkt: die Aura des Uhrensammlers hielt sich nämlich in der zweiten Etage auf.   Froh, das Zimmer hinter sich lassen zu können, schlüpfte er leise hinaus auf den spärlich beleuchteten Gang und bekam vom Haus schnell den Eindruck eines europäischem Spukhaus; dunkel, beklemmend und alles andere als seine Gäste willkommen heißend. Was kam als nächstes? Eine Folterkammer? Siberu unterdrückte ein Lachen, als er sich dies vorstellte und ging weiter, auf der Suche nach dem, was er suchte. Viele der Dinge, die hier auf Kommoden und Regale standen, sahen überaus wertvoll aus und die antiken Uhren, die er im letzten Zimmer gesehen hatte, brachten garantiert ebenfalls ein nettes Sümmchen ein. Doch nein! Fokus, Siberu, Fokus! Es kam überhaupt nicht in Frage, dass er sein Ziel außer Augen verlor. Es ging immerhin um Green! Gerade als der unerlaubte Besucher sich dem nächsten Raum zuwenden wollte, hörte er Schritte, die eindeutig näher waren, als er es eigentlich hatte angenommen – und obendrein war es nicht nur eine Aura, sondern gleich zwei. „Und ich sage dir Asuka, mein sechster Sinn irrt sich nie.“  „Ai-cha-„ „Untersteh dich! Ich heiße Kaira. K-A-I-R-A, verstanden? NICHT „Ai-chan“ - wie oft denn noch?!“ Die Sprechende und die, die angeschnauzt wurde, bogen um die Ecke, im gleichen Moment, wie Siberu sich in Sicherheit brachte. Die eine konnte der Rotschopf zweifelsohne als Kaira identifizieren, doch das Mädchen, was sie begleitete, kannte er nicht und er war sich sicher, dass ihm ein so exotisches Aussehen im Gedächtnis geblieben wäre: ihre eisblauen Haare, welche zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, ergaben einen perfekten Kontrast zu ihrer braungebrannten Haut und auch ihre Kleidung untermalte diesen Kontrast wunderbar, denn diese war violett und obendrein passte sie nicht zur jetzigen Jahreszeit, denn sowohl ihr Oberteil, als auch ihre knappen Shorts, sahen danach aus, als hätte sie nicht bemerkt, dass es draußen schneite. Zwar war sie älter als er, dennoch brachte ihn ihr Aussehen zu einem Grinsen, denn schlecht sah sie nicht aus. Besonders ihr Körperbau war… vorteilhaft, ganz im Gegensatz zu Kairas, welcher eher als drahtig beschrieben werden konnte und nicht besonders feminin wirkte.   Das unbekannte Mädchen, welche Kaira „Asuka“ genannt hatte, verschränkte die Arme hinterm Kopf und grinste breit. „I‘m so sorry… Ai-chan. Hört sich doch viel süßer an, weiß gar nicht was du hast - und bis du mich nicht geschlagen hast, habe ich noch das Recht, dich zu nennen wie ich will!“ Um ihre Worte zu unterstreichen zwinkerte sie Kaira zu und fuhr fort, während ihre Begleiterin anscheinend vor Wut kochte, als sie daran erinnert wurde.  „Für deinen sechsten Sinn hättest du mich trotzdem nicht wecken müssen…immerhin stehe ich für das Sicherheitssystem des Hauses, womit es vollkommen einbruchssicher ist!“ Davon hatte Siberu nichts mitbekommen. „Wie bitte?! Du hast geschlafen, während ich dabei war, den Rekord zu brechen?!“ „Ja, meinen schlägst du eh nicht. Da hab ich mir erlaubt zu schlafen…ich bin so hundemüde, das glaubst du nicht! Ich hätte nicht die gestrige Nacht durchmachen sollen…“ Diese Worte wurden von einem herzhaften Gähnen unterstrichen und brachten ihre Müdigkeit deutlich zum Ausdruck. „Und sind deine Sicherheitsvorkehrungen auch wirklich dämonensicher?“ „… mein neues System schon, da es mit einem Bannkreis ausgerüstet ist. Aber, ej! Ai-chan, hast du noch Pockys? Die mit Erdbeergeschmack? Ich liebe die Dinger…ich lass‘ dir auch die mit Minze, wenn du willst!“ Geschickter Themawechsel; trotzdem musste sie wohl dringend ein Update installieren, denn Siberu hatte auf jeden Fall kein Problem gehabt, hineinzukommen. Während Kaira ihre Freundin anbrüllte, sie fräße ihr noch die Haare vom Kopf, hatte der Rotschopf endlich glaubte das gefunden zu haben, das er gesucht hatte. Das Problem dabei war nur, dass der Gegenstand etwas ungünstig platziert war: er befand sich in der Brusttasche Kairas. Aber was anderes war ja eigentlich auch nicht zu erwarten…ok, das war ein Hindernis, aber keines, welches er nicht bewältigen konnte. Sie zu verletzen war keine Option, denn er glaubte nicht, dass ihm das besonders viele Pluspunkte bei Green einbrachte und jeder Minuspunkt war einer zu viel. Außerdem wäre das ohnehin eine Verschwendung von gutaussehenden Mädchen…also wählte er die schmerzlose Version; eine der leichtesten Techniken, aber wahrscheinlich auch einer der brauchbarsten: ein Schlafzauber. Einfach. Aber genial. Das Mädchen, was ohnehin schon übermüdet war, wanderte als erstes in das Reich der Träume, mit einem fast schon dankbaren Lächeln. Ein wenig schwerer tat Kaira sich, doch nach kurzem Widerstand ihrerseits folgte sie ihrer Freundin. Zufrieden über seine Arbeit kam Siberu aus seinem Versteck heraus und beäugte seine Opfer grinsend, ehe er sich über Kaira beugte. „Dankeschön, die leih‘ ich mir mal aus!“ Mit diesen Worten schnappte sich Siberu den Gegenstand aus Kairas Brusttasche: eine goldene, aufwendig dekorierte Taschenuhr, welche sich bereits auf den zweiten Blick als keine normale Uhr entpuppte: das erste Ziffernblatt sah völlig normal aus, außer dass unter den herkömmlichen Zahlen auch die römischen geschrieben standen. Dieses Ziffernblatt konnte man beiseite schieben und eine verstellbare Digitalanzeige kam zum Vorschein. Diese zeigte jedoch nicht nur die Uhrzeit an, sondern auch das Jahr und das Datum. Doch auch dieses konnte man verschieben und unter eben dieser kam die letzte kleine, runde Scheibe zum Vorschein und kaum, dass Siberu diese enthüllt hatte, erschien ein kleines Hologramm der Welt, wo als momentaner Standort selbstverständlich Japan gekennzeichnet war. „Wow cool!“, staunte Siberu nicht schlecht, als er dieses kleine Meisterwerk der Technik in seinen Händen hielt, feingearbeitet und ins Detail verliebt. Zwar besaß er nicht die gleiche ausgeprägte Neugierde wie sein Bruder, dennoch war diese in diesem Moment geweckt und ohne darüber nachzudenken berührte Siberu den roten Punkt, der sich über Japan befand und fuhr mit diesem über den kleinen Globus, bis der Rotschopf, grinsend wie ein kleines Kind, den Finger vom Hologramm löste, ohne darauf zu achten, dass der Punkt sich über Sibirien befand. Er wollte die Uhr gerade einstecken, als diese sich von selbst zusammenklappte und sich in Luft auflöste – zusammen mit Siberu. Noch bevor er seine Augen wieder öffnete, konnte er nicht drum herum den drastischen Temperaturabfall zu bemerken und als er seine Augen öffnete, unterstrich die weiße Sicht die Kälte: Schnee, so weit das Auge reichte - und in dieser Wallung an Schnee reichte die Sicht nicht gerade weit. „Ach, du scheiße!“ Das Fluchen brachte ihn auch nicht weiter, sondern eher das gelobte Teleportieren, denn auf die erneute Hilfe der Uhr konnte er dankend verzichten. Zurück in Tokio atmete er erleichtert auf: das würde eindeutig nicht sein Traumreiseziel werden! Aber immerhin hatte er das gefunden, was er gesucht hatte: denn er glaubte, oder eher hoffte, wenn er auch noch die Zahlen auf der Digitalanzeige verändern würde, könnte diese Uhr einem vielleicht als Zeitmaschine dienlich sein. Diese besagte Uhr unterlag nun Garys prüfendem Blick. Er war sich nicht ganz sicher, ob er den Worten seines Bruders trauen konnte; zwar wusste er, dass Zeitwächter in der Tat in der Lage dazu waren, durch die Zeit zu wandeln, doch er war kein Zeitwächter, also behagte ihm der Gedanke, durch die Zeit zu reisen, gewiss nicht; besonders, da er Siberus Enthusiasmus nicht teilte. Dieser saß momentan seelenruhig auf dem Sofa, ihm gegenüber, und war damit beschäftigt, seine Haare nach dem sibirischen Schneesturm zu föhnen. „Und du bist wirklich der Meinung, dass du weißt, wie dieses Ding funktioniert?“, fragte Gary, nachdem er die Uhr auf den Tisch gelegt hatte und nun Siberu skeptisch ansah.    „Jap, und wie ich das meine! Man kann das erste Ziffernblatt beiseite schieben. Darunter kommt dann eine Digitalanzeige mit-“ „Danke, das habe ich schon herausgefunden“, antwortete der Ältere von den beiden, als er auf Siberus Beschreibung hin die Uhr wieder in die Hände genommen hatte und diese nun noch ein zweites Mal untersuchte, wobei er besonders das Ziffernblatt genauer in Betracht nahm. „Sag mal, Silver, wie kamst du überhaupt auf die Idee, diese Uhr zu klauen?“ Der Angesprochene sah ihn verwundert an. „Na, Green-chan hat uns doch erzählt, dass diese Furie eine Zeitwächterin ist …“ „Das meinte ich nicht.“ Sein Blick wurde streng, als er seinen Bruder scharf ansah: „Es ist überaus unüberlegt, einen Wächter zu bestehlen… Allgemein finde ich, dass du die Beschafferei hier in der Menschenwelt unterlassen solltest. Eine solche Handlung ist hier nämlich kriminell.“ Der Angesprochene schnaubte und winkte den Vorwurf seines Bruders mit der Hand ab: „Ich wusste schon, warum ich dir nichts von unserem Hobby erzählen wollte, du elendiger Spießer …“ Als Gary das Wort „unserem“ hörte, horchte er merklich auf: „“Unserem Hobby“? Wie darf ich das denn verstehen?“ Siberu setzte eine Unschuldsmiene auf und sah sich geheimnistuerisch im Raum um, bis Gary mit Nachdruck nachhakte. „Naja, du weißt doch, Aniki … Green-chans Rechnung von gestern?“ „Ja?“   „Die war wohl ziemlich hoch.“ „Ja und?“ „Und Pink muss ja auch was essen.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Naja, da hat mich Green-chan um Rat gebeten.“ „Um… Rat?! Warum geht sie zu dir, um Rat zu erhalten--- warte.“ Gary schien es zu dämmern und das, was er gerade begann zu verstehen, schien ihm so gar nicht zu gefallen: „Du hast sie zum Stehlen angestiftet?! Das ist dein Rat?!“ Sofort verteidigte Siberu sich: „Ne-ein! Ich habe sie nicht zum Stehlen angestiftet, sie hat mich um ein paar Tipps gebeten … Green-chan ist selbst schon erfahren auf dem Gebiet! Das habe ich – ehrlich gesagt – schon geahnt und sie hat wahrscheinlich auch geahnt, dass ich mich damit auskenne … wir waren dann zusammen unterwegs – und eins kann ich dir sagen; sie hat’s drauf! Also für einen Menschen, ehm, Wächter.“ Der Rotschopf kicherte grinsend in sich hinein, Garys fassungslosen und auch verärgerten Blick ignorierend. „Green… stiehlt? Schon die ganze Zeit? Ohne deinen Einfluss?“ „Ja, wusstest du das denn nicht?“, antwortete Siberu, den Triumph, dass er in so kurzer Zeit etwas über Green wusste, was Gary nicht wusste, genießend. „Nein, das wusste ich nicht.“ „Naja, warum solltest du auch – als ob sie einem Spießer wie dir so etwas erzählen würde! Aber sie hat ja jetzt mich, hehe! Wir sind immerhin auf der gleichen Wellenlänge!“ „Ihr solltet es beide nicht tun.“ „Natürlich.“ „Ich meine es ernst, Silver. Du, als Dämon, das ist eine Sache – aber Green, als Hikari …“ „Pff! Willst du dich für’s Jenseits bewerben? Da oben haben die sicherlich noch Platz! Brauchst nur noch weiße Kleidung, dann kannst du dich zu ihnen gesellen – aber zuerst widmen wir uns jetzt meinem neusten Beutezug, okaaaay?“ Auf Siberus Kommentar nicht weiter eingehend konzentrierte Gary sich nun tatsächlich wieder auf die aktuelle Errungenschaft seines Bruders und setzte wieder zum Tadeln an: „Ist dir eigentlich klar, dass du einen Wächter bestohlen hast, und dass das für große Probleme sorgen kann? Wächter sind verbunden mit ihren Waffen - wenn das hier also eine Waffe ist, hat sie sicherlich schon mitbekommen, dass ihre Uhr fehlt. Zeitwächter sind nicht zu unterschätzen, wie wir gestern am eigenen Leib erfahren haben …“ „Ach, das habe ich alles unter Kontrolle!“ Skeptisch hoben sich die Augenbrauen des älteren Bruders, die Gefahr witternd, sobald Siberu behauptete, dass er alles unter Kontrolle hätte. „Das hier“, fing Siberu an und zeigte auf die Uhr: „Ist ja eine Zeitmaschine, und mit der reisen wir zurück in die Zeit-“ „“Wir“?“ „Ja, wir. Du kannst mir nichts vormachen, Aniki! Ich weiß, dass dich Greens Vergangenheit genauso interessiert wie mich, also hör zu! Danach reisen wir zu dem Zeitpunkt zurück, wo ich die Uhr gestohlen habe und machen die Tat rückgängig. Tataaaa!“ „Davon abgesehen, dass ich deinen Plan als fragwürdig einstufe…wir haben beide kein Recht, in Greens Vergangenheit herumzuschnüffeln. Wenn sie es uns nicht von alleine erzählen will, dann müssen wir es akzeptieren.“ Der Angesprochene verdrehte die Augen. „Ja, genau, wir akzeptieren es.“ Eine kurze Pause, während die beiden sich ansahen und auch Gary sich bewusst wurde, dass er es eigentlich genauso wenig akzeptieren wollte wie Siberu. Doch er war gut erzogen, im Gegensatz zu Siberu, und seine Moral verbot es ihm, in die Vergangenheit einer anderen Person einzudringen. Besonders, wenn diese Person es nur allzu deutlich gemacht hatte, dass sie nicht wollte, dass jemand es erfuhr. Während Gary mit sich selbst und seiner Neugierde rang, war Siberu kurz in seinem Zimmer verschwunden, zusammen mit der Uhr. Als er samt dieser wieder in die Stube zurückkehrte, fragte er seinem Bruder noch einmal, ob er nicht mitwollte, zusammen mit den Worten, dass er auch alleine gehen würde. „Ich habe doch „nein“ gesagt! Green würde uns umbringen!“ „Jap, sie würde uns mehr als einen „Light Spirit“ hinterher hetzen…aber, was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, ne?“ Weiterhin rang Gary mit sich selbst, aber nun auch mit dem Gedanken, dass er Siberu wohl kaum auf so eine gefährliche Reise gehen lassen konnte. Dieser Vollidiot war viel zu voreilig, handelte viel zu unüberlegt und war sich den Gefahren einer Zeitreise sicherlich obendrein nicht bewusst. Gary konnte Siberu nicht alleine gehen lassen…oder war das nur eine Ausrede für sich selbst, um mitzukommen?   Während Gary weiter gegen sein Gewissen ankämpfte, veränderte der Rotschopf die Zeitdaten der Uhr und verkündete plötzlich erfreut: „So, es geht los!“ Gary, der gerade unsanft aus seinen Gedanken gerissen wurde, gelang es nicht, sich aus dem Griff seines Bruders zu befreien, als dieser seinen Arm packte. Auch die Worte des Protestes verschwanden denn sie gingen unter im Meer der Zeit…     24.12.1994   Gary rang nach Luft, was sich als ein schweres Unterfangen herausstellte, denn sein Bruder lag auf ihm drauf, wurde jedoch schnell beiseite geschubst, ohne Rücksicht auf den Rotschopf zu geben, denn Gary war alles andere als angetan von dessen plötzlicher Entscheidung. „Ich hatte nicht einmal zugestimmt!“ „Zurück kommst du jetzt jedenfalls nicht mehr, also find dich damit ab“, antwortete Siberu ärgerlich, allerdings nicht über seinen Bruder, sondern darüber, dass seine Frisur schon wieder hinüber war, obwohl er sie gerade erst gerichtet hatte. Schon wieder wegen Schnee! Verfolgte ihn dieser? Unterdessen beschloss Gary sich dazu, erst einmal ruhig die Lage zu überblicken und klaren Kopf zu bewahren. Es war dunkel um sie herum, da die Wolken den Mond verdeckten, dennoch konnte Gary dank seines Dämonenblutes schemenhaft die Konturen von Tannenbäume entdecken, die sich um sie herum befanden und genauso vom Schnee eingehüllt wurden wie alles andere in diesem Wald. Lautlos fiel der Schnee vom Himmel herunter und hatte dafür gesorgt, dass der Boden des Waldes nicht mehr auszumachen war, denn der Schnee hatte eine Höhe von 20-30 Zentimetern erreicht. Es war bitterlich kalt und sie befanden sich irgendwo im Nirgendwo. „Silver, wo sind wir? Und vor allen: wann sind wir?“ Der Angesprochene erhob sich und tat es seinem Bruder gleich, indem er sich auch erst einmal umsah. „Tja…wo: … irgendwo in Deutschland.“ „Ach was, hätte ich nicht gedacht. Geht das vielleicht auch ein wenig genauer? Kennst du das Bundesland vielleicht?“ Das war mal wieder typisch sein Bruder und genau der Grund, weshalb es vielleicht doch gut war, dass Gary anwesend war auf dieser kopflosen Mission: mal wieder rannte er planlos drauf los und sich darauf verlassend, dass andere das Denken für ihn übernahmen. „Bundesland?“, fragte Siberu verwirrt und fügte hinzu: „Keine Ahnung, ist doch auch vollkommen egal.“ „Ist das hier gerade Zufallsprinzip…?“ „Nein! Wie sind 100% richtig!“ „Super: das nächste Mal sollte ich wirklich die Planung übernehmen. Und in welcher Zeit? Das müsstest du nun wirklich wissen.“ „Weinachten 1994, zwei Wochen vor dem ersten Foto. Zufrieden, Anik-“ Die Worte des Rotschopfes blieben ihm im Halse stecken, denn plötzlich stolperte er über etwas, dass er in der weißen Menge nicht gesehen hatte. Laut fluchend richtete er sich wieder auf, putzte sich den Schnee von der Kleidung, während Gary grinsend die Augen verdrehte. „Silver, ohne dein „Dämonen-Sein“ in Frage zu stellen: Du siehst doch genauso gut wie ich, oder?“ Als Antwort zeigte Siberu anklagend auf etwas, das fast vom Schnee verdeckt war und daher kaum zu erkennen war. „Ich bin über etwas gestolpert, klar?! Das passiert jeden Mal, besonders, wenn es so zugeschneit ist, ok?!“, rechtfertigte sich Siberu und wollte gerade seine Wut an dem, wie er annahm, Stamm auslassen, als sein Bruder ihn an dieser Tat hinderte. „Das ist kein „etwas“, sondern  ein „jemand“.“     3.12.2005 Japan/Tokio   „Gewonnen! Mal wieder, hahaha! Oh, und da fällt mir doch noch ein, dass ich dir etwas erzählen wollte, Ai-chan!“ Daraufhin ließ das blauhaarige Mädchen den Controller fallen, mit dem sie gerade noch siegreich das Spiel für sich entschieden hatte und streckte sich auf dem Kissen aus wie eine Katze, ehe sie nach einem ihrer geliebten Pockys mit Erdbeergeschmack griff und belustigt dabei zusah, wie Kaira sich über die 7te Niederlage ärgerte. Diese wandte sich nicht vom Bildschirm ab, als sie antwortete: „Schon wieder, ich fasse es nicht! Wie machst du das nur!? Schummelst du und das ist das, was du vergessen hast, zu sagen?“ „Brauch ich nicht, meine Berechnungen lassen mich sowieso nie in Stich. Nein, ich meinte, dass dein sechster Sinn dich vorhin nicht getäuscht hat.“ Nun war der Bildschirm doch uninteressant und langsam drehte Kaira den Kopf und sah zu dem grinsenden Mädchen neben ihr. „Wie bitte?! Ich habe mir die Aura also nicht eingebildet und auf dein System ist alles andere als Verlass?!“ „Du hast nicht das neue System. Du bezahlst ja nichts dafür und die Materialkosten sind nun mal nicht umsonst! Und warum ich nichts gesagt habe? Nun…weil…“ Entschlossen schüttelte sie die Müdigkeit ab und sprang voller Tatendrang auf: „Weil ich vorhabe, mein neues Suchsystem auszuprobieren! Der Besucher hat nämlich was mitgehen lassen… und ja, er hat deine Uhr. Das da an deinem Handgelenk ist eine gute Fälschung.“  Zuerst sah Kaira entsetzt die Uhr an ihrem Handgelenk an, dann zurück zu Asuka, welche mit erhobenem Zeigefinger erklärte: „Das da ist eine ganz normale Uhr, belegt mit einem Illusionszauber. Unser kleiner Besucher war gar nicht so dumm.“ Anstatt die Farbe zu verlieren, riss Kaira sich zusammen und entschied sich dazu, dass sie sämtliche Diskussionen für später aufbewahren würde.  „Los, lass uns  meine Uhr zurück holen! Und ich hoffe für dich, dass dein Suchsystem eins a funktioniert!“     Fertiggestellt: 13.01.11   Kapitel 12: Schneeweiße Erinnerungen Teil 2 ------------------------------------------- 24.12.1994 Deutschland/irgendwo im Nirgendwo     Das „Etwas“, über das Siberu soeben gestolpert war, lag nun in den Armen Garys und wurde von beiden argwöhnisch beäugt: es handelte sich augenscheinlich um ein halb erfrorenes Mädchen. Das kleine Mädchen war zwar nicht bei Bewusstsein, aber sie schienen gerade noch rechtzeitig genug auf es gestoßen zu sein, um es vor dem Schlimmsten bewahren zu können. Wie lange es wohl schon in dieser Eiseskälte gelegen hatte? Und aus welchem Grund? Gary spürte einen Anflug von Neugierde, als er die Statur des kleinen Bündels in seinen Armen mit den Augen abfuhr. Obendrein war es auch noch spärlich bekleidet, überhaupt nicht für diese Jahreszeit geeignet; es trug einen knielangen, karierten Rock und dazu einen dunkelblauen Pullover, jedoch keine Jacke darüber. Seine Kleidung musste zudem eher als dünn eingestuft werden und Schuhe trug es ebenfalls nicht; ganz zu schweigen von einem Schal oder Handschuhen. Ziemlich unüberlegt … was machte so ein kleines Mädchen hier draußen? Es konnte unmöglich älter als fünf Jahre sein. „Hey. Ich hoffe dir ist klar, dass du das Gör nicht retten wirst. Das könnte schlimme Folgen haben! Noch nie so was in Filmen gesehen? Wenn man die Vergangenheit verändert, kann das schwerwiegende Schäden in der Zukunft haben!“, meldete Siberu sich nun auch zu Wort - allerdings wussten beide, dass Siberu einen anderen Beweggrund hatte, als sich Sorgen um die Zukunft zu machen; er hegte eine natürliche Abneigung gegen Kinder unter zehn Jahren, seitdem ein kleines Mädchen ihm im Schlaf den Zopf abgeschnitten hatte und er so sehr lange dazu gezwungen war, mit kurzen Haaren zu leben – zu lange für seinen Geschmack. „Silver - erstens wird dies wohl kaum den nächsten Elementarkrieg auslösen und außerdem gibt es noch einen weiteren Faktor, der dir sicherlich auffallen wird, wenn du dir das Mädchen genauer ansiehst.“ Der Angesprochene tat wie geheißen und betrachtete das Mädchen mit Skepsis in den Augen. Die hellbraunen Haare des bewusstlosen Mädchens waren zu Zöpfen geflochten, welche jedoch zerfleddert waren, denn die blauen Schleifen, die die Zöpfe zusammenhielten, lösten sich bereits. Nur einen kurzen Augenblick musste Siberu über die Worte seines Bruders nachdenken, ehe er verstand, worauf dieser hinauswollte: „Sag mir nicht … Das ist doch nicht etwa Green-chan?!“ „Blitzmerker“, zischte Gary, während er sich samt der kleinen Green aufrichtete und sich umsah, ob irgendwo Anzeichen von Menschen auszumachen waren. Die gleiche Frage, die Gary sich auch schon gestellt hatte - nämlich die, was Green hier draußen in dieser Kälte tat - stand nun auch Siberu ins Gesicht geschrieben. Doch anstatt diese zu stellen, widmete er sich einem anderen Thema: „Dann sollten wir sie doch aber liegen lassen. Denn das heißt ja, dass jemand kommen und sie retten wird … oder?“ Gary wandte sich nur kurz um zu seinem kleinen Bruder, der ihn verwirrt ansah, ehe er sich abwandte und zu gehen anfing.  „… Es … ist … so … kalt …“ Gary blieb stehen, als diese zerbrechliche Stimme plötzlich zu hören war; eine Handlung, die Siberu ihm sofort nachahmte. Zwar verstand nur Gary die deutschen Worte der kleinen Green, doch beide hielten den Atem an, aus Furcht, was wohl passieren würde, wenn Green ihre Stimmen in diesem Moment wahrnehmen würde und sie womöglich früher kennenlernen würde, als es eigentlich vorgesehen war – das würde nämlich auf jeden Fall die Zukunft verändern. Doch Green war nicht wieder bei Bewusstsein: Sie hatte nur im Traum gesprochen und drückte ihren zitternden Körper nun instinktiv an Gary auf der Suche nach der Wärme seines Körpers. Die beiden Brüder wechselten einen Blick aus, der Gary sagte, dass Siberu genau das gleiche gedacht hatte wie er: Sie sollten sich beeilen und die kleine Green schnell irgendwo unterbringen, ehe sie aufwachte und sie dann vor einem überaus schlechten Szenario stehen würden. Was würde geschehen, wenn Green sie bereits jetzt zum ersten Mal sah? Gary wandte sich von Siberu ab und ging entschlossen weiter in den Wald hinein, dicht gefolgt von seinem Bruder, der sich nun in Schweigen hüllte, obwohl ihm genauso viele Fragen durch den Kopf schossen wie Gary. Der Strom an Fragen verstummte jedoch plötzlich, nachdem sie mehrere Meter schweigend vorangegangen waren, denn wieder erklang Greens Stimme:  „…Nicht … lass das … ich will nicht …“ Dieses Mal verlangsamte Gary seine Schritte nicht, obwohl er bemerkte, dass Siberu ihn eindringlich ansah; anscheinend war er sehr erpicht darauf, die Übersetzung dieser Worte zu hören. Gary schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger auf seine Lippen, um Siberu zu verdeutlichen, dass er nicht vorhatte, irgendwie eine Konversation mit ihm zu führen und dass er wohl oder übel warten müsse. Obwohl Gary sich darauf konzentrierte, zügig voranzugehen, fragte er sich unweigerlich, ob Green nur einen schlechten Traum hatte oder ob die Worte tatsächlich an ihn gerichtet waren. Wenn Letzteres zutraf, stellte Gary sich die Frage, warum sie nicht gerettet werden wollte.   Garys Gedanken wurden von Siberu unterbrochen, der seinen Arm plötzlich ausstreckte und nach Westen zeigte. Sein großer Bruder folgte seinem Beispiel und sah in die von ihm gezeigte Richtung - und tatsächlich: zwischen den vielen verhangenen Tannen war Licht zu erkennen. Schnell durchquerten die beiden Halbdämonen die Ansammlung von schneeverhangenen Tannen und erblickten nun ein nett aussehendes Holzhaus, welches an einem zugefrorenen See ruhig und verschlafen dalag. Im Garten standen Spielgeräte, und als Gary einen verstohlenen Blick auf das Schild neben der Eingangstür warf, wurde sein Verdacht schnell bestätigt, dass es sich um ein Waisenhaus handelte; wahrscheinlich das Waisenhaus, in dem Green aufgewachsen war. Gary bedeutete seinem Bruder, dass er bei den Tannen versteckt bleiben sollte und er alleine zur Tür gehen würde. Die Antwort Siberus war ein beleidigter Blick, doch er verzog sich in die Schatten der Nadelbäume, während Gary sich auf den steinernen Gehweg teleportierte, der von der Auffahrt zur Haustür führte. Kurz vor der Tür überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl, was sich verstärkte, als er die kleine Green von sich lösen wollte, diese sich aber krampfhaft dagegen wehrte, indem sie sich verzweifelt - doch nach wie vor schlafend - an ihn klammerte. Im Endeffekt konnte Gary sich aus ihrem Griff befreien, doch das mulmige Gefühl verstärkte sich, als er sie behutsam gegen die Haustür lehnte und einen Blick auf die Holzfassade des Hauses warf. War dieser Ort etwa so schrecklich? Er wirkte sehr gemütlich auf ihn. Gary hatte keine Zeit, um andere Möglichkeiten und die damit verbundenen Konsequenzen für die Zukunft zu überdenken, denn Green schien kurz davor zu sein aufzuwachen und daher betätigte Gary schnell die Klingel. Daraufhin teleportierte er sich zurück zu Siberu und wurde ebenfalls eins mit den Schatten. Das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los, besonders als er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie jemand in der Tür erschien und Green mit hineinnahm, doch die Unruhe wurde schnell von etwas anderem verdrängt: Sein Bruder war kreidebleich, was sicherlich nicht von der Kälte kam.  „… Aniki, wir haben ein klitzekleines Problem …“ Er hielt eine zerbrochene Uhr in der Hand.     03.12.2005 Japan/Tokio     „Bist du sicher, dass es hier ist?“ Mit einem skeptischen Blick hob Kaira den Kopf und sah hinauf zu dem unspektakulären Wohnblock, zu dem ihre Freundin sie geführt hatte. Es hatte wieder aufgehört zu schneien, doch war nach wie vor recht kühl, was Kaira nicht beeinflussen konnte und ihre Begleiterin ebenfalls nicht: obwohl sie sich nichts übergezogen hatte, anders als Kaira, die ihren beigefarbenen Mantel trug, in dem Green sie bereits einmal gesehen hatte. „Ich bin mir absolut sicher!“, antwortete die Angesprochene und ging auch schon an ihr vorbei, die Arme verschränkt und mit einem selbstbewussten Grinsen. Anders als Kaira, die nicht besonders überzeugt war.  „Seit wann halten sich Dämonen in normalen Wohnblöcken auf?“ „Woher soll ich das wissen? Sehe ich so aus, als ob ich der Autor der „Dämonen Enzyklopädie“ wäre?“ Ein verärgertes Seufzen entglitt Kaira im gleichen Moment, in dem die gläserne Tür sich beiseiteschob und die Wächterin direkt auf die Treppe zusteuerte. Etwas was ihrer Begleiterin nicht zu gefallen schien, doch auf die Bemerkung, dass es doch einen Fahrstuhl gäbe, achtete Kaira nicht. Zu sehr war sie darauf erpicht, ihre Uhr zurückzuerhalten, als dass sie Lust hatte, auf das Kommen eines Fahrstuhls zu warten. „Hey, Ai-chan, nun warte doch! Du weißt doch gar nicht, um welches Stockwerk es sich handelt!“ Obwohl sie nicht danach aussah, war das blauhaarige Mädchen alles andere als sportlich, denn es verbrachte den größten Teil seines Alltages vor dem Bildschirm eines Computers und war es nicht gewohnt, sich sportlich zu betätigen; anders als Kaira, die sehr gut trainiert war und die Treppenstufen ohne Probleme hinter sich ließ. Auch der kluge Einwand ihrer Freundin brachte sie nicht zum Stillstand, denn sie fragte beim Rennen, welches Stockwerk es denn sei; darauf nicht auf andere Bewohner des Hauses achtend, die der fahrigen Kaira Platz machten.   „… sechstes!“, keuchte sie erschöpft und musste bereits bei der zweiten Treppe aufgeben, während Kaira vorauslief. Doch da diese nicht wusste, um welche Wohnungsnummer es sich handelte, musste sie wohl oder übel auf ihre Freundin warten, die einige Minuten später keuchend oben ankam und sich erst einmal am Treppengeländer abstützen musste. Darauf nahm Kaira keine Rücksicht und fragte sie barsch nach der gesuchten Wohnungsnummer. Ein oder zwei Mal keuchte die Angesprochene noch erschöpft, ehe sie diese Frage an ihren kleinen Mini-Laptop weitergab und sich dazu aufmachte, an den verschiedenen Türen vorbeizugehen, bis ein Piepen vor der Wohnungsnummer 121 zu hören war. Während Kaira zu eben dieser Tür stürmte, fand die Blauhaarige, dass die Tür des Nachbars viel interessanter war. Gerade als sich Kaira dazu bereit machte, die Tür mit Gewalt zu öffnen, unterbrach sie ihre Begleiterin: „Ai-chan, Ai-chan, es bringt dir nichts, die Tür aufzubrechen! Die Uhr ist momentan nicht da, sie ist in Benutzung.“ Anscheinend war die Angesprochene von diesen Worten nicht gerade überzeugt, denn sie hatte weiterhin das Bein angehoben; jeden Moment dazu bereit, die besagte Tür aufzubrechen. „In Benutzung?“, fragte Kaira skeptisch und fuhr genauso giftig fort: „Wie kann das sein? Ich dachte, Dämonen können unsere Artefakte nicht benutzen, geschweige denn berühren?“ „Das ist falsch; Dämonen können unsere Waffen nicht berühren, da sie mit unseren Ich und unserem Element verbunden sind … aber unsere Artefakte, wozu deine Uhr gehört, besitzen nicht dieselbe Bindung zum Besitzer und können somit von jedem anderen benutzt werden.“ Kaira ließ das Bein herunter und sagte: „Wenn meine Uhr in Benutzung ist, vermindert das auch unsere Chancen, den Dieb zu erwischen. Er wird schlau genug sein, die Zeit zu manipulieren.“ „Ah, das bezweifle ich! Ich kann auf die Uhr zugreifen - und wie es scheint, ist sie beschädigt.“ „Soll das heißen, der Dieb hängt in irgendeiner Zeit fest? Hat er verdient; ich hole ihn gewiss nicht da raus!“, erwiderte Kaira mit einem schadenfrohen Grinsen. „Das kann ich so nicht beurteilen, da sie eben beschädigt ist. Aber wir sollten warten; wenigstens, bis ich das nächste Signal erhalte.“ Mit diesen Worten ließ die Blauhaarige sich auf dem Boden nieder und stützte den kleinen Laptop auf ihren Knien ab. Kaira brannten einige Fragen auf der Zunge, zum Beispiel wie es ihrer Freundin gelang, ein Signal quer über die Zeit zu empfangen, aber sie schwieg lieber, denn sie wollte keine lange, komplizierte Erklärung für dieses Phänomen erhalten und sich wieder dumm fühlen, wenn sie nur die Hälfte davon verstand. Die Zeitwächterin seufzte ärgerlich und setzte sich nun ebenfalls auf den Boden neben ihre Freundin, die fleißig auf ihrem Laptop tippte. Nach ein paar Sekunden fragte Kaira sie, was oder an wen sie schrieb. Die Angesprochene sah nicht auf, doch wieder breitete sich ein Grinsen auf ihrem braungebrannten Gesicht aus. „Es würde dir nicht gefallen, wenn ich dir sage, an wen ich schreibe, Ai-chan …“ „Deine Geheimnistuerei gefällt mir nicht! Raus mit der Sprache, Asuka!“ Die Blauhaarige sah erst jetzt auf und linste sie neckisch an. „Ich schreibe an deinen Schwarm!“ Kaira himmelte genervt mit den Augen, als sie dies sagte und erwiderte, dass er das ganz sicherlich nicht sei. Dennoch war ihr natürlich sofort klar, von wem sie sprach, weshalb sie den Einwand brachte, dass er doch gar nicht mit einem Computer umgehen könne. „Er kann nicht mal einen Computer einschalten; geschweige denn ein Emailpostfach öffnen! Nein, ich hab die Mail an Ryô-kun geschickt, der wird ihm schon Bescheid geben.“ „Worum geht es eigentlich in dieser Mail?“ Das Grinsen der Angesprochenen wurde zu einem schelmischen Lächeln, als sie ihr antwortete: „Konzentrier dich, Ai-chan. Dann spürst du eine kleine, schwache, beinahe nicht spürbare Aura. Gleichzeitig wird dir klar werden, wer die Uhr gestohlen hat … und du wirst auch die Antwort auf deine Frage erhalten.“     24.12.1994 Deutschland/irgendwo im Nirgendwo     „Lass mich raten. Du Trottel hast die Uhr kaputtgemacht und wir sitzen hier fest.“ Siberu sah seinen großen Bruder zutiefst beleidigt an, obwohl er nach wie vor blass war wegen der zerbrochenen Uhr in seinen Händen. Warum bekam eigentlich immer er die Schuld für alles? Egal was? Gary tat wirklich immer so, als wäre Silver der absolute Volltrottel, der alles nur noch schlimmer machte. „Nein, ich war es nicht! Warum gibst du mir ständig die Schuld für alles? Aber … ja, wir sitzen hier fest. Was tun wir?“ „Erstens liegt es wohl daran, dass es immer, oder meistens, deine Schuld ist, dass wir in mühseligen Situationen landen. Zweitens … was wir tun? Schritt eins: Wir geraten nicht in Panik, sondern betrachten das Problem logisch. Schritt zwei: … den muss ich erst entwerfen.“ Sein Bruder sah ihn verzweifelt an und sprang auf die Beine, als Gary Letzteres über die Lippen brachte: „Bei diesen Aussichten soll ich ruhig bleiben?! Aniki, überleg dir was, aber schnell! Ich hab nicht die geringste Lust, hier zur Eisstatue zu erstarren!“ Während er diese Worte panisch über seine Lippen brachte, schüttelte er Gary mehrmals durch, wohl in der Hoffnung, dass dies seinen Denkprozess beschleunigen würde. „Beruhige dich, Silver!“ „Nein! Ich habe keine Lust, mich zu beruhigen! Irgendwann in der Zeit feststecken ist nicht meine Sache! Daran kann man nämlich nichts ändern, indem man die Umgebung in die Luft sprengt! Verdammte Uhr!“ Und ehe Gary etwas tun konnte, wurde die Uhr auch bereits brutal zu Boden geworfen und zu deren Bedauern traf sie dabei einen noch nicht im Schnee ertrunkenen Fels, wodurch das Glas der Digitalanzeige der Uhr nun völlig zerbrach. Im gleichen Moment, in dem Siberu die fatalen Folgen seiner übereiligen Tat begriff, war es bereits zu spät: Die Uhr schien verrückt zu spielen, und bevor die Brüder sich irgendwie wehren konnten, wurden sie beide wieder vom Strom der Zeit verschluckt.     ???     Gary wagte es nicht, die Augen zu öffnen - aus Furcht vor dem, was er erblicken würde, wenn er diese öffnen würde, denn er konnte nicht im Entferntesten erahnen, wo sie sich nun befanden oder wie lange sie dies tun würden, immerhin war die Uhr kaputt und konnte ihren momentanen Aufenthaltsort schnell ändern. Und wieder einmal fragte Gary sich, womit er so einen chaotischen Bruder verdient hatte. „Wehe dir, wenn wir jetzt irgendwann im Jahre 3000 oder so gelandet sind, Silver, dann bring ich dich echt um!“ Da er keine Antwort bekam, war er gezwungen, langsam die Augen zu öffnen und sich nach seinem Bruder umzusehen. Der Schnee war verschwunden; also befanden sie sich mindestens ein Jahr früher oder später, schwer zu beurteilen, denn Gary konnte nichts ausmachen, das irgendwie auf eine bestimmte Zeit schließen ließ. Zwar hatte sich die Jahreszeit geändert, doch sie schienen im gleichen Wald zu sein wie auch schon bei ihrer letzten Reise. Seinen Bruder machte Gary in einem Busch aus, einige Meter von ihm entfernt, sich wieder über seine Haare beschwerend, aus welchen er nun laut vor sich hin fluchend Blätter rupfte. Als ob sie jetzt keine anderen Probleme hatten als seine Haare! „Hey … wollen wir nicht Freundinnen sein?“ Gary schreckte hoch, wie es auch Siberu tat, welcher sich aus dem Busch befreit hatte. Der Rotschopf fand den Ursprung als Erstes und zeigte tonlos in die Richtung, woraufhin Gary hinter den Büschen einen kleinen Spielplatz entdeckte. Somit wusste er nun endlich, in welcher Zeit sie sich befanden, denn er erblickte das gleiche Holzhaus und allzu weit in der Zeit vorangegangen sein konnten sie ebenfalls nicht, denn Gary bemerkte die kleine Green, die er eben noch aus dem Schnee gerettet hatte, obwohl sie ihm den Rücken zugekehrt hatte. Nach wie vor trug sie die gleichen Zöpfe und die gleiche Kleidung, doch war sie ein wenig größer geworden. Wahrscheinlich waren die beiden Halbdämonen nur ein Jahr weitergereist – das magische Artefakt hatte sie noch vergleichsweise glimpflich davonkommen lassen, wie Blue mit einem Anflug von Erleichterung bemerkte. Das Mädchen, welches Green angesprochen hatte, saß einsam auf der Schaukel und sah Green dabei zu, wie sie mit einem in die Jahre gekommenen Basketball Körbe warf. Scheinbar war Green bereits in jungen Jahren gut koordiniert, denn kaum ein Wurf ging daneben. Siberu gesellte sich neben Gary und zischte ihm zu, dass er doch bitte übersetzen möge. „Das ist garantiert das Mädchen, das Green-chan Briefe schreibt.“ „Kann sein“, antwortete Gary nachdenklich, während er es noch einmal ansah. Es war ein kleines Mädchen, sicherlich zwei, drei Jahre jünger als Green, mit einer gewissen kindlichen Lebensfreude in den Augen - ein sanftes Leuchten war in dem Braun seiner Augen eingebettet; es war der gleiche Braunton, wie auch seine Haare, die zu herunterhängenden Zöpfen gebunden waren. Die Kleine sah aus wie ein ganz normales, liebes Kind, welches in einem Waisenhaus garantiert schnell neue Eltern finden würde. Niemand würde solch ein Kind freiwillig weggeben, sie hatte garantiert ihre Eltern auf unnatürliche Weise verloren … Garys Gedankengänge wurden unterbrochen, in dem Moment, wo das Mädchen weiterbohrte, von dem Gedanken beseelt, Green zu ihrer Freundin zu machen: „…Willst du etwa nicht meine Freundin sein?“ Wieder kam keine Antwort. Der Ball wurde nach oben geworfen, berührte den Korb, drehte sich langsam und fiel schlussendlich hinein. Im gleichen Moment, in dem das dumpfe Geräusch des Aufpralls zu hören war, fing das kleine Mädchen auf der Schaukel an zu weinen. Gary wandte den Kopf zu Green, um herauszufinden, wie sie auf die Entwicklung reagieren würde – doch weiterhin versuchte Green sie zu ignorieren, indem sie den Ball aufhob und ihn wieder werfen wollte, als sei nichts geschehen. Doch anstatt dies zu tun, wandte sie den Kopf zu ihr herum und Gary und Siberu konnten nun die Augen Greens sehen; vollkommen anders als die, die sie von ihr kannten. Das Blau ihrer Augen war kaum zu sehen, sie wirkten stattdessen beinahe vollkommen schwarz und ihr Blick war ausdruckslos, vollkommen von jeglichen Gefühlen befreit. Das weinende Mädchen löste kein Mitleid und auch keine Reue aus. Die Lebensfreude, die Gary und Siberu von Green kannten, war nirgends zu sehen und wieder stellte Gary sich die Frage, warum sie in den Wald gelaufen war: Warum? Warum waren ihre Augen so leer? Doch plötzlich tat Green doch etwas, um die Tränen des Mädchens zum Stillstand zu bringen. Sie sammelte einen Teddy, der neben dem Korb gelegen hatte, auf und drückte ihn kurzerhand dem Mädchen in die Arme. Zuerst sah dieses schweigend das kleine Plüschtierchen an, bis es den Kopf hob und Green hoffnungsvoll ansah; doch ihr Gesichtsausdruck blieb eisern und unnachgiebig. Dies schien das Mädchen nicht zu kümmern und von neuer Hoffnung beflügelt streckte es die Hand aus und schüttelte Greens damit. Anstatt diese jedoch gleich wieder loszulassen, drückte es sie fest und rief: „Lass uns Schwestern sein!“ Okay, dachte Gary, das Mädchen war wirklich sehr naiv. Da hatte sie einen indirekten Korb bekommen, jemals mit Green befreundet zu sein und nun wollte sie Green zu ihrer Schwester erklären? Weil sie ihr einen Teddy gegeben hatte? „Mein Name ist Kari!“, brabbelte sie weiter von Euphorie überkommen: „Ich bin gerade erst hergekommen und ich kenne noch niemanden und … und … ich mag Märchen! Kannst du lesen? Ich kann nur ein paar Buchstaben und … kannst du mir welche vorlesen? Ah! Wie heißt du eigentlich?“ „Green …“, antwortete sie und es war offensichtlich, dass sie genauso vom plötzlichen Wortschwall Karis überrumpelt wurde wie Gary, dem es schwerfiel, die Worte so schnell zu übersetzen, wie sie aus dem Munde des Mädchens heraussprudelten. Kari sabbelte munter weiter und schuf so einen Wortschwall, in dem Green hoffnungslos unterging und Gary wählte nicht weiter zu übersetzen, worauf Siberu nun auch ohne Murren verzichtete, denn dieser hatte sich wieder dem Uhrenartefakt gewidmet. „Glaubst du, ich muss sie einfach nochmal auf den Boden schmeißen und dann wird es schon klappen?“ „Nein, das glaub ich nicht!“, raunte Gary ihm zu und wollte gerade die Uhr an sich reißen, als das Gesicht des Rotschopfes sich erhellte. „Hey, klasse! Ich glaub, ich hab was hinbekommen!“ Gary wollte gerade sagen, dass es ihn schwer wundern würde, wenn das tatsächlich wahr sein sollte, doch schon gingen seine Worte wieder im Zeitstrom verloren.     03.01.????   Ein weiteres Mal folgte eine harte Bruchlandung für die zwei Halbdämonen und so langsam konnte Siberu mit ruhigem Gewissen behaupten, dass er die Nase gestrichen voll hatte: Diese dämliche Uhr war entweder darauf programmiert, solcherlei Landungen zu verursachen oder sie hatte etwas gegen Dämonen – was bei einem Wächterartefakt auch nicht allzu verwunderlich wäre. Zum Glück konnte er sich dieses Mal an einem Ast festklammern und sich geschickt auf diesen schwingen, bevor er sich von hier aus erst einmal umsah. Sein Bruder lag gut fünf Meter unter ihm und rieb sich den Kopf, ebenfalls nicht von der unbarmherzigen Landung beeindruckt. „Von wegen du hast es „hinbekommen“ “, hörte er Gary von unten zu ihm hoch maulen, als dieser sich aufrichtete und sich nun ebenfalls umsah. „Ich weiß aber jetzt, was los ist!“ Oh toll; darauf konnte man sich wirklich verlassen, dachte Gary, während er sich den Schnee von seinem Pullover abklopfte und damit auch feststellte, dass die Uhr sie abermals in den Winter geschickt hatte. Siberu achtete nicht auf das genervte Gesicht seines Bruders und fuhr munter fort: „Bevor wir aufgebrochen sind, habe ich nämlich eine Auswahl an Ort- und Zeitdaten eingegeben! Ich schätze mal, die Uhr wird die jetzt der Reihe nach durchgehen bis zum Ende der Liste.“ Langsam, in der festen Überzeugung, dass er sich wohl verhört hatte, hob Gary den Kopf und sein Blick zeugte von vielem, aber gewiss nicht von positiven Gefühlen, daher klang seine Stimme auch nicht sonderlich erfreut, als er den Mund öffnete: „… Silver?“ „Ja, Aniki?“, antwortete der Rotschopf mit seiner unschuldigsten Stimme. „Du bist ein verdammter … Blitzmerker! Das hätte dir auch schon früher einfallen können!“, brüllte er von unten herauf, doch der Angesprochene stellte seine Ohren auf Durchzug und tat damit erfolgreich so als hätte er nichts gehört, während er mit den Beinen wippte. Gerade als Gary ein zweites Mal ausholte, um ihn noch weiter zurechtzuweisen, sichtete Siberu plötzlich etwas, was seine Haut sicherlich erst einmal retten würde. „Ey, Aniki, ich kann Green-chan sehen!“ Das war wahrlich der entscheidende Funke, der Gary das vorige Thema vergessen ließ und schon tauchte er neben Siberu auf dessen Ast auf und sah in die Richtung, in die sein kleiner Bruder zeigte - womit er Green nun ebenfalls erblicken konnte. Ein dicker Schal verdeckte die Hälfte ihres Gesichtes und es war nur allzu deutlich, dass sie ihn doppelt und dreifach herumgewickelt hatte, denn der Schal war eindeutig zu lang für das kleine Mädchen. Anhand ihrer Körpergröße war zu erkennen, dass sie einige Jahre bereits hinter sich gelassen haben mussten, doch obwohl ihr Körper gewachsen war, hatte sich ihr Äußeres kaum verändert; nach wie vor trug sie geflochtene Zöpfe und auch die leeren blauen Augen waren unverändert; genauso unverändert schien auch die Bekanntschaft mit dem Mädchen zu sein, welches die Hand Greens fest in seiner hielt und weiterhin munter auf sie einredete; scheinbar ohne eine Antwort zu erwarten. Die zwei Mädchen schienen auf dem Weg zu einem See zu sein, den Gary am Ende des Weges ausmachen konnte und kaum, dass er diesen gesichtet hatte, sprang er auch schon vom Baum herunter. „Lass uns mal hinterher, Silver. Wir haben ja sowieso nichts Besseres zu tun.“ Dies musste er dem Jüngeren nicht zweimal sagen; denn schon als sein Bruder seinen Satz beendet hatte, war Siberu bereits auf dem Weg zum See. Mit einem breiten Grinsen ihm zugewandt rief er: „Wetten ich bin schneller als du!?“ Gary verdrehte die Augen, doch obwohl er genervt tat von Siberus kindlichem Verhalten, war er es nicht, wie das Schmunzeln in seinem Gesicht verriet; nein, er freute sich insgeheim darüber. Fast, aber nur fast, wie früher … „Kommst du nun oder bist du schon festgefroren?!“ Kaum dass Siberu ihm dies zugerufen hatte, stand Gary auch schon neben seinem Bruder, der einige Meter weiter auf ihn gewartet hatte und nun ein beleidigtes Schmollen aufsetzte.  „Hey, teleportieren ist nicht fair.“ „Man sollte nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus sitzt“, antworte Gary neckisch, doch anstatt ihm eine Antwort zu geben, flitze Siberu bereits los. Gary folgte seinem Beispiel, doch hatte schon verloren, ehe er zu laufen begonnen hatte, denn Siberus Spezialgebiet war schon immer die Schnelligkeit gewesen: Gary hatte ihn noch nie eingeholt, egal wie oft sie gegeneinander angetreten waren. Vielleicht gefiel es ihm auch deswegen so sehr, gegen seinen großen Bruder anzutreten; um immer wieder als Sieger hervorzugehen. Das Einzige, was dieses Wettrennen von den tausend anderen unterschied, war der Umstand, dass Siberu so schnell war, dass er beinahe in den Fluss gefallen wäre, denn dieser war nicht zugefroren. Davon ließ er sich nicht beeinflussen und sagte mit vor Stolz geschwellter Brust: „Muhahahaha! Ich war mal wieder schneller als du, Blue! Du bist einfach viel zu langsam, Aniki!“ „Irgendetwas musst du ja können“, entgegnete Gary mit einem angedeuteten Grinsen, doch ehe die beiden Brüder sich einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen widmen konnten, dem Streiten, hörten sie plötzlich einen spitzen Schrei, der vom See her kam. Es handelte sich eindeutig um die Stimme eines Mädchens und Siberu und Gary hatten genau den gleichen Gedanken. Sie sahen sich kurz an, ehe sie sich herumdrehten und auf den See zusteuerten, wo sie sich, ohne bemerkt zu werden, hinter ein paar zugeschneiten Büschen versteckten, ungefähr 30 Meter vom See entfernt, um nicht entdeckt zu werden. Sehen konnten sie jedoch wunderbar und entdeckten so, dass ihr Bauchgefühl sie nicht getäuscht hatte; der Schrei war tatsächlich von Green gekommen, welche sich an Karis Arm klammerte. Die beiden Mädchen standen zusammen mit einer Handvoll anderer Kinder auf dem See, der mit einer dichten Eisschicht bedeckt zu sein schien. Anscheinend war die Eisschicht allerdings nicht so dick, wie es den Anschein hatte, denn einige Meter von den Kindern entfernt befand sich ein Loch im Eis und es war unschwer zu erkennen, dass Greens nasses Bein daher rührte; was auch ihren geschockten Gesichtsausdruck erklärte. Obendrein fiel Gary auf, dass sie das einzige Kind war, welches keine Schlittschuhe dabeihatte. „Was ist da los?“, fragte Siberu, in der Hoffnung, eine Übersetzung von seinem Bruder zu erhalten. „Sie streiten sich.“ Und Kari war ganz vornean dabei; anscheinend konnte sie nicht nur nutzloses Zeug herunterrattern, sondern nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund und scheute sich nicht, Partei für Green zu ergreifen, obwohl so viele gegen sie waren: „Warum habt ihr Schwester Green geschubst?!“ „Wir?! Ist doch nicht unsere Schuld, dass die zu blöd zum Schlittschuhlaufen ist!“, antwortete einer der Jungen - von der Größe zu urteilen war er scheinbar der Älteste und wohl auch der Anführer, denn die anderen Kinder sammelten sich hinter ihm und gegen Kari und Green. „Wie feige! Sieben gegen zwei Mädchen!“, sagte Siberu mit Abscheu in der Stimme. Es war deutlich, dass er am liebsten zu ihnen gehen würde, um ihnen zu zeigen, wo es lang ging; und der richtige Weg war ganz sicher nicht, Green ins eiskalte Wasser zu schubsen. „Denkst du das Gleiche wie ich?“ Siberu hatte den Kopf zu Gary gewandt, als er dies fragte, doch obwohl sein Bruder seinen Gedanken teilte, antwortete er: „Ja – aber du wirst schön hier bleiben: Green darf uns nicht sehen! Haben wir uns verstanden?“ Beleidigt und auch ein wenig wütend grummelte der Angesprochene und wandte sich wieder dem erhitzten Geschehen zu, dem auch Gary nachdenklich folgte. War das der Grund für Greens leere Augen? Der Grund dafür, dass sie als fünfjähriges Mädchen in den Wald geflohen war? Ordinäres Mobbing? Nein, so etwas wie „ordinäres Mobbing“ gab es nicht. Ganz gleich wie man es nannte - ärgern, hänseln, Mobbing - es war niemals ordinär, es war niemals harmlos. Was das anging, dachte Gary mit einem ironischen Lächeln, standen die Menschen den Dämonen in nichts nach. Sie waren immer gut darin, genau den Schwachpunkt ihrer Mitmenschen herauszufinden, der am meisten schmerzte und an dem das Opfer schlussendlich zugrunde gehen konnte: Mobbing war eine stille Art zu sterben und damit alles andere als „ordinär“. Eben dieser Punkt war bei Green offensichtlich die Kälte und alles, was damit zu tun hatte und scheinbar waren diese Kinder Experten darin, diesen wunden Punkt auszuspielen. Doch Green war nicht alleine. Zwar hatte Gary Kari bereits als ein kleines, nerviges Mädchen abgestempelt, doch ihre Augen strahlten vor Selbstbewusstsein, und obwohl sie sicherlich mehr als zwei Jahre jünger war als Green, beschützte diese ihre „Schwester“ mit einer Entschlossenheit, die wahrlich beeindruckend war.  „Ihr lügt! Ich habe genau gesehen, wie ihr Schwester Green geschubst habt! Immerhin war es auch nicht das erste Mal!“, übersetzte Gary für seinen kleinen Bruder und schon ging es weiter mit der Antwort des Ältesten: „Dann soll die eben nicht hier aufkreuzen, soll sie doch in ihrem Zimmer bleiben, wo sie niemand sehen kann. Hier hat sie nichts zu suchen; am besten sie geht gleich ganz! Aber wer will schon so ein Mädchen haben. Nicht wahr, Green? Du bist doch von uns allen schon am längsten hier – woher kommt das wohl?“ Doch gerade als Kari zurück fauchen wollte, meldete sich Green auch mal zu Wort; ihre Stimme klang allerdings um einiges kläglicher als die ihrer „Schwester“: „Kari … Lass gut sein … Mir ist kalt … Ich will zurück … “ „Gute Idee, Schwester Green! Dann melden wir das auch gleich mal!“ Sie wandte sich an die Gruppe und mit giftigen Augen sagte sie abfällig: „Dann bekommt ihr eure gerechte Strafe!“ Der Junge sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und erwiderte: „Ach. Wie sonst auch, was?“ Dies quittierte Kari mit einem finsteren Blick, während sie Green an die Hand nahm und sie davonzerrte. Kaum dass sie außer Hörweite waren, begann die Gruppe zu lachen - ein boshaftes, schadenfrohes Lachen und Gary war sich sicher, dass sie wahrlich noch nie ihre gerechte Strafe erhalten hatten. „Denen stopf ich jetzt das Maul! So behandelt niemand meine Green-chan!“ Siberu war bereits dabei sich aufzurichten, doch Gary zog ihn zurück in den Schnee, mit den mahnenden Worten, dass sie die Zukunft nicht verändern dürften: „So schwer es dir auch fallen mag, bleib auf dem Teppich. Sonst veränderst du womöglich noch irgendetwas an Greens Charakter – und das willst du doch nicht, oder?“ Der Rotschopf biss die Zähne zusammen, grummelte und setzte sich wieder hin. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er Gary leider recht geben und somit tatenlos bleiben musste. Doch ehe er etwas sagen konnte, was seinen Widerwillen würde ausdrücken können, verlangte die Uhr seine Aufmerksamkeit.     Beide Halbdämonen hofften in diesem Moment wohl dasselbe; dass es sich hoffentlich um die letzte Bruchhandlung handeln würde und sie endlich wieder in Tokio waren, doch leider wurden sie schnell enttäuscht, denn wieder vernahmen sie beklemmende, nasse Kälte um sich herum und spürten die Schneeflocken auf ihrer Haut. Doch noch bevor sie die Augen öffneten hörten sie beide etwas in der Ferne. Zuerst konnten sie es nicht definieren, doch dann wurde ihnen klar, was das Geräusch war, welches ihre empfindlichen Ohren berührte. Es war das klägliche Weinen eines Mädchens. Beide öffneten ihre Augen und fanden sich mitten in der Nacht umgeben von Schnee wieder, keine 20 Meter von dem Waisenhaus entfernt. Dieses Mal sahen sie jedoch auf die Rückseite des Hauses, ganz in der Nähe des zugefrorenen Sees, von wo auch die Stimme kam. Zwar waren sie nicht allzu weit weg vom See, doch konnten nicht sehen, wem die Stimme gehörte und wenn sie aufstehen würden, würde man sie wahrscheinlich sehen können, denn auf der zugeschneiten Wiese befand sich nichts, wohinter man sich verstecken könnte. „Aniki!“ Von dem Flüsterton seines Bruders dazu aufgefordert sah er nach rechts, wo er einige hohe Bäume am Waldesrand ausmachte. Er verstand den Wink Siberus und nickte. Kurzerhand teleportierten sich beide auf den Baum, der am höchsten war und dessen Äste nicht aufgrund des Gewichtes der beiden Halbdämonen womöglich noch nachgeben würden. Man konnte zwar nicht gerade behaupten, dass sie einen Logenplatz ergattert hatten, aber wenigstens konnten sie nun auf die Oberfläche des Sees heruntersehen und die einsame Person ausmachen, die so kläglich mitten auf dem See in sich zusammengekauert wie eine kleine Kugel hockte und qualvoll weinte. Es war Green, die sich selbst in dieser Kälte umarmte und deren Hände sich hoch und runter bewegten, im Versuch ihre Arme zu wärmen. Sie zitterte am ganzen Körper, doch war Gary sich nicht sicher, ob das nur wegen der Kälte kam, oder ob es dafür nicht noch einen anderen Grund gab … Jetzt jedenfalls verstand Gary, warum sie Angst vor Schnee und Kälte hatte; es war wohl, weil sie als Kind beinahe erfroren wäre und weil sie mit dem Heranwachsen immer und immer wieder damit gepeinigt wurde - nichts als schlechte Erinnerungen damit verband. Der Schnee und die Kälte riefen diese Erinnerungen jedes Mal aufs Neue wieder in ihr hoch … „Das war das letzte Datum … lass uns zurückzukehren, in unsere Zeit.“ Gary sah zur Seite, wo Siberu dies eben gesagt hatte und bemerkte, dass ihm alles andere als wohl dabei war, Green so zu sehen. „Ich habe das dringende Bedürfnis, Green-chan ganz doll zu drücken.“     03.12.2005 Japan / Tokio   Auch die letzte Landung konnte nicht gerade als bequem bezeichnet werden, denn wieder einmal war sie schmerzhaft: Doch sie waren in ihren eigenen vier Wänden angelangt. Doch selbige vier Wände waren nicht so verlassen, wie sie eigentlich sein sollten. Siberus ach so toller Plan war nach hinten losgegangen, wie Gary schnell bemerkte; nicht nur anhand der Frauenschuhe vor seinen Augen, sondern auch anhand zweier Auren - die eine fremd, die andere merklich bekannt und beunruhigend. „Willkommen zurück im Jahre 2005!“, sagte eine fremde Stimme im gleichen Moment, wo Gary und Siberu aufsprangen und Rücken an Rücken Angriffspositionen einnahmen, so dass sie jeder einem der beiden Gegner entgegenstanden: Siberu Kaira und Gary dem ihm unbekannten Mädchen. Doch von eben diesen beiden Eindringlingen war es nur Kaira, die mehr als angriffsbereit aussah; die andere hatte es sich auf der Küchentheke bequem gemacht und rührte in ihrem Kaffee herum.  „Wer seid ihr und was wollt ihr von uns?“, fragte Gary, den Blick auf das Mädchen ihm gegenüber gerichtet. Doch die Antwort kam von Kaira hinter ihm: „Ich will nur zurück, was ihr mir gestohlen habt!“ Alle Blicke wanderten zum Rotschopf, welcher ein unschuldiges Grinsen aufgesetzt hatte. „Ich hab nix gemac-“ Doch weiter kam er nicht, denn als hätte das blauhaarige Mädchen Siberu erst jetzt bemerkt, sprang sie plötzlich von der Theke herunter und die Angriffsposition der beiden Halbdämonen zerbrach in dem Moment, wo das Mädchen den Rotschopf stürmisch an ihre recht vorteilhafte Brust drückte und somit beinahe erstickte. „O wie niedlich! Was für ein knuffiges Exemplar! Du siehst in echt ja noch viel süßer aus!“ Von diesem Anblick geschockt sahen Gary und Kaira gleichermaßen fassungslos aus; beiden hatte es die Sprache verschlagen. Klar hatte Gary schon öfter erlebt, dass irgendwelche Mädchen sich stürmisch an seinen Bruder warfen, aber dass es eine potentielle Feindin tat, war ihm neu.  „Und diese Haare! Ist das naturrot?“ „Asuka! Du spinnst wohl! Das ist ein DÄMON!“, mischte sich nun auch Kaira ein, die vor Wut ganz rot geworden war. „Aber, er ist so süß …“ „Seit wann stehst du auf Jüngere!? Darf ich dich daran erinnern, dass du 18 bist?! Benimm dich gefälligst auch so! Wo ist deine Ausbildung, in Lights Namen?!“ „Was zur Hölle ist denn hier los?“ Alle Blicke wandten sich zur Tür, wo Green aufgetaucht war, zusammen mit Pink, die auf und ab sprang, um über Greens Schultern blicken zu können. Da alle Augenpaare sie fragend ansahen, erklärte Green: „Pink hat fremde Auren gespürt, daher hat sie mich aus dem Bett geworfen und …“ Das blauhaarige Mädchen ließ ihre Hände von Siberu fallen, warf Kaira die Uhr zu, die sie dem Rotschopf während der Umarmung abgenommen hatte, und schritt vor, sodass sie nur noch einige Meter vor Green stand. Green war diejenige, die am überraschtesten aussah, als das Mädchen plötzlich grinsend eine elegante Verbeugung vor Green ausführte und die Hand zu ihrer Brust führte, als sie sagte: „Mein Name ist Tinami Kikou Asuka, Elementarwächterin des Klimas, Rang eins. Mein Gehirn steht Euch zur Verfügung, Hikari-sama!“ Green wich einen Schritt zurück, als Tinami dies mit geschwollener Brust verkündete und ihr Blick verriet, dass sie alles andere war als geehrt: Sie verstand nur Bahnhof und konnte mit der Vorstellung nichts anfangen. „Ich hab selbst eins, aber danke.“ Grinsend richtete sich Tinami wieder auf und antwortete: „Daran zweifle ich nicht, Hikari-sama.“ Green runzelte die Stirn, als die Wächterin sie ein zweites Mal so nannte, was ihrem Gegenüber scheinbar auffiel, denn sie fragte: „Ich nenne Euch gerne anders, denn ich mag Spitznamen! Was haltet Ihr von „Ee-chan““? „“Ee-chan“?“ „Ja, von Green, das doppelte „E“.“ „Ehm, okay?“ Green warf einen verwirrten Blick an Gary und Siberu, die beide ebenso verwirrt mit den Schultern zuckten. „Asuka, kommst du gefälligst mal in die Hufe? Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“, sagte Kaira ruppig und gesellte sich nun neben Tinami, die Arme verschränkt und die Stirn in genervte Falten gelegt. „Hast du dich überhaupt vorgestellt, Ai-chan?“ Ein verächtliches Schnauben war die Antwort auf diese Frage, sodass Tinami fortfuhr: „Anscheinend darf ich vorstellen: Das ist Kaira Toki Kitayima, Elementarwächterin der Zeit, Rang eins. Eine ausgezeichnete Kriegerin, die Eu-, ich meine, dir sicherlich gute Dienste leisten wird im Krieg.“ Green hob skeptisch die Augenbraue und wiederholte das letzte Wort fragend, wieder einen Blick an ihre beiden Halbdämonen richtend. „Ja, Krieg, gegen unsere Feinde, Najotake“, antwortete Kaira mit einem fast schon schadenfrohen Lächeln, und während sie das Wort „Feinde“ langsam ausgesprochen hatte, hatte sie merkwürdigerweise zu Siberu und Gary geguckt. „Aber wir sind nicht die Richtigen, es dir zu erklären, Ee-chan! Das wird dein großer Bruder tun.“ Green, die eben noch gereizt protestieren wollte, sah sie nun beide verblüfft an. „Mein … großer Bruder?“     Fertiggestellt: 20.01.11 Kapitel 13: Familien-Treffen der Hikari --------------------------------------- Ein besonders gutes Gefühl hatte Green nicht gerade, als sie den beiden jungen Frauen folgte, die sie angeblich zu ihrem Bruder führen würden; besonders nicht, als es hieß, dass Siberu und Gary sie nicht begleiten dürften. Sobald sie davon erfuhr, hatte Green sich geweigert, irgendwo mit hinzugehen; doch als Tinami sie sichtlich überrascht gefragt hatte, ob sie denn ihren Bruder gar nicht kennenlernen wolle, gab Green doch mit einem Stirnrunzeln nach. Hatte sie etwa wirklich irgendwo da draußen einen Bruder? Eine … Familie? Sie war immer wurzellos gewesen; zumindest hatte sie dies lange geglaubt - und jetzt stellte sich heraus, dass diese Wurzeln vielleicht nur eine ganze Weile eingefroren gewesen waren … doch damit kamen auch tausend andere Fragen auf: Warum war sie dann überhaupt in einem Waisenhaus aufgewachsen? Warum hatte er sich nie bei ihr gemeldet? Warum hatte er sie in dem Glauben gelassen, dass sie ein familienloses Kind sei? Und warum meldete er sich ausgerechnet jetzt? Green war skeptisch. Auf der anderen Seite war da noch ein anderes Gefühl … nicht wirklich Freude, denn dafür waren einfach zu viele sie unruhig machende Fragen vorhanden, doch war eine gewisse Spannung in ihr, denn sie zweifelte keinen Moment daran, dass Tinami und Kaira die Wahrheit sprachen. Schon in dem Augenblick, in dem die beiden Wächterinnen ihr eröffnet hatten, dass sie Green zu ihrem Bruder bringen würden, wusste sie mit Sicherheit, dass die beiden die Wahrheit sprachen. Der Traum damals, Anfang September, hatte ihr gezeigt, dass es möglich sein konnte, dass sie einen Bruder hatte, denn in ihm hatte sich eine Person schützend vor sie gestellt; eine Person, die sie selbst „Onii-chan“ genannt hatte. Sie konnte sich nicht mehr an sein Gesicht erinnern, hatte es vielleicht auch gar nicht gesehen … doch jetzt würde sie es vielleicht tun. Das Bild der Person, welche sie in Kürze kennenlernen würde, würde vielleicht dieses Traumgebilde ausfüllen und ihm greifbare Gestalt geben können. „Bist du bereit, Ee-chan?“ Green sah auf, als Tinami ihr diese Frage stellte und die ausgestreckte Hand sah, die ihr entgegengehalten wurde, wahrscheinlich um sie mittels Teleportation zu deren Ziel zu bringen. Also konnten Wächter sich auch teleportieren …? Ob sie bereit war, wusste Green nicht. Dennoch zögerte sie nicht, denn zu groß war ihre Erwartung und daher ergriff sie auch schnell die braun gebrannte Hand Tinamis. Vor ihren Augen wurde es umgehend schwarz, sie verlor den Boden unter den Füßen und auch ihre Balance, welche sie zurückerlangte, als die Schwärze verdrängt wurde und sie somit wieder sehen konnte. Ein atemberaubender Anblick bot sich ihren Augen; Green war sich nicht nur sicher, dass sie weit, weit weg von Zuhause war, es kam ihr auch noch so vor, als wäre sie in der Zeit zurückgereist; nein, als wäre sie in eine gänzlich andere Welt gelangt. Sich von ihren Begleiterinnen langsam mit Staunen lösend, ging sie mit zaghaften Schritten durch den kreisrunden Raum, welcher von weißen, gotisch angehauchten Säulen gesäumt wurde. Der Boden unter ihren Füßen wie auch die Kuppel hoch über ihr wurden von Kreisen und Symbolen geziert, die sich über den Boden schlängelten, um letztendlich von den Säulen aufgenommen zu werden. An ihnen waren Leuchter befestigt, die, wie Green es schien, wohl keine Birnen brauchten, um den Raum zu erhellen, sondern weiß leuchtende Kugeln für diesen Zweck benutzen, welche ruhig in den verschnörkelten Haltern schwebten. Doch das, was Green am meisten in den Bann zog, war nicht das große Glöckchen über ihrem Kopf, welches das Zentrum der Deckenmalerei einnahm, sondern etwas anderes; etwas, was sie kaum glauben wollte. Ohne auf Tinami und Kaira zu achten, welche sie beide neugierig beobachteten, rannte Green zum Rand des Raumes, von wo aus man hinaussehen konnte, denn zwischen den vielen Säulen befand sich keine Wand, sondern hauchdünne Fensterscheiben. Green stockte der Atem, als sie dies sah, denn es verstieß gegen ihre Logik und dennoch empfand sie es bereits auf den ersten Blick als wunderschön. Dieser Ort - was auch immer es für ein Ort war - befand sich im Himmel: Er schwebte. Und der Raum, in dem sie sich momentan befand, war nur ein kleiner Teil dieses wahrhaftigen Wunders der Baukunst. Ein enorm großer Komplex erstreckte sich vor Greens Augen. Es war ein Anblick, welchen sie nicht einordnen konnte; wie sollte man dieses Wunderwerk nennen, welches sich auf den vielen verschiedenen schwebenden Inseln im Himmel zu befinden schien, sich dank seiner tausenden Lichter aus der Dunkelheit abhob und Green den Atem raubte? Einen Palast? Ein Märchenschloss? Einen Traum? „Willkommen Zuhause.“ Green drehte sich nicht um, als sie eine ihr fremde Stimme hörte und ihr Herz ließ einen Schlag aus, nein, vielleicht sogar zwei, denn die Stimme war die eines Mannes gewesen; eine sanfte, freundliche Stimme; eine sympathisch klingende Stimme. Ob die Person, der diese Stimme gehörte, genauso war? Green atmete tief durch, ein klein wenig nervös vor dem, was sie erwartete, als sie sich langsam herumdrehte und ihren Bruder zum ersten Mal gegenüberstand. Die Stimme passte perfekt zu ihm: Ein warmes Lächeln, welches das Himmelblau in seinen Augen untermalte, breitete sich auf seinem hübsch geformten Gesicht aus, als er Green sah. Ein wenig blass war er, was durch seine Haarfarbe deutlich zu erkennen war, doch das änderte nichts daran, dass er gut aussah mit den schwarzen Haaren, die ihm zur Schulter gingen und seiner eleganten Kleidung, welche ihn für ihre Begriffe adelig aussehen ließ. Green wusste nicht, was sie tun sollte und war sich sicher, dass dies in ihrem Gesicht abzulesen war. Sollte sie zu ihm hingehen, ihm ihre Hand geben, sich vorstellen? Sie wollte sein seelisches Lächeln erwidern; ein Lächeln, welches ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb. Doch Green musste sich keine Gedanken darum machen, was sie tun sollte, denn anscheinend wusste ihr Bruder das sofort: Schneller als sie handeln konnte, schloss er sie fest in seine Arme. „Oh, Green: meine kleine Schwester! Ich bin so froh, dass es dir gut geht, so froh, dass du wohlauf bist …“ Green fühlte sich von dem plötzlichen Gefühlsausbruch ihres Bruders überrumpelt, doch konnte nicht genau beurteilen, ob sie sich in seiner Umarmung wohlfühlte oder ob es ihr unangenehm war. Doch schnell war es vorbei und er löste sich wieder von ihr, jedoch ohne ihre Arme loszulassen. Mit einem strahlenden Lächeln sah er sie an und das Glück war beinahe greifbar: „Ach, Green … wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet.“ Er schwieg einen Moment; einen Moment, den er nutzte, um sie von oben bis unten zu begutachten. „Aus dir ist wahrlich ein hübsches Mädchen geworden. Du siehst unserer Mutter sehr ähnlich … Verzeih, ich bin wahrscheinlich ein wenig voreilig, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich mich danach gesehnt habe, meine kleine Schwester endlich in die Arme nehmen zu können. Du hast sicherlich viele Fragen, wie ich annehme.“ „Das kann man wohl laut sagen …“, antwortete Green, als er sich von ihr löste und mit einer vornehmen Geste die Hand auf seine Brust legte, um sich vorzustellen: „Mein Name ist Eien Kaze Grey. Ich bin der Elementarwächter des Windes und habe den ersten Rang inne.“ „Uhm, muss ich jetzt den gesamten Namen sagen?“ Er lachte in sich hinein, als Green ihn dies fragte; ein ruhiges, höfliches Lachen. „Aber, Green! Ich nenne dich doch auch nicht bei deinem vollen Namen. Mein Rufname ist Grey.“ „V-voller Name?“ Die Verwirrtheit in Greens Gesicht musste sehr deutlich sein, denn Grey seufzte und sagte: „Es tut mir aufrichtig leid; ich sollte dir erst einmal alles erklären, bevor ich dich so überrumple.“ Doch anstatt damit anzufangen, wandte er sich an Tinami und Kaira, die einige Meter abseits von ihnen gestanden hatten, um die beiden wiedervereinten Geschwister nicht zu stören. „Danke, Tinami-san, Kaira-san, für eure Hilfe. Ich werde von hier an übernehmen.“ Beide nickten und wie Green auffiel, waren beide sichtlich erfreut darüber, dass Grey sie direkt angesprochen hatte, denn sie waren beide leicht rot geworden. „Komm, Green, ich zeige dir dein Zuhause.“ Grey war bereits vorgegangen zur einzigen großen Flügeltür des Saales und streckte die Hand nach ihrer aus, doch Green nahm sie nicht, sondern stellte sich direkt neben ihm hin. Er war sympathisch, kein Zweifel, aber Green war noch zu skeptisch, um sofort in die Rolle der kleinen Schwester zu schlüpfen und sich bei der Hand nehmen zu lassen. Grey schien traurig darüber zu sein, dass sie seine Hilfe abgelehnt hatte, doch sagte nichts dazu. Die große Tür öffnete sich automatisch und die beiden Geschwister gelangten in einen langen Korridor, welcher gepflastert war mit weißem Marmor und wieder von Säulen gesäumt wurde, die ähnlich wie im Kuppelraum Zwischenräume besaßen; doch anders als im vorigen Raum waren keine Fensterscheiben zwischen den einzelnen Säulen. Trotzdem war es nicht kalt, sondern angenehm warm – und sie spürte auch keinen Luftzug, welcher doch eigentlich durch die Öffnungen hätte hindurchgelangen müssen. Verdattert löste Green sich kurz unbemerkt von Grey, ging näher heran und streckte ihre Hand aus, um erstaunt eine leichte Kräuselung zu erkennen, fast so, als hätte sie eine Wasseroberfläche berührt. Grey hatte von dem Verhalten seiner kleinen Schwester nichts mitbekommen, denn er war bereits eifrig dabei zu erklären, weshalb Green lieber schnell zu ihm aufschloss:  „Der Ort, an dem du dich befindest, ist der Tempel, der Hauptsitz unseres Reiches - des Reiches der Wächter. Er wurde 645 vor der aktuellsten menschlichen Zeitrechnung erbaut und seitdem immer wieder renoviert und erneuert. Der Tempel besitzt mehr als 1200 Zimmer, beherbergt die größte Büchersammlung der Wächter und ist darüber hinaus die einzige Verbindung zum Machtzentrum. Dank dieser Funktion lebten hier einst die meisten Wächter, doch seit dem schrecklichen Krieg vor 16 Jahren, bei dem Teile des Tempels komplett zerstört wurden, wohnt hier nur noch ein kleiner Anteil. Die meisten Wächter leben auf den anderen Inseln. Daher wird es dir hier ziemlich ruhig, gar verlassen vorkommen.“ Sie gingen durch die nächste Tür und kamen, wie Grey erklärte, nun ins Innere des Tempels. Eine Weggabelung lag vor ihnen, zusammen mit einem Brunnen, in dessen Mitte sich ein Engel emporhob, der in der einen Hand einen Globus hielt und in der anderen ein Glöckchen; Greens Eigenem nicht unähnlich, nur mit weißen Flügeln. Grey schlug den rechten Weg ein und Green folgte ihm den weißen Korridor entlang, dessen Höhe sie in Erstaunen versetzte, denn zwischen der Decke und dem Boden aus weißem Marmor lagen mehr als 10 Meter und die Schritte der Geschwister hallten an den hohen Wänden wider. Grey drehte sich zu ihr herum und sagte lächelnd: „Aber jetzt, da du wieder da bist, wird sich das sicherlich schnell ändern. Alle Wächter werden vom Licht angezogen.“ Verwirrt sah seine kleine Schwester ihn an und fragte: „Was habe ich mit all dem zu tun? Ich weiß, dass ich eine Wächterin bin … aber ich weiß gar nicht genau, was das ist. Pink konnte es mir nicht erklären. Jedenfalls nicht so, dass ich etwas verstanden habe.“ Sie gelangten an eine Treppe, die sie hinauf gingen, und kamen in einen Korridor, welcher keine großen Fenster hatte, da die gesamte rechte Wand von einem enormen Gemälde eingenommen wurde, welches mindestens 40 Meter lang war. Green beachtete die vielen Türen auf der entgegengesetzten Seite nicht, da das Bild ihre gesamte Aufmerksamkeit verlangte. Sie wusste nicht, ob sie es schön fand, aber beeindruckend war dieses enorme Gemälde auf jeden Fall: überladen mit abertausenden Details zeigte das  Kunstwerk einen Kampfschauplatz. Grey blieb stehen und machte einen Wink zu dem Gemälde, als er anfing zu erklären: „Die Wächter, Green, zu denen auch du gehörst, sind eine uralte Rasse, älter als die Zeit selbst. Wir sind die Träger der Elemente, mit deren Hilfe wir die Menschheit beschützen und unsere Feinde, die Dämonen, bekämpfen, um sie zu eliminieren. In jedem von uns schläft ein Element, welches unser Aussehen und unseren Charakter prägt, uns beschützt und welches wir im Laufe unseres Lebens zu beherrschen lernen, um unsere Pflichten zu erfüllen. Es gibt 13 Elemente …“ Grey streckte die Hand aus und zeigte auf eine rothaarige Person, die eine schwarze Kreatur mit einem Pfeil aufspießte: „Die Feuerwächter, Träger des Elementes des Feuers. Eine außerordentlich starke Familie, welche immer an vorderster Front kämpfte, doch leider dem Schrecken des letzten Krieges zum Opfer fiel und nun vollständig ausgerottet ist.“ Nun zeigte er auf eine Person mit blauen Haaren, die einer dritten Person Wasser spendete und deren Wunden versorgte, doch hinter ihr war eine weitere blauhaarige Person, die eine schwarze Kreatur zu ertränken schien: „Die Wasserwächter. Eine große Familie mit dem Element des Wassers ausgerüstet. Ruhig und besonnen sind die meisten von ihnen, doch reize sie niemals, denn ihr Wasser kann unbändig sein.“ Nun zeigte Grey auf eine kleine Gruppe von Personen mit hellen Haaren, die sich am Rand des Bildes aufhielten und die Green nicht genau erkennen konnte, da sie im Hintergrund verlorengingen. „Die Illusionswächter, ebenfalls eine große Familie, doch recht in sich gekehrt. Dank ihres Elementes der Illusion sind sie die Besten auf dem Gebiet der Schleichmorde und Attentate. Außerordentlich gut darin, Informationen zu sammeln.“ Greys Hand ging nun weiter über das Bild, ohne darauf zu achten, dass Greens Aufmerksamkeit ihm nicht mehr vollends gehörte, bis er zu zwei braunhaarigen Wächtern kam, wovon der männliche Wächter die Hand auf dem Boden platziert hatte, von welchem sich Risse auftaten und die weibliche Wächterin hinter ihm ihre Hand ausgestreckt hatte und ihren Partner mittels einer Steinbarriere vor den Angriffen der schwarzen Gegner schützte: „Die Wächter der Erde sind leider ebenfalls im letzten Krieg ausgelöscht worden und das, obwohl sie zur stärksten Angriffsmacht gehörten. Doch auch ihre Verteidigung ist mächtig. Eine Tragödie, dass gerade sie dem Krieg zum Opfer fielen …“ Als nächstes, gleich hinter den Erdwächtern, gelangten sie zu einer Frau, die ihre Hände auf den blutigen Boden gelegt hatte und an deren Armen sich Ranken empor schlängelten. „Die Naturwächter, eins mit ihrem Element der Natur freundlich und besonnen, doch mit einem außerordentlich großen Beschützerinstinkt ausgerüstet, für den sie auch ihren ruhigen Prinzipien entsagen.“ Weiter ging Grey, nachdem er auf eine Person mit lilafarbenen Haaren gezeigt hatte, die in beiden Händen Waffen hielt, die Sekundenzeigern nicht unähnlich und offensichtlich effektiv waren, denn die Person wurde dabei gezeigt, wie sie gerade einen Dämon köpfte – und sofort war alle Aufmerksamkeit Greens wieder bei Greys Erklärung, denn diese Sekundenzeiger-Waffe sah verdächtigt nach der aus, die bereits das Leben von Siberu und Gary bedroht hatte. „Das Element der Zeit gibt den Zeitwächtern bedingt die Macht über die Zeit, welche ihnen als immens starke Angriffskraft dient. Immer an der vordersten Front kämpfend ist diese Familie daher recht klein.“ „Nicht zu vergessen wie sympathisch sie sind.“ In seiner Erklärung unterbrochen wandte Grey sich sichtlich verwirrt an Green; er schien es nicht gewohnt zu sein, dass ihn jemand unterbrach, denn für einen kurzen Augenblick konnte er scheinbar den Faden nicht wieder finden: „“Sympathisch“? Was… meinst du?“ „Ja, diese Furie, Kaira oder wie auch immer die heißt. Sie hat mich schon freundlich begrüßt.“ „Oh, ja, sie hat ein wenig … Haare auf den Zähnen.“ Grey lächelte ein wenig verschmitzt, doch Green war nicht nach Lächeln zumute. Stattdessen verschränkte sie die Arme und sah das Gemälde des mordenden Zeitwächters anklagend an, als wäre es Kaira selbst, die dort abgebildet war. „Angreifende Haare offensichtlich“, erwiderte Green grummelnd, als sie wieder daran dachte, wie Kaira Siberu und Gary ohne jeden Grund attackiert hatte. „Angreifend? Sie hat dich angegriffen?! Aber das … das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Und sofort richtete sich der anklagende Blick Greens nicht mehr auf die gemalte Person, sondern gegen Grey: „Sie hat es aber. Sie hat ohne zu zögern einfach meine Freunde angegriffen und wäre ich nicht dazwischen gegangen, hätte sie sie wohl noch umgebracht!“ Vor zwei Sekunden noch hätte Green schwören können, dass sie Greys Körpersprache richtig als nervös interpretiert hatte, doch die Nervosität war nach dieser Erklärung plötzlich von ihm gefallen – Greens Aussage schien ihn beruhigt zu haben. „Lass uns später noch einmal zu diesem Thema zurückkehren, ja?“ Green hatte sich unterbewusst, aus einem ihr unbekannten Grund, schon auf einen Streit eingestellt, doch gab angesichts seiner liebenswürdigen Höflichkeit nach - erstmal. Zwar antwortete Green nicht, doch ihr Schweigen interpretierte Grey als Aufforderung, mit der Erklärung der Elemente fortzufahren und als hätte sie ihn nie rausgeworfen, führte Grey seinen Zeigefinger nun wieder zurück auf das Gemälde, um bei zwei fliegenden Personen mit grauen Haaren stehen zu bleiben:  „Dies ist mein Element, das Element des Windes. Unser Gebiet ist die Schnelligkeit - dank dieser sind auch wir an vorderster Front anzutreffen, da wir auch die einzigen Wächter sind, die fliegen können.“ „Du kannst fliegen?“, lautete Greens erste überraschte Frage, den fast angefangenen Streit plötzlich vergessend, welche Grey lächelnd bejahte, ehe seine Hand ihren Weg fortsetzte, bis er an den rechten Rand des Bildes gelangte, wo sich die letzten vier Personen aufhielten: zwei von ihnen mit pinken Haaren, die anderen mit hellblauen. Die Ersteren standen am Rand des Geschehens und beschützen die anderen Kämpfenden, indem sie eine pinkfarbene Barriere entstehen ließen – eine Technik, die Green sofort an Pink erinnerte. Waren das die Wächter, zu denen Pink gehörte? „Hier haben wir einmal die Wächter des Klimas, welche diejenigen sind mit den hellblauen Haaren. Obwohl sie üblicherweise nicht an der Front anzutreffen sind, ist ein Krieg ohne sie unmöglich zu führen, denn sie sind unsere Strategen und traditionell auch unsere Ärzte. Die nächsten, die du am Rand des Bildes sehen kannst, sind die Wächter des Schutzes, zu denen auch unsere Cousine Pink gehört. Auch sie gehören nicht zur unserer Offensivmacht, aber kein anderer Wächter übertrifft sie, wenn es um Verteidigung geht.“ Einen Augenblick lang wandte Green sich von dem Bild ab und sah ihren Bruder verwundert an: „“Cousine“? Pink ist meine …“ Green schwieg verblüfft über diese Offenbarung, welche Grey mit fragenden Augen beäugte – hatte sie wirklich die ganze Zeit mit einem Familienmitglied unter einem Dach gewohnt, ohne es zu bemerken?! „Ist sie wirklich meine … ich meine unsere Cousine?“ Offensichtlich verstand er ihre Verwirrung nicht und antwortete zögerlich: „Ja, sie ist die einzige Tochter unserer Tante Violet und somit natürlich unsere Cousine.“ Plötzlich fühlte Green sich vollkommen überrumpelt. In innerhalb von nur einer Stunde bekam sie nicht nur einen großen Bruder, sondern auch eine Tante und eine Cousine? Vor einer Stunde war sie noch Vollwaise gewesen … Um sich abzulenken, wandte Green ihren Kopf hektisch zurück zum Bild und fand auch schnell eine Frage, um sich abzulenken: „Das sind aber nicht die Elemente, von denen ich sonst immer gehört habe …“ Grey fand sein Lächeln schnell wieder und antwortete: „Nein, die Menschheit definiert die Elemente anders als wir.“ Green beschloss sich dazu, es dabei zu belassen und ließ ihren Blick wieder über das enorme Kunstwerk gleiten, wobei sie nicht bemerkte, dass Grey sie lächelnd beobachtete und ihr folgte, als seine Schwester einige Schritte nach links ging, um wieder vor der Mitte des Bildes zu stehen, wo sich die einzigen Personen befanden, die Grey noch nicht erläutert hatte. Drei komplett in Weiß gehüllte Wesen, die im Licht der aufgehenden Sonne erstrahlten und glorreich ihre Waffen in verschiedene Himmelsrichtungen hielten: Links stand ein Mann mit weißen Haaren und weißen Augen, angriffsbereit das Schwert in der Hand, auf der anderen Seite eine Frau mit den gleichen Merkmalen: Diese hielt allerdings einen Stab in ihren Händen, mit einer beschützenden Haltung. Das Geschlecht der Person in ihrer Mitte konnte Green nicht klar ausmachen: Diese hielt auch keine Waffe in der Hand, sondern streckte die Hand Richtung Himmel, in einer Beistand suchenden Haltung, aber dennoch mit einer unglaublichen Willenskraft. Grey, der Greens Blick gefolgt war, begann nun auch diese zu erläutern: „Dies, Green, sind die Hikari: die Wächter des Lichtes. Mit ihrem Licht erhellen sie die Dunkelheit, führen und beschützen unser Reich mit einer gerechtigkeitsliebenden Hand. Die Hikari sind das Oberhaupt unserer Rasse.“ Green bemerkte, dass er sie ansah, während er dies sagte - mit Erwartung in den Augen, welche sie nicht so ganz nachempfinden konnte. Was war es, was er erwartete? Die beiden Geschwister setzten ihren Weg fort; Green sich weiterhin neugierig in diesem beeindruckenden Gebäudekomplex umschauend, bis er eine verzierte Tür öffnete und seiner Schwester höflich den Vortritt ließ. „Dies ist mein Gemach. Ich denke, wir können hier ungestört reden.“ Drinnen stockte Green kurz der Atem, denn das sah nicht aus wie ein normales Zimmer: Locker hätte ihre gesamte Wohnung zwei Mal hineingepasst. Der Einrichtungsstil des Zimmers war viktorianisch und abermals fühlte sie sich in der Zeit zurück befördert: auf dem großen Schreibtisch lagen Federkiele anstatt einer Computertastatur, die Bücher auf dem massiven Schreibtisch waren alt … es herrschte Ordnung in diesem Zimmer, auch wenn es ziemlich voll war. Besonders der Schreibtisch quillte über, weil sich viele verschiedene Haufen von Dokumenten stapelten, sowie Bücher - aufgeschlagen oder auf einen Haufen gelegt. Ein großes Bücherregal enthüllte, dass er sehr belesen war, denn es sah aus, als wenn die Bücher regelmäßig vom Regal geholt und wieder zurückgestellt worden waren. Doch was Green besonders auffiel, waren zwei Mannequins gleich neben dem Schreibtisch, wo Grey anscheinend an zwei Kleidern arbeitete. „Du … schneiderst?“ Ihr großer Bruder wurde ein wenig rot, als er antwortete: „Ja, wenn die Zeit es zulässt, widme ich mich diesem Zeitvertreib mit leidenschaftlicher Freude.“ Das konnte man laut sagen, dachte Green, als sie um die Ecke spähte und einen hellblauen Wandschrank entdeckte, der größer war als das enorme Himmelbett gleich daneben. Green warf noch einen Seitenblick auf ihren Bruder, wobei sie ihren Blick noch einmal über seine Kleidung laufen ließ und auf die Art, wie er seine Hände hielt und wie er ging, als er auf eine Sitzecke an einem riesigen, die Wand gänzlich einnehmenden Fenster zusteuerte. Er hatte einen eleganten Gang, seine adelige Kleidung, dieses riesengroße Zimmer … Eins war ihr klar: Was auch immer ihre Familie war, sie musste über enorme Mittel verfügen. Grey hatte gesagt, dass er ein Windwächter war. Was war sie dann? War sie auch eine Windwächterin? Doch gerade, als sie diese Frage stellen wollte, öffnete sich die Tür leise und ein blondhaariger, junger Mann kam mit gesenktem Kopf herein. In seinen Händen befand sich ein Tablett mit dampfendem Tee, welchen er schweigsam auf den Tisch stellte. „Guten Abend, Grey-sama.“ Seine Stimme war ruhig, beinahe monoton, doch das war nicht das, worauf Green in diesem Moment achtete: War er ein Diener? Ihr Bruder hatte einen Diener?! Grey lächelte den jungen Mann erfreut an und richtete sich sofort auf, als dieser den Tee serviert hatte. Die beiden wechselten ein, zwei Blicke miteinander aus, ehe der Blondschopf sich an Green wandte und sich elegant verbeugte, was diese mit einem fragenden Blick beantwortete. Warum verbeugten sich bloß alle vor ihr? „Green, darf ich vorstellen: das ist Ryô. Mein treuer Tempelwächter, aber zeitgleich auch mein bester Freund.“ „Tempelwächter?“, fragte Green verwirrt, doch Grey winkte mit der Hand ab, woraufhin er sofort auf den Sessel neben sich zeigte: „Setz dich doch. Ich werde dir so viel erklären, wie du wünscht.“ Ehe er dies allerdings tat, wandte er sich noch einmal an Ryô: „Ryô, wenn du noch nicht zu müde bist, würde ich dich nachher um deine Hilfe bitten.“ Während Green sich endlich setzte, fiel ihr auf, dass Ryô dies nicht zu gefallen schien: Seine goldenen Augen sahen plötzlich besorgt aus. Doch er fügte sich dem Wunsch Greys und verließ mit kaum hörbaren Schritten den Raum. Grey sah ihm hinterher, seufzte kurz, ehe er sich eine Tasse nahm und dazu ansetzte, einen Schluck von seinem Tee zu nehmen. Seine Schwester nahm ebenfalls eine Tasse, obwohl sie eigentlich nicht unbedingt ein Teetrinker war. Sie wusste nicht einmal, was es für ein Tee war, der sich in der verzierten Tasse befand, die sie in der Hand hielt, wovon sie keinen Schluck nahm, sondern ihn nur in der Hand behielt. Geduldig, aber angespannt, wartete Green, bis Grey einen Schluck von seinem genommen hatte, und stellte erst danach ihre Frage: „Grey, du hast mir erzählt, zu welchem Element du gehörst. Doch zu welchem gehöre ich? Was ist mein Element?“ Ihr Bruder schwieg. Ohne einen Laut zu verursachen, stellte er seine Tasse wieder ab, mit einem Blick, der ins Nichts ging. Green beobachtete ihn dabei genau, mit einer wachsenden Ungeduld, und obwohl sie ihm Zeit lassen wollte, so hatte sie doch das Bedürfnis, ihn um eine Antwort zu bedrängen; eine Antwort, die er nach mehreren schweigsamen Minuten endlich gab, mit einem Blick, der fest auf sie gerichtet war:   „Du, Green, bis die Nachfolgerin unserer Mutter, Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White, und somit die Erbin des Lichtes. Du bist eine Hikari und damit das Oberhaupt aller lebenden Wächter.“   Vollkommen fassungslos starrte die eben zur Hikari Ernannten ihren Bruder an; absolut widerwillig, seinen Worten Glauben zu schenken – sie, eine Hikari, eine Lichtwächterin? Sie, ein reines Element vertretend? Sie, ein Oberhaupt? Das musste ein Fehler sein; das musste ein Irrtum sein! Aber ihre Attacken … sie griff mit Licht an, sie konnte in die Sonne sehen … aber wie war das möglich? Wie konnte so jemand wie sie das Licht sein? Wenn sie das Siberu und Gary erzählte, würden sie ihr bestimmt auch nicht glauben …   Dann fiel es Green wie Schuppen von den Augen. Sie wussten es.   „Die heilige Familie der Hikari stand seit jeher an der Spitze der Wächter, denn sie hat das mächtigste Element von allen Wächtern; die größte Macht und die effektivste gegen die Dämonen“, fuhr Grey fort, als bemerke er weder die Fassungslosigkeit auf Greens Gesicht noch die Tatsache, dass sie ihm nur noch mit einem halben Ohr zuhörte. „Unsere Mutter ist eine legendäre Hikari: eine Hikari, die geachtet wird von unseren Familienmitgliedern, geliebt von ihren Untertanen und gefürchtet von unseren Feinden. Sie ist gütig, hilfsbereit, barmherzig, freundlich … Sie ist rein. Die absolute Ikone für jeden Wächter. Großes hat sie in ihrer Zeit als Regimeführerin vollbracht.“ Green schwirrte der Kopf. Zu viele Dinge belagerten sie gleichzeitig, zu viele Informationen: sie hatten einen Bruder gefunden und gleichzeitig eine mächtige, heilige Familie, sie war eine Lichtwächterin – und dann war da noch die Tatsache, dass sie sich überaus sicher war, dass Siberu und Gary von alledem wussten. Warum sonst hätte Gary sie damals fragen sollen, ob sie in die Sonne blicken könne? Er wusste es von Anfang an … und damit auch Siberu. Warum hatten sie es ihr nicht erzählt? „Green?“ Überrascht sah die Angesprochene auf und traf den Blick ihres Bruders, welcher sie besorgt ansah: „Ich denke, es ist für heute genug. Du siehst … müde aus.“ Green schüttelte den Kopf und versuchte, ein Lächeln hervorzubringen. „Es gibt noch so viele Fragen …“ Grey nickte zustimmend, sagte aber auch, dass sie noch viel Zeit haben würden, um diese zu klären und dass man nichts überstürzen sollte. Green war der gleichen Meinung: außerdem wollte sie eigentlich so schnell es ging zurück, denn bevor sie noch mehr von ihrem Bruder erfahren würde, wollte sie mit Gary reden. Sie musste wissen, was es mit all dem auf sich hatte und vor allen Dingen, warum sie es ihr nicht erzählt hatten. „Ich möchte aber gerne noch meinen richtigen Namen erfahren.“ Nun war es Grey, der so aussah, als wäre ihm plötzlich unwohl zumute; was Green wunderte – war es nicht eine gänzlich normale Frage? Eine normale Frage, auf die man ganz normal antworten konnte? „Du musst wissen, Green … die Namen aller Hikari werden mittels Vorhersehung bestimmt, daher tragen sie eine ganz entscheidende Bedeutung, die das Schicksal und den Charakter des Trägers widerspiegeln.“ Mit Spannung erwartete Green nun die Nennung ihres Namens - besonders nachdem sie bemerkt hatte, dass ihr Bruder aus irgendeinem Grund zögerte, Green ihren wahren Namen zu verraten. Er holte sogar noch einmal tief Luft und sagte dann: „Dein Name lautet … Kurai Yogosu Hikari Green.“ Dunkles, unreines Licht? Ein merkwürdiger Name, doch warum hatte er solange damit gezögert, ihn auszusprechen? Sie fand eigentlich, dass er Sinn ergab. Sie war nun einmal nicht besonders rein und sie fand nach wie vor, dass sie nicht zum Element des Lichtes passte. „Weißt du, Green …“, begann Grey zögernd und es war offensichtlich, dass es ihm mit jedem ausgesprochenen Wort schlechter ging: „Wir Wächter leben nach Regeln: Regeln, die unser Dasein in geregelte Bahnen lenken und an die wir uns halten; allen voran die Hikari. Unsere Mutter hat nie eine einzige von ihnen gebrochen.“ Regeln? Oh, das klang gar nicht gut. Ein verschmitztes Grinsen huschte über Greens Gesicht. Immerhin war das einzige, was Green mit Regeln verband, dass diese nur dafür existierten, um gebrochen zu werden. „Bereits bei deiner Geburt, bei der Namensgebung, wurde bekannt, dass du … dich nicht gerade an diese halten würdest.“ „Ich glaube, da lag diese Vorsehung gar nicht so daneben. Daher stammt also dieser, ehm … eher negativ klingende Name?“ „Ja.“  „Aber ich kenne diese Regeln doch gar nicht. Dann kann ich mich doch unmöglich an sie halten.“ „Ein Hikari tut das von Natur aus. Kein Hikari würde jemals beispielsweise auf die Idee kommen, zu stehlen. Hilfsbereitschaft wird hoch angepriesen. Egoismus ist ihnen fremd …“ „Ach du scheiße.“ „… Schimpfwörter werden nicht in den Mund genommen. Auch das Lügen ist verboten. Ich weiß, dass du gegen sehr viele verstoßen hast, ständig, immer wieder. Doch das eigentliche Problem … der Grund, weshalb du diesen Namen trägst, ist … dass klar war, dass du viele Regeln der A-Klasse brechen würdest.“ Greys Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Ich habe niemanden umgebracht“, antwortete Green wie aus der Pistole geschossen, denn das war das Einzige, von dem sie sich vorstellen konnte, dass es in die A-Klasse gehörte – auch wenn sie keine Ahnung von den Gepflogenheiten der Wächter hatte. Aber anscheinend war das Stehlen, was sie zugegebenermaßen schon öfter getan hatte, nicht eine Regelverletzung der A-Klasse. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie so Schlimmes getan haben konnte, was die Ursache war für Greys düsteres Gesicht.    „Deine „Freunde“. Es sind Dämonen.“   Lange sah sie ihren todernsten Bruder an, der sein Kinn auf seinen gefalteten Händen aufgestützt hatte und ziemlich verkrampft aussah. Was hatte das alles plötzlich mit Siberu und Gary zu tun? Wollte er ihr damit etwa sagen, dass ihr als Hikari das Zusammensein mit ihnen verboten war?!  „… na und?“, antwortete Green und versuchte, dabei so gleichgültig wie möglich zu klingen, obwohl sie bereits spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Eine Wut, die Grey scheinbar nachempfand, denn seine Stimme gewann an Härte, als er antwortete: „“Na und“?! Green! Dämonen sind unsere Feinde! Du kannst sie nicht als Freunde sehen!“ „Ich weiß selbst, dass die Dämonen meine Feinde sind. Ich habe es oft genug gemerkt! Aber Sibi und Gary sind anders! Sie sind meine Freunde, wir vertrauen uns!“ Grey beugte sich über den Tisch und sah ihr direkt in die Augen, wobei das schöne Himmelblau plötzlich hart geworden war: „Dir scheint nicht bewusst zu sein, dass dies alles nur eine List ist. Dämonen sind blutrünstige Wesen, die nichts anderes können als zu töten - es ist ihre Leidenschaft, sie haben Spaß daran! Es liegt in ihrer Natur zu zerstören, zu betrügen, zu töten – und auch dich betrügen sie, Green! Sie sind nicht und werden nie deine Freunde sein; lass nicht zu, dass sie dich und dein Herz missbrauchen.“ Tonlos starrte Green ihren Bruder an, bis sie ebenso tonlos den Kopf schüttelte. Einen kurzen Augenblick war sie geschockt, doch ihre temperamentvolle Wut drang schnell wieder an die Oberfläche: Sie würde nicht zulassen, dass man Siberu und Gary so etwas zuschrieb, ohne sie zu kennen – und genau dies brach auch aus ihrem Mund hervor: „Du kennst sie doch gar nicht! Du kannst dir gar kein Urteil über sie erlauben! Aber ich kann es und ich weiß, dass ich ihnen blind vertrauen kann!“ Geschockt sah Grey, dass Green mit ein wenig zu viel Gewalt die Teetasse zurück auf den Tisch stellte, ehe sie sich schwungvoll aufrichtete und auf die Tür zusteuerte. „Green! Wo willst du denn …“ „Nachhause.“ Und schon hatte Green, ohne sich noch einmal umzusehen, die Tür hinter sich geschlossen. Grey war ebenfalls aufgestanden, als seine Schwester sich aufgerichtet hatte, doch er fiel wieder in den Sessel zurück, sich dazu entschließend, ihr nicht nachzulaufen. Ruhelos, aber auch traurig, sah er in den dunklen Tee, der ihm keine Wärme geben konnte, denn er war bereits kalt geworden. Er hatte gewusst, dass es schlecht um Green stand. Aber er hatte nicht gedacht, dass es … so schlimm war. War es etwa bereits zu spät? Es durfte nicht. Es durfte einfach noch nicht zu spät sein … er würde nicht tatenlos zusehen, wie diese beiden Dämonen Green in den Abgrund hinabrissen. „Grey-sama?“ Aus seinen Gedanken geweckt blickte der Angesprochene auf und sah Ryô vor dem Tisch stehen. „Oh, Ryô, du bist es … ich habe dich gar nicht reinkommen hören.“ „Ich habe gesehen, wie Tinami-sama Eure Schwester in die Menschenwelt zurückgebracht hat. Anscheinend hat Euer Gespräch nicht den gewünschten Effekt erzielt?“ Tief seufzte Grey statt einer Antwort und stützte seinen Kopf auf seiner zusammengeballten Faust ab und hüllte sich in Schweigen. Sein Blick schweifte hinaus durch die großen Glasfenster in das Dunkel der Nacht. „Ach, Ryô …“, seufzte er nach einer Weile ein weiteres Mal und fuhr niedergeschlagen fort: „Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn ich ihr die Wahrheit über den Tag ihrer Geburt erzählt hätte … Wie hätte sie es aufgenommen, wie hätte sie verstehen können, dass ihr eigene Familie versucht hat, sie umzubringen?“     Erst um drei Uhr morgens kam Green mit der Hilfe von Tinami wieder in ihren eigenen vier Wänden an, die ihr noch nie so willkommen gewesen waren. Die Einfachheit ihrer Wohnung war beinahe besänftigend; zwei kleine Zimmer, eine Stube, die mit der Küche kombiniert war und keine Malereien, keine verschnörkelten Wandzierden, keine Antiquitäten, kein Tempel, der irgendwie in der Luft schwebte: Diese Schlichtheit war noch nie so wunderschön gewesen. Es war spät; die Wohnung lag verlassen vor ihr, denn Pink schlief augenscheinlich bereits. Nachdem Green sich von Tinami verabschiedet hatte, war sie an der Tür ihres kleinen Heimes stehen geblieben. Seufzend lehnte sie sich an diese und sah gedankenverloren nach unten, während die letzten Geschehnisse Purzelbäume in ihrem Kopf schlugen, wie ihre Schuhe, die sie sich wie in Trance von den Füßen zwängte und die müden Füße in ihre Hausschuhe gleiten ließ. „Kurai Yogosu Hikari Green …“, flüsterte sie leise vor sich hin. Ihr neuer Name. Ein Name, der ironischerweise wirklich sehr passend war, aber dennoch absolut fremd auf ihrer Zunge klang. Green Najotake; das war ihr Name - nicht irgendein Name, der durch Vorhersehung entstanden war. Kurai Yogosu Hikari Green war der Name einer Fremden. Einer Hikari. Was genau war das eigentlich? Sie hatte so viel erfahren, so viel gesehen; doch es war wie ein Traum, an den sie nicht glauben konnte. Mit langsamen Schritten ging Green zu ihrer Balkontür und legte sanft ihre Hand auf die kühle Scheibe, dabei den Blick in den klaren Nachthimmel gleiten lassend, an dem die Sterne deutlich zu sehen waren. War das, was sie gesehen hatte, wahr? Befand sich solch ein Ort, der Tempel, wirklich dort oben im Himmel? War das ihr Zuhause? Gehörte sie dorthin und nicht hier unten, zwischen die Hochhäuser von Tokio? Green wusste es nicht: Sie war verwirrt. Eine so große Verwirrung, die sie in Mark und Bein spüren konnte und die ihr Sein komplett einnahm, war ihr vollkommen fremd. Nicht einmal die Enthüllung ihrer Nicht-Menschlichkeit hatte sie so aufgewühlt wie die letzten zwei Stunden. Sie hatte einen Bruder, irgendwo da oben – plötzlich auch eine Mutter, welche sie nicht einmal begrüßt hatte, obwohl es in Greys Erklärung so geklungen hatte, als sei sie noch am Leben … eine Familie, eine Abstammung – und das, wo sie bereits gelernt hatte, alleine zurechtzukommen und sich mit ihren nicht vorhandenen Wurzeln abzufinden. Sollten diese neugefundenen Wurzeln es nun sein, die ihr die Verbindung zu Siberu und Gary verbieten wollten? Lange kannte sie die beiden noch nicht. Aber sie war sich sicher, dass sie sie nicht missen wollte – und auch, dass sie den Worten von Grey nicht glaubte. Er kannte sie immerhin nicht. Er wusste nicht, was es für ein wunderschönes Gefühl war, nach enorm langer Zeit von jemandem erwartet zu werden. Er wusste nicht, wie schwer es ihr gefallen war, ihnen zu vertrauen und dass sie nicht bereute, es getan zu haben. Dennoch musste sie sich die Frage stellen, warum die beiden ihr nichts von ihrer Abstammung erzählt hatten. Doch diese Frage war keine Anzweiflung an sie und brachte sie auch nicht dazu, ihr Vertrauen zu bereuen, denn sie war sich sicher, dass es einen Grund für ihr Handeln gab, auch wenn sie diesen jetzt nicht erklären konnte. Wie kam Grey überhaupt darauf, so etwas zu denken? Green hatte Tinami zwar nichts von ihrem Gespräch mit ihrem neu gefundenen Bruder erzählt, doch hatte sie wohl in ihrem Gesicht gesehen, dass die Wiedervereinigung nicht so gut gelaufen war wie von Grey erhofft. Tinami hatte ihr erzählt, dass ihr Bruder sehr besorgt um seine kleine Schwester gewesen war und obwohl sie sich nicht gesehen hatten, immerzu nur von ihr gesprochen hatte und wie sehr er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Green konnte dies nicht so recht glauben. Zwar hatte sie gespürt, dass er sich freute, sie zu sehen, aber … warum war sie denn überhaupt von ihm getrennt gewesen, wenn ihre Gegenwart nicht unerwünscht gewesen war? Und ihre Mutter, und … Tief seufzte sie und entschloss, dass sie ihren Gedanken eine Ruhepause gönnen sollte. Morgen war ein neuer Tag: ein Tag, den sie nutzen würde, um mit Siberu und Gary zu reden. Vielleicht könnten sie ihr Antworten geben.   Der nächste Abend bot die perfekte Gelegenheit für ein solches Unterfangen, denn Green hatte den beiden Brüdern versprochen, dass sie an diesem Abend für sie zu Abend kochen würde. Sie hatte sogar schon dafür eingekauft gehabt alles, was man so benötigte, um ein chinesisches Gericht auf den Tisch zu zaubern. Sie hatte von Siberu erfahren, dass die chinesische Küche die Küche war, die Gary am liebsten mochte und der Hintergedanke bei diesem Abendessen war gewesen, gerade ihm eine Freude zu machen: als ein Dankeschön für die Zeit und Nerven, die er opferte, um ihr Nachhilfe zu geben. Den gesamten Tag über hatten weder Siberu noch Gary sie gefragt, wie es gelaufen war: Beide hielten sich bedeckt, obwohl diese Frage und die damit verbundene Neugierde ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Green war sich sicher, dass Gary Siberu darauf hingewiesen hatte, dass er nicht fragen sollte, sondern ihr die Möglichkeit geben musste, den Zeitpunkt selbst zu wählen. Auf der einen Seite war Green ihnen dankbar für diese Rücksicht, doch auf der anderen Seite fragte sie sich die gesamte Zeit, warum sie ihr überhaupt nichts von ihrer Abstammung erzählt hatten. Doch sie würde bald ihre Antwort erhalten, denn sie hatte nicht vor, sich von diesem Gespräch abhalten zu lassen. Von nichts und niemandem, auch nicht von einem Dämon. Zum Glück blieb ihr Glöckchen bis zum Abend ruhig und ruhte leise auf ihrer Brust, während sie sich in der Küche der beiden Halbdämonen breitmachte und ein wohlschmeckendes Gericht zusammenstellte; denn mit dem Kochen hatte sie absolut keine Probleme, da sie bereits so lange alleine gewohnt hatte. Sie hatte Pink darum gebeten, in deren Wohnung zu bleiben, was sie zuerst überhaupt nicht einsehen wollte, sondern erst, nachdem Green ihr offen und ehrlich erzählt hatte, dass sie aufgrund des gestrigen Treffens mit Grey unbedingt alleine mit den beiden Brüdern reden wollte. Green hatte ihr Pfannkuchen gemacht und dies schien das kleine Mädchen so glücklich zu machen, dass sie ganz vergaß, irgendetwas Näheres über Grey nachzufragen. Während Green so in das glückliche Gesicht Pinks sah, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie beide Cousinen waren … das erklärte vielleicht auch, warum Green sich so verbunden mit ihr fühlte. Ob sie es auch wusste? Green könnte sie fragen, doch sie tat es nicht – noch nicht. Eine Baustelle zur Zeit. Und momentan machte sie sich mehr Gedanken darüber, wie sie das Gespräch mit den beiden Brüdern anfangen sollte. Doch das Kochen stellte sich in dieser Küche als schwieriger heraus, als vorher von ihr angenommen, denn Siberu hatte sich dazu entschlossen, ihr ununterbrochen Gesellschaft zu leisten und war nicht gerade sparsam mit seinen Annäherungen, wobei er angeblich das Essen kosten wollte, daran zweifelten Gary und Green, die ihre Müh und Not hatte, ihn abzuschütteln, während Gary auf dem Sofa sitzend ihre Hausaufgaben korrigierte und sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen konnte: „Ich hoffe, Green, dass das Essen nicht so mangelhaft ist wie diese Rechnungen hier.“ Green, die gerade das Essen nachwürzte, sah ihn mindestens genauso scharf an wie die Soße es war und antwortete: „Noch ein Wort von dir und ich verliere ganz aus Versehen Unmengen an Pfeffer und Chili in deiner Portion und glaube mir, dann schmeckt es gewiss gut. Außerdem hast du doch schon einmal mein Essen probiert. Hat es dir etwa nicht geschmeckt?“ „Das war ein Nudelgericht. Ich denke, das ist nicht besonders schwierig.“ Green wollte eben etwas erwidern, als sich Siberu mit seinem liebsten Lächeln einmischte, indem er fragte, ob er ihr dabei behilflich sein sollte, den Tisch zu decken. Zwar kommentierte Gary Greens Aufgaben nicht ein weiteres Mal, doch der Blick, den er ihr sandte, als er sich zu Tisch setzte, sagte ihr deutlich, dass er nicht gerade von ihr begeistert war und sofort fragte sie sich, womit dieser arrogante Lehrer es überhaupt verdient hatte, dass sie extra für ihn Essen machte. Doch auch sie beließ es bei einem Blick und sagte nichts weiter dazu – Siberu wiederum wählte, die Stimmung komplett zu übersehen und begann sich aufzufüllen. Einen Moment lang herrschte Schweigen außer dem Geklirre des Geschirrs, als sie sich abwechselnd etwas zu essen auffüllten. Green hatte das Gefühl, dass sie beide darauf warteten, dass sie anfangen sollte, etwas zu sagen: dass sie beide überaus gespannt darauf waren zu hören, was in der gestrigen Nacht geschehen war. Doch sie wählte, sie auf die Folter zu spannen, denn anstatt über jene Geschehnisse zu reden, schwieg sie und nach einigen verstrichenen Sekunden beklemmender Stille probierten sie alle drei das Essen in beinahe dem gleichen Moment. „Chinesisch ist zwar nicht unbedingt mein Fall, aber …“, fing Siberu mit einem Grinsen an und fuhr fort: „Aber das hier schmeckt eindeutig gut!“ „Danke, Sibi“, antwortete Green ebenfalls grinsend und sofort wandten sich beide erwartungsvoll an Gary, der bereits seine zweite mit Stäbchen gepackte Portion hinuntergeschluckt hatte. Er schien ihre Blicke zu bemerken, doch ließ sich Zeit damit, die offensichtliche Frage in ihren Augen zu beantworten. „Es schmeckt, wie es schmecken soll.“ „Hey, Aniki, du brauchst nicht so geizig zu sein mit deinen Komplimenten! Immerhin ist es ewig her, dass wir so was Gutes zu essen bekommen haben.“ Green, welche absolut nicht wollte, dass Siberu noch auf die Idee kam, seinem Bruder zu sagen, dass sie es extra für ihn gemacht hatte, wollte ihn in seinem Wortschwall unterbrechen, doch es war Gary, der dies tat: „Du solltest lieber essen, anstatt zu reden: Das Essen ist definitiv zu schade, um es kalt zu genießen.“ Siberu schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein, doch das Mädchen zu seiner Rechten war es, denn ihr war bewusst, dass dies Garys Art war zu sagen, dass es ihm gut schmeckte. Vielleicht wäre es ihr genau wie Siberu auch nicht aufgefallen, wenn Gary und sie nicht einen kurzen Blick ausgetauscht hätten, der ihr gesagt hatte, wie sie es verstehen sollte: Denn auf ihren fragenden Blick hin war er rot geworden und hatte sich abgewendet, um sich weiter mit Siberu zu streiten. Es war ein Streitgespräch, das in eine vollkommen andere Richtung ging, dessen Inhalt vollkommen irrelevant war und auch niemanden interessierte - am allerwenigsten die beiden Halbdämonen selbst: Sie stritten sich, weil sie sich streiten wollten. Green wusste nicht warum, aber diese Belanglosigkeit brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht: Sie fühlte sich wohl.  „Weißt du, Sibi … Ich beneide dich.“ Der Angesprochene hörte mitten in dem Satz auf, den er seinem Bruder hatte entgegenschleudern wollen, und sah Green fragend an: „Um was?“ Plötzlich sah Green eher desinteressiert in ihr Essen und mit einer erschöpften Stimme antwortete sie: „Du hast einen Bruder, mit dem du dich gut verstehst … ich kann das nicht gerade behaupten.“ Zum zweiten Mal trat ein unschönes Schweigen ein, in dem sich alle Beteiligten etwas anderes dachten. Siberu fragte sich, seit wann er sich denn gut mit seinem Bruder verstand, während eben dieser sich zum einen über das Kompliment seitens Green wunderte, aber auch darüber nachdachte, ob dies der geeignete Moment war, um sie auf den gestrigen Abend anzusprechen, welcher ganz offensichtlich nicht so gut verlaufen war. Green dagegen ärgerte sich, dass ihr diese Bemerkung herausgerutscht war, denn dies war nicht der von ihr gewünschte Anfang des unvermeidlichen Gespräches. Sie räusperte sich daher und wechselte das Thema: „Gary hat ganz recht gehabt: kalt schmeckt das Essen nicht!“                        Zwei Stunden später beneidete Green Siberu nicht nur um seinen Bruder, sondern auch um seinen Schlaf: Siberu war während der Nachhilfe eingeschlafen, obendrein auf ihrem Schoß. Sie selbst wünschte sich auch nichts sehnlicher, als ebenfalls bald ins Bett zu kommen, denn sie hatte in der gestrigen Nacht weiß Gott nicht besonders viel Schlaf getankt. „Gary … Können wir nicht Schluss für heute machen? Ich bin hundemüde …“ „Das kommt gar nicht infrage, immerhin gelingt es uns selten genug, einen Zeitpunkt für die Nachhilfe zu finden und du möchtest sicherlich in den nächsten Prüfungen nicht durchfallen, oder?“ Natürlich war dies nicht der einzige Grund für Gary, die Nachhilfe trotz der späten Stunde noch fortsetzen zu wollen. Er spürte, dass das Mädchen rechts neben ihm nur auf den richtigen Moment wartete. Zwar wusste er nicht, wie dieser aussah, doch er konnte sehr geduldig sein und es hing förmlich in der Luft, dass sie mehr mit ihm bereden wollte statt nur die Geschehnisse zu schildern. „Natürlich will ich das nicht“, antwortete Green und schob ihr Rechenheft zu ihm rüber, damit er es kontrollieren konnte. Während er dies tat, glitt ihr Blick an ihm und dem roten Stift, mit dem er ihre Fehler markierte, vorbei und hinaus in den dunklen Abendhimmel, der von den Wolkenkratzern Tokios erhellt wurde. Dennoch erkannte Green, dass es wieder angefangen hatte zu schneien. Dieses Jahr war der Winter nicht besonders gnädig ihr gegenüber; es schneite wahrlich oft und vielleicht würde es sogar weiße Weihnachten geben. Letztes Jahr hatte es nicht so viel geschneit, doch es hatte auch Abende wie diesen gegeben, wo es kalt und dunkel gewesen und draußen vor dem Fenster der Schnee gefallen war. An solchen Tagen hatte Green sich stets in ihrem Zimmer verkrochen, alleine, mit geschlossenem und zugezogenem Fenster. Sie wäre früh ins Bett gegangen, doch erst spät eingeschlafen aus Angst vor den üblichen Albträumen. Und jetzt schlief Siberu ruhig auf ihrem Schoss, Gary kontrollierte ihre Aufgaben – es war warm, obwohl es draußen schneite und es Winter war.  „Green?“ Die Angesprochene schreckte auf, als sie die Stimme Garys hörte, der ihr gerade das Heft zurückgeschoben hatte. „Von den fünf Aufgaben sind zwei richtig“, sagte er ihr und zeigte auf die beiden Aufgaben; die anderen waren übersät mit roten Strichen, die Green zu einem erschöpften Seufzen brachten: „Das ist aber nicht gerade eine gute Quote.“ „Besser als keine Aufgabe korrekt, würde ich meinen.“ Diese Worte brachten Green nur zu einem müden Grinsen, während Gary aufstand und sanft versuchte, Siberu zu wecken. Dieser reagierte nicht auf die Hand auf seiner Schulter; jedenfalls nicht so, wie Gary es sich erhofft hätte, denn der Rotschopf schmiegte sich nur noch mehr an Green. „Scheinbar fühlt Sibi sich wohl.“ „Ja, das erscheint mir auch so.“ „Aber er schläft wirklich, oder? Bei ihm weiß man immerhin nie.“ Gary schüttelte den Kopf und sagte, dass er sehr gut erkennen konnte, wann sein kleiner Bruder schlief oder nur so tat als ob. Außerdem wusste er auch, dass Siberu den Schlaf bitter nötig hatte, denn er hatte die letzten Tage nicht gut bis gar nicht geschlafen, weil er auf Greens Rückkehr gehorcht hatte. Gary verkündete, dass er ihn lieber ins Bett bringen würde, und hob ihn scheinbar ohne Probleme hoch, doch verschwand nicht mit Siberu in dessen Zimmer, ohne Green noch den Taschenrechner zu reichen mit den begleitenden Worten, was sie falsch gemacht hatte. Green wollte gerade damit anfangen, Garys Erklärungen in die Tat umzusetzen, als er auch schon wieder zurückkam. „Silver schläft wie ein Stein.“ Er setzte sich wieder zu ihr und fragte sie, ob sie die drei falschen Aufgaben heute noch korrigieren wollte oder ob sie am nächsten Tag weitermachen wollten. „Ich möchte gerne etwas mit dir bereden“, antwortete Green widerwillig, doch sie wusste, dass dies nun der Moment war, in dem sie es nicht mehr weiter hinauszögern konnte, auch wenn sie es gerne wollte. Gary, der natürlich wusste, was sie mit ihm besprechen wollte, stimmte sofort zu und legte den Taschenrechner beiseite. Doch auch dieses Mal ließ sich die Wächterin Zeit, malte Kreise in ihr Rechenheft, während sie darüber nachdachte, wie sie das Thema beginnen sollte, ohne dass es zu anklagend klang. „… Wusstest du, dass mein voller Name Kurai Yogosu Hikari Green ist? Und ich eine … Hikari bin?“ Zum dritten Mal an diesem Abend kehrte das unangenehme Schweigen zurück, dieses Mal jedoch nur zwischen zwei Personen. Zwei Personen, welche sich nicht ansahen: Green malte weiterhin Kreise und Gary blickte in die entgegengesetzte Richtung. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die Gary benötigte, um eine Antwort auszuwählen und als diese endlich kam, war sie von der Kürze enttäuscht und verärgert: „Ja.“ Die Mine von Greens Bleistift brach ab. „… Gut. Und warum hast du mir das nie erzählt?“ Ihre Frage klang anklagender als sie es gewollt hatte, doch die Wächterin spürte eine leichte Verärgerung in sich, obwohl sie sich den gesamten Tag eingeredet hatte, dass sie es nicht sein wollte. „Ich habe versucht, es dir zu erklären.“ „Oh nein, das hast du nicht. Ich glaube, dass ich mich daran erinnern würde, hättest du versucht, mir zu erklären, dass ich von einer was-auch-immer adeligen Oberhaupt-Familie abstamme!“ Erst da wandte Gary sich ihr zu, im gleichen Moment, in dem auch Green sich von ihren Kreisen in ihrem Heft abgewandt hatte und beide sahen ernst in die Augen des jeweils anderen. „Was hätte ich dir denn sagen sollen?! Hätte ich dir einfach so sagen sollen, dass du eine Hikari bist und unser Zusammensein daher gegen jegliche Naturgesetze verstößt?“ Green wusste nicht warum, aber diese Worte von Gary zu hören machte sie nicht nur wütend, sondern auch traurig – es von Grey zu hören war eine Sache, aber es direkt von Gary zu hören … tat weh. „Verstehe. Du bist also auch seiner Meinung.“ Ohne dass der Halbdämon etwas dagegen tun konnte, richtete Green sich auf und wandte sich auch schon von ihm ab.  „Dann ist es wohl besser … wenn wir uns nicht mehr sehen! Und ihr wieder das … tut, was ihr halt tut! ...Und ich mach dann das, was eine Hikari so tut … was auch immer die tun. Regeln befolgen und so.“ Green hatte sich in Richtung Tür gewandt, doch es gelang ihr nicht, einen Schritt in eben diese Richtung zu unternehmen, denn Gary hielt sie auf, indem er ihr Handgelenk packte: „Was redest du denn da? So hatte ich das nicht gemeint.“ Insgeheim war sie froh darüber, dass er sie aufgehalten hatte, denn Green wollte von ihm genau das Gegenteil von dem hören, was sie gesagt hatte.  „Grey … er sagte mir, dass ihr nur so tut, als ob ihr meine Freunde seid und dass ihr mich in Wahrheit …“ „... umbringen wollen?“ Sie nickte und sah in eine andere Richtung, als würde sie sich dafür schämen, dass ihr Bruder so etwas behauptet hatte. „Ein anderer Gedanke war von einem Wächter auch nicht zu erwarten. Aber, Green, denk doch mal nach: Wir hatten oft genug die Gelegenheit, dir etwas anzutun, wenn wir es gewollt hätten und-“ „Blue, du kannst das nicht.“ Beide wirbelten herum und sahen Siberu in seiner Zimmertür stehen. Anscheinend hatte er genug geschlafen und offensichtlich einen Teil des Gespräches mit angehört.  „Ich dachte, du schläfst“, entgegnete Gary, ohne auf die Worte seines kleinen Bruders einzugehen. „Als ob ich schlafen könnte, wenn meine geliebte Green-chan so verletzt klingt; erst recht nicht, wenn es mein Bruder ist, der sie dazu gebracht hat!“ Ohne dass es einem der beiden gelang zu antworten, schlang Siberu sich bereits um Greens Hals und sah sie mit großen Augen an: „Ich kann ja verstehen, wenn du ihm nicht vertraust – aber was ist mir?“ Seine großen Augen, alias sein perfekter Bettelblick, zeigte bei Green nicht die geringste Wirkung, denn diesen Trick beherrschte sie selbst und ließ sich nicht um den kleinen Finger wickeln. Mit einem ironischen Lächeln schob sie ihn von sich weg und antwortete schnippisch: „Ich erinnere dich daran, dass du auf jeden Fall schon zwei Mal vorhattest, mein Glöckchen zu klauen – und es sah auch verdächtig danach aus, als würdest du mich umbringen wollen.“ „Das war was anderes! Da war ich mir ja auch noch nicht bewusst, dass ich mich in dich verliebt hatte. Wir sind doch Freunde, oder? Und Freunde misstrauen sich nicht, auch wenn sie unterschiedlichen Rassen angehören! Nur weil du jetzt auch einen Bruder hast, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht mehr zusammen sein können. Ich meine, wer interessiert sich schon für Naturgesetze und so’n Kram! Regeln sind da, um gebrochen zu werden; ist das nicht dein Motto, Green-chan?“ Siberu sah vom einen zum anderen, die ihn beide sprachlos ansahen und ihn nicht davon abhielten, fortzufahren: „Immerhin sind wir doch alle drei ein Team! Und ohne dich ist das nicht das Gleiche, Green-chan! Wir gehören zusammen! Und wenn dein Bruder etwas dagegen hat, dann ist er eindeutig ein schlechter großer Bruder.“ Sowohl Green als auch Gary waren sprachlos und genau so starrten sie ihn nach seiner dramatischen Rede auch an, nicht wissend, was sie antworten sollten. Erst nach verstrichenen Sekunden, in denen Siberu langsam ein wenig rot wurde bei dem, was er gesagt hatte, antwortete Gary:  „So ähnlich wollt ich das auch sagen, nur … weniger dramatisch.“ „Aber klar, Aniki, als ob du so was sagen könntest!“, erwiderte Siberu spöttisch, während er sich wieder von Green löste. „Meine Wortwahl wäre eine andere gewesen, aber die Bedeutung dieselbe. Ich hätte wohl nicht so übertrieben wie du.“ „Ich habe nicht übertrieben! Ich habe es genau so gesagt, wie es ist! Zur Abwechslung war ich sogar ehrlich.“ „Du und ehrlich? Passt irgendwie nicht zusa-“ Weiter kam Gary jedoch nicht: von den beiden unbemerkt, und hatte ihre Arme um sie beide geschlungen, ohne ein Wort zu sagen. Fest drückte sie sie an sich, bemerkte nicht, dass die beiden Brüder von ihrer plötzlichen Reaktion überrumpelt rot geworden waren, genauso wenig wie die beiden bemerkten, dass kleine Tränen in den Augenwinkeln der neuen Hikari funkelten. „… Green?“ „…-chan?“ Green antwortete nicht. Jetzt wusste sie, warum sie sich an kalten Abenden wie diesen nicht mehr in ihrem Zimmer verkroch und darauf wartete, dass der Winter vorbeiging. Weil sie nicht mehr alleine war. Sie war nicht allein. „…Danke, ihr zwei …“   Fertiggestellt: 08.08.11         Kapitel 14: Die wahre Familie ----------------------------- Hikari Shinsetsu Shinpai Lili war überaus überrascht gewesen, als man sie für die Ratsversammlung vorgeladen hatte; immerhin war das Thema dieser Ratsversammlung überaus heikel und gerade deswegen war beschlossen worden, nur eine bestimmte Anzahl Hikari daran teilnehmen zu lassen. Zwar hatte Lili bereits an mehreren anderen Ratsversammlungen teilgenommen, doch konnte von sich selbst nicht gerade behaupten, dass sie durch viele glorreiche Beiträge geglänzt hatte. Für gewöhnlich … hielt die eher schüchterne Hikari sich lieber im Hintergrund auf und sprach nur, wenn man sie direkt nach ihrer Meinung fragte. Es war jedoch eine große Ehre, an dieser besonderen Ratsversammlung teilzunehmen und Lili hatte sich ausgiebig über das Thema informiert, was eigentlich nicht Not getan hätte. Denn in den Gängen des Jenseits hatte es seit ein paar Monaten kaum ein anderes Thema gegeben neben dem der „unreinen Hikari“, über die so gut wie jeder Hikari Bescheid wusste. Doch trotz des recht heiklen Themas war Lili freudig erregt und fieberte dem Beginn der Ratsversammlung bereits entgegen; auch wenn sie ein wenig nervös war. Der Grund für ihre freudige Erwartung war der, dass sie es kaum abwarten konnte, White wieder in Aktion zu sehen. Lili hatte nicht erfahren wer alles an der Ratsversammlung teilnehmen würde, doch White, als die Mutter der unreinen Hikari, würde garantiert eines der anwesenden Ratsmitglieder sein. Für viele Wächter war White ein leuchtendes Vorbild und auch unter ihren eigenen Familienmitgliedern war sie äußerst beliebt und geachtet trotz der relativ kurzen Zeit, die sie bereits tot war; umso größer war die Überraschung, ja, der Schock darüber, dass eine solch reine und gütige Hikari einen solchen Schandfleck zur Welt gebracht hatte.    Als sie ankam, wurde sie jedoch enttäuscht - denn White war nicht zu sehen. Lili erkannte stattdessen einige andere bekannte Gesichter aus ihrer Familie wieder, unter anderem Whites Vater Hikari Kishitsu Kouhei Shinjitsu Shaginai und somit der Großvater der unreinen Hikari – zugleich aber auch die größte Bedrohung des Mädchens. Denn Shaginai war für seine überaus radikalen Methoden bekannt, wenn es darum ging, die Ehre und die Reinheit der Familie zu bewahren – und wenn er dafür über Leichen gehen musste. Aus seinen weißen Augen, die wirken wie weißer Stahl, leuchtete eine unbändige Willensstärke, die von nichts und niemanden gebeugt werden konnte. Das Wort Schwäche war ihm fremd, doch ebenso das Wort Erbarmen. Er genoss großen Respekt in seiner Familie, denn dank seiner charakterlichen Stärke so wie seines Könnens hatte er bereits viele Siege errungen: nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch mit Worten im Kriegsgericht Lili musste sich selbst allerdings eingestehen, dass der Respekt, den sie vor ihm hatte, auch auf Furcht aufbaute und so steuerte sie gewiss nicht auf den schlecht gelaunt aussehenden Shaginai zu, sondern auf ihr direktes Familienmitglied: ihren Sohn Hikari Meiyou Hikaru Seigi. Sein verwegenes Aussehen unterstrich seinen Posten als bester Schwertkämpfer der Hikari: obwohl auch er in Weiß gekleidet war und seine langen, zu einem Zopf gebunden Haare dieselbe Farbe besaßen, umgab ihn eine lockere Aura im Gegensatz zu den anderen Hikari. Seine ungewöhnlichen, minzgrünen Augen und sein selbstbewusstes Grinsen strahlten einen gewissen mörderischen Tatendrang aus, den sein geflügeltes Schwert, welches er beständig an seiner Hüfte trug, nur noch weiter untermauerte. Obwohl er ihr Sohn war, war er um die zwei Köpfe größer als sie, was kein Wunder war, immerhin waren Lili sechs Jahre weniger Lebenszeit vergönnt gewesen und somit war Seigi älter geworden als seine Mutter. Doch Lili trauerte diesen sechs Jahren nicht nach, denn sie hatte seinerzeit ihr Leben für das dreier Kinder geopfert und das war es ihr wert gewesen: das Leid anderer war ihr unerträglich und manchmal hatte sie sich sogar dabei erwischt, wie sie im Kampf gegen die Dämonen gezögert hatte. Lili unterbrach ihren Sohn gerade dabei, wie dieser mit Hikari Kirei Uchiki Mary flirtete – eine Tat, die sie ihm nicht verübeln konnte, denn mit ihren langen, weißen, hochgesteckten Haaren und den von wunderschönen langen Wimpern umrundeten Augen gehörte Mary zweifelsohne zu den hübschesten weiblichen Hikari – wenn sie nicht sogar die Hübscheste war, immerhin lautete ihr Beiname das „Licht der Schönheit“. Kaum dass Lili sich zu den beiden Hikari aufmachen wollte, bemerkte sie bereits, dass es ein sinnloses Unterfangen darstellen würde, denn die rund 15 Hikari betraten nun den Raum, in dem die Ratsversammlung üblicherweise stattfand. Es war ein großer, kreisrunder Raum, der zirka 20 Meter hoch war; weiße Säulen ragten bis zu der weit entfernten, verzierten Decke empor und umfassten die Tribünen, auf denen die Hikari ihre Plätze einnahmen und wo bereits Federkiele, Papier und das heilige Regelbuch für sie bereitgelegt worden waren. Nach und nach füllten sich die Plätze mit weißen Antlitzen, während Lili sich neben ihren Sohn in die zweite Reihe der Tribünen setzte. „Seigi, weißt du, ob White-senpai ebenfalls kommen wird?“ Der Angesprochene wandte seinen Blick von Mary ab, welche ihm von der Tribüne gegenüber einen finsteren Blick zugeworfen hatte, und sah sich im Raum um, ehe er antwortete: „Scheinbar ist sie noch nicht da - und da sie noch nie zu spät gekommen ist … denke ich nicht, dass sie kommen wird. Schade eigentlich! Es ist immer sehr unterhaltsam, wenn sie da ist und Blacky kann ich auch nirgends sehen …“ Lili verwunderte es sehr, dass White anscheinend nicht an der Ratsversammlung teilnehmen würde: Es ging doch um ihre eigene Tochter, warum war sie da nicht anwesend? Vielleicht gerade deshalb? Immerhin könnte sie durch ihre mütterlichen Gefühle beeinflusst sein … Gerade als Lili ihren Sohn darauf hinweisen wollte, dass er Whites Sohn nicht „Blacky“ nennen sollte, übertönte die gewaltige Stimme Shaginais bereits ihre ersten Worte: „Diese Versammlung ist einberufen worden, um über das weitere Verfahren mit Kurai Yogosu Hikari Green zu beraten, mit besonderer Berücksichtigung ihrer …“, Shaginai unterbrach sich selbst, indem er sich hörbar räusperte: „… Abnormitäten. Als ihre Familie liegt unser Hauptaugenmerk darauf, einen Weg zu finden, wie wir sie reinigen können, damit sie auf den rechten Weg des Lichtes gelangt!“ Kaum hatte Shaginai seine Worte beendet, schnellte Seigi auch schon in seinem Sitz empor – eine Tat, die Lili verwunderte, denn normalerweise war Seigi nicht sonderlich an den Ratsversammlungen interessiert und manchmal fragte sie sich auch, warum seine Teilnahme überhaupt erwünscht war, denn er war nicht sonderlich politisch engagiert. Doch er war trotzdem selbstbewusst und hatte keine Scheu davor, seine Meinung zu sagen, auch wenn sie oft kontrovers erschien. Auch dieses Mal schüttelte Lili in Gedanken den Kopf über die Frage ihres Sohnes, denn es war eine überflüssige Frage, würde er die Regeln so auswendig kennen, wie ein Hikari es eigentlich sollte:  „Die Ursache ihrer Unreinheit ist doch ihr Freundeskreis oder liege ich da falsch?“ „Vollkommen richtig“, antwortete Shaginai, während er mit seinen Fingern ungeduldig auf seinen Notizen tippelte und scheinbar nicht besonders erfreut darüber war, diese Antwort geben zu müssen. „Und diese „Freunde“ sind nach meinen Informationen Halbdämonen?“ Eine Weile trat Schweigen ein, denn die Hikari gaben die Tatsache, dass eine ihrer Eigenen Halbdämonen „Freunde“ nannte, ungerne zu. Die Vorstellung, dass eine Hikari wie sie Wert darauf legte, mit Wesen, durch deren Adern dämonisches Blut lief, zusammen zu sein und sich ganz offensichtlich weigerte, diese zu eliminieren, wie es die heiligen Regeln vorschrieben, war absolut gegen ihre Weltanschauung. „… ebenfalls richtig“, antwortete der Großvater der fragwürdigen Hikari mit einem verbitterten Unterton. Es war jedem bekannt, dass Shaginai einer derjenigen war, der den größten Groll seiner Enkelin entgegenbrachte: Nach Whites einzigartigem Erfolg hatte er eine fähige Enkelin erwartet - eine, die ihn genauso stolz machen würde; nicht so eine grenzenlose Enttäuschung, wie sie es nun einmal geworden war. In seinen Augen war sie es nicht würdig, das heilige Element des Lichtes zu tragen und seiner Meinung nach gab es auch keine Lösung für dieses absonderliche Problem: mit oder ohne ihre dämonischen Freunde. Green war auch ohne diese unrein und somit in den Augen der Mehrheit keine Hikari. Seigis Gesicht hellte merkwürdigerweise auf, als er diese Antwort erhielt und Lili sah mit entsetztem Gesicht, dass die Hand ihres Sohnes auf dem Griff seines Schwertes lag: ein deutliches Anzeichen dafür, dass Seigi das Verlangen hatte zu kämpfen, womit auch deutlich wurde, wie er das Problem zu beseitigen glaubte. „Ich entschuldige meine Frage im Voraus, aber gelten für Halbdämonen die gleichen Regeln wie für Volldämonen?“ Ein anderer Hikari antwortete: „Selbstverständlich. Jedes Wesen, durch dessen Adern dämonisches Blut läuft, wird als „Dämon“ klassifiziert und somit ist es für die Regeln vollkommen irrelevant, ob Halbdämon oder reinrassiger Dämon.“ Seigis Gesicht hellte weiter auf, im Takt mit dem steigenden Entsetzen in Lilis Gesicht: „Dann verstehe ich nicht, wo das Problem besteht! Ich bin dafür, dass wir die beiden einfach in die ewigen Jagdgründe schicken! … Ich melde mich freiwillig für diese Aufgabe.“. Seine Mutter vergrub ihr Gesicht in den Händen, als sie mal wieder grausam vor Augen geführt bekam, wie gewalttätig ihr Sohn war. Wie froh war sie, dass es nicht ihr Kind war, welches als Schande der Familie galt! Aber zum Glück hielt er die Regeln meistens ein und wies ansonsten keine unreinen Züge auf. Allerdings wurde er für sein etwas zu intensives Interesse am Kämpfen schon öfter als „dämonisch“ bezeichnet – eine Beschreibung, die Lili ihnen nicht verübeln konnte, wenn sie zwischen ihren Fingern hervorlugte und das beinahe bösartige Grinsen ihres Sohnes erblickte, für welches sie vor Scham im Boden versinken wollte. Was hatte sie bei seiner Erziehung nur falsch gemacht! Doch Seigis Veranlagung war im Rat ein altbekanntes Thema und niemand reagierte so extrem darauf, wie Lili es tat. Einige verdrehten die Augen, andere seufzten – Shaginai war einer von ihnen, der die Augen verdrehte, denn etwas anderes hatte er auch nicht von Seigi erwartet. Diese „Lösung“ hielt er allerdings nicht für besonders geeignet: Die Halbdämonen waren zwar ein Problem – aber sie waren ein Problem, das weitaus leichter gelöst werden konnte, als die Unreinheit des Mädchens; die zwei Dämonen besaßen erst zweite Priorität. In dem Moment, als Shaginai den Mund öffnete, um Seigi auch gerade dies zu erwidern, öffnete sich plötzlich die Tür und in dessen Türrahmen erschien seine, von Lili längst erwartete, Tochter: White. Verwundert wandten sich die weiße Augenpaare Richtung Tür; der Einzige, der von Whites plötzlichem Auftauchen eher sofort negativ beeindruckt war, war Shaginai, der sich ein Seufzen nicht verkneifen konnte, als er schnell bemerkte, dass ihm die Aufmerksamkeit aus den Händen glitt: gerade dies wollte er vermeiden. Ein gelassenes Lächeln zierte wie immer das Gesicht der legendären Lichtwächterin und untermalte ihr ausnahmslos weißes Erscheinungsbild. In ihren weißen Augen lag Wärme und Güte, aber auch eine gewisse ruhige Entschlossenheit, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. „White! Ich habe angenommen, dass du deinen Sohn ins Diesseits bringen wolltest und dass dies dich verhindern würde“, begrüßte Shaginai White mit einem steifen Lächeln, welches überaus aufgesetzt aussah – das Auftauchen seiner Tochter schien ihm alles andere als zu gefallen. „In der Tat habe ich meinen Sohn in die Welt der Lebenden gebracht, aber wie du siehst, habe ich noch die Zeit gefunden, dieser Ratsversammlung beizuwohnen.“ „Ja, das kann ich konstatieren.“ Abermals schlich sich ein verbitterter Unterton in die Worte Shaginais, welche allerdings das Lächeln Whites nicht ins Wanken brachten. „Vater, mir ist bewusst, dass dies nicht der einzige Grund dafür ist, weshalb du angenommen hast, dass es besser für mich wäre, nicht an dieser Ratsversammlung teilzunehmen. Hast du womöglich wegen des Themas eine Einschränkung meines Urteilsvermögens befürchtet?“ Fragende Blicke wurden von den anderen Hikari ausgetauscht, doch niemand unterbrach das Gespräch zwischen Vater und Tochter. Obwohl White offensichtlich ins Schwarze getroffen hatte, ließ sich Shaginai davon nicht beeinflussen und entgegnete:  „Ich halte dich durchaus für zurechnungsfähig; doch weiß ich, dass du eine Mutter mit Leib und Seele bist und daher liegt der Gedanke wohl nahe, dass du dich von diesen mütterlichen Gefühlen beeinflussen lassen könntest.“ Beide tauschten einen vielsagenden Blick aus: einen Blick, dessen Bedeutung nur für sie beide klar verständlich war. Anstatt die lautlos übermittelte Botschaft allerdings in Worte auszuformulieren, rundete Shaginai seinen Vortrag nur mit den folgenden Worten ab:  „Einen solchen Konflikt wollte ich dir ersparen.“ Eine gewisse Anspannung tauchte plötzlich in den weißen Augen der beiden auf, doch diese Anspannung sprang nicht auf die Worte Whites über, als sie antwortete: „Für deine Fürsorge bin ich dir dankbar; dennoch wünsche ich, an dieser Ratsversammlung teilzunehmen. Nicht, weil die betroffene Person meine Tochter ist, sondern weil es meine Pflicht als Hikari ist, an so einem wichtigen politischen Treffen teilzunehmen. Ich gelobe, dass ich mich nicht von meinen mütterlichen Gefühlen verleiten lassen werde.“ Und mit diesen Worten deutete White eine Verneigung an und setzte sich daraufhin auf den freien Platz neben Lili, welche sie erwartungsvoll anstrahlte: Whites ruhige Aura war einfach unglaublich! Sie hätte sich nie getraut, so mit Shaginai zu sprechen … nein, garantiert nicht … Hörbar räusperte sich Shaginai und riss das Ruder der Versammlung wieder an sich und vor allen Dingen wieder zurück zum eigentlichen Thema dieser Ratsversammlung: „Um dich nicht ausschließen zu wollen, White, hatte Seigi soeben vorgeschlagen, die beiden Halbdämonen zu eliminieren.“ Kein Funken an Verwunderung war in Whites Gesicht zu sehen, als sie diese Worte hörte: Stattdessen wandte sie sich an die völlig überrumpelte Lili und bat sie um die Notizen, die sie seit dem Beginn der Versammlung bis zum jetzigen Zeitpunkt gemacht hatte, und ließ einen kurzen Blick darüber schweifen, ehe sie wieder aufsah. „Ich halte diesen Vorschlag zwar für durchaus annehmbar, aber eine Lösung für unser Problem stellt er nicht da. K.Y.H. Green war schon vor ihrem Zusammentreffen mit den Halbdämonen Silver und Blue anders als gewöhnliche Hikari. Wir müssen allerdings im Auge behalten, dass sie ohne jegliche positive Beeinflussung unsereins aufgewachsen ist und ihr erst seit Kurzem bewusst ist, dass sie zu uns gehört.“ Das aufgesetzte Lächeln Shaginais verschwand nun völlig, doch er war es nicht, der ihr antwortete, sondern Mary: „Was gedenken Sie zu tun, White-sama?“ „Mein Vorschlag lautet, dass K.Y.H. Green zuallererst eine Unterweisung in unsere Kultur benötigt, da sie bis zum jetzigen Zeitpunkt als Mensch aufgewachsen ist.“ Während White diese Worte gesagt hatte, hatte sie zwar alle weißen Gesichter im Saal versucht gleichzeitig anzusehen, dennoch war ihr nicht entfallen, dass es hinter Shaginais Stahlaugen brodelte. Sie wusste genau, was er dachte, was er eigentlich sagen wollte; doch genauso wusste sie auch, dass er dies nicht vor ihrer Verwandtschaft tun würde. „Ich denke, dass mein Sohn dafür überaus geeignet ist. Darüber hinaus schlage ich vor, dass wir uns ein eigenes Bild von ihr machen und sie zu diesem Zweck zu unserem nächsten Familientreffen einladen sollten.“ „Niemals!“, unterbrach sie Shaginai nun mit donnernder Wut: „Ich dulde keine unreine Kreatur auf unserem geweihten Boden!“ White versuchte nach wie vor, die Ruhe zu bewahren; ein Unterfangen, welches ihr nach außen hin auch gelang und für welches sie Lili bewunderte. Im Gegensatz zu seiner Mutter betrachtete Seigi das Geschehen mit einem gelassenen Lächeln und aus den Augenwinkeln sah Lili, dass ihr Sohn doch tatsächlich anfing, auf seinem goldenen Stuhl zu kippeln. „Diese Missgestalt ist es nicht würdig, diesen geheiligten Boden zu betreten“, fuhr Shaginai mit einer autoritären Stimme fort: „Ohnehin wird ein solcher Besuch wohl kaum etwas an der Tatsache ändern, dass sie unrein ist. Sie ist und bleibt das, was ihr Name ausdrückt: unrein!“  „Wie lautet dann dein Vorschlag, Vater?“ „Mein Vorschlag lautet, die Sonderregeln in Kraft zu setzen!“ Sämtliche Ratsmitglieder starrten ihren Mithikari schockiert an; sogar Whites Lächeln war in sich zusammengestürzt wie ein unsicheres Mauerwerk. Der einzige, der sich nicht bewusst war, welche Bedeutung in den Worten Shaginais lag, war Seigi. Dieser hatte zwar bemerkt, dass es etwas wahrlich Schreckliches sein musste, doch verstand er nicht, was dies sein sollte. Um Aufklärung zu erhalten, wandte er sich flüsternd an seine Mutter, welche vor Schreck ihre Feder verloren hatte. „Was sind denn das für Regeln? Von denen hab ich noch nie gehört.“ Die Angesprochene schluckte einen scheinbar ziemlich großen Kloß herunter und antwortete gedämpft: „Im Prinzip kann man sagen, dass es sich bei den Sonderregeln nur um eine Regel handelt: eine einzige Regel, die für die betroffene Person bedeutet, dass sie nicht länger unter dem Schutze unserer 2059 heiligen Regeln steht.“ „Und das bedeutet …?“, Lili wandte sich zu ihrem Sohn herum und antwortete ernst: „Das bedeutet, dass man sich nicht dafür strafbar macht, der betroffenen Person etwas anzutun, was gegen unsere heiligen Regeln verstößt.“ Überrascht runzelte Seigi die Stirn: „Bedeutet das, dass man diese Person auch töten darf? Einen Mitwächter?“ „Genau dies bedeutet es. Deshalb werden diese Regeln auch nur zum Schutze unserer Gesellschaft angewandt.“ Nun verstand Seigi, warum seine Familienmitglieder so schockiert über Shaginais Vorschlag waren: ein Umstand, der ihm zu gefallen schien, besonders die Tatsache, dass Whites Ruhe dahin war.  „Niemals … erst im äußersten Notfall sollten wir diese Maßnahme ergreifen.“ Überlegen lächelte Shaginai; offensichtlich war er davon überzeugt, dass nichts Green davor bewahren könne, ein Sonderregelfall zu werden. „Gut“, sagte er, während er seine Hände ineinander faltete: „Ich bin einverstanden: Gewähren wir dem Mädchen ein wenig Zeit, sich zu bewähren und führen dann ein nettes, kleines Familiengespräch. Irgendwelche Einwände?“ Niemand wagte es, noch irgendwelche Einwände zu erheben.     Von den Plänen der Hikari nichts ahnend, beschäftigte Green momentan die Frage, warum es ihr partout nicht vergönnt war, sieben Stunden durchzuschlafen. Kaum, dass sie sich ins Bett gelegt hatte und gerade eingeschlafen war, hatte ihr Glöckchen sie auch schon aus dem Schlaf gerissen mit der unzweifelhaften Nachricht, dass mal wieder ein Dämon darauf wartete, bekämpft zu werden. Siberu und Gary waren beide noch wach gewesen und waren sofort zur Stelle, um Green zu unterstützen: ersterer wahrscheinlich auch zum Spaß, denn freudestrahlend verkündete er, wie sehr er sich nach ein bisschen Action gesehnt hatte, wobei Green der Meinung war, dass es in ihrem Leben eindeutig genug davon gab. Als Green allerdings verkündete, dass der Dämon sich augenscheinlich auf dem Dach des gigantischen Wolkenkratzers, dem Metropolitan, befand, verschwand sein euphorisches Grinsen schnell. Dabei war es nicht die enorme Höhe des Wolkenkratzers, welche die Laune des Rotschopfes in den Keller rasseln ließ, sondern die Tatsache, dass auch er einsehen musste, dass das Dach eines solchen Hochhauses nicht gerade für seinen Kampfstil geeignet war. Wie gemein das war! Er hatte sich doch so darauf gefreut, sich mal richtig austoben zu können und nun das.  „Ich warne dich, Silver“, begann Gary mit erhobenem Zeigefinger, als sie auf dem Treppenabsatz ankamen und alle drei zur rot blinkenden Spitze des Gebäudes blickten, untermalt von dem Klingen des Glöckchens; anscheinend vertraute Gary dem gesunden Verstand seines Bruders nicht sonderlich: „Dieses Mal wirst du davon ablassen, Explosionsmagie anzuwenden – haben wir uns verstanden? Es wäre eine nicht auszumalende Katastrophe, würdest du das Metropolitan beschädigen! Immerhin ist es doch …“ Siberu unterbrach ihn, ehe Gary in die Versuchung kam, einen langen Vortrag über die Entstehung des Wolkenkratzers zu halten: „Unterschätz mich nicht! Ich weiß schon, was ich tue.“ Der Blick, den Gary auf das unschuldige Grinsen Siberus erwiderte, war Antwort genug: Er glaubte ihm kein Wort. „Das letzte Mal wusstest du also auch, was du tatest? Als du das halbe Museum in die Luft gejagt hast?“ „Wer interessiert sich denn schon für so einen alten, verstaubten Müll! Wenn ich nicht so wunderbar schnell gehandelt hätte, wäre nicht nur die Hälfte drauf gegangen, sondern das gesamte Museum.“ „“Schnell“? Ich würde es eher „unüberlegt“ bezeichnen und außerdem-“ „Jungs! Hört auf zu streiten! Die Ausrede, es wäre eine Gasexplosion gewesen, war doch eine ausgezeichnete Idee. Eigentlich ist mir auch vollkommen egal, auf welche Art und Weise wir gewinnen, Hauptsache, wir tun es!“, mischte sich nun auch Green in die Meinungsverschiedenheit der beiden Brüder ein. Triumphierend warf Siberu Gary einen Blick zu - immerhin hatte Green ihm zugestimmt und nicht Gary. Dieser ignorierte diesen Wink und antwortete Green ebenso tadelnd wie zuvor bei Siberu: „Green, jetzt wo du dir bewusst bist, dass du eine Hikari bist, solltest du …“ „Ah! Ich will dieses Wort nicht hören!“, antwortete die Wächterin mit einem beinahe angewiderten Kopfschütteln, und ehe Gary seine Verwunderung über ihre heftige Reaktion äußern konnte, wandte sie sich sofort an Siberu: „Aber diesmal hältst du dich trotzdem ein wenig zurück, Sibilein! Immerhin ist das Metropolitan einer der größten Wolkenkratzer der Welt und ich hab keine Lust, da herunterzustürzen.“ Dieser Kommentar zauberte ein vielsagendes Grinsen auf das Gesicht des Rotschopfes: „Keine Sorge, Green-chan, ich werde stets dein Retter in der Not sein!“ Der Angesprochenen gelang es nicht zu antworten, denn schon wandte Siberu abermals seinen Kopf Richtung Himmel und mit glänzenden Augen und wehenden Haaren fragte er aufgeregt: „Also: Nehmen wir den langweiligen Weg über das Treppenhaus – 48 Etagen, Leute …“  „… Sibi, es gibt einen Fahrstuhl.“ „Welcher genauso geschlossen sein wird wie das Gebäude, immerhin ist 24 Uhr nicht gerade Touristenzeit, Green.“ „… oder wir nehmen den direkten Weg nach oben? Ich nehme Green-chan!“ Und bevor Green oder Gary überhaupt etwas antworten oder erwidern konnten, hatte der Rotschopf sie schon auf seine Arme gehoben – wobei er natürlich sofort die Chance genutzt hatte, um seine Hände ein wenig nach unten gleiten zu lassen, doch eine giftige Hand Greens wies ihn sofort zurecht.  „Aber, Green-chan ... Das war ein Versehen. Ehrlich!“, jammerte er mit dem unschuldigsten Blick, den er beherrschte, ohne das genervte Seufzen seines Bruders zu beachten; nicht nur aufgrund des frevelhaften Benehmens seines frühreifen Bruders, sondern auch, weil er das Fliegen nicht gerade für eine gute Idee hielt, auch wenn ihm klar war, dass es keine andere Möglichkeit gab. Mit einem bestimmenden Unterton raunte Gary seinen beiden Begleitern zu, dass sie ruhig sein sollten, da die beiden sich noch während des Fluges nach oben für seinen Geschmack zu laut darüber unterhielten, ob es nun ein Versehen gewesen war oder nicht. Der Sinn hinter seiner Aktion war zweifelhaft, denn der auf dem Dach wartende Dämon hatte sie wahrscheinlich sowieso bereits bemerkt. Kaum, dass sie oben angekommen waren, spähte Siberu auch schon über die Dachkante, ohne die Worte seines Bruders zu beachten, dass sie vielleicht erst einmal eine Strategie zurechtlegen sollten, während Green schummrig nach unten sah. Zwar hatte sie keine Höhenangst, aber der lange Weg nach unten jagte ihr dennoch einen Schauer über den Rücken und sie schlang ihre Arme fester um den Hals des Rotschopfes. Der heftige Wind, der hier oben herrschte, wehte Siberu die Haare ins Gesicht, welche er sich fluchend wieder hinter sein Ohr schob, mit den Worten, dass er an ein Haargummi hätte denken müssen. Doch auch ohne Haargummi war die Freude über den kommenden Kampf ungetrübt. „Ziemlich kühl hier oben, aber sehen kann ich nichts. Sind wir hier wirklich richtig?“ „Natürlich sind wir das, oder sind deine Sinne schon so getrübt, dass du das nicht spüren kannst, Brüderchen?“, erwiderte Gary so leise wie möglich und folgte seinem Bruder auf das Dach, wobei er das eher geringe Areal im Auge behielt. Der Dämon, den es zu vernichten galt, war irgendwo auf diesem Dach, welches von orange-blickenden Lichtern umrahmt wurde – oder er befand sich auf dem Dach links von ihnen, immerhin war das Metropolitan ein Zwillingshochhaus. Doch nein, während Gary den Blick über die beiden menschenverlassenen Dächer schweifen ließ, sagten ihm seine Sinne eindeutig, dass es sich um das Dach handelte, auf welchem sie just in diesem Moment standen. Genau wie Greens Glöckchen spürte auch Gary, dass sich hier oben ein Dämon befand.  „Green, gehe bitte weg von der Kante!“, sagte Gary, ohne sich zu ihr herumzuwenden, sondern sie nur auf den Augenwinkeln betrachtend, während er sich auf die Mitte zubewegte: „Das ist zu halsbrecherisch - und wandle dein Glöckchen bitte um, der Dämon ist hier irgendwo. Nur wo …“ Die Füße der Hikari setzten dazu an, Gary und Siberu zu folgen, doch nach kaum einem halben Meter kamen sie zum Stillstand – eine Tatsache hatte sie dazu gebracht, erstarrt stehen zu bleiben: die überaus unpraktische Erkenntnis, dass ihr Glöckchen nicht die Form veränderte. Green öffnete entsetzt den Mund, um es den beiden mitzuteilen, doch nur ein erstickter Laut drang aus ihrem geöffneten Mund, denn in dem Moment, wo sie es hatte aussprechen wollen, zog Gary sie auch schon hart zur Seite, während Siberu in die andere Richtung sprang. Ahnungslos wollte Green gerade fragen, was los sei, doch da wurde es ihr schon selbst klar: der Dämon besaß die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – die schwarze, strahlenförmige Attacke, die er auf sie abgeschossen hatte, war es allerdings nicht. Oh Gott, dachte Green – ein unsichtbarer Dämon, ein denkbar schlechter Kampfort und ein Glöckchen, das seinen Dienst verweigerte: was kam als nächstes? Als Nächstes kam, dass sie sich von der sicheren Seite Garys trennte, da sie beide in unterschiedliche Richtungen sprangen, um der nächsten Attacke auszuweichen. Beide Halbdämonen hatten noch nicht mitbekommen, dass Green einen Disput mit ihrem Glöckchen hatte: Gary war zu sehr von seinen strategischen Fragen eingenommen, als dass er es bemerkt hätte und Siberu war wegen dieser herausfordernden Situation so sehr in Hochstimmung, dass er alles andere um sich vergaß. Da Green zwar schutzlos aber keinesfalls lebensmüde war, setzte sie dazu an, hinter Gary zu gelangen, wo sie auch plante, ihm so schnell wie möglich von ihrem Problem zu berichten. Doch kaum, dass sie sich ihm näherte, wurden ihre Pläne von einem ungünstigen Missgeschick entzweigeschlagen: der Dämon attackierte Gary, welcher dem Strahl geschickt auswich – womit die Attacke auf Green zusteuerte, die es zu spät sah, als dass es ihr gelungen wäre, ebenso elegant auszuweichen. Sie bemerkte es gerade noch früh genug, so dass nur ihr rechter Arm gestreift wurde, aber dies genügte, um sie über die Dachkante des Metropolitans zu befördern. Gary hatte sich gerade in den Moment herumgedreht, in dem Green in die Luft geschleudert worden war, und wollte gerade erschrocken zum Lauf ansetzen, als Siberu bereits an ihm vorbeiraste. Gary blieb sofort stehen, denn ihm war bewusst, dass sein kleiner Bruder der Schnellste von ihnen war und schon sah er, wie Siberu den Sprung über die Dachkante machte. Mit wehenden Haaren streckte Siberu die Hände nach Greens Körper aus, die wie ein Stein auf die belebte Straße unter ihr zusteuerte – doch das war kein Problem für die Schnelligkeit Siberus und sie hatten nicht einmal die Hälfte des Gebäudes hinter sich gelassen, da packte der Rotschopf sie bereits an ihrer Taille und bremste sie ab. „Geht es dir gut, Green-chan?“ Die Angesprochene antwortete nicht. Sie zitterte am ganzen Körper, und obwohl Siberu sie fest an sich gepresst hielt, starrte sie immer noch geschockt nach unten. Erst nach verstrichenen Sekunden rang sie sich ein unsicheres Nicken ab. Kaum hatte sie diese Reaktion gezeigt, hob Siberu den Kopf hoch und rief in die kühle Nachtluft: „Aniki! Alles klar! Ich habe Green-chan!“ Um seinen Bruder machte er sich keine Sorgen; zwar war der Dämon unsichtbar, aber besonders stark war er nicht gewesen – eigentlich kaum der Rede wert. Siberu schien sich da nicht geirrt zu haben, denn keine fünf Minuten später war Gary bereits zur Stelle, um ihnen hoch zu helfen. Die Aura des anderen Dämons war verschwunden und das Einzige, was Gary fehlte, war ein Riss in seiner Jacke. Green fehlte ebenfalls nichts, wie sich nach einem prüfenden Blick Garys herausstellte: Die Attacke hatte zwar ihren Arm gestreift, hatte aber nur Schürfwunden hinterlassen. „Aber was ist passiert? Warum hast du dich nicht verteidigt?“, fragte der Ältere der beiden Halbdämonen, nachdem er sich ihre Wunde angesehen hatte. Green, welche auf dem Boden hockte, da ihre Beine nachgegeben hatten, nahm ihr Glöckchen in die Hand und sagte leise: „Es scheint kaputt zu sein. Die Umwandlung funktioniert nicht mehr.“ Eine Weile besah sich Green die goldene Oberfläche ihres Reliktes, konnte allerdings keine Veränderung feststellen: Es sah genauso aus wie immer. Warum funktionierte es bloß nicht? Als sie den Kopf hob und sich von ihrem Glöckchen abwandte, bemerkte sie etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit auffing: Gary schien das schlechte Gewissen zu plagen – dies jedenfalls verriet ihr sein finsterer Blick, welcher ins Nichts zu gehen schien. „Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben“, sagte Green und weckte somit den Halbdämon aus seinen Gedanken, der dessen ungeachtet auf ihre Worte nicht antwortete. „Du kannst ja nicht alles im Blick haben.“ Gary seufzte tief; anscheinend war er da anderer Meinung. Ihr Gespräch wurde allerdings schnell unterbrochen, denn Siberu plagten gewiss keine Schuldgefühle: „Hahahaha! Ich habe Green-chan gerettet! Ich bin nun einmal der Schnellste, der Beste, der Coolste, der Genialste …“ Weder Gary noch Green schenkten dem tänzelnden Rotschopf irgendwelche Beachtung, sondern versuchten, ihr Gespräch ungeachtet des Krachs, den Siberu veranstaltete, fortzusetzen: „Gary, wie geht es deiner Wunde?“, fragte Green und deutete zu Garys rechter Schulter, doch dieser winkte mit der Hand ab, als er ihren besorgten Blick bemerkte. „Das ist nur ein Kratzer; nicht der Rede wert. Viel wichtiger ist, wie es dir geht.“ Eine leichte Besorgnis war in Greens Gesichtszügen zu erkennen, doch schnell lächelte sie ihn wieder an, mit den Worten: „Auch um mich musst du dir keine Sorgen machen – ich will nur ins Bett!“     Der nächste Tag war ein Sonntag und Green erhoffte sich von diesem Tag, dass es ihr vergönnt war, endlich mal lange ausschlafen zu können – sie hatte sogar Garys Drängen, dass ein Sonntag perfekt war, um eine Nachhilfestunde einzulegen, standgehalten und erfolgreich abgewimmelt. Daher war sie ziemlich genervt, als es um halb acht an der Tür klingelte und sie weigerte sich auch, auf das Klingeln zu reagieren. Statt dessen drehte sie sich samt Kissen zur Wand und versuchte, das penetrante Klingeln ihrer Haustür zu ignorieren. Herr Gott, sie war doch nicht die einzige, die in dieser Wohnung lebte, warum stand Pink nicht auf und öffnete die Tür?  Da weder Green noch Pink sich die Mühe machten, aufzustehen, ging das Klingeln weiter. Weiterhin penetrant und, wie es Green vorkam, in einem bestimmten Muster: immer drei Sekunden zwischen dem Betätigen der Klingel. Genervt, beinahe wütend schlug Green die Augen auf und fragte sich, was denn so schwer daran zu verstehen war: Wenn man nach fünfzehn Minuten keine Antwort erhielt, war die Möglichkeit ja wohl groß, dass niemand zuhause war, oder?! Fluchend richtete sich die Wächterin in ihrem Bett auf und schwang ihre Beine aus diesem. Ohne sich etwas überzuziehen, durchquerte sie ihre kleine aber gemütliche Stube und schritt zur Haustür – ohne zu bemerken, dass Pink doch von dem Klingeln geweckt worden war und auch die Tür zu ihrem Zimmer zusammen mit ihrem übergroßen Hello!Kitty Kuscheltier einen Spalt weit öffnete, um zu sehen, was das Klingeln zu bedeuten hatte. Die Haustür öffnete Green nicht ganz, sondern ebenfalls nur so weit, dass sie sehen konnte, wer um diese Uhrzeit ein solch penetrantes Klingelkonzert verursachte. Die Person, die ihr entgegenblickte, kannte sie nicht. Aber das Aussehen der jungen Frau kam ihr merkwürdig bekannt vor … die goldenen, monotonen Augen, das blonde Haar, die blaue Uniform … „Ich wünsche Euch einen schönen guten Morgen, Hikari-sama.“ Mit einem Schlag wurde Green bewusst, an wen sie die junge Frau erinnerte: an Ryô, den Tempelwächterdingsbums von Grey; nicht zuletzt aufgrund ihrer außerordentlich eleganten Verbeugung, welcher Green wenig Beachtung schenkte, sondern sich erst einmal im Treppenhaus umsah, ob jemand die ungewöhnliche Besucherin bemerkt hatte, ehe sie sie reinkommen ließ. Kaum war die junge Frau drinnen, verbeugte sie sich ein weiteres Mal: „Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle, Hikari-sama: Mein Name ist Itzumi. Ich stehe Euch als Eure Tempelwächterin stets zu Diensten.“ Die Angesprochene wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte; es war zu früh, sie war nicht ausgeschlafen, sie war genervt – und sie konnte nicht gerade behaupten, dass sie sich über diesen unerwarteten Besuch freute, oder über die Tatsache, dass sie einen Tempelwächter haben sollte. Wenn sie es richtig verstanden hatte, waren Tempelwächter doch private Diener – wozu brauchte sie einen privaten Diener? Sie kam wunderbar alleine zurecht. „Und was willst du hier?“ „Ich bin hier, Hikari-sama, weil Euer Bruder wünscht, mit Euch zu dinieren.“ „Hör auf, mich „Hikari-sama“ zu nennen. Mein Name ist Green.“ „Verzeiht mir, aber ich denke, diesen Wunsch kann ich Euch leider nicht erfüllen. Es würde gegen die Etikette verstoßen.“ Beide sahen sich einen kurzen Augenblick an und sofort wusste Green, dass sie diese Person nicht mochte und obwohl nur wenige Worte ausgetauscht worden waren, hatte sie das Gefühl, dass es andersherum der gleiche Fall war. Green schätzte sie auf Anfang 20, und obwohl sie damit noch recht jung war, sah Itzumi aus, wie Green sich eine alte, strenge Zofe vorstellte, ohne jemals eine im wirklichen Leben gesehen zu haben. Es waren nicht ihre streng zu Ringen zusammengebundenen Haare oder ihre steife Art zu stehen, oder die Tatsache, dass ihre blaue Uniform keine einzige überflüssige Falte besaß, sondern ihr Blick. Dieser ähnelte dem monotonen Blick Ryôs zwar, aber dies nur zum Schein, denn hinter der augenscheinlichen Ausdruckslosigkeit verbarg sich etwas, was Green bei Ryô nicht entdeckt hatte: ein kritischer, abschätzender Blick. Obwohl Green es nicht kommentiert hatte, hatte sie sofort bemerkt, wie Itzumi das Aussehen ihrer Herrin einem prüfenden Blick unterzogen hatte und dass es ihr auch nicht entfallen war, dass Green seit letzter Woche keinen Staub mehr gewischt hatte. Das Geräusch der Zimmertür Pinks ließen beide zusammenfahren, als diese sich wortlos wieder in ihr Zimmer verzogen hatte – etwas, um das Green sie in diesem Moment beneidete. Doch obwohl ihr danach absolut nicht der Sinn war, sagte sie, dass sie sich nur noch anziehen würde und dann könnten sie von ihr aus los. Gerade wollte Green sich umdrehen, als sie bemerkte, dass Itzumi dazu ansetzte, ihr zu folgen.  „Ehm, entschuldige mal. Ich bin in der Lage mich selbst anzuziehen, ohne, dass mir jemand die Hand dabei hält.“ Es war kein besonders glorreiches erstes Treffen der beiden überaus unterschiedlichen Wächter – und genau dies berichtete Green auch sofort, als sie eine halbe Stunde später mit ihrem Bruder an einem wahrlich pompösen, runden Frühstückstisch saß, welcher gedeckt war mit Köstlichkeiten aller Art. Grey entschuldige diese übertriebene Tischdeckung, aber er wusste ja nicht, was Green mochte, also hatte er von allem etwas bestellt und nun stand sie vor der Qual der Wahl. „Du musst lernen, mit Itzumi-san zurechtzukommen. Ich würde dir ja sagen, dass du dir auch eine andere Tempelwächterin aussuchen kannst, wenn du nicht mit ihren Fertigkeiten zufrieden bist, aber Itzumi-san ist die qualifizierteste Tempelwächterin, die man im Wächtertum finden kann.“ Mit einem Lächeln fügte er jedoch hinzu, dass er allerdings gewiss nicht tauschen würde. „Ich bin mir sicher, dass du in ihr eine genauso gute Freundin finden wirst wie ich in Ryô.  Obwohl Ryô und ich schon lange bevor er mein Tempelwächter wurde befreundet waren.“ Green, welche gerne mal Neues kostete, füllte eine ihr unbekannte Speise auf den Teller und setzte gerade mit einer goldenen Gabel dazu an, es zu probieren, als sie ihrem Bruder antwortete: „Darum geht es doch gar nicht: Mit Sympathie oder nicht hat das gar nichts zu tun, sondern nur damit, dass ich keinen Diener brauche. Ich komme ausgezeichnet allein zurecht.“ „Oh, ich zweifle nicht an deiner Selbstständigkeit.“ „Ich kann sehr gut kochen und …“ „Du kannst kochen? Überaus beeindruckend! Ryô hat mir einmal die Küche gezeigt, ich war sehr imponiert von diesem künstlerischen Schauspiel.“ Daraufhin sah Green ihn an, als hätte ihr Bruder nicht mehr alle Tassen im Schrank und das, wo er sie mit einer schier unschuldigen Freude anstrahlte. In dem Moment, wo Green ihm gerade antworten wollte, öffnete sich die Tür zum Speisesaal und geräuschlos kam Ryô herein, ausgerüstet mit einem Tablett, welches er neben Grey abstellte und worauf sich ein einzelnes Glas mit einer graugrünen Flüssigkeit befand, welches Green sofort unappetitlich fand und Grey scheinbar ebenfalls, denn beinahe angeekelt griff er nach dem Glas. „Was ist das?“, fragte Green, während sie Ryô dieses Mal ein wenig intensiver betrachtete und sofort bemerkte sie, dass er auf sie um einiges sympathischer wirkte als Itzumi. Hinter den goldenen, ausdruckslosen Augen, verbarg sich etwas vollkommen anderes als bei Itzumi: Es war eine aufrichtige Freundlichkeit und Sorge um seinen Herren, als dieser das Getränk in zwei großen Schlucken herunterwürgte. „Meine Medizin, Green, auf welche ich leider nicht verzichten kann. Ich leide unter einem schlechten Immunsystem, das ich von unserer Mutter geerbt habe. Ich bin daher sehr anfällig für Krankheiten.“ Grey wischte sich mit einer kunstvollen Serviette die Lippen ab, legte sein goldenes Geschirr, wie es sich gehörte, auf seinen beinahe komplett sauberen Teller und richtete sich daraufhin auf, als er bemerkte, dass Green ebenfalls fertig war mit dem Essen. „Und nun lass uns über andere Dinge sprechen. Ich möchte dir gerne etwas in unserer Bibliothek zeigen.“ Unbemerkt verzog Green das Gesicht, halb grinsend, halb sich selbst bemitleidend, denn sie war alles andere als ein Bücherfan. Jedoch grinste sie darüber, dass sie nun die Bibliothek des Tempels würde sehen können, denn das war eine der ersten Sachen, die Gary über den Tempel gesagt hatte: dass er eine ganz außergewöhnliche Bibliothek besaß. Doch ehe sie den Speisesaal verließen, wandte Green sich noch einmal an Ryô, der sich bereits dazu aufgemacht hatte, den Tisch abzudecken: „Sag mal, Ryô: Du und Itzumi, ihr seid Zwillinge, oder?“ Kurz sah er sie verwundert an, ehe er lächelnd antwortete: „In der Tat, Hikari-sama, das habt Ihr gut beobachtet.“ „Wusste ich’s doch!“, daraufhin folgte sie ihrem Bruder grinsend aus der Tür, wo sie es nun war, die eine Frage beantworten musste: „Woher stammt eigentlich diese Verletzung?“, Grey zeigte auf Greens rechten Arm, um seine Frage zu unterstreichen. „Nicht der Rede wert. Ich wurde von einem Dämon verletzt.“ „Von einem Dämon?! Etwa von …“ „Nicht das, was du jetzt denkst! Es geschah in einem Kampf und ich war ungeschickt, das war alles. Es tut auch nicht weh.“ Grey versank in Gedanken, während die beiden Geschwister den hohen Korridor entlang gingen und Green sich immer wieder dabei erwischte, wie sie ihre Schritte verlangsamte, um die vielen Kunstwerke zu bestaunen: friedliche Landschaftsbilder, zerstörerische Kriegsmalereien, heroische Portraits. „Wie ich sehe, gehört auch Erste Hilfe zu deinen Fähigkeiten“, unterbrach Grey und machte abermals einen Wink zu ihrem Arm, welcher nach allen Regeln der Erste-Hilfe-Kunst verbunden war. Die Angesprochene lächelte über diese Worte und antwortete ebenso feixend: „Das war ich nicht: Gary hat darauf bestanden, meinen Arm zu verbinden, obwohl ich nur eine Schürfwunde hatte.“ Sofort verdunkelte sich das Gesicht ihres Bruders, als er diesen Namen hörte und ihm klar wurde, dass sie von einem der beiden Halbdämonen sprach. „Also, Green, ich finde …“ Als wüsste seine kleine Schwester, was er sagen wollte, unterbrach sie ihn, ehe er den Satz beenden konnte: „Das Thema ist durch. Ich weiß, dass du sie nicht magst, aber sie gehören zu mir.“ „Green, ich sage das doch nicht, um dich zu verstimmen. Ich sage es aus Sorge um dich!“ „Das weiß ich, aber ich sage es noch einmal: Das musst du nicht. Ich vertraue ihnen, sie sind meine Freunde. Also finde ich, dass – oh mein Gott!“ Gerade war Green an Grey vorbei gegangen, der ihr natürlich wie ein Gentleman den Vortritt gelassen hatte und nun stockte ihr der Atem bei diesem Anblick: So viele Bücher hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen! Die Regale erstreckten sich vom Boden bis hin zur enorm weit entfernten Decke, waren randvoll mit fein geordneten Büchern, die alle sehr alt, aber in einem guten Zustand waren. Der Großteil der stabilen Regale war mit Büchern gefüllt; andere mit Schriftrollen. Der weiße Marmor unter ihren Füßen war nicht nur mit Bildern verziert, sondern wirkte auch durch dessen vier mit kristallklarem Wasser gefüllte Kanäle einzigartig, die sich zur Mitte des Raumes schlängelten, in dessen Zentrum ein Springbrunnen das Wasser sammelte. Von dort aus plätscherte es aus den Händen einer lesenden Engelsstatue und erfüllte den enorm großen Saal mit einem sanften Geräusch. Das Licht, welches die Bibliothek erhellte, stammte von zwei enormen Fenstern, die den Bücherregalen in Sachen Größe Konkurrenz machten, denn auch sie ragten vom Boden bis zur Decke und zeigten einen wunderschönen Mittagshimmel. „Dies sind mehr als 250.000 Bücher; viele von ihnen sind Unikate und handgeschrieben. Sie sind überaus wertvolle Kulturschätze des Wächtertums.“ Zwar waren Bücher nicht gerade das Interessengebiet Greens, dennoch war sie beeindruckt von dieser kolossalen Büchersammlung und der Schönheit dieses Saales. „So viele Bücher …“, gedankenverloren schritt sie an eines der Regale heran und ließ ihre Hand über die alten Einbände gleiten. „In was für einer Sprache sind sie geschrieben?“, fragte die Hikari, als sie bemerkte, dass es sich nicht um Schriftzeichen handelte, die sie von irgendwoher kannte. „Sie sind in unserer Sprache geschrieben; der Sprache der Wächter. Du solltest in der Lage sein, sie zu lesen.“ Green, welche sich gerade von den Büchern abgewandt hatte, um zu sehen, was Grey tat, wandte sich mit einem verwunderten Blick wieder von ihm ab und zurück zu den Büchern, die sie angeblich mit Leichtigkeit lesen sollte. Sie hatte diese Schriftzeichen noch nie zuvor gelesen, wie sollte sie sie da lesen … Überrascht weiteten sich Greens Augen, als sich herausstellte, dass Grey recht hatte: Der Sinn des Buchtitels war plötzlich vollkommen klar und auch, als sie es überhastig aus dem Regal zog und eine beliebige Seite aufschlug, hatte sie keine Probleme, die Sätze zu verstehen. „Wie zur Hölle ist das möglich!?“ „Green … deine Sprache. Versuch bitte, dich gewählter auszudrücken.“ „Ich habe diese Schriftzeichen noch nie gesehen, warum verstehe ich sie?!“ „Das Lesen und Verstehen unserer Sprache ist, anders als bei den Menschen, kein erlernbarer Prozess, sondern ein Teil unseres angeborenen Elementes. Sobald wir ein gewisses Alter erreicht haben, was individuell unterschiedlich ist, sind wir in der Lage, unsere Sprache zu verstehen, auch wenn wir sie, wie in deinem Fall, noch nie zuvor gehört haben. Dies wiederum trennt uns von den Dämonen, die ihre eigene Sprache sprechen.“ Sofort musste Green an das Treffen mit Kaira denken; dann war das also die Erklärung dafür, dass sie Kaira sofort verstanden hatte? Doch sie wollte jetzt nicht an Kaira denken. Sie stellte das Buch mit einem Kopfschütteln zurück in die Lücke, wo sie es herausgezogen hatte, und lief zu ihrem Bruder hinüber, welcher sich auf der anderen Seite der Bibliothek in die Hocke hinabbegeben hatte, um eine Schublade zu öffnen, die sich unter den Büchern befand. Erst da bemerkte Green, dass alle Bücherregale eine solche Schublade besaßen, ausgerüstet mit Jahreszahlen, die eine enorm weit zurückreichende Familiengeschichte offenbarten. Grey hatte sich vor der aktuellsten Schublade heruntergebeugt und öffnete diese mit einem entschlossenen Ruck. Das Schubfach enthüllte eine Schriftrolle, welche sich in einer Glashülle befand, verbunden mit einem weißen, glöckchenbehangenen Band.  „Das, Green … ist unser Stammbaum“, antwortete er auf Greens fragenden Blick und reichte ihr das wertvolle Kulturobjekt, womit sie in die Mitte des Raumes ging und sich an den Rand des Springbrunnens setzte, was Grey besorgt beobachtete. Den Anfang überflog die Hikari hastig, ohne ihren Vorfahren weitere Beachtung zu schenken. Ihr Herz beschleunigte sich plötzlich und schlug ihr bis zum Hals, je weiter ihr Blick auf dem enorm großen Stammbaum nach unten wanderte: Sie würde ihre Eltern sehen, wie lange hatte sie auf diesen Tag gewartet … wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie wohl aussehen mochten, ob sie ihr ähnlich sahen … Ganz unten fand sie das Bild eines jung aussehenden Grey, seinen Geburtstag, womit sie auch herausfand, dass er sieben Jahre älter war als sie, damit 24 Jahre alt war und gleich darüber ihre Mutter. Ihre Mutter. Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White, geboren am 19. Juli 1965. Mit den Fingerspitzen strich Green über das Bild ihrer Mutter, starrte auf das kleine Bild und war für einen Moment gänzlich von der Außenwelt abgeschirmt, bemerkte nicht, wie Grey hinter sie gegangen war, um über ihre Schultern zu sehen. Das Bild zeigte eine Frau in jungen Jahren, nicht viel älter als Green jetzt war; eine hübsche, aber kränklich aussehende junge Frau, mit blasser, beinahe weißer Haut, welche sich kaum von ihren ebenfalls weißen Haaren abhob. Ein barmherziges Lächeln blickte ihr entgegen: Ein Lächeln, welches in Green nicht das Gefühl weckte, dass sie eine Mutter ansah, sondern eher das Bildnis einer Heiligen. „Ist … ist das unsere Mutter?“, fragte Green beinahe flüsternd, ohne ihren Blick von White abwenden zu können. „Das ist sie. Du wirst sie bald kennenlernen, sie freut sich bereits auf euer erstes Treffen.“ „Aber sie … da steht doch, dass sie kurz nach meinem Geburtstag gestorben ist? Am 02.06.1989. Einen Tag später …“, entgegnete Green und zeigte auf das Sterbedatum. „Ja, das ist korrekt. Unsere Mutter ist tot, allerdings … Den Hikari ist als einziger Elementarfamilie ein Leben nach dem Tode vergönnt. Ihre Seelen existieren weiter im Jenseits, von wo aus sie uns mit ihrer Weisheit und Güte leiten.“ „Das heißt …“ Green wandte sich zu Grey herum und die Gefühle, die Erwartung, ja, Sehnsucht in ihren Augen, erfreute Greys Herz. „… ich kann sie sehen?“ „Ja, das wirst du bald können. Momentan bietet sich noch keine Gelegenheit, aber bald“, entgegnete ihr Bruder mit einem warmen Lächeln; ein Lächeln, welches Green erwiderte, denn obwohl ihr die gesamte Sache mit den Hikari spanisch vorkam und sie sich immer noch kein genaues Bild davon machen konnte, fühlte sie plötzlich ein unbeschreibliches Glücksgefühl in sich bei der Vorstellung, endlich ihre Mutter kennenzulernen. „Und was ist mit meinem …“, Green wandte sich von Grey ab und bemerkte damit nicht, dass sein Lächeln in sich zusammengefallen war, sondern blickte nur auf das Bild neben dem ihrer Mutter, wo ein Mann namens Eien Kaze Kanori mit einem freundlichen Lächeln dem Betrachter entgegenguckte. Er sah Grey ähnlich; die gleichen himmelblauen Augen, die gleichen dunklen Haare. Aber mit Green besaß er keine Ähnlichkeit und schnell fand sie auch heraus, warum: Er war nicht ihr Vater, denn er war viele Jahre vor ihrer Geburt gestorben.  Sofort schenkte Green dem Stammbaum keinerlei Beachtung mehr, sondern sah ihren Bruder verwundert an: „Grey, sind wir nur Halbgeschwister?“  Er nickte und schien über diese Tatsache betrübt zu sein: „Ja, wir haben unterschiedliche Väter. Mein Vater ist bereits vor meiner Geburt gestorben.“ Diese Worte ließen das Glück in Green verpuffen; zwar hatte sie bereits anhand der Daten ausgerechnet, dass Greys Vater vor der Geburt seines Sohnes gestorben war, es aber von Grey zu hören, mit einer ernsten Stimme, versucht, die Trauer über diese Tatsache dahinter zu verbergen, berührte Green. Sie musste zugeben, dass es sie ein wenig überraschte, aber zur gleichen Zeit auch erfreute, denn als sie nickend seine Hand nahm, war es, als wäre sie einen großen Schritt auf ihn zugegangen. Lächelnd sah sie den verwunderten Grey an, der zuerst erstaunt die Hand Greens anstarrte, die seine hielt, ehe er seine verwunderten, himmelblauen Augen auf Green selbst richtete, welche ihn anlächelte: „Er war ein Windwächter, wie du, nicht wahr, Onii-chan?“ Es war eine vollkommen belanglose Frage und diese war es auch nicht, welche dafür sorgte, dass Greys Augen glasig wurden: sondern das letzte Wort, mit dem Green ihn zum ersten Mal als Bruder ansprach. Statt sich seinen Gefühlen hinzugeben, überschattete er diese mit einem erfreuten Lächeln und stimmte seiner kleinen Schwester zu. Erneut wandte sich Green dem Stammbaum zu, nun mit der Absicht, ihren eigenen Vater zu finden, doch dies stellte sich als unmöglich heraus, denn Grey war der letzte Eintrag gewesen und neben White war kein weiterer Mann zu sehen. Verwundert dreinblickend drehte Green ihren Kopf herum und sah hoch zu ihrem Bruder. Die Frage, warum sie und ihr Vater nicht in dem Stammbaum eingetragen standen, schien ihr deutlich ins Gesicht geschrieben zu sein, denn er antwortete darauf, dass der Stammbaum noch unvollständig wäre. Doch dies beantwortete nicht alle Fragen, die in Greens Gesicht geschrieben standen. Eine weitere war deutlich zu sehen: „Grey, was ist damals eigentlich geschehen? Warum bin ich in einem Waisenhaus großgeworden, wenn ich doch bei dir hätte aufwachsen können?“ Die Worte waren zögerlich ausgesprochen und wieder beschleunigte sich Greens Herz, als sie es sich endlich traute, diese Frage zu stellen: die Frage, die ihr, seitdem sie erfahren hatte, dass sie einen Bruder hatte, nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, ihr aber auch bange Vorahnungen verlieh, denn sie spürte förmlich, dass die Wahrheit keine Angenehme war. Grey löste sich von seiner Schwester und drehte sich zum großen Fenster, womit Green sein Gesicht nicht sehen konnte, da sie selbst mit dem Stammbaum in der Hand sitzen geblieben war, während Grey die Glasrolle im Arm hielt und seine Finger am Band der Glöckchen nestelten. „Nach dem Ausgang des letzten großen Krieges gegen die Dämonen, in dem auch unsere Mutter starb, hatten die Dämonen es auf dein Leben abgesehen, also beschlossen die Hikari, das Element des Lichtes in dir zu versiegeln, nachdem unsere Mutter es durch ihren Tod an dich abgab und deine Identität als Lichterbin so geheim zu halten - bis zu dem Tag, an dem du reif sein würdest; der Tag, der nun gekommen ist.“ Es war eine Lüge. Vom ersten bis zum letzten Wort hatte Grey gelogen. Es tat ihm weh, so weh: Jedes einzelne Wort auf seiner Zunge hatte sich wie Gift angefühlt. Immer wieder sagte er sich, dass es besser so wäre, dass er ihr unmöglich die grausame Wahrheit beichten konnte. Vielleicht müsste er das auch nie. Vielleicht würde sie die Wahrheit nie erfahren müssen. Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden. Green witterte nicht, dass es sich um eine Lüge handelte; sie glaubte ihm und erwiderte sein Lächeln, als er sich zu ihr umwandte. „Aber das alles hat nun ein Ende, Green. Am 31.12 dieses Jahres bist du zu einem Familientreffen im Jenseits eingeladen, wo du endlich in die Familie aufgenommen wirst.“ „Muss ich dafür Selbstmord begehen?“, fragte Green und verengte skeptisch ihre Augen. „In Lights Namen! Natürlich nicht. Wir, die direkt von den Hikari abstammen, können das Jenseits betreten und verlassen, wie es uns beliebt.“ „Und das ist wirklich ein normales Familientreffen? Und keine Prüfung oder so?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete Grey, wobei er versucht war, so sicher wie möglich zu wirken, damit er auch überzeugend lügen konnte: „Es wäre dennoch von Vorteil, wenn du dir ein Allgemeinwissen über unsere Familie aneignest.“ „Sag ich doch. Eine Prüfung.“ „Nein. Nur du solltest schon wissen, mit wem du sprichst, nicht wahr?“ Green grummelte etwas als Antwort, doch auch wenn dies kaum hörbar war, meinte Grey, eine Zustimmung erahnen zu können. Er sah Green dabei zu, wie sie den Stammbaum zusammenrollte und diesen zurück in die Glasrolle legte, verschloss und die Schublade zuschob, nachdem sie den unter Glas wohlbehüteten Stammbaum zurückgelegt hatte. Mit hastigen Schritten eilte sie auf ihren Bruder zu, welcher auf sie wartete und nun für seine kleine Schwester die Tür offen hielt. Kaum hatten sie die Bibliothek verlassen, stellte Green grinsend noch eine letzte Frage, was den Stammbaum betraf:  „Sag mal, Grey: Auf dem Stammbaum habe ich gesehen, dass es mehrere verheiratete Geschwister gibt. Ist Inzest unter den Wächtern etwa erlaubt?“ Völlig überrumpelt blickte Grey Green verwundert an und antwortete nach kurzem Zögern: „Inzest? Ach, die Menschen haben für eine eheliche Bindung zwischen Bruder und Schwester einen Begriff?“ Zögerlich, durch die Antwort Greys verwirrt, nickte Green und hörte ihrem Bruder weiterhin zu: „Aber ja, solche Beziehungen sind in unserer Gesellschaft völlig normal; denn wenn zwei gleiche Elemente zusammenkommen, stärkt das das jeweilige Element.“ Wiederum nickte die Angesprochene nur, sich dabei fragend, wie unterschiedlich die Wächter und die Menschen eigentlich waren. Der einzige Unterschied, den sie bis zum jetzigen Zeitpunkt bemerkt hatte, war die Tatsache, dass sie ohne geblendet zu werden in die Sonne sehen konnte. Aber waren Wächter und Menschen wirklich so unterschiedlich voneinander? „Green, wenn du noch Zeit hast, würde ich vorschlagen, dass du sofort Tinami-san aufsuchst wegen deines Glöckchens.“ Zuerst verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel sah Green ihren Bruder verdutzt an, bis sie verstand, dass er von ihrem Problem mit dem Glöckchen sprach, wovon sie ihm gleich zu Beginn ihres Treffens erzählt hatte. Seine Reaktion hatte sie beruhigt, denn er hatte gemeint, dass es ihn nicht wunderte, dass das Glöckchen seinen Dienst verweigerte – im gleichen Atemzug hatte er allerdings auch gemeint, dass er nicht gerade ein Experte auf diesem Gebiet war und dass Green dafür Tinami aufsuchen müsse. Begeistert von der Vorstellung, dass Itzumi sie zu Tinami bringen sollte, war sie nicht gerade, doch es blieb ihr keine andere Wahl, denn Grey hatte keine Zeit mehr zur Verfügung, um sie zu der Klimawächterin zu bringen – ein Umstand, den er offensichtlich sehr bedauerte. Bevor Itzumi sich und ihre Hikari allerdings irgendwo hinteleportieren konnte, nahm Grey Green noch einmal beiseite.  „Green, ich muss dich noch etwas fragen …“ „Ja?“ Er sah sie ernst an, zögerte einen Moment und sagte dann: „Ich bin der Meinung, dass du hier leben solltest. Der Tempel ist dein Zuhause und wir beide sind immerhin eine Familie; wir haben so viel nachzuholen! Auf diese Weise hättest du auch bessere Trainingsmöglichkeiten und könntest den Kontakt zu unserer Familie ebenfalls pflegen. Was hältst du von diesem Vorschlag, Green?“ Green hatte erwartet, dass er diese Frage früher oder später stellen würde; eine verständliche Frage, immerhin waren sie so lange voneinander getrennt gewesen und, wie er auch selbst gesagt hatte, hatten sie als Familie einiges nachzuholen. Trotzdem kannte Green ihre Antwort und sagte diese auch, wobei sie allerdings versuchte, auf die Gefühle, welche sie so deutlich in seinen Augen sehen konnte, Rücksicht zu nehmen:  „Es tut mir leid, Onii-chan. Aber das kann ich nicht: Ich habe bereits ein Zuhause, wo eine Familie auf mich wartet.“ Sie wusste nicht, ob ihr Bruder verstanden hatte, wen sie meinte, es war ihr auch egal. Solange sie selbst wusste, wo ihr Herz zuhause war.     Fertiggestellt: 30.08.11   Kapitel 15: Das Gehirn der Wächter ---------------------------------- Als Itzumi ihre neue Herrin und sich selbst an deren Bestimmungsort teleportiert hatte, dachte Green für einen Moment, dass sie sie an den falschen Ort gebracht hatte, was sie der Tempelwächterin durchaus zutraute – auch wenn die beiden kaum Zeit miteinander verbracht hatten. Just in diesem Moment befand Green sich außerhalb Tokios in der Nähe eines Observatoriums, welches direkt am Meer lag. Es herrschte ein kühler Wind und Green hörte die gewaltigen Wellen gegen die Klippen preschen, angetrieben durch den Wind, welcher auch Greens Haare dazu brachte, sich zu erheben; die blonden Haarringe Itzumis hingegen bewegten sich keinen Zentimeter und schienen sich dem Wind nicht beugen zu wollen. Ein schöner Anblick bot sich den beiden jungen Frauen: Die abendliche Wintersonne berührte die steilen Klippen und ließ ihre spitzen Ränder im Licht golden glitzern. Doch dieser Anblick wurde nur wenige Sekunden genossen, ehe Green sich an Itzumi wandte und sie skeptisch fragte, ob sie wirklich richtig seien. „Hikari-sama, ich kann Euch versichern, dass wir das sind.“ Die Angesprochene wählte, den giftigen Tonfall ihrer aufgezwungenen Tempelwächterin zu ignorieren und steuerte auf den Eingang des Observatoriums zu, wobei Itzumi ihr mit einigen Schritten Abstand folgte, was Green schnell dazu brachte, stehen zu bleiben: „Du kannst in den Tempel zurückkehren, ich bekomme das schon alleine hin.“ „Es ist meine Pflicht, Euch bei jedem Eurer Schritte beiseitezustehen.“ Mit schwingenden Haaren wandte Green sich herum und versetzte argwöhnisch: „Soll das heißen, du willst die ganze Zeit bei mir bleiben?“ „Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung“, entgegnete Itzumi ruhig, doch Green hörte deutlich heraus, dass der Tempelwächterin dies genauso wenig gefiel wie umgekehrt. „Tu uns beiden einen Gefallen und geh zurück zu Grey. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“ Ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, drehte Green sich auf ihrem Absatz herum und wollte gerade ihren Weg fortsetzen, als sie schnell bemerkte, dass Itzumi ihr diesen Gefallen nicht tat. Einen Moment lang musste Green sich zusammenreißen, um nicht zu fluchen, als sie sich erneut an ihre Tempelwächterin wandte, doch diese kam ihr zuvor; scheinbar hatte sie nicht bemerkt, dass Green sich wieder herumgedreht hatte: „Ihr macht Grey-sama nur Kummer. Ihr werdet uns allen nur Kummer bereiten!“ „Wie war das?“ „Entschuldigt, ich habe nichts gesagt. Ich werde Euren Wunsch befolgen und freudig auf Eure Rückkehr warten.“ Skeptisch sah Green dabei zu, wie Itzumi sich mit einem giftigen Seitenblick in Luft auflöste und fragte sich, ob Itzumi im Ernst geglaubt hatte, dass sie es nicht gehört hatte oder ob sie es mit Absicht so laut gesagt hatte - was auch immer ihr Hintergedanke gewesen war, so war sie auf jeden Fall Green gegenüber alles andere als wohlgesonnen. Aber Kummer? Green hatte weiß Gott genug mit ihrem eigenen Kummer zu tun, als dass sie anderen diesen bereiten würde! Mit entschlossenen Schritten erreichte Green die Tür zum Observatorium und klopfte an die mit einem heruntergefahrenen Rollo versehene Glastür. Lange musste sie nicht warten, bis sich die Tür öffnete und das Gesicht eines blauhaarigen Mädchens im entstandenen Türspalt erschien, welches Green fragend ansah. „… ja? Sie wünschen?“ Ganz sicherlich handelte es sich nicht um Tinami, auch wenn das kleine Mädchen ihr schon ähnlich sah, wenn man nur die Haare und die Augen betrachtete. Doch die Hautfarbe war um einiges bleicher, sogar blasser als Greens. Ihre langen, blauen Haare waren durchnässt, ein Handtuch lag um ihre Schultern und sie trug ein weißes Kleid mit Trägern, dekoriert mit blauen Karos. „Äh, bin ich richtig bei Asuka? Ich möchte gerne mit Tinami sprechen.“ „Ach, Sie wollen zu meiner großen Schwester? Kommen Sie herein, ich werde Sie zu ihr bringen.“ Green bedankte sich bei der kleinen Schwester Tinamis und war froh, in die warme Behausung zu gelangen; draußen war es ihr doch langsam zu kalt geworden. Kaum schloss das blauhaarige Mädchen die Tür hinter sich, weiteten sich auch schon Greens Augen vor Verblüffung, als sie die Glasvitrinen links und rechts neben sich erblickte. Von einem Observatorium hatte sie erwartet, in solchen Vitrinen galaktische Steine zu erblicken, doch sie sah etwas gänzlich anderes - nämlich Waffen, Waffen aller Art. Waffen, die Greens Stab nicht unähnlich sahen, aber auch außerordentliche Bogen und Pfeile, Armbrüste, Speere, Hiebwaffen und zu Greens Verwunderung auch eine große Axt, bei der sie nicht erfahren wollte, wozu diese gebraucht worden war. Während Green den langen, eher engen Gang an der Seite des Mädchens herunterging, bemerkte die Hikari, wie ungewöhnlich oft sie darauf achten musste, nicht über die sich am Boden schlängelnden Kabel zu stolpern, welche kreuz und quer über den Gang gezogen waren. Einige von ihnen fanden ihren Weg durch die einen Spalt weit geöffneten Türen, andere gingen im Kabelgewirr verloren. Plötzlich hörte Green eine Stimme, welche sie dazu brachte, stehen zu bleiben: „NEIN! Verdammt! Wie oft denn noch?!“ Diese laute Stimme gehörte eindeutig Kaira, was die Hikari auch schnell mit eigenen Augen feststellte, als das blauhaarige Mädchen Green in das Zimmer hineinließ, in welchem Kaira in diesem Moment gerade den Frust über ihre Niederlage an einem Videospielcontroller ausließ. Doch kaum, dass sich die Tür öffnete und Green im Türrahmen stand, ließ die Zeitwächterin den Controller wie vom Blitz getroffen fallen, während Tinami Green grinsend zuwinkte. Auch sie hielt einen Controller in der Hand, allerdings um einiges relaxter: Sie saß auf einem Drehstuhl, die Beine auf einem der vielen Schreibtische platziert und die andere Hand über eine Tastatur sausend, im Mund einen Pocky-Stick. Doch weder Tinami noch Kaira waren es, die Greens Aufmerksamkeit erhielten, sondern eine grünhaarige junge Frau, welche auf der Fensterbank saß und, wenn es nicht aufgrund ihrer Haarfarbe unmöglich gewesen wäre, an eine Chinesin erinnerte. Nicht nur die Art, wie ihre Haare dank zweier Haarnadeln zu einem eleganten Knoten zusammengebunden waren, sondern auch ihr Kleidungsstil wirkte chinesisch. Als sie Greens Blick bemerkte, lächelte sie lieb und rutschte gesittet von der breiten Fensterbank herunter. Doch es war Tinamis Stimme, welche zuerst zu hören war: „Ah, Ee-chan! Ich habe dich bereits erwartet!“ „Wie bitte, was hast du?! Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?“, raunte Kaira ihrer Freundin zu, doch wurde überhört, denn nun übernahm die grünhaarige Frau das Wort, nachdem sie bei Green angekommen war. Wie so viele andere legte auch sie ihre Hand auf ihr Herz und verbeugte sich höflich, ehe ihre ruhige Stimme sich an Green wandte: „Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Hikari-sama. Mein Name ist Ilang Shizen Ling. Ich bin die Elementarwächterin der Natur und besitze den zweiten Rang.“ Verlegen und immer noch nicht an diese hingebungsvollen Verbeugungen gewohnt, winkte Green mit der Hand ab und antwortete: „“Green“ ist vollkommen ausreichend.“ Nun mischte sich auch das blauhaarige Mädchen ein, welches bis jetzt stillschweigend das Szenario um sich herum betrachtet hatte, ohne daran teilzunehmen – doch nun war es blass geworden und wich einige Schritte vor Green zurück. Als Green dies bemerkte und sich zu ihr umdrehte, beeilte das Mädchen sich damit, sich genau wie Ilang zu verbeugen und sagte hastig: „V-Verzeiht mir! Ich … wollte nicht unhöflich sein, Hikari-sama, ich dachte nur …“ Es gelang der Angesprochenen nicht, eine Antwort zu formulieren, ehe Tinami das Stottern ihrer Schwester unterbrach. Sie schlang ihre Arme von hinten um ihre kleine Schwester, welche im Vergleich noch kleiner erschien als ohnehin schon. „Du hättest dir ausrechnen können, Azu-chan, dass es sich bei Ee-chan um unsere geehrte Hikari-sama handelt!“ „Naja, aber man sieht es nicht so …“ „Ich denke, ich darf vorstellen - Ee-chan, das hier ist meine kleine Schwester: Azura Mizu Asuka, Elementarwächterin des Wassers, zweiter Rang!“ Tinami grinste erfreut, während Azura eher danach aussah, als wolle sie vor Scham in Grund und Boden versinken. „Und man mag es ihr nicht ansehen, aber sie ist genauso alt wie du!“, fügte Tinami mit einem Zwinkern hinzu – was Green wahrlich verwunderte und ihren Mund sogar dazu brachte, fragend aufzuklappen: Azura sah gewiss nicht aus wie 16 – weder von ihrem Körperbau noch von ihrer Ausstrahlung her! Nicht auf das gerötete Gesicht ihrer Schwester achtend, drückte Tinami Azura fest an sich und umarmte sie mit einem Quietschen, wobei sie nicht bemerkte, dass Kaira sich nun zu ihnen gesellte; jedoch nicht ohne dem „Game Over“-Bildschirm noch einen feindseligen Blick zuzuwerfen. Mit einem Seufzen wandte sie sich Green und Ilang zu:  „Ich bewundere Azura dafür, dass sie ihre Schwester aushält.“ Kaum dass die Zeitwächterin dies gesagt hatte, ergriff Tinami schon wieder das Wort, dieses Mal jedoch, um alle anderen außer Green aus dem Zimmer zu befördern, mit den Worten, dass sie mit Green eine Verabredung hatte. Doch ehe die drei anderen Mädchen den mit Computern zugestellten Arbeitsraum verließen, verabschiedete Ilang sich freundlich von Green mit den Worten, dass sie sich sicherlich bald wiedersehen würden. Azura erinnerte Tinami daran, dass sie um 18 Uhr essen würden, was Tinami nur mit einem halben Ohr hörte, denn das andere war durch das Flüstern Kairas besetzt, die ihr etwas zuraunte, was Green nicht hören konnte, Tinami aber zu einem Grinsen verleitete. Als alle drei Mädchen den Raum verlassen hatten und die Tür hinter ihnen zugefallen war, setzte Tinami sich wieder an ihren Computer und bot Green einen Stuhl neben sich an. Sie setzte sich und spähte zum Monitor, doch sie verstand kein einziges Wort von dem, was dort geschrieben stand. „Das wird Spaß machen! Endlich mal wieder eine Herausforderung … Ee-chan, wenn du so freundlich wärst und mir dein Glöckchen geben würdest?“ Green war drauf und dran, der Bitte Tinamis Folge zu leisten, doch als sie das Glöckchen von ihrer Kette lösen wollte, verengten sich ihre Augen skeptisch und sie fragte, wie lange sie es denn bräuchte. Auf die plötzliche Feindseligkeit erwiderte Tinami nur ein Grinsen und fügte hinzu: „Dir wird nichts passieren, das verspreche ich.“ Zögernd löste die Hikari es von ihrer Kette und legte das kleine, goldene Schmuckstück in die Hände der Klimawächterin, dabei versuchend, den Drang, es sofort wieder an sich zu reißen, zu unterdrücken. „Eindeutig eine meiner besten Waffen - doch die deiner Mutter gefällt mir auch sehr gut! Mein Vater war wirklich ein Genie … Dieses simple Design hatte was, obwohl ich ja eher auf Detailverliebtheit stehe!“ Green antworte darauf nicht; erstens hatte sie die Waffe ihrer Mutter noch nie gesehen und zweitens war ihr das Aussehen ihrer Waffe auch ziemlich egal - sie sollte einfach nur funktionieren. Tinami legte das Glöckchen auf den Tisch, während sie mit der anderen Hand ein kleines, rundes Metallobjekt aus einer Schublade holte, was sie sich hinter ihr rechtes Ohr klemmte und daraufhin einen Knopf  an diesem betätigte. Wie aus dem Nichts tauchte eine Art Brille auf, welche ihr rechtes Auge bedeckte. Neugierig beugte Green sich vor und sah, dass diese Brille, oder was auch immer es war, keine feste Substanz zu haben schien; die glatte Fläche vor ihrem Auge war blau und durchscheinend. Ohne Greens fragenden Blick zu beachten, schaute Tinami sich nun das Glöckchen genauer an, wobei die Hikari sich in Schweigen hüllte, aus Angst, dass sie die Klimawächterin womöglich bei ihrer Arbeit stören könnte. Es war merkwürdig; normalerweise, wenn ihr Glöckchen von anderen gehalten wurde, wäre Green eigentlich schrecklich nervös, doch Tinami löste dieses Gefühl nicht aus, obwohl sie sie nicht besonders gut oder lange kannte – genauer gesagt: eher gar nicht. Doch es war, als wäre ihr und ihrem Glöckchen bewusst, dass sie bei Tinami in sicheren Händen waren. Grey hatte ihr erzählt, dass es Tinami gewesen war, welche das Glöckchen und somit auch den Stab geschaffen hatten – vielleicht war das der Grund für ihre ungewöhnliche Ruhe? „Du bist viel zusammen mit Si-kun und Ga-kun, nicht wahr?“, fragte Tinami plötzlich und weckte Green aus ihren Gedanken, wobei sie sich kurz fragen musste, von wem die Klimawächterin sprach, bis ihr klar wurde, dass nun auch Siberu und Gary Spitznamen von Tinami erhalten hatten – und diese toppten wahrlich alles. „Ja, das bin ich. Fast … den ganzen Tag, wenn ich so genauer darüber nachdenke.“ Tinami nickte verstehend, den Blick nicht vom Glöckchen nehmend. Kurz zögerte Green mit der Frage, die ihr auf der Zunge brannte, ehe sie sich dazu durchrang, sie zu stellen:  „… was hältst du eigentlich von den beiden?“ Ohne aufzusehen, erwiderte sie: „Ich mag keine Vorurteile. Allerdings haben bereits viele Erfahrungen gezeigt, dass der Großteil der Dämonen nach unserer Definition von bösartiger Natur ist … “ Green schwieg und ihre Augen wandten sich in Richtung des von Kabeln übersäten Bodens – was für eine Antwort hatte sie erwartet? Tinami war eine Wächterin; natürlich hatte sie diese Einstellung. Dennoch hatte Green gehofft, dass sie vielleicht jemanden in ihrem Umfeld finden würde, der eine andere Meinung hatte. Mit Sho konnte sie wohl kaum darüber reden, und selbst wenn Green versuchen würde, mit Pink ein ernsthaftes Gespräch zu führen, so war auch sie nicht unbedingt positiv den beiden Brüdern gegenüber eingestellt – auch wenn es schon besser geworden war. Tinami bemerkte ihren Blick und musste unwillkürlich grinsen: „Wie gesagt, ich bin kein Fan von Vorurteilen, daher mache ich mir immer selbst ein Bild. Wer weiß, vielleicht sind deine beiden Halbdämonen die bekannte Ausnahme, die die Regel bestätigen?“ Die Klimawächterin fuhr mit ihrer Arbeit fort, als wäre nichts geschehen und reagierte nicht auf die großen, verwunderten, aber auch erfreuten Augen Greens. Die Hikari musste sich selbst eingestehen, dass sie ziemlich erleichtert war, dass es wenigstens eine Wächterin gab, die die beiden nicht sofort verurteilte. Ob Ilang eine ähnliche Meinung hatte? Hoffentlich - Kaira wollte sie lieber gar nicht erst fragen; sie mochte wahrscheinlich niemanden und so wie deren erste Begegnung gelaufen war, schenkte sie Dämonen nicht einmal so viel Zeit, dass diese sich auf ihren Tod vorbereiten konnten. Nein, sie hasste Dämonen sicherlich mehr als Grey es tat. „Weißt du eigentlich, was in dem Glöckchen drinnen ist?“ Wieder wurde Green aus ihren Gedanken gerissen und brauchte ein paar Sekunden, um über Tinamis Frage nachzudenken. Was konnte sich in ihrem Glöckchen befinden? Es war unheimlich leicht, machte aber anders als herkömmliche Glöckchen keine Geräusche, es sei denn, ein Dämon war in der Nähe, was wiederum bedeuten musste, dass es … leer war von innen? „Es ist … leer?“ „Auf jeden Fall kann man mit dem bloßen Auge nichts sehen.“ Tinami legte das Glöckchen auf ihren Tisch und mit erstauntem Blick sah Green zu, wie die Hand der Klimawächterin aufstrahlte und kaum, dass sie diese über das Glöckchen legte, erwachte der Bildschirm, der ihnen am nächsten war, zum Leben. Daten flimmerten über ihn - Daten, mit denen Green nichts anfangen konnte, doch es war ein merkwürdiges Gefühl, ihr Glöckchen als Buchstaben und Zahlen zu sehen. „Doch der Inhalt ist mit den richtigen Mitteln messbar.“ „Pink hat mir mal erzählt, dass … das Glöckchen die Kraft meiner Seele speichert, oder so? Ist es das, was du da lesen kannst?“ Ein Lächeln zuckte über Tinamis gebräuntes Gesicht: „Extrem einfach ausgedrückt könnte man es so bezeichnen! In der Tat beinhaltet das Glöckchen die Stärke der Seele eines jeden Hikari und gerade, weil es „leer“ erscheint, ist das Glöckchen im Wächtertum ein Zeichen von Reinheit, unterstrichen von den weißen Flügeln. Es ist nicht genau bekannt, was der Hintergrund der Glöckchen ist; warum die Vorfahren der Hikari gerade ein solches Design auswählten oder warum es überhaupt geschaffen wurde. Fakt ist, dass selbst die ältesten Hikari ein Glöckchen tragen und dass sie ohne zum Sterben verdammt waren. Viele Legenden, Gerüchte und Theorien ranken sich um diese kleinen Relikte. Fakt ist, es ist kostbarer als dein Herz, Ee-chan. Wird dein Herz durchstochen, kannst du es überleben, weil du eine Hikari bist und die Kraft deiner Seele getrennt von deinem Körper in diesem kleinen Teil deinen Körper weiterhin belebt. Wirst du aber von ihm getrennt, wird das Glöckchen beschädigt oder gar zerstört, gehst du mit ihm zugrunde.“ Green erstarrte bei den Worten Tinamis und erst nach einer Weile schlich sich ein verwirrtes „Wie bitte?!“ über ihre Lippen, obwohl ihr absolut klar war, dass Tinami nur die Wahrheit sprach – hatte sie es nicht selbst erlebt auf der Klassenreise? Doch, das war ziemlich eindeutig gewesen. Gott, sie würde es nie wieder aus den Händen legen! „Du siehst“, fuhr Tinami grinsend fort: „Du solltest stets gut darauf achtgeben!“ Das musste sie ihr wahrlich kein zweites Mal sagen, das war ihr nun deutlicher denn je bewusst. „Und … was ist jetzt das Problem mit dem Glöckchen?“, fragte Green unsicher, da sie eigentlich das Verlangen hatte, es lieber nicht zu hören. „Dein Glöckchen hat kein Problem; sagen wir, hätte es ein Problem damit gegeben, so müsste ich dich gerade wiederbeleben, anstatt mit dir zu reden!“ Herzhaft begann Tinami über ihren eigenen Witz zu lachen, doch die Hikari fand ihn alles andere als witzig, sondern eher das Gegenteil. Das beinahe grimmige Gesicht Greens brachte Tinami auch dazu, ihr Lachen einzustellen, doch das Grinsen verschwand nicht, als sie ausführte: „Nein, nein, Ee-chan, es ist nicht dein Glöckchen, sondern deine Waffe! Ich muss mich entschuldigen, denn es ist meine Schuld – dein Stab ist erst die zweite Waffe gewesen, welche ich geschaffen habe und naja, nicht nur das Design ist ziemlich altbacken, meinst du nicht auch, Ee-chan? Jedenfalls ist die Waffe deinen Bedürfnissen nicht angepasst: Die Waffe besitzt ja nicht einmal einen Filter! Und den, sagen wir es so, brauchst du dringender als andere Hikari!“ „Einen … Filter?“ „Ganz genau!“ Tinami sah zwar weiterhin Green an, während sie mit ihr sprach, doch ihre Finger rasten bereits über die eingelassene Tastatur wie unbändige Bienen: „Du brauchst natürlich einen komplett anderen als deine Vorfahren, immerhin bist du ja auch ganz anders – es wird eine Herausforderung, aber keine unlösbare! Ich sehe es vor mir!“ Ein Ausbruch der Freude und des Tatendranges unterbrach ihre eigenen Worte: „Ich platze vor Begeisterung! Meine Finger kribbeln richtig!“ „Was genau macht denn so ein Filter?“ Die Frage Greens unterbrach den Freudentaumel Tinamis, da sie sich nun einer Erklärung widmete, um die Frage ihrer Hikari zu beantworten: „Das Element des Lichtes ist sehr empfindlich, musst du wissen. Es reagiert überaus fein auf die Gefühle des Trägers: Zweifelst du, flackert dein Licht und verliert an Stärke. Unsere Elemente sind stets mit unserer Seele verknüpft, aber kein Band ist so stark wie das der Hikari.“ Die Klimawächterin hob den Zeigefinger und fuhr fort: „Das wiederum bedeutet auch, dass das Element mit deinem Glöckchen verbunden ist und im Umkehrschluss mit deiner Waffe, da dein Glöckchen sich in deine Waffe verwandelt – heißt auch, dass du auf diese ebenfalls aufpassen musst. Ein in deiner Waffe eingebauter Filter verhindert, dass unreine, dunkle, dämonische Energien von außen eindringen können. In deinem Stab war natürlich auch ein Filter eingebaut, allerdings keiner, der für eine dauerhafte Belastung ausgelegt gewesen ist. Sagen wir es, wie es ist: Der Filter deines Stabes war überlastet und hat seinen Geist aufgeben!“ Die Hikari schwieg, da sie diese Menge an Information erst einmal verstehen und verarbeiten musste – wollte Tinami etwa darauf hinaus, dass es ihrem Glöckchen nicht „gut tat“, wenn sie so viel mit Siberu und Gary zusammen war? Das machte die ganze Situation nicht gerade besser – eher das Gegenteil. „Ach, ich sehe es schon vor mir!“ Der Verwirrung Greens nicht besonders viel Beachtung schenkend redete Tinami in einem Fluss weiter: „Ich habe das Design deutlich vor Augen – und natürlich kommt wieder das EL-Hen System zum Einsatz und – oooou es wird großartig werden! Mein Meisterwerk!“ Die Freude Tinamis beruhigte Green ein wenig; es klang immerhin nicht gerade so, als stünde sie vor einem unlösbaren Problem und als sei Green dazu gezwungen, sich von Siberu und Gary fernzuhalten – ein Gedanke, der sie aufatmen ließ. „Das EL-Hen System?“, fragte Green verwundert, nachdem sie die grauenvollen Gedanken brüsk zur Seite geschoben hatte und sich stattdessen auf ein neues ihr unbekanntes Wort konzentrierte. „Hm … wie formuliere ich es, damit du’s verstehst …“ Aus dem Mund jedes anderen würden diese Worte wohl beleidigend klingen, doch nicht aus dem Mund Tinamis, welche sich nun dem Computerbildschirm zugewandt hatte; anscheinend bereits in Gedanken damit beschäftigt, das Design des Stabes zu entwerfen: „Das EL-Hen System ist die Ursache dafür, dass dein Glöckchen sich in einen Stab verwandeln kann, alles klar? Schade, dass derjenige so früh gestorben ist, der es erfunden hat …“ Die Frage, wer ein solch praktisches System erfunden hatte, folgte selbstverständlich sofort und grinsend warf Tinami ihr einen Blick zu: „Mein Vorfahre! Er hat vor 310 Jahren gelebt und man kann wohl sagen, dass er fast so intelligent war wie ich! Er hieß Tao Kikou Asuka. Leider ist er, wie gesagt, viel zu früh gestorben.“ „Woran ist er denn gestorben?“    „Das weiß niemand so genau … angeblich soll er sich überarbeitet haben - aber wenn du mich fragst, ist das kompletter Unsinn. Wir Kikous sind es gewohnt, tagelang durchzuarbeiten und ich kann dir sagen, das haut uns eigentlich nicht so leicht aus den Latschen. Wir schlafen dann einfach ein paar Tage durch, wenn wir zu viel gearbeitet haben und alles ist wieder gut.“ Plötzlich sah Tinami nachdenklich aus und ihre Finger, die eben noch über die Tastatur gerast waren, kamen zum Stillstand und mit einem beinahe verärgerten Seufzen legte sie die blaue Brille wieder ab – anscheinend mochte sie es nicht, dass sie über den Tod ihres Vorfahren keine Aufklärung hatte. „Vielleicht hat er ja an etwas ziemlich Großem gearbeitet?“ Tinami sah auf, als ihre Hikari dies sagte, und lächelte ironisch. „Groß ist wohl untertrieben: Er hat an etwas gearbeitet, was unmöglich ist. Selbst für uns … Er hat nach einer Möglichkeit gesucht, den Tod zu überwinden.“ Okay, dachte Green – das war in der Tat eine große Sache; eine ziemlich große Sache sogar. Offensichtlich teilten die doch sehr anders wirkenden Wächter dennoch etwas mit den Menschen; wenigstens in einer Sache ähnelten sie sich … und auch für die Wächter war es ein unerreichbarer Traum. Welch Ironie, dass Tinamis Vorfahre bei dem Versuch, den Tod zu bekämpfen, selbst gestorben war. Während Greens Gedanken um die Ironie dieser Sache kreisten, gingen Tinamis Gedanken in eine völlig andere Richtung - zur Frage, warum ihr Vorfahre Tao überhaupt ein solches Bestreben gehabt hatte. Jeder wusste doch, dass es keinen Weg gab, Tote wieder ins Leben zurückzuholen. Viele vor ihm hatten es versucht und waren daran gescheitert. Hatte er es deshalb gewollt? Wollte er beweisen, dass es möglich war? Wollte Tao beweisen, dass er besser als seine eigenen Vorfahren war? Das ergab keinen Sinn … Tao war ohne Zweifel brillant gewesen: Es gab für ihn keinen Grund, sich beweisen zu müssen. Außerdem hatte Tinami aus dem Tagebuch ihres Vorfahren deutlich herauslesen können, dass Tao seine Arbeit geliebt hatte und ihr gewiss nicht nachgegangen war, um Ruhm zu erlangen. Schon oft hatte Tinami sich über diese Frage den Kopf zerbrochen – nicht nur, weil Tao ein berühmter Elementarvorfahr für sie als Kikou war, sondern auch, weil sie es liebte, über ungeklärte Fragen zu spekulieren und sie im besten Falle auch zu lösen; wenigstens für sich selbst. Aber bei dem Tode ihres Vorfahren biss sie auf Granit. Green hatte nicht geantwortet, sondern schweigend Tinami dabei zugesehen, wie sie sich den Kopf zerbrach. Erst nach einigen Minuten regte die Klimawächterin sich wieder: „Seine Verlobte –übrigens eine deiner Vorfahren - beging auf Taos Tod hin Selbstmord. Einen ziemlich brutalen Selbstmord … Auch das ist unlogisch.“ „Warum ist das unlogisch? Ich meine, sie hat aus unerklärlichen Gründen ihren Verlobten verloren.“ „Ja, du kannst es vielleicht nachvollziehen und ich auch, aber für eine Hikari ist es ziemlich merkwürdig, Selbstmord zu begehen; besonders wenn man kinderlos geblieben ist.“ „Was hat denn das mit Kindern oder nicht zu tun?“ Die Verwunderung in Greens Gesicht war unübersehbar und sofort wurde Tinami klar, dass sie noch nicht so viel Zeit mit Grey verbracht hatte, ansonsten wüsste sie, wovon sie sprach: „Hat Grey dir etwa noch nicht erzählt, dass die Hikari dem Wächtertum gegenüber die Pflicht haben, einen Lichterben zur Welt zu bringen?“ Als die Klimawächterin dies sagte und die ziemlich nüchterne Reaktion Greens bemerkte, wurde ihr darüber hinaus ebenfalls bewusst, dass Green sich selbst noch nicht als Hikari ansah, denn es schien nicht so, als würde sie sich angesprochen fühlen; was sie eigentlich tun sollte. Stattdessen warf Green ein, dass sie glaubte, dass es der Verlobten Taos wohl in diesem Moment egal gewesen sei, ob sie ihre Pflicht erfüllt hatte oder nicht. Diese Worte brachten Tinami dazu, zu lächeln: Green würde wahrlich eine sehr merkwürdige Hikari werden. Aber Tinami war keine Person, die das „Merkwürdige“ als etwas Schlechtes ansah. „Ich glaube, da bist du die einzige Hikari, die so denkt. Aber warte, es kommt noch besser: Akari-Hikari-sama, so der Name der Verlobten, existiert noch im Jenseits!“ „Huh!? Aber warum macht man denn so ein Mysterium daraus, wenn man sie nur zu fragen braucht?“ Die Antwort ließ lange auf sich warten; genauer gesagt so lange, bis Tinami die zwei Pockies, welche sie sich gerade aus einer Packung rechts neben sich genehmigt hatte, gegessen hatte.  „Seitdem sie tot ist, spricht sie kein Wort mehr darüber – es ist, als hätte sie alles vergessen, was mit Tao zu tun hat. Auch das Eindringen in ihre Gedanken hat keine Ergebnisse erzielt – es ist, als seien alle Erinnerungen vollkommen verschwunden oder nie geschehen! Ich muss zugeben, dass ich es nicht verstehe. Und das ist so frustrierend!“ Tinami grummelte etwas vor sich hin und begann damit, auf ihrem Stuhl vor und zurück zu kippeln. Interessant klang diese Geschichte, das musste Green zugeben; offensichtlich gab es viele unergründete Leichen im Keller ihrer Familie. Aber wenn selbst die und auch Tinami keine Antwort gefunden hatten – und das nach 310 Jahren! - dann würde Green sie bestimmt auch nicht finden.  „Ee-chan, was willst du denn mit so was?“ Während die Klimawächterin mit dem Stuhl gekippelt hatte, hatte sie bemerkt, dass Green ein Buch in ihrer Tasche liegen hatte – die Tasche hatte offen neben Green auf dem Tisch gelegen. Die Hikari sah genauso fragend auf das Buch wie die Klimawächterin, welche es zwar erkannt hatte, sich aber wunderte, dass ihre ungewöhnliche Hikari ein solches Werk lesen wollte. Green kannte es nicht; als sie aber das in rotes Leder eingebundene Buch aus der Tasche holte, wurde ihr schnell bewusst, warum ihre Klimawächterin sie so verwundert gefragt hatte. Mit goldenen Lettern stand dort in einer wunderschönen Schnörkelschrift geschrieben „Die universelle Dämonen Enzyklopädie I“ – einen Titel, den Green ungläubig wiederholte, und das Buch plötzlich weit von sich entfernt hielt, als würde es sie beißen wollen. „Ich habe keine Ahnung, was ein solches Buch in meiner Tasche zu suchen hat! Grey muss es reingelegt haben! Und er wird es postwendend und ungelesen zurückbekommen!“ Doch obwohl Green es ihr regelrecht vor die Nase hielt, unternahm Tinami keine Anstalten, es ihr abzunehmen: „Ich würde es lesen, wenn ich du wäre, Ee-chan – es ist eine überaus lehrreiche Lektüre!“ „Niemals! Das sind sicherlich nur ein Haufen Vorurteile!“ „Eigentlich ist es eher ein wissenschaftliches Buch über die Anatomie der Dämonen.“ „Das ist ja noch besser.“ Nach wie vor sah Green nicht, wo für sie der Sinn darin lag, so ein Buch zu lesen – wenn sie Fragen über die Anatomie der Dämonen hatte, dann konnte sie ihre beiden Freunde doch einfach direkt fragen. Das war gewiss eine verlässlichere Quelle als die, die sie in den Händen hielt. Trotzdem beförderte sie das Buch zurück in ihre Tasche, entschlossen es nicht zu lesen, sondern es bei ihrem nächsten Besuch Grey zurückzugeben. „Du kannst deine neue Waffe morgen um 12.33 abholen! Dein Glöckchen kannst du aber wieder mitnehmen; wir verschmelzen die beiden dann morgen.“ Die Hikari sah sie wegen der Wortwahl recht schockiert an und Tinamis „Keine Sorge“ konnte daran nichts ändern; erst als sie ihr Glöckchen zurückerhielt, beruhigte sie sich vorerst wieder. „Bis dahin solltest du aber nicht alleine unterwegs sein.“ Green grinste, als Tinami dies sagte: „Das wird kein Problem sein, ich bin sowieso nie allein. Darf ich dein Telefon benutzen? Dann lass ich mich auch sofort abholen, anstatt alleine zurückzugehen.“ Zwar besaß Green ein Handy, aber wenn man die Möglichkeit hatte, das Telefon eines anderen zu benutzen und damit Geld zu sparen – ihr Geld zu sparen – dann nutzte sie diese Gelegenheit doch auch. Tinami dachte sich nichts dabei und reichte Green den Hörer des Telefons, während sie sich wieder ihrem Bildschirm zuwandte. „Hi, Sibi! … Jaaaaaha mir geht’s gut … Ich hab dir doch gesagt, wo ich bin! … Ups, oki, dann hab ich es halt nur Gary erzählt… schon gut! Ich tue es nie wieder! Warum fragst du nicht einfach … nein?! Damit hat das nichts zu tun … Ich vertrau dir, jaaaa…. Ok, ok… Weißt du, Sibi, deshalb darfst du mich jetzt auch abholen … ja, ich bin zu gütig… nein, wir gehen nicht aus… nein, habe ich gesagt… Ich lasse mich nicht von dir bestechen …Wir können zusammen Weihnachtsgeschenke kaufen, wenn du willst…. Ja, ich brauch was für Grey…  nein… Er ist mein Bruder? … Du wirst deinem doch auch was schenken… ja, Buch oder so… Was ich ihm schenke? Wie kommst du darauf, dass ich es überhaupt tue? ... Ja, du bekommst was…. Nein, dein Geschenk ist kein Date… Es lässt sich einpacken, ok? … nein, du frühreifer Idiot!… Hol mich jetzt bitte ab, wir können später darüber diskutieren… und ich schenke dir nichts in dieser Richtung….auch nicht mein Herz…. Sibi, hör auf! Tust du das extra?!... ja, bis gleich…ja, ich hab dich auch lieb… ich weiß selbst, dass es nicht das gleiche ist wie „Ich liebe dich“… Dann sag es mir doch nicht andauernd … Bis gleich, Sibi!“ Mit diesen Worten legte sie auf und himmelte mit den Augen, obwohl Tinami deutlich ein Grinsen auf dem Gesicht der Hikari sah. Ein Dämon brachte eine Hikari zu einem erfreuten Grinsen – sie war wirklich sehr außergewöhnlich.     Etwas Ähnliches dachte auch Grey, als er an diesem Abend mal wieder alleine zu Abend aß – nicht wie zum Frühstück in einem herrlich dekorierten Speisesaal, sondern in seinem eigenen Zimmer, wo er gedankenverloren und appetitlos das Essen, das Ryô ihm gemacht hatte, aß. Er hatte keinen Hunger, doch bemerkte er, dass sein Tempelwächter ihn besorgt ansah und er wollte dieser Sorge nicht noch mehr Futter geben, sondern sie beruhigen. Anscheinend war dieser Versuch nicht gerade von Erfolg gekrönt, denn er hatte sofort bemerkt, dass etwas mit seinem Herren nicht in Ordnung war und er ahnte auch, was es war, immerhin war er in der Nähe gewesen, als Green sich von Grey verabschiedet hatte, und hatte somit ihre Worte gehört – entweder war Grey aufgrund der Worte an sich bedrückt oder es war das schlechte Gewissen; oder einfach die Sorge um seine Schwester. „Danke für das Mahl.“ Grey schob den leeren Teller von sich weg und lehnte sich in seinem Sessel zurück, den Blick nicht von Ryô abwendend, dessen Sorge nicht verschwunden war. „Mir geht es gut, mein Freund“, sagte er mit einem Seufzen. „Wem wollt Ihr etwas vormachen?“ Der Angesprochene antwortete darauf nicht, wandte aber seinen Blick von seinem Tempelwächter ab, um hinaus in den sich langsam verdunkelnden Abendhimmel zu sehen. Beide schwiegen und rührten sich auch eine ganze Weile nicht, obwohl Ryô eigentlich den Tisch abdecken müsste. Doch er wusste, dass es Grey wohl von seinen Gedanken ablenken würde, würde Ryô nun herumklappern – außerdem kannte er seinen Herren gut genug, um zu wissen, dass er sich ihm anvertrauen würde, ohne dass Ryô ihn dazu drängen musste. Nach einer Viertelstunde stellte sich auch heraus, dass Ryô recht hatte – Grey seufzte noch einmal, lehnte sich in seinem Sessel vor, wo er seinen Kopf mit der Hand abstützte. Eine Pose der Verzweiflung, die Ryô wahrlich nicht sehen mochte. „Wie soll ich ihr ein guter großer Bruder sein, wenn ich dazu gezwungen bin, sie anzulügen?“ Grey schüttelte den Kopf und vergrub seine Hand in seinem Pony, ehe er fortfuhr: „Ich kann es Green nicht einmal verübeln, dass sie es vorzieht, in der Menschenwelt bei den beiden Halblingen zu bleiben – auch wenn es mich zutiefst besorgt.“ Wieder seufzte der Windwächter, sah aber auf, als er bemerkte, dass Ryô nun vor ihm stand. Er versuchte zu lächeln, doch Grey sah ihm an, dass es ihm schwerfiel: „Gebt die Hoffnung nicht auf, Grey-sama – vielleicht besteht Hikari-sama das baldige Familientreffen und dann könnt Ihr die Lügen für immer vergessen.“ Auch Grey musste sich zu einem optimistischen Lächeln zwingen, denn er war weit davon entfernt, optimistisch zu sein und er wusste, dass Ryô auch nicht davon überzeugt war. Shaginai, deren Großvater, der für Grey immer ein solcher gewesen war, war für Green wie eine Mauer – eine Mauer, welche so gut wie unmöglich niederzureißen war.     Auch dieser Abend wurde mit einem gemeinsamen Essen von Siberu, Green und Gary gekrönt und auch Pink leistete ihnen Gesellschaft, sich gierig über die Nachspeise in Form eines von Green selbstgemachten Schokoladenpuddings stürzend. Green hatte die Gelegenheit genutzt und den beiden Brüdern von dem Treffen mit Tinami zu erzählen; auch die tragische Geschichte von Tinamis Vorfahren berichtete sie und fügte hinzu, dass ihre eigene Vergangenheit – die Trennung von ihrer Familie – für die Wächter scheinbar gar keine besonders außergewöhnliche Geschichte sei. „Komisch fand ich es dennoch", flüsterte Green beinahe, ihren Löffel beiseitelegend, obwohl sie nur die Hälfte ihres Puddings gegessen hatte. „Es kam mir so vor, als würde Grey nicht darüber reden wollen.“ „Also ich finde den Typen auch nach wie vor komisch – nichts gegen dich, Green-chan“, entschuldigte sich Siberu sofort, doch Green hatte sich nicht beleidigt gefühlt; sie stand der ganzen Sache immerhin auch skeptisch gegenüber und sie konnte nicht gerade von sich selbst behaupten, dass sie Grey vertraute. Er war lieb und sympathisch, aber irgendetwas stimmte einfach nicht. Gary äußerte sich nicht; jedenfalls nicht sofort, sondern erst nachdem Green ihnen noch mehr von Grey und seinem Verhalten erzählt hatte. „Ich glaube, du bist zu argwöhnisch, Green. Du vergisst, dass die Hikari der politische Knotenpunkt der Wächter sind. Daher müssen sie nun einmal Dinge entscheiden, die nicht mit ihrer persönlichen Gesinnung übereinstimmen.“ Mit dieser Aussage erntete sich Gary nur drei verwirrte Blicke und nicht das von ihm erhoffte Verständnis, weshalb er seufzend die nun leere Schale von sich wegschob und wählte, es anders zu formulieren: „Anders ausgedrückt: Wenn die Hikari – und dazu zähle ich jetzt einfach mal deinen Bruder – etwas entscheiden, was negative Konsequenzen für dich hat, bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass ihnen nichts an dir liegt. Sie müssen an das Wohlergehen ihres Volkes denken und stets die zukünftige Kriegsführung im Blick haben.“ „Krieg, Krieg, Krieg – ich höre immer nur Krieg!“, entfuhr es Green aufgebracht und energisch schob sie sich einen Löffel Pudding in den Mund, schluckte und verschluckte sich, ehe sie fortfuhr: „Wir sind doch nicht im Krieg, oder habe ich da was nicht mitbekommen?“ „Nein, wir sind nicht im Krieg. Aber der letzte liegt nicht lange zurück und der nächste kommt bestimmt. Vielleicht nicht in unserer Lebenszeit, aber Dämonen und Wächter sind nicht für eine Koexistenz geschaffen.“ Green öffnete sofort protestierend den Mund, doch es war Pink, deren Stimme zuerst zu hören war: „Die sollten einfach alle Green-chans Pudding probieren! Dann wäre alles gut und niemand würde mehr leiden müssen. Hellokittychan, willst du nicht auch einen Löffel?“ Zuerst wurde Pink verwundert angesehen, doch dann begannen Siberu und Green zu lachen und auch Gary huschte ein erschöpftes Schmunzeln übers Gesicht, auch wenn er wusste, dass Pudding leider keine Lösung gegen erkalteten Hass war. „Und wenn es dich beruhigt, Green ...“, unterbrach Gary das Gespräch über Greens Pudding: „… das, was Grey-san dir erzählt hat, ist das Gleiche, was auch ich gehört habe. Es wird also was Wahres dran sein.“ Green sah auf und traf Garys Blick zuerst mit großen, fragenden Augen, doch dann lächelte sie dankbar – und ja, erleichtert. Doch es gelang ihr nicht, etwas zu erwidern, denn Siberu unterbrach sie dabei: „Also ich hab davon noch nie was gehört.“ „Natürlich hast du das nicht.“ „Ey, ist das dieser nervige großer-Bruder-Tonfall à la „natürlich hast du das nicht, Silver, denn du hörst auch nie zu“?“ „Vielleicht?“ Green konnte ein Grinsen einfach nicht unterdrücken, als sie den beiden Brüdern dabei zuhörte, wie sie sich stritten und Pink nebenbei nach einer weiteren Schüssel Pudding verlangte. Vielleicht sollte sie Pudding mit ins Jenseits nehmen und dann würde schon alles irgendwie gut werden?         Fertiggestellt: 31.08.11   Kapitel 16: Merry Christmas Teil 1 ---------------------------------- „An Weihnachten arbeiten! Ist denn das zu fassen!?“ Eigentlich war diese Aussage aus zweierlei Gründen nicht korrekt. Zum einen hatten sie die von Green genannte „Arbeit“ bereits fünf Minuten vor zwölf und somit noch am 23. Dezember beendet und Gary würde das Bekämpfen von Dämonen auch nicht als „Arbeit“ bezeichnen, wie er nachdenklich feststellte. Immerhin erhielten sie dafür keine Entlohnung, weshalb man es vielleicht viel eher eine ehrenamtliche Tätigkeit nennen konnte. Weder Siberu noch Green hatten ihm geantwortet, während sie auf dem Weg zurück nach Hause waren und für diesen Zweck durch die festlich geschmückten Straßen Tokios gingen und von unzähligen bunten Lichtern umgeben waren. Green schüttelte ratlos den Kopf. Er war ja so ein Schlaumeier! Und ein solcher Schlaumeier hatte ein Weihnachtsgeschenk Greens eigentlich gar nicht verdient. Doch wenn man es genau nahm, hatte sie gar keines für ihn. Als sie mit Siberu unterwegs gewesen war, um Geschenke für das Weihnachtsfest zu besorgen, hatte sie keines gefunden, denn sie hatte ihm nicht einfach irgendetwas schenken wollen: Es musste etwas Besonderes sein, immerhin hatte er ihr in den vergangenen Monaten so sehr geholfen mit Mathe und den Dämonen. Aber was bloß? Und vor allen Dingen: Wie sollte sie noch etwas besorgen? Wie Gary schon so passend festgestellt hatte, war es fast der 24. Dezember und sobald Green sich nach dieser erneuten Dämonenjagd ein paar Stunden Schlaf gegönnt hatte, musste sie auch schon so früh wie möglich bei Sho auf der Matte stehen, immerhin war sie für das Essen verantwortlich und obendrein auch für recht viele Personen, denn Green hatte auch Tinami und Ilang eingeladen. Kaira hatte sie im Prinzip pro forma auch eingeladen, doch jene hatte mit dem Kommentar, dass ihre Zeit zu kostbar sei, um sie mit menschlichen Traditionen zu verschwenden, abgelehnt; auch Tinamis Einwände, dass es sicherlich spaßig werden würde, wies Kaira gekonnt von sich. Auch Grey hatte dankend abgelehnt, als Green ihn gefragt hatte, ob er mitkommen wolle. Er war obendrein verwundert über die Frage; ihm war nämlich nicht klar gewesen, dass ein Weihnachtsfest vor der Tür stand, und hatte sich neugierig Greens Schilderungen des christlichen Festes angehört; aber damit identifizieren konnte er sich nicht, was Green jedoch nicht daran gehindert hatte, ihm ebenfalls ein Geschenk zu kaufen. Die mangelnde Identifizierung war allerdings nicht der Grund gewesen, weshalb er nicht hatte mitkommen wollen, denn das hatte er dennoch der Gemütlichkeit wegen gerne getan  - und natürlich um Zeit mit seiner Schwester zu verbringen. Sein Problem war die Anwesenheit der „Halblinge“, wie er Siberu und Gary nannte. Statt Kaira und Grey würde Ilang allerdings ihren kleinen Bruder mitnehmen – sie hatte so lieb und freundlich gefragt, dass Green gar nicht anders konnte, als ihr zu versichern, dass Sho gewiss nichts dagegen hatte. Diese hatte auch nichts dagegen gehabt, auch wenn sie ziemlich verblüfft dreingeschaut hatte, als Green von den plötzlichen Besuchern erzählt hatte. Mit Siberu und Gary hatte sie ja bereits gerechnet, aber die Frage, woher Green denn plötzlich so viele Freunde hatte, war berechtigt; immerhin hatte Green, wenn man es genau nahm, nie jemand anderes ihre Freundin genannt außer Sho und auch nie den Wunsch geäußert, mehrere. Green war keine Ausrede eingefallen, weshalb sie schlicht geantwortet hatte, dass es die Freunde von Siberu und Gary seien und sie sie eigentlich gar nicht so genau kannte. Deutlich hatte Green gesehen, dass Sho die Ausrede durchschaut hatte, aber sie hatte nachgegeben, ohne weiter auf die Lüge einzugehen. Gott, wie würde sie und im Allgemeinen die ganze Familie Minazaii reagieren, wenn sie erfuhren, dass Green nicht nur ihren Bruder, sondern auch gleich eine adelige Familie wiedergefunden hatte? Green hatte es ihr verschwiegen, denn sie wusste nicht, wie sie es Sho erklären sollte, ohne über die ganze Sache mit den Wächtern zu reden – und dass dies vor jedem Menschen geheim bleiben musste, hatte Kaira ihr noch einmal deutlich gemacht, als sie nicht nur Green, sondern auch Ilang und Tinami darauf hinwies, dass das Ganze mit Menschen in der Nähe viel zu riskant war. Man wusste ja nie, hatte sie warnend gesagt, Dämonen würden das Fest der Liebe sicherlich nicht feiern. Das würde eine Nacht werden! Green hoffte inständig, dass die Dämonen heute mal Ruhe geben würden, denn sie wollte wirklich ein ganz normales, einfaches Weihnachtsfest, ohne irgendwelche ungeplanten Zwischenfälle.     Bevor Green sich bei Sho allerdings in die Küche begeben konnte, musste sie noch etwas anderes erledigen, was sie auch zusammen mit Pink tat – und der Hilfe von Tinami. Denn das Weihnachtsgeschenk musste irgendwie zu ihrem Bruder kommen, was sie nur mit der Hilfe von Tinami und ihrer Teleportationsfähigkeit bewerkstelligen konnte. Es war das erste Mal, dass sie Pink ebenfalls mit in den Tempel nahm, weshalb sie eigentlich gedacht hatte, dass diese genauso erstaunt und überrascht reagieren würde, wie Green es getan hatte. Doch da hatte sie sich geirrt: Pink reagierte so gar nicht auf den Tempel und die Tatsache, dass dieser im Himmel schwebte. Während sie die Korridore durchquerten, schnatterte sie munter mit Tinami ohne sich sonderlich umzugucken, was Green trotz ihres mehrfachen Besuches immer noch tat und sie glaubte auch, dass es ihr schwerfallen würde, sich jemals sattzusehen: Dieser Ort war einfach unglaublich. Und das war auch der Grund, weshalb Green es nicht einfach bei einem verwunderten Gesichtsausdruck ihrerseits belassen konnte. Doch als sie Pink fragte, warum der Tempel sie denn überhaupt nicht beeindruckte, antwortete sie simpel: „Aber, Green-chan, der Tempel ist doch unser Zuhause!“ So schön und atemberaubend dieser Ort war, Green fühlte sich hier gewiss nicht zu Hause – und sie zweifelte auch daran, dass sie es jemals tun würde. Es kam ihr vor wie ein Sprung in ein Märchenbuch, aber genau wie ein Märchenbuch schien auch dieser Ort zu unreal zu sein, um sich jemals wie ein Zuhause anfühlen zu können. „Frohe Weinachten, Onii-chan!“ Zusammen mit diesem Ausruf überreichte Green das für ihren zutiefst gerührten Bruder gekaufte Geschenk, doch alleine weil sie ihn abermals mit „Onii-chan“ angesprochen hatte, freute er sich und seine Augen wurden glasig, noch ehe er das Geschenk auspackte. Die Wahl des Geschenkes war Green nicht schwergefallen: Es war ein Buch über die historische Entwicklung der Schneiderkunst auf globaler Basis. „Vielen, vielen Dank, Green! Ich … ich bin ganz …“ „Ach was, nichts zu danken. Kannst du es überhaupt gebrauchen? Ich meine, du weißt sicherlich …“ Offensichtlich war es ihm vollkommen egal, ob er das Buch gebrauchen konnte oder nicht, was Green deutlich wurde, als er das Buch beiseitelegte und seine überraschte Schwester plötzlich in die Arme schloss. Einen kurzen Augenblick war Green wie bei deren erster Begegnung zu überrascht, um die Umarmung zu erwidern, doch sie riss sich schnell zusammen und erwiderte seine erfreute Umarmung, indem sie ihre Hände auf seinem Rücken platzierte. Bei dieser Handlung bemerkte sie, wie Itzumi, welche gerade dabei war, den Tisch zum Frühstück zu decken, ihr einen giftigen Blick zuwarf – doch nur für einen winzigen Moment und schon wandte sie sich ab von dem Bild der umarmenden Geschwister, als würde es sie anwidern.  „Ähm, Grey, du kannst mich jetzt wieder loslassen“, sagte Green, nachdem der Versuch misslungen war, sich einfach stillschweigend von ihm zu lösen und mit rotem Kopf tat er es dann auch, hüstelnd, als würde er sich für seine heftige Reaktion schämen. „Oh und ich muss dir Pink vorstellen!“, beeilte sich Green zu sagen, damit es für Grey nicht noch peinlicher wurde, und zog deren Cousine zu sich, obwohl diese sich eigentlich gerade an der Schokoladencreme des Frühstückstisches gütig tun wollte. „Aber, Green-chan, was redest du denn da? Ich kenne Grey-chan doch!“ Und schon befreite sie sich aus Greens Griff, steckte den mit Schokoladencreme überzogenen Zeigefinger in den Mund und setzte sich ungeduldig an den halbwegs gedeckten Tisch, was Itzumi nicht zu gefallen schien, denn sie war noch nicht fertig gewesen. „Wie, ihr beiden kennt euch schon?“, fragte Green und konnte ihre Verwunderung darüber nicht zurückhalten, weshalb ihr nicht auffiel, dass Grey das Thema nicht zu behagen schien: „Aber ja, ich habe unsere Cousine kennengelernt, ehe sie zu dir kam.“ Jetzt bemerkte auch Green es - sein Drang, das Thema wechseln zu wollen, war einfach zu deutlich, doch Green tat so, als würde sie es nicht bemerken: „Wenn du Pink schon vorher getroffen hast, warum dann nicht mich? Dann wusstest du ja, wo ich war.“ Natürlich bemerkte auch Grey Greens schneidenden Unterton und ihre Skepsis war auch überaus wohlbegründet, weshalb er sich beeilte, ihr zu antworten: „Ich benötigte eine Genehmigung und die hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.“ „Eine Genehmigung? Von wem?“ „Von unserer Familie.“ „Von unserer Familie brauchst du eine Genehmigung, um mich zu sehen? Brauchst du auch eine, um mein Geschenk anzunehmen, oder wie?!“ „Aber nein, Green“, erwiderte Grey in einem schlichtenden Tonfall: „Dein Element war doch zu diesem Zeitpunkt noch versiegelt und hätte ich mich dir offenbart, hätte es die Gefahr gegeben, dass deine Identität als Hikari aufgeflogen wäre.“ Beruhigt hatte er sie, aber es war deutlich, dass sie immer noch nicht gänzlich überzeugt war: „Und danach?“ „Green-chan!“ Green fuhr zusammen, als Pinks Stimme auf einmal direkt neben ihr ertönte und sie sie auf und ab hopsend neben sich sah: „Grey-chan hat auch ein Geschenk für dich! Guck, guck, es liegt auf deinem Stuhl! Komm, du musst es aufmachen; wir wollen doch sehen, was drin ist! Wann bekomme ich eigentlich mein Geschenk?“ „Eh … heute Abend natürlich erst“, antwortete Green, während Pink ihre Hände nahm und sie zum Tisch zerrte, wo tatsächlich ein längliches Paket auf ihrem Platz lag. Schnell waren alle ihre skeptischen Gedanken verstummt, denn andere Befürchtungen beschlichen sich ihrer – und bewahrheiteten sich, als Green nach dem Frühstück neu eingekleidet vor dem strahlenden Grey stand, denn er hatte ihr ein Kleid geschneidert. Im ersten Moment erkannte sie sich gar nicht wieder, als sie sich selbst im Spiegel sah, so befremdlich wirkte dieser Anblick, sich selbst in Weiß gekleidet zu sehen, einer Farbe, welche sie normalerweise mied, die ihr aber Greys Aussage zufolge fabelhaft stand. „Hach, ich wusste, dass es dich kleiden würde! Und es ist ein wahres Geschenk, dich in Weiß zu sehen. Es steht dir ganz ausgezeichnet!“ Green fiel es schwer, beurteilen zu können, ob es ihr stand, denn sie fühlte sich nicht wohl in dieser Bekleidung. Sie fühlte sich, als würde sie sich im falschen Zeitalter befinden und der lange Unterrock mit seinen vielen Unterlagen störte sie; sie mochte es nicht, Kleider zu tragen, wo der Rock bis zum Boden reichte, da sie Beinfreiheit bevorzugte. Sie fühlte sich eingeschränkt und behindert – und das Kleid war schwer. „Ich bin nicht sooo der Fan von Weiß“, versuchte Green es nett auszudrücken, um Greys Gefühle nicht zu verletzen, denn sie bemerkte schon, dass er ganz außer sich war vor Freude – und deshalb hörte er sie auch gar nicht: „Ist das Korsett auch nicht zu eng? Du bekommst gut Luft, oder? Ich finde, es ist sehr wichtig, dass man sich in seiner Bekleidung wohlfühlt, immerhin ist es das, was du zum Familientreffen tragen sollst – mit deiner Zustimmung natürlich.“ „Diesen Fummel soll ich zur Prüfung tragen?!“ Einen kurzen Augenblick lang wirkte es, als hätte sie Grey mit diesen Worten verletzt, doch er schien sich zusammenzureißen und anstatt sie darauf hinzuweisen, dass das von ihm geschneiderte Kleid wohl alles andere als ein „Fummel“ sei, nahm er eine tadelnde Pose ein, welche seine vorwurfsvollen Worte untermauerte: „Es ist immer noch keine Prüfung. Green! Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass es sich nur um ein normales Familientreffen handelt?“ Nur ein normales Familientreffen? Wenn Grey die Wahrheit sprach und es tatsächlich ein ganz normales Beisammensein der Familie war, warum war Grey dann so erpicht darauf, dass Green alle möglichen Daten über die Hikari auswendig lernen sollte? Beharrlich behauptete ihr Bruder, dass es nur deshalb notwendig war, die Daten und die Hintergründe der wichtigsten Hikari zu kennen, damit sie wisse, mit wem sie sprach, aber so ganz überzeugte Green dieses Argument nicht, denn dafür war ihr Bruder viel zu verbissen bei der Sache. Es genügte ihm nämlich nicht, dass sie die Namen dieser Hikari kannte, nein, sie musste auch noch die Geburts- und Sterbedaten wissen und am besten auswendig sagen können, wie sie zu Tode gekommen waren – und das, obwohl der Name alleine schon schwer genug zu behalten war. Ihren eigenen konnte sie sich knapp noch merken. Obendrein versuchte Grey verzweifelt, Greens Allgemeinwissen über die Gesellschaft der Wächter gedeihen zu lassen, welches natürlich momentan noch sehr begrenzt war. Vor kurzem hatte er sie über das Rangsystem der Wächter aufgeklärt, in welches die Wächter nach deren Können, Talent und Taten eingestuft wurden. Der beste Rang war der erste, dann der zweite und zu guter Letzt folgte der dritte Rang, auf welchem sich die wenigsten befanden, da alle Wächter danach streben würden, den ersten Rang zu erreichen, was er mit einem strengen Blick erklärt hatte, was ihr wohl sagen sollte, dass sie ebenfalls danach streben sollte, schnellstens aufzusteigen, denn es war wohl überaus unnormal, wenn eine Hikari wie sie mit 16 Jahren noch den dritten Rang besaß. Ihre Mutter, wie Grey mit einem Strahlen in den Augen gesagt hatte, hatte bereits mit nur vier Jahren den ersten Rang erhalten und hielt damit auch den Rekord. Grey hatte natürlich damit gerechnet, dass diese Worte seine Schwester anspornen würden, schnell besser zu werden, doch stattdessen hatte sie frech gegrinst und gemeint, dass sie dann ja ebenfalls einen Rekord hielt. Nicht gerade die Reaktion, welche Grey gehofft hatte, weshalb er auch keine Antwort gefunden hatte, doch sein Blick hatte mehr als tausend Worte gesagt. Er hatte sich deswegen vorgenommen, sie so schnell wie möglich auf den zweiten Rang zu bekommen. „Gut, gut, dann ist es eben nur ein normales Familientreffen, bei dem ich mit einem Haufen Geistern Tee trinken werde. Soll ich mir das eigentlich so vorstellen wie in den Filmen? Kann ich durch sie hindurch fassen?“   „Green!?“, entfuhr es Grey entsetzt alleine bei dem Gedanken, Green könnte auf so eine Idee kommen, weshalb er sich auch beeilte, den Mund zu öffnen, um sie schnellstens darüber aufzuklären, dass sie durch niemanden im Jenseits hindurchgreifen könne und dass sie es doch bitte auch nicht versuchen solle, doch Green kam ihm zu vor: „Ich werde mich dann auch mal wieder umziehen, denn, du weißt, die Christmas-Party.“ Sofort schlug der Gesichtsausdruck des Angesprochenen um, als er verbissen nickte und sich nun doch dazu entschied, nichts zu sagen. „Und du bist dir sicher, dass du wirklich nicht mitkommen willst? Dann könntest du Sibi und Gary endlich mal kennenlernen … Sie sind wirklich nicht so, wie du sie dir vorstellst!“ „Nein, danke. Ich lege keinen Wert darauf, mit Wesen wie ihnen zu … kommunizieren“, sagte er mit finsterer Miene. Es würde sicherlich sowieso irgendwann dazu kommen und diesen Moment wollte er so lange wie möglich hinauszögern. „Ich kann Green-chan nur zustimmen!“, schrie Pink plötzlich dazwischen, welche sich bis jetzt ruhig verhalten hatte, da sie wohl weiterhin zu beschäftigt mit dem Essen gewesen war. „Ich habe auch zuerst gedacht, dass sie ganz böse sind, aber sie sind eigentlich ganz lieb!“  Verwundert wandte Grey sich zu Pink herum und auch Green musste sagen, dass sie einen Augenblick lang verwundert war; zwar hatte Pink sich seit deren gemeinsamem Kampf nicht mehr negativ über die beiden oder deren Zusammensein geäußert, aber sie die beiden direkt verteidigen zu hören war doch irgendwie überraschend. „Bei unserem letzten großen Kampf hat Sibi sein Leben sogar für uns aufs Spiel gesetzt“, fügte Green hinzu, nun da sie Unterstützung von Pink erhielt. „Ich habe nie behauptet, dass sie keine guten Schauspieler wären.“ „Wie willst du das behaupten können, wenn du sie noch nie gesehen hast?“ „Sie sind Dämonen …“ „Du kannst doch nicht alle über den gleichen Kamm scheren!“ „Ich denke, die Erfahrungen durch die Geschichte sprechen für sich.“ „Du bist ein ganz schöner Rassist.“ Das verschlug Grey für einen kurzen Augenblick die Sprache und es war nur allzu deutlich, dass er mit dieser Bezeichnung nicht gerechnet hatte; er taumelte sogar ein paar Schritte rückwärts, als könnte er nicht glauben, dass sie ihn eben als einen Rassisten beschimpft hatte. Pink schien keine Ahnung zu haben, was dieses Wort bedeutete, doch den Klang der Bezeichnung fand sie wohl witzig, denn sie hatte begonnen, es im Singsang zu singen, bis Grey sie sanft zurechtwies und sich dann um einiges ruhiger wieder Green zuwandte: „Würdest du mich so nennen, wenn ich mich negativ über Ratten äußern würde?“ Green verschränkte die Arme über der Brust und beugte sich mit skeptischen Augen leicht vor: „Jetzt vergleichst du sie mit Ratten?“ „Sie vermehren sich auf jeden Fall wie solche.“ Einen kurzen Moment schwiegen sich die beiden Geschwister an; beide nicht gewillt, von ihrem Standpunkt zu weichen, bis Green tief seufzte und ihre Schultertasche packte: „Ich glaube, ich gehe dann mal. Pink, kommst du?“ Und schon war mal wieder ein Treffen der beiden Geschwister nicht gut verlaufen, weshalb Grey noch eine ganze Weile missvergnügt dort stehen blieb, wo Green ihn stehen gelassen hatte, bis zu dem Moment, in welchem sich Ryô an ihn wandte, während er und seine Schwester den Tisch abräumten: „Grey-sama, ich mag mich irren, doch … so sehr ich Ihnen auch zustimme, ich glaube, das ist nicht der rechte Weg, um die Sympathie ihrer kleinen Schwester zu erlangen.“       Gleich nach dem weniger erfolgreichen Treffen und nachdem das neue Kleid achtlos auf dem Bett Greens landete, machte diese sich mit Pink sofort auf zu Sho, wo Green bereits fieberhaft erwartet und sofort in die Küche geschleppt wurde – es gäbe immerhin einiges zu tun. Und das schien keine Untertreibung gewesen zu sein, denn als die beiden Dämonenbrüder pünktlich um 16 Uhr ankamen, war Green immer noch in der Küche tätig. Es war daher Sho, die den Brüdern die Tür öffnete, nachdem Siberu sein Spiegelbild in seinem Handspiegel überprüft hatte – er hatte immerhin heute Abend eine Mission. „Hast du Zuhause nicht schon genug Zeit vor dem Spiegel verbracht?“, fragte Gary mit erhobenen Augenbrauen, als er die Klingel betätigt hatte. „Wenn es um die Eroberung einer Frau geht, kann man sein Aussehen gar nicht oft genug überprüfen, weißt du das denn nicht?“ Gary himmelte mit den Augen, während Siberu es noch gelang, ein wenig an seinem Pony herumzuzupfen, ehe die Tür sich öffnete – und Gary komplett ignoriert wurde, denn Sho hatte nur Augen für Siberu, welcher galant und ohne dass sie es mitbekam seinen Spiegel hatte verschwinden lassen. „Siberu-kun! Wie gut du heute Abend aussiehst! Komm rein, komm rein!“ Und schon nahm sie den sehr von sich selbst überzeugten Siberu an den Arm und führte ihn hinein. Gary hatte sie nicht beachtet, weshalb er sich selbst erlaubte, hineinzugehen. Doch kaum dass die Haustür hinter ihnen zugefallen war, wurden Shos Pläne auch schon durchkreuzt, denn Greens Stimme war aus der Küche zu hören: „Sho! Du wirst mir jetzt gefälligst mal helfen!“ Obwohl Greens Stimme recht wütend war und Gary und Siberu sich bereits unsichere Blicke zuwarfen, lachte Sho nur darüber, nahm es aber anscheinend trotzdem ernst, denn sie löste sich von Siberu mit den Worten, dass sie sicherlich selbst den Weg in die Stube finden würden. „Bin ja schon da, bin ja schon da!“, trällerte sie daraufhin und verschwand in der Küche, womit sie die beiden Brüder alleine zurückließ, welche sich erst einmal umsahen in dem beinahe nach Geld riechenden Haus. Es war ein modernes Haus, eindeutig aus der Feder eines kreativen, doch minimalistischen Architekten; Siberu und Gary befanden sich momentan in einem geräumigen Gang ausgelegt mit Parkettboden, welcher in einen runden Raum mündete, wo eine große Treppe hinaufführte in das erste Stockwerk; wahrscheinlich zu den privaten Zimmern, wie Gary vermutete. Hinter der Treppe befand sich eine Glastür, die hinausführte in einen Wintergarten und zu ihrer rechten lag das Wohnzimmer, nicht durch eine Tür verbunden mit dem Gang, sondern mit einem Torbogen. „Mach hier bloß nichts kaputt, Silver“, raunte Gary seinem Bruder mit einem Seitenwink zu einer hohen schlanken Blumenvase zu, bestückt mit einer einzelnen rosafarbenen Rose. „Ich werde mich hüten!“, erwiderte der kleine Bruder und machte sich auf in die Stube. Anscheinend waren sie die ersten Besucher des heutigen Abends, denn sie waren allein in dem gemütlichen Wohnzimmer, in dem bereits ein langer Esstisch gedeckt war; und gleich daneben stand ein großer, aufwendig dekorierter Tannenbaum, über welchen Gary sich wunderte: einen Tannenbaum aufzustellen war nun doch eine extremste westliche Tradition und nicht asiatische? Sie gingen ganz schön weit… Siberu interessierte sich anscheinend herzlich wenig dafür, ob der Baum nun angebracht war oder nicht: ganz offensichtlich war er begeistert von dem leuchtenden Baum, denn in zwei Schritten stand er vor ihm, was Gary für einen Augenblick verblüfft aussehen ließ, bis er sich mit einem leichten Lächeln neben den strahlenden Siberu gesellte. Unter all dem Gespielten war er einfach nur ein normales Kind, welches sich über einen geschmückten Baum freute – und irgendwie erleichterte dieser Anblick Gary.      Tinami, Ilang und Daichi kamen gleichzeitig eine Stunde später an und das war auch das erste Mal, dass Green die Küche verließ; nun eindeutig gelassener, da der Großteil der Arbeit bereits getan war. Es ging ihr jedoch weniger darum, die anderen drei Gäste persönlich zu begrüßen, als mit eigenen Augen sehen zu wollen, wie sie sich Siberu und Gary als Halbdämonen gegenüber verhielten. Die Feindseligkeit, die Grey den beiden gegenüber empfand, teilten sie offensichtlich nicht; oder sie waren alle drei gut darin, es zu verbergen, denn es war nichts von Feindschaft zu spüren, als sie sich gegenseitig begrüßten, was Green unheimlich freute. Als Gary und Ilang sich die Hände reichten, musste Tinami lachen: „Ich bin mir sicher, wenn andere das hier wüssten, dann würden wir in die Geschichte eingehen!“ Bei dieser Gelegenheit stellte sich auch der kleine Bruder Ilangs vor; ein kleiner, schüchtern wirkender Junge, der seiner Schwester nicht nur in puncto Aussehen sehr ähnlich war, sondern scheinbar auch dasselbe ruhige Gemüt wie sie hatte. Genau wie es schon die anderen Wächter vor ihm getan hatten, verbeugte er sich ebenfalls vor Green; allerdings sehr hastig und seine Stimme war auch nicht sonderlich gefestigt, als er sich vorstellte: „Mein Name ist Daichi Shizen Ling, ich… bin Offizier der Natur und habe den zweiten Rang. E-Erfreut, Euch kennenzulernen, Hikari-sama!“ Hastig winkte Green mit der Hand ab und beteuerte ihm, dass er sie doch bei ihrem Vornamen nennen durfte. Überrascht sahen Daichis hellgrüne Augen sie an, ehe er sich verwirrt an seine große Schwester richtete: „Darf ich denn das, Onee-sama?“ Es war jedoch nicht Ilang, die ihm antwortete, sondern Tinami, die scherzend den Arm um Greens Schulter legte und Daichi aufklärte: „Ee-chan hat Halbdämonen als Freunde und will, dass wir sie bei ihrem Vornahmen nennen. Du siehst also, Ichi-kun, unsere Ee-chan ist eine ganz außergewöhnliche Hikari!“ Green konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendwie spürte sie eine unheimliche Freude in sich – und es war gewiss nicht, weil Tinami sie so ohne weiteres umarmt hatte. Es waren ihre Worte; es war das Verständnis dafür, dass sie anders war und dass sie nicht versuchen würde, an ihr herumzufeilen so wie Grey es versuchte. Warum konnte er es nicht genauso akzeptieren wie Tinami und nun auch die beiden Geschwister? Sie nannte nun einmal zwei Dämonen ihre Freunde… warum konnte er das nicht genauso verstehen? „Sie sind fertig!“, ertönte auf einmal Pinks hohe Stimme aus der Küche und schon kam sie mit einem dampfenden, nicht gerade wohlriechenden Tablett angerannt und stellte sich strahlend mit ihrem von Kakaopulver gesprenkelten Gesichtchen dazu. „Ich habe Plätzchen gebacken! Ihr müsst sie unbedingt probieren!“ Alle Anwesenden hatten wohl den gleichen Gedanken, als sie die sehr dunklen Plätzchen auf Pinks Blech ansahen: war das essbar? „Oh! Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen! Ich bin Pink und das…“ Sie machte ein eifriges Kopfnicken zu dem HelloKitty-Plüschtier in ihrem Rucksack und stellte auch dieses vor: „…. Ist HelloKitty-chan! Wir freuen uns sehr, euch alle kennenzulernen! Probiert doch!“ Siberu und Gary warfen Green unsichere Blicke zu, so als würden sie ihr sagen wollen, dass Green Pink doch bitte darüber aufklären solle, dass man diese Plätzchen unmöglich essen könne, doch Green wusste nicht recht, wie sie es Pink beibringen sollte. Während der gesamten Zeit, in der sie das Weihnachtsessen vorbereitet und Pink ihr in der Küche Gesellschaft geleistet hatte, hatte sie an diesem Gebäck gearbeitet und es hatte eigentlich auch ganz gut ausgesehen… bis Green die Küche verlassen hatte. Wie hatte ihre Cousine die Plätzchen in so kurzer Zeit so verhauen können? „Ich… nehme einen. W-Wenn ich denn darf?“ Alle sahen verblüfft zu Daichi, als könnten sie nicht glauben, was er da gerade tat – und Siberu war der erste, der breit grinsend verstand, warum der kleine Wächter der Natur so todesmutig war. Daichi starrte Pink so verblüfft an, als wäre sie ein leibhaftiger Weihnachtsengel und als diese sich ihm strahlend zuwandte, kontrastierte sein rotes Gesicht plötzlich mit seinen grünen Haaren. „Aber natürlich darfst du! Willst du gleich zwei…uhm…?“ „D-Daichi. Daichi Shizen Ling“, antwortete er und es war nur allzu deutlich, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um seine Schüchternheit herunterzuschlucken. „Daichi-kun also! Hier, du kannst gleich drei haben! Oder willst du mehr? Aber du musst Hellokitty-chan was abgeben – das habe ich ihm versprochen.“ „Ich habe immer angenommen, Hellokitty wäre… weiblich?“ „Nein nein! Seine Stimme ist doch eindeutig männlich!“ Und dann packte sie den hochroten Daichi an der Hand und führte ihn in die Stube, gefolgt von der lachenden Tinami und der besorgten, aber auch verwirrten Ilang. Kaum dass sie in der Stube verschwunden waren, konnte nicht einmal Gary einen Kommentar unterdrücken: „Wo die Liebe hinfällt…“ Grinsend wandte Siberu sich an seinen großen Bruder und pikste ihm mit seinem Ellbogen in die Seite: „Na, Aniki, eifersüchtig?“ Weder den Satz noch den hochgezogenen Schielblick Garys bemerkte Green, die genau wie die anderen beiden Pink und Daichi erstaunt hinterher geblickt hatte, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gesehen hatte. Doch Siberu weckte sie aus ihren Gedanken: „Apropos Liebe!“ Und schon hatte er den Arm um Greens Schulter gelegt und fuhr fort, ohne auf den skeptischen Blick der Hikari zu achten: „Green-chan, zuerst einmal muss ich sagen, dass du unheimlich hübsch aussiehst heute Abend; dieses weihnachtliche Outfit hat dir Sho geliehen, nicht wahr? Du siehst fabelhaft aus! Ich muss allerdings beichten, dass ich meine Aufmerksamkeit heute nicht nur gänzlich dir widmen kann, denn heute gilt es, das Herz Firey-sans zu erobern! Aber keine Sorge, Green-chan, du wirst immer an erster Stelle stehen; immer, das verspreche ich dir und ich hoffe du verzeihst mir, dass ich mich heute Abend einem anderen Mädchen widmen werde.“ Halb belustigt, halb mit himmelnden Augen grinste Green den Rotschopf an und erwiderte: „Sibi, das ist wirklich eine unheimlich traurige Nachricht, aaaber ich glaube, ich überlebe es.“ „Morgen, Green-chan, sind alle meine fünf Sinne wieder einzig und alleine auf dich gerichtet.“ „Gut, das freut mich“, antwortete Green ironisch und befreite sich aus dem Griff Siberus mit den Worten, dass sie zurück in die Küche müsse; sie müsse immerhin acht Leute versorgen. Sie hatte sich bereits herumgedreht und daher bemerkte sie nicht, wie Siberu plötzlich sämtliche Farbe verlor. „Es scheinen neun Personen zu werden“, sagte Gary plötzlich und verwirrte somit Green, welche jedoch noch verwirrter wurde, als sie sich wieder herumwandte.  „Silver-samaaaaaaaaaaaaaaa!“ Aus dem heiteren Himmel war ein Mädchen aufgetaucht und auf den ersten Blick erkannte Green bereits, dass dieses Mädchen hier in dieser Welt nicht hingehörte. Ihre knallgrünen Zöpfe wirbelten um sie herum und sie schien nichts anderes zu sehen als Siberu, auf den sie zustürmte und wenn sich Green nicht täuschte, waren ihre großen, pinken, unmenschlich aussehenden Augen mit Wasser gefüllt. Sie trug für die Jahreszeit sehr unpassende Kleidung, über deren Freizügigkeit Green sich sehr wunderte – doch sobald das Mädchen den Mund öffnete, wunderte die Hikari sich nicht mehr über ihr Aussehen, da ihre schrille Stimme und ihre Worte ihr eigenartiges Aussehen in den Schatten stellten:   „Silver-sama! Wie sehr habe ich Euch vermisst! Endlich, endlich sehen wir uns wieder! Ihr seid so plötzlich abgereist und niemand wollte mir sagen, wo Ihr wart! Ich habe so auf Euch gewartet! Wie konntet Ihr mich nur so lange alleine lassen?!“ Mit diesen Worten hatte das eigenartige Mädchen sich um den Hals des völlig schockierten Siberus geworfen und diesen in innerhalb von drei Sekunden zu Fall gebracht – was sie nicht davon abhielt, sich an ihn zu schmiegen und zu knuddeln, ehe sie kurz innehielt, als ob ihr ein Licht aufgegangen war: „Jetzt verstehe ich! Das ganze war eine Prüfung für mich: Eine Prüfung, um mein Verlangen für Euch auf die Probe zu stellen! OH SILVER-SAMA! Seid Euch versichert, ich, Rui, Eure treue immer da seiende Untergebene gelobe Euch, dass mein Verlangen für Euch stets innig war, also zweifelt nicht an mir und meinen Gefühlen!“ Es war Siberu unmöglich, etwas auf diese berauschte Liebeserklärung zu antworten, denn sie hatte sich wieder auf ihn gestürzt und ihre um seinen Hals geschlungenen Arme raubten ihm die Luft; ein Spektakel, welches Green mit ungläubigen Augen anstarrte: was zur Hölle war hier eigentlich los? Wer war das und was redete sie für einen Schwachsinn?! „Oh und Ihr seht heute wieder absolut atemberaubend aus…“ „Das ist Rui“, erklärte Gary, als hätte er Greens Gedanken gelesen und erklärte weiterhin: „Sie nennt sich selbst Silvers „Untergebene“ und sollte eigentlich nicht hier sein…“  „… und wie ich sehe und fühle benutzt Ihr ein neues Shampoo für Eure Haare! Oh es riecht so gut!“   „Sie ist wohl eher sein Fangirl.“ Gary überlegte kurz, dann antwortete er: „Nein, ich würde sagen, dass sie etwas weitaus Schlimmeres ist.“ „Rui! Los…-lassen!“, keuchte der zu Boden genagelte Siberu, doch Rui schien nicht zu hören; stattdessen beteuerte sie ihm weiterhin, wie sehr sie ihn vermisst hatte und wie lange sie sich nicht gesehen hatten, während sie ihn unter die Lupe nahm und ihn mit Komplimenten überhäufte – es war daher Gary, der eingriff, um seinen Bruder vor der Erstickung zu retten. „Ich denke, es reicht jetzt, Rui. Ansonsten bringst du ihn noch um.“ Da er davon ausging, dass Worte keinen Sinn haben würden, hatte er bereits die Hand ausgestreckt, um Rui von seinem Bruder wegzuzerren, doch als hätte sie Garys Vorhaben erspürt, richtete Rui sich von selbst auf und blickte Gary feindselig entgegen, obwohl er ihr definitiv nichts getan hatte. Siberu war dieser Blick und eigentlich alles andere egal; das einzige, was für ihn wichtig war, war, dass er diese Gelegenheit nutzen konnte, um sich von Rui zu lösen. Komplimente waren zwar immer schön zu hören, aber Rui schlug eindeutig über die Stränge.   Anstatt Gary allerdings irgendetwas zu sagen, bemerkte sie nun ganz offensichtlich Green, die sie plötzlich ziemlich interessant zu finden schien. Skeptisch verengten sich ihre Augen, als sie einen prüfenden Blick über Greens Körper fahren ließ und nachdenklich legte sie den Kopf schief, offensichtlich missvergnügt über das, was sie sah, warf dann einen Blick zu Siberu und dann wieder zurück zu Green – dann schien irgendetwas „Klick“ zu machen, denn von einem Moment auf den anderen stand sie plötzlich genau vor Green, als hätte sie noch nie etwas von Privatsphäre gehört. „Bild dir bloß nichts auf deinen Körper ein“, begann sie mit schneidender Stimme, als wäre dies eine Morddrohung: „Silver-sama musste, während ich nicht bei ihm sein konnte, einen Ersatz für mich finden – und das verzeihe ich Euch natürlich! – und da hattest du großes Glück, dass seine Wahl auf dich fiel. Du solltest dich geehrt fühlen, aber jetzt ist hier kein Platz mehr für dich!“ Green war sprachlos; sie konnte Ruis Gedankengänge absolut nicht nachvollziehen und so war sie nicht in der Lage, auf eine schlagfertige Antwort zu kommen – doch scheinbar interessierte sich Rui auch gar nicht für eine Antwort, denn schon hatte sie sich umgewandt und richtete ihr Wort wieder an Siberu, welcher sich unauffällig neben den genervten Gary gestellt hatte, parat, sich hinter ihm zu verstecken: „Silver-sama, Ihr habt mein Mitleid! Aber nun hat Euer Leid ein Ende gefunden!“ „Welches Leid denn?“ Diesen Einwurf Siberus überhörte sie offensichtlich, denn sie hatte sich ein weiteres Mal Green zugedreht und dieses Mal machte sich Gary bereits dazu bereit, einzugreifen; er hatte schon oft genug bewiesen bekommen, dass Rui vor keinerlei Methoden zurückschreckte – besonders dann nicht, wenn sie sich in etwas hineingesteigert hatte und das tat sie, wenn es sich um Siberu handelte, unheimlich oft. Doch obwohl Ruis erster, prüfender Blick recht ausführlich gewesen war, sah sie erst jetzt etwas, das sie erbleichen ließ: das Glöckchen auf Greens Brust. „Du… bist doch nicht etwa… die Hikari?“ Argwöhnisch verschränkte Green die Arme vor ihrer Brust und beugte sich herausfordernd vor, wodurch Rui dazu gezwungen war, zurückzuweichen. „Und wenn es so wäre?“ Dann herrschte Schweigen. Ein langes Schweigen, durch welches Ruis Augen mit jeder verstrichener Sekunde größer zu werden schien – bis sie sich plötzlich ein weiteres Mal auf Siberu stürzte, einem so plötzlichen Angriff gleich, dass auch Gary ihn nicht hätte abwehren können: „Silver-sama! Geht es Euch gut!? Habt Ihr Schmerzen?! Ist es etwa Lichtintus!? Hat sie Euch etwas getan!? Ich werde Euch retten und Euch von Ihrem schrecklichen Einfluss befrei-“ Ruis Ausschweifung wurde jäh unterbrochen und zwar von Siberu selbst, der das aufdringliche Mädchen hastig von sich wegschob, denn in diesem Moment hatte sich die Haustür geöffnet und da alle Gäste bereits gekommen waren, konnte es sich nur um Sho handeln, die ihre Schwester abgeholt hatte – und Siberu hatte sich definitiv zu lange auf diesen Abend vorbereitet, um sich seine Eroberungspläne von Rui vermiesen zu lassen. Und tatsächlich; es war Sho und in ihrem Schlepptau hatte sie den letzten Gast dieser Weihnachtsparty. Genau wie von Siberu erwartet und erhofft hatte sie die gleichen roten Haare wie ihre große Schwester: Sie waren jedoch um einiges länger und zusammengebunden in einem geübten Zopf, welcher ihr fast bis zu den Knien reichte. Doch dann erstarrte Siberu plötzlich und sämtliche Lobeshymnen in seinem Kopf verstummten, denn… die Haarfarbe war das einzige, was das Mädchen mit ihrer wahrlich gutaussehenden Schwester gemein hatte. Sie war von geringer Größe; sicherlich einen halben Kopf kleiner als Green und… nein, das weigerte sich Siberu zu glauben, nicht nach all den Hoffnungen, die er sich gemacht hatte, aber an ihrem Körper war nichts, absolut nichts, was irgendwie „feurig“ war. Die Tatsache, dass sie und Rui den gleichen flachen Oberkörper hatten, ließ Siberu zu einer enttäuschten Salzstatue erstarren. „Firey!“ „Green!“ Und der Unterschied wurde nur noch deutlicher, als die beiden glücklichen Mädchen sich stürmisch umarmten. Wie hatte sich Siberu nur so von einem Namen irreführen lassen? An diesem Mädchen war überhaupt nichts attraktiv; geschweige denn „heiß“ wie ihr Name vermuten ließ! Hätte sie nicht diesen langen Zopf und er nicht vorher gewusst, dass es sich bei ihr um ein Mädchen handelte, dann wäre sie auch noch als Junge durchgegangen – Rui kleidete sich ja wenigstens noch weiblich, auch wenn ihr Körper dafür nicht ausgelegt war. Firey allerdings – Siberu wollte nicht einmal diesen absolut trügerischen Namen in seinen Gedanken benutzen – kleidete sich wie ein nicht auf sein Aussehen achtender Junge: Ihre braune Hose betonte nichts - wahrscheinlich war auch nichts da, was betont werden könnte - und ihr gestreifter Kapuzenpullover machte das Gesamtbild auch nicht gerade besser. Siberu kam daher zum Schluss, dass sie ein „Tomboy“ sein musste – und… war das ein Köcher da auf ihrem Rücken? „Womit habe ich das nur verdient…“, jammerte Siberu und sah von dem fröhlich mit Green redenden… Möchtegern-Mädchen zu dem anderem, welches Abstand von ihm genommen hatte, ihn aber noch von Weitem mit den Augen aufzusaugen schien und überhaupt nicht darauf achtete, dass Sho sie skeptisch beäugte. Siberu entschied sich dafür, dass er das ganze einfach als unschöne Episode abschließen würde und die für sie geplante Aufmerksamkeit wieder ganz Green zukommen lassen würde. Aber erst einmal musste er Rui wieder loswerden. „Green, du hast dich ja wirklich total verändert“, begann Firey, als die beiden Mädchen sich wieder voneinander trennten und sich erst einmal genauer ansahen: „Und das in nur so kurzer Zeit! Wir haben uns doch letzten Sommer beim Familientreffen gesehen, aber…“ Firey legte den Kopf ein wenig schief, ganz als könne sie nicht genau festlegen, was es war, das sich bei Green so verändert hatte. „… irgendwie strahlst du jetzt richtig.“ Zuerst war Green ein wenig über diese Aussage überrascht, denn es war richtig, dass es nur ein paar Monate her war, dass sie sich gesehen hatten, doch dann konnte sie nicht anders, als breit zu lächeln, da sie ganz offensichtlich von den Worten Fireys geschmeichelt war. Es war natürlich auch ziemlich viel passiert in eben diesen Monaten, aber dass sie auf andere direkt strahlend wirkte? Einen verstohlenen Blick warf sie zu Gary und Siberu und fragte sich für einen kleinen Moment, ob es wohl… „Ich muss dir unbedingt jemanden vorstellen“, meinte Green dann plötzlich und wandte sich samt Firey nun zu den beiden Brüdern herum, dabei ein wenig über Siberus missgelaunten Blick grinsend, denn ihr war natürlich klar gewesen, dass er sich mit seinen Vorstellungen in eine Sackgasse verrannt hatte. „Das hier ist Gary Ookido.“ „Ookido?“, fragte Firey überrascht, nachdem Gary sie höflich begrüßt hatte: „Bist du dann nicht der Klassenstreber? Ich dachte, ihr beiden mochtet euch nicht?“ Und wie auf Kommando sahen sowohl Gary als auch Green verstohlen in eine andere Richtung, was Siberu mit hochgezogenen Augenbrauen kommentierte, während Sho breit grinste und Rui offensichtlich glaubte, sie wäre im falschen Film. „Naja, einige Dinge haben sich dann irgendwie… geändert“, sagte Green und musste dabei daran denken, wie oft sie sich tatsächlich bei Firey über Gary beschwert hatte: kein Wunder, dass Firey sich wunderte, denn diese Äußerungen standen fast schon im krassen Gegensatz zu der Art, wie sie jetzt mit Gary umging. „Dem kann ich nur zustimmen“, ergänzte Gary als Versuch, seine gewohnte Sachlichkeit zurückzuerlangen, allerdings aus einem anderen Grund als der, den Green annahm: er dachte vordergründig an die Dinge, die deren Beziehung verändert hatten. Mit anderen Worten: eben die Dinge, die ein Mensch wie Firey nicht erfahren sollte. „Und das ist Garys kleiner Bruder, Siberu.“ Kaum dass Firey Siberu auch nur gesehen hatte, wurden ihre Wangen rot und genau wie Green und Gary es vor einem Moment noch getan hatten, flohen auch ihre Augen vor Siberus Blick und bemerkten dabei nicht, wie abschätzend dieser geworden war. Er hatte nicht einmal den Mund aufgemacht und sie wurde schon rot?  „Für dich Nakayama.“ Der überaus kalte Tonfall mit dem diese Worte gesagt wurden, brachte sofort Schweigen in die Runde: Es war zwar deutlich, dass Siberu enttäuscht darüber war, dass Firey seinen Vorstellungen nicht gerecht wurde, aber dass er ihr direkt feindselig gegenüber war, überraschte sowohl Green als auch Gary, welcher Siberu sofort einen ermahnenden Blick zusandte, als wollte er mehr Höflichkeit von ihm verlangen. Der Rotschopf verstand den Blick seines Bruders natürlich und erwiderte bitter: „Glaubst du, ich habe Lust auf noch ein flaches Fangirl? Nein, danke. Also nehme ich ihr die Luft aus den Segeln, bevor es für mich zu spät ist.“ Dann wandte er sich umgehend wieder Firey zu: „Du bist also Shos Schwester? Ihr seht euch nämlich nicht besonders ähnlich. Besonders so oben herum nicht.“ Er unterbrach sich selbst, um eine abwertende Bewegung in Richtung von Fireys Oberkörper zu machen, welche ihn allerdings nur entgeistert anstarrte, genau wie Green, die ganz vergessen hatte, wie gemein Siberu hinter der ganzen Süßholzraspelei sein konnte. Rui dagegen schmachtete weiter. „Warum ist dein Spitzname eigentlich „Firey“? Besonders heiß siehst du ja nicht gerade aus und du hast dir Hoffnungen gemacht? Oder woher stammte diese verräterische Röte da gerade?  Herzklopfen, was? Vergiss es, Flachbrett. Ich spiele in einer ganz anderen Liga.“ Sowohl Green als auch Gary wollten Siberu gerade empört aufhalten und ihn wahrscheinlich zu einer Entschuldigung bringen, doch dann erklärte sich Fireys Spitzname plötzlich, weshalb Sho auch nichts getan hatte, um ihrer Schwester beizustehen. Denn sie wusste, weshalb Firey ihren Spitznamen trug: nicht wegen Äußerlichkeiten, sondern wegen ihres Temperaments – was sie sah, verschlug allerdings auch ihr die Sprache.  Angestachelt von Siberus beleidigenden Worten hatte Firey wütend mit der Hand ausgeholt, die Finger auseinander gespreizt, um ihm eine gehörige Ohrfeige zu verpassen, doch Siberu war zu schnell, um sich von der Ohrfeige eines menschlichen Mädchens treffen zu lassen… allerdings war da etwas gänzlich Unmenschliches an dieser Ohrfeige, was ihn doch für einen Augenblick überaus ängstlich aussehen ließ. Ihre Hand brannte. Nicht im übertragenen Sinne, sondern im absolut buchstäblichen Sinne stand Fireys Hand in Flammen, weshalb alle Anwesenden Firey fassungslos anstarrten, ebenso wie Siberu, welcher hastig überprüfte, ob seine Haare nicht bei dieser überraschenden Attacke beschädigt worden waren. Firey schien den im Raum schwebenden Schock nicht zu spüren, dessen Ursache sie war; sie sah nur den vor sich stehenden Rotschopf – und damit waren es zwei Rotschöpfe, welche sich feindselig anfunkelten wie zwei rivalisierende Tiere. „Mit welchem Recht beleidigst du mich, obwohl wir uns gar nicht kennen?!“ „Und mit welchem Recht steckst du mich in Brand?!“ „In Brand? Was zur Hölle redest du da?“, erwiderte Firey sichtlich verwirrt, welche jedoch beiseite geschoben wurde, als eine besorgte Rui sich ruppig zwischen sie drängte und als wäre Siberu tödlich verletzt, tastete sie erst einmal seinen Oberkörper ab –doch sobald sie sicher gegangen war, dass es ihrem Angebeteten gut ging, galt ihre schrille Stimme einzig und allein Firey: „Du brutales Weibsstück! Wie konntest du es wagen, Silver-sama zu schlagen?! Ist dir nicht klar, dass du seine Haare hättest verbrennen können?! Oder noch schlimmer! Mit einer Brandwunde sein Gesicht entstellt hättest! Was dann? Was dann?!“ Doch keiner hörte Ruis aufgebrachte Worte, am allerwenigsten Firey. Zuerst hatte sie Siberus Worten nicht geglaubt, doch als sie bemerkte, dass er nicht der einzige war, der sie anstarrte, als hätte sie gerade ein Wunder vollbracht, bemerkte auch sie plötzlich, dass die Hand, mit der sie Siberu hatte schlagen wollen, tatsächlich um einiges wärmer war als die andere Hand. Doch es gelang niemandem, irgendwelche Fragen zu stellen oder Rui davon abzubringen, Siberu zu erwürgen, denn plötzlich ging Sho bewusstlos zu Boden und hinter ihr tauchte eine neckisch salutierende Tinami auf: „Ich entschuldige mich für mein non-verbales Eingreifen, doch ich dachte mir, es wäre besser, sie schlafen zu legen.“ Und schon schritt sie unverfroren auf Firey zu und ergriff die warme Hand, welche die Besitzerin eben noch angestarrt hatte und schüttelte diese kräftig: „Ich bin wirklich überaus erfreut, unsere Elementarwächterin des Feuers kennenzulernen – und die Hikari werden noch viel erfreuter sein, wenn ich ihnen von dir berichte!“        Fertiggestellt: 30.12.12                 Kapitel 17: Merry Christmas Teil 2 ---------------------------------- „Also, Fi-chan – ich darf dich doch so nennen, oder? – du weißt, was Dämonen sind?" Im Moment sah Firey nicht danach aus, dass sie überhaupt irgendetwas wusste. Vollkommen verdattert starrte sie die für sie völlig fremde Tinami an, die gerade ihre Schwester bewusstlos geschlagen hatte. Die Klimawächterin grinste einfach nur, während Siberu finster die Stirn gerunzelt hatte und versuchte, nicht auf Rui zu achten; Gary beobachtete die ganze Situation äußerst interessiert und auf Greens Gesicht zeigte sich Verwirrung. „Entschuldigen Sie ...“, begann Firey argwöhnisch, aber offensichtlich verunsichert: „... aber warum haben Sie gerade meine Schwester bewusstlos geschlagen?“ „Ach, warum denn so förmlich, Fi-chan? Du kannst mich ruhig duzen, kein Problem! Immerhin bist du ganz offensichtlich ebenfalls eine Elementarwächterin. Und von Elementarwächterin zu Elementarwächterin brauchst du nicht so höflich zu sein.“ Wenn möglich wurde das Stirnrunzeln von Firey nur noch größer, doch sie kam nicht dazu, ihren Zweifeln Luft zu machen, denn nun mischte sich Green aufgebracht ein: „Wie - was soll das heißen „von Elementarwächterin zu Elementarwächterin“? Firey ... Firey ist doch keine Wächterin! Firey ist ein ganz normaler Mensch; sie hat von dem Ganzen hier gar nichts mitbekommen, denn sie war in England!“ Tinami beachtete den energischen Tonfall ihrer Hikari nicht, sondern wandte sich wieder gelassen an die verwirrte Firey: „Oh, du warst in England?“ „Ich ... also ... ja, ich habe dort gelebt; ich ging dort zur Schule, aber ... was geht hier eigentlich vor?!“ Erst Fireys langsam verzweifelt klingender Ausruf brachte Tinami dazu, ein wenig ernster zu werden; zwar lächelte sie immer noch, aber es war ein weniger gelassenes Lächeln als zuvor. Doch antworten tat sie nicht sofort, sondern setzte zuerst Sho ab, welche bis zu diesem Zeitpunkt immer noch in den Armen Tinamis gelegen hatte. Erst als sie Sho auf den Boden gesetzt und gegen eine Wand gelehnt hatte, gab sie Fireys Verlangen nach und begann zu erklären: „Ee-chan hat recht: Du bist ein Mensch. Wir aber - Ee-chan, ich und drei weitere in diesem Haus - sind keine Menschen. Wir mögen euch ähnlich sehen, doch wir sind nicht wie ihr. Wir sind Wächter, denn in unserem Inneren, als ein Teil unserer Seele, lebt ein Element, welches uns Magie einsetzen lässt. Mein Element ist das des Klimas und Ee-chan …“ Tinami deutete mit einer schalkhaften Handbewegung auf die verdutzte Green: „… ist das Oberhaupt unserer Gesellschaft, denn sie trägt das Element des Lichtes in sich. Und sie ist auch der Grund, weshalb du womöglich jetzt gerade nicht mehr „nur“ als Mensch bezeichnet werden kannst.“ „Wie … was meinst du?“, wisperte Firey, den Blick aller auf sich ruhend, doch nur Tinami ansehend, die jedoch zu Green blickte und sie ansprach: „Dein Bruder wird dir bereits erzählt haben, dass unsere Feuerwächter im letzten Krieg ausgerottet wurden, oder, Ee-chan? Nun, es stimmt zwar, dass alle Feuerwächter vor 16 Jahren systematisch umgebracht wurden, aber es ist unmöglich, ein Element zu töten, denn Elemente suchen sich neue Träger … und wenn kein Feuerwächter mehr am Leben ist, dann nimmt das Element auch mit Menschen vorlieb, womit es ihnen die gleichen magischen Fähigkeiten verleiht wie einem Wächter. Ich gehe recht in der Annahme …“ Tinami sah nun abwechselnd zu Firey und Green: „… dass ihr euch lange nicht gesehen habt?“ Beide warfen sich einen verwirrten Blick zu, ehe Firey antwortete: „Das stimmt, Green und ich haben uns das letzte Mal …“ „… im Sommer gesehen, beim Familienurlaub in Kyoto.“ „Und dein Element wurde im September erweckt, nicht wahr, Ee-chan?“ Green nickte bejahend, was die Klimawächterin zu folgender Konklusion brachte: „Und jetzt habt ihr euch wiedergesehen! Dieses Wiedersehen weckte das in Fi-chan schlafende Element und machte sie zu unserer Elementarwächterin des Feuers, denn es hörte den Ruf des Lichtelementes.“ Schwungvoll wirbelte Tinami wieder zurück zu Firey, zwinkerte und schloss ihre Erklärung mit folgenden Worten ab: „Also willkommen im Team!“ Obwohl Tinamis Willkommensgruß freudig klang und die Erklärung einige Minuten in Anspruch genommen hatte, sah Firey nur noch verwirrter aus als vorher: „Das … das bedeutet also, ich … kann Magie einsetzen? Das mit meiner Hand … das war normal?“ Während Firey diese Frage gestellt hatte, hatte sie auf ihre rechte Hand gezeigt, fast so als wäre sie ein Fremdkörper. „Meine Güte, ja, verdammt!“, war es nun Siberu, der sich einmischte, nachdem er und die anderen beiden Dämonen der Erklärung Tinamis nur zugehört hatten. Gary natürlich überaus aufmerksam, als wäre er in der Schule gewesen; Rui und Siberu teilten eine Mischung von Langeweile und Genervtheit. „Bist du auch noch schwer von Begriff oder was? Die Erklärung war ja wohl eindeutig lang genug, um dich verstehen zu lassen, dass du kein Mensch mehr bist!“ Die Verwirrtheit verschwand sofort aus Fireys Gesicht; machte Platz für trotzige Wut. Doch anstatt diese an dem Rotschopf ihr gegenüber auszulassen, drehte sie sich zu Tinami und Green: „Und was ist das für einer?“ Die Wortwahl schien Siberu gar nicht zu gefallen, doch Tinami antwortete zuerst: „Das, Fi-chan, sind alle drei Dämonen. Unsere Feinde, die, die wir normalerweise bekämpfen.“ „Was wir aber nicht tun!“, ergänzte Green umgehend, was Tinami wieder zu einem Grinsen brachte: „Lass das mal nicht deine Familie hören, Ee-chan.“ „Aber … sie sehen irgendwie nicht nach Dämonen aus. Jedenfalls nicht so, wie ich mir Dämonen vorgestellt habe.“ Siberu und Rui schienen sofort beleidigt zu sein, doch Gary nahm es gelassen und erklärte: „Das liegt daran, Firey-san, dass wir alle drei Halbdämonen sind, daher wirken wir …“ „Und du siehst nicht aus wie eine Frau!“, schoss Siberu hervor und unterbrach die um einiges informativere Erklärung seines Bruders. Anstatt auf Gary einzugehen, sprang Firey auch sofort auf Siberus Beleidung an: „Es ist auch nicht so, dass ich wie eine Frau aussehen möchte!“ „Das könntest du auch gar nicht, selbst wenn du es versuchen würdest, Flachbrett!“ „Hieß es nicht gerade, Dämonen seien unsere Feinde?! Dann darf ich ihn ja auch angreifen!“ „Also, Fi-chan, deine Magie ist wahrscheinlich noch nicht einsatzbereit …“ Es waren jedoch nicht Tinamis kluge Worte, die Firey davon abhielten, Siberu zu braten und auch nicht Green, die, obwohl sie wütend auf Siberu war, ihn nicht gebraten sehen wollte, sondern Rui. Vehement hatte sie sich zwischen die sich finster anfunkelnden Firey und Siberu geschoben, um nun nicht weniger finster Firey anzufunkeln – der Blick der kleinen Dämonin war jedoch nicht nur finster, sondern beinahe hasserfüllt und ihre Stimme verriet, was auch ihr Gesicht aussagte: Sie hatte Firey zu ihrem Feind erklärt. „Du wirst es nicht wagen, Silver-sama auch nur ein weiteres seiner perfekten Haare zu verbrennen, du Furie! Wage es und ich verspreche dir einen langsamen Tod! Denn die einzige, die ihn anfassen darf, bin ich – und nur ich! Denn er gehört mir und ich teile nicht! Hast du mich verstanden, du-“ „Als ob ich Interesse an so jemandem wie Bakayama hätte! Du darfst diesen eingebildeten Kerl gerne behalten!“ „Bakayama?“ Siberu zwängte sich an Rui vorbei und nahm Firey mit zweifelnden Augen ins Visier: „Mein Nachname ist Nakayama! Ein N und kein B!“ „Wieso – mit B passt doch viel besser zu so einem wie dir, Bakayama!“[1] „Wie kannst du es wagen, so mit Silver-sama zu sprechen!“ „Jetzt reicht es aber!“ „Genau, Gary hat recht. Firey, so leid es mir tut, denn Sibi hat es gerade wirklich verdient-“ „Ich habe was?! G-Green-chan, hast du nicht gesehen, wie sie mich angegriffen hat!?“ „Doch, habe ich und das hast du auch verdient, denn das, was du eben gesagt hast, habe ich auch gehört.“ Ein weiterer giftiger Blick von Green ließ Siberu ängstlich und – wie Rui schockiert beobachtete – eingeschüchtert zusammenzucken. „Firey, ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber Sibi ist kein Feind. Gary und Sibi sind zwar Dämonen, dürfen aber nicht angegriffen werden, denn sie kämpfen auf unserer Seite!“, beendete Green ihren Satz mit einem triumphierenden Blick zu Rui. „Sie tun was?!“ Rui war es, die diese Aussage am empörtesten auffasste, doch auch Firey war eher negativ davon begeistert: „Warum ist so jemand wie Bakayama denn kein Feind? Ich dachte, Dämonen wären die Feinde der Wächter, oder habe ich da etwas falsch verstanden?“ Green konnte sehr gut verstehen, warum Firey Siberu zu ihrem Feind erklärt hatte, denn auch sie war wütend auf ihn – aber sie wusste, dass Siberu auch andere Seiten hatte, die ihn schon als „Freund“ qualifizierten; doch wie sollte sie das erklären, wenn sie ihm eigentlich auch viel lieber den Kopf abreißen würde? „Das dachte ich allerdings auch!“, schloss sich Rui Firey an und richtete einen flehenden Blick an ihren rothaarigen Meister, welcher gerade versucht hatte, sich aus der Bredouille zu stehlen, doch von Green in seinem Versuch unterbrochen wurde: „Auch wenn ich jetzt gerade nicht stolz darauf bin, es zu sagen: Sibi, Gary und ich wir sind Freunde und Freunde sind natürlich keine Feinde.“  „Silver-sama! Bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist! Ihr könnt doch unmöglich mit einer Hikari befreundet sein?! Ihr ... Ihr seid doch kein Verräter!“  „I-Ich sage gar nichts mehr! Frag Blue!“ Alle Augen richteten sich augenblicklich auf Blue, welcher sich bis jetzt eigentlich ganz gut hatte raushalten können und auch im ersten Moment verwirrt dreinblickte, als ihm plötzlich der Ball zugeworfen wurde. Man sah ihm an, dass er mit so einer Frage überfordert war, denn das war keine Frage, auf die er in einem Buch die richtige Antwort finden konnte - und die ganze Situation wurde nicht gerade dadurch verbessert, dass Green - die immerhin kein Problem damit hatte, vor Wächtern, gar ihrer Familie, ihre Freundschaft mit zwei Dämonen zuzugeben und zu verteidigen – ihn nun angespannt ansah, da sie natürlich das Gleiche von ihm erhoffte - und erwartete. Tatsächlich sorgte sein unsicheres Schweigen allerdings eher dafür, dass sie einer tickenden Zeitbombe glich: „Ja, Blue – sag uns doch mal, ob wir Freunde sind!“ Ein falsches Wort von Gary und sie würde hochgehen – dazu kam, dass Green ihn Blue genannt hatte; ein ganz schlechtes Zeichen, ganz schlecht. Doch anstatt ihr einfach die Antwort zu geben, die sie hören wollte, nahm Garys Gesicht eine unangenehme Mischung von Rot und Weiß an, die seine Worte schluckte. Mehr als ein gestottertes „Ehm“ bekam er nicht über die Lippen.   Green wurde immer ungeduldiger – war es für Gary etwa so schwer, diese simple Tatsache zuzugeben? Stand er nicht zu ihrer Freundschaft? War er zu stolz? Aber Green hatte auch kein Problem, es Grey und jedem anderen Wächter ins Gesicht zu sagen – und sie würde es auch ihrer Familie genauso unverhüllt entgegenschleudern, wenn es sein musste! Warum konnte Gary es so einem kleinen Fangirl gegenüber nicht sagen? Er machte deren Freundschaft immer zu einem Problem ... Immer! Vollkommen egal, wer zuhörte! Er stand nicht zu ihrer Freundschaft!  „Ist es dir etwa so zuwider?“ Es waren sehr stille Worte; Worte, die von niemandem gehört werden sollten und Firey und Tinami hatten sie wahrscheinlich auch nicht hören können, aber die empfindlichen Ohren der Dämonen hatten sie vernommen – in genau dem gleichen Moment, als Pink plötzlich in die Küche gestürzt kam. „Green-chan! Ein Dämon! Ich spüre einen Dämon! Uhm - Green-chan, bist du traurig?" Erst als Pink sie darauf hinwies, bemerkte die Hikari, dass ihre Augen tatsächlich glasig geworden waren, weshalb sie sich beeilte und schnell ein Lächeln aufsetzte. „Nein, nein Pink, alles gut. Kümmern wir uns um den Dämon! Das ist doch auch eine gute Gelegenheit, um Firey zu zeigen, was Wächter eigentlich so machen! Denn, Pink, Firey hier ist auch eine Wächterin.“ „Du bist auch eine von uns!?“, rief Pink erfreut und war damit zusammen mit Tinami die Einzige im Raum, die gut gelaunt war, denn Siberu und Gary sahen Green deutlich an, dass ihr Lächeln falsch war. „Ehm ja, sieht ganz danach aus... Und du bist?" Green nutzte die Gelegenheit, um von ihren Gefühlen abzulenken und ergriff das Wort, um Pink vorzustellen: „Das ist meine Cousine Pink. Pink, das ist Hinako, meine Stiefschwester, aber wir nennen sie eigentlich alle Firey.“ „Und ich bin eine Schutzwächterin, das hast du vergessen zu sagen, Green-chan!“, fügte Pink mit stolzer Brust und quietschiger Stimme hinzu, ehe sie auf Firey zustürzte und energisch ihre Hand schüttelte. „C-cousine? Deine leibliche Cousine, Green? Du hast deine Familie gefunden?“ „Ehm ja, das kann man wohl so sagen ... Aber das kann ich dir wann anders erzählen. Da hängt ein Zopf dran.“ „Genau! Der Dämon wartet nämlich nicht!“ Bevor sie jedoch Pinks Aufruf Folge leisten konnten, nahm Green sich noch die Zeit, ihre Hand feierlich Firey hinzuhalten: „Also, Firey – willkommen im Team! Auf gute Zusammenarbeit!“ Kurz sah Firey die ausgestreckte Hand Greens an und es schien sogar kurz so, als würde sie zögern; die ausgestreckte Hand und die Konsequenzen fürchten, die es mit sich bringen würde, Greens Hand zu ergreifen, bis sie sie doch mit einem unsicheren Lächeln nahm: „Ja, auf gute Zusammenarbeit – aber verwandeln muss ich mich jetzt nicht und womöglich noch einen Minirock tragen, oder?“     In aller Eile beschlossen sie, dass Pink zusammen mit Daichi zurückbleiben würde, für den Fall, dass Sho wieder aufwachen sollte – denn, wie Tinami witzelnd hinzufügte, sie hatte leider kein Schlafmittel dabei. Firey nahm es als Witz, doch Green war sich nicht so sicher, ob es tatsächlich nur ein Witz gewesen war; sie traute Tinami so einiges zu.  Eigentlich hätte Pink mitkommen müssen, da sie die Einzige war, die den Dämon spüren konnte, denn weder Greens Glöckchen hatte reagiert, noch hatte einer der anderen eine dämonische Aura gespürt, weshalb Pink sich von Ilang und Tinami erst mal ordentlich Lob einheimste. Doch zum Glück hatte Kaira bei Tinami angerufen mit den Worten, dass sie einen Dämon lokalisiert hatte und ihn für sie festhielt. „Bitte!?“, entfuhr es Green aufgebracht, deren falsches Lächeln sofort verschwunden war, als sie Kairas Namen hörte: „Wenn sie den Dämon festhalten kann, dann kann sie ihn ja wohl selbst ausschalten und uns in Ruhe Weihnachten feiern lassen!“ Tinami grinste und antwortete feixend: „Ai-chan meinte, sie wolle dich und deine Dämonenfreunde in Aktion sehen.“ Das war vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, dachte sich Gary, und ging weder auf Greens grummelnde Beschwerde ein noch auf Siberus euphorischen Ausruf – und Firey hielt sich bedeckt, während Rui sich an Siberu geheftet hatte und scheinbar nichts gegen eine „Show“ einzuwenden hatte. Doch bevor irgendeine Show beginnen konnte, nutze Siberu die Gelegenheit, in der Green ein wenig länger mit ihrer Garderobe hantierte als die anderen und packte ohne Umschweife ihren Unterarm, welchen sie jedoch sofort ruppig aus seinem Griff befreite und samt eines abweisenden Blickes fauchte sie eisig: „Sibi, ich glaube, du hast andere Sorgen. Pass lieber auf, dass du nicht aufgefressen wirst.“ Tatsächlich hatte Siberu Rui nicht bemerkt, welche sich an ihn gehängt hatte – doch als sie ganz unbehelligt anfing, an seinem Ohr zu knabbern, löste er sich hastig von ihr, um sich sofort Green zuzuwenden, welche trotz eines eisigen Blickes – das aufgesetzte Lächeln war verschwunden – doch auf ihn gewartet hatte. Anstatt dass er endlich mit der Sprache herausrücken konnte, ergriff Rui allerdings das Wort und auch das ruppige Abschütteln Siberus hatte nicht viel gebracht, denn sie hängte sich prompt wieder an den Arm ihres Angebeteten: „Was interessiert Euch denn, ob die Hikari eingeschnappt ist!? Lasst sie doch, Silver-sama! Sie redet doch nur Schwachsinn!“ „Nein, Rui, du redest Schwachsinn!“ Und damit schüttelte er sie endgültig von sich weg; es schienen jedoch viel eher seine entschiedenen Worte zu sein, die Wirkung zeigten und – irrte Green sich oder waren Tränen in ihre großen Dämonenaugen getreten? „Was ist nur in Euch gefahren! Habt Ihr denn vergessen, wem Eure Treue gehört!?“ „Nein, das habe ich nicht“, antwortete Siberu Rui anschauend und Green war überrascht, wie ernst er dabei aussah, bis er sich wieder an sie wandte und sie ungewohnt sanftmütig ansah: „Aber Green-chan ist uns nun einmal sehr wichtig.“ Ungewollt spürte Green Hitze in sich aufsteigen; war sie rot geworden? Wahrscheinlich - und es sollte sie auch nicht überraschen, denn sie freute sich über diese lang ersehnte Stellungnahme. „Und ich bin mir sicher, dass Blue das Gleiche gesagt hätte, wenn er nicht so zurückhaltend mit seinen Gefühlen wäre.“ Er grinste sein charmantes, niedliches Grinsen: „Mach dir also nicht so viele Gedanken, Green-chan! So kalte Augen und ein falsches Lächeln stehen dir doch auch gar nicht. Blue spricht einfach nicht über solche Dinge, das müsstest du doch schon bemerkt haben! Mir hat er auch nur zweimal in meinem bisherigen Leben gesagt, dass er mich lieb hat – und das eine Mal glaubte er, ich würde es nicht hören und das zweite Mal, dass ich sterben würde.“ Green konnte gar nicht anders, als ebenfalls zu grinsen und ihre schlechte Laune war wie weggefegt – was auch Firey von Weitem sah. Und sie war überrascht über das, was sie sah, denn sie hätte nicht geglaubt, dass so ein unsympathischer Typ so feinfühlig sein konnte.     Es gefiel Firey nicht und es fiel ihr auch schwer, sich das einzugestehen, aber das, was sie sah und hörte, konnte sie mit ihrem klaren Verstand nicht verstehen. Es war lange her, dass sie in den Straßen Tokios unterwegs gewesen war, aber dass sie diese unter solchen Umständen wiedersehen würde, hätte sie nicht geglaubt – und auch nicht in Begleitung ... solcher Leute. Keine Menschen; Wächter, Dämonen ... magische Wesen, die gegen ein anderes kämpften: ein absolut monströses Wesen von der Größe eines Hauses, dessen Arme aussahen wie missgestaltete Käfige, bestehend aus Stangen, deren Inneres feurig orange leuchtete – Torso und Kopf hingegen waren mit einer blickfesten, schwarzen, ledernen Haut überzogen und die Augen leuchteten aus tiefen Augenhöhlen entgegen. Als Firey es erblickte, glaubte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung zu machen, wie es war, in Ohnmacht zu fallen – doch sie hielt stand, schwankte nur kurz, weshalb sie von Tinami gestützt wurde. Keiner der anderen ging es wie ihr: Green hatte nur kurz geschluckt, ehe sie sich mit Siberu und Gary in den Kampf gestürzt hatte; war ... war so etwas etwa normal? Rui war ganz aus dem Häuschen, als wäre es eine Vorstellung – und genauso feuerte sie ihren Angebeteten auch an. Tinami grinste vor sich hin und schien das ganze äußerst interessiert zu beobachten, aber nicht im Sinn zu haben, sich einzumischen, genauso wenig wie Kaira – eine missgestimmte, grimmig dreinguckende Frau, ebenfalls eine Wächterin, wie Tinami Firey gesagt hatte, nachdem Kaira die neu gebackene Wächterin einfach nur angeguckt und die Vorstellung mit folgenden Worten beendet hatte: „Offensichtlich haben wir eine neue Feuerwächterin.“ Tinami hatte Firey erklärt, dass Kaira die Ursache dafür war, dass sie ganz unbehelligt an diesem Ort kämpfen konnten; als Zeitwächterin war sie nämlich in der Lage, Bereiche in einem gewissen Radius in der Zeit einzufrieren – so etwas nannte man einen Zeitbann, fügte Tinami grinsend hinzu und erklärte, dass er solange aktiv war, wie die Urheberin am Leben war. Tinami sagte es zwar nicht, aber Firey sah Kaira trotz mangelnder Erfahrung ihrerseits irgendwie an, dass man bei Kaira ein Einstürzen ihrer Zeitbanne nicht fürchten musste.  Die letzten beiden im Bunde hielt sich bedeckt. Die eine von ihnen hatte Tinami als ihre kleine Schwester Azura vorgestellt; sie war zusammen mit Kaira gekommen und hatte genauso wenig Weihnachten gefeiert wie diese, da sie, wie sie stolz berichtete, zusammen trainiert hatten. Sie machte einen freundlichen Eindruck und wirkte, als würde sie sich freuen, Firey zu sehen; nannte sie ihren natürlichen Gegenpol, da sie die Wasserwächterin des Teams war. Die Letzte hatte sich Firey höflich als Ilang vorgestellt, als die Wächterin der Natur und auch irgendetwas von einem Rang gesprochen; Dinge, die Firey nicht verstand. Sie war die Einzige der Zuschauer, die einen besorgten Eindruck machte.  „Worüber denkst du nach, Ai-chan?“ Firey wurde von der Frage Tinamis aus ihrem Schockzustand gerissen, obwohl sie nicht an sie gerichtet war, sondern an Kaira, deren Blick auf das Kampfgetümmel gerichtet war, wo weder Green noch Siberu oder Gary auf deren Zuschauer achteten. Gary hatte gerade Siberu etwas zugerufen, während Green einem schwarzen, gefährlich aussehenden Strahl ausgewichen war. „Ich denke über unsere Hikari nach.“  „Über unsere Hikari?“, fragte Tinami verblüfft und auch Ilang und Azura lauschten nun, genau wie Firey es tat – Rui nicht, denn Kaira hatte klugerweise gewählt, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen; einen Wechsel, den Firey genau wie Green nicht realisiert hatte.  „Und die Dämonen – und damit meine ich die hier auftauchenden, nicht die, die sie ihre Freunde nennt. Es ist recht auffällig, wie konzentriert die Dämonen jetzt Tokio angreifen. Vergleicht man die Statistiken – was du sicherlich schon getan hast, Asuka – dann zeichnet sich ein deutliches Bild ab: Nach dem Erwachen unserer Hikari ist die Anzahl der hier auftauchenden Dämonen um das Dreifache gestiegen.“ „Aber das ist doch nicht verwunderlich“, antwortete Ilang: „Unsere Feinde haben es natürlich auf unsere Hikari abgesehen, deren Element das stärkste gegen sie ist.“ „Nein, das ist auch nicht verwunderlich“, schnitt Kaira Ilang das Wort ab: „Verwunderlich ist aber, dass die Dämonen auf unsere Hikari zu warten scheinen. Ich musste gar nicht ernsthaft versuchen, diesen hier festzuhalten.“ Einen Moment schwiegen alle drei, dann antwortete Azura: „Aber Dämonen lechzen doch immer nach einer Herausforder-“ „Najotake ist aber keine Herausforderung! Seht doch mal genau hin, die beiden Halbdämonen machen doch die ganze Arbeit!" „Worauf willst du hinaus, Ai-chan?“, fragte Tinami mit einem Grinsen, als wüsste sie die Antwort ganz genau. „Ich will wissen, wer die beiden sind und was sie hier machen. Dass Dämonen sich gegenseitig töten ist nichts Besonderes, aber dass sie sich mit einer Hikari zusammentun schon.“ „Ich konnte nichts Besonderes über sie finden“, seufzte Tinami mit einem Achselzucken: „Ich habe zwar ihre Akten finden können – die Originale aus der Dämonenwelt natürlich, denn bei uns sind sie ein unbeschriebenes Blatt – aber da stand nicht sonderlich viel drin. Eher unscheinbar. Oder aber mein Computer hat einen Übersetzungsfehler gemacht.“ Tinami lachte hohl, was wohl so viel sagen sollte wie dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war.  „Ich finde eigentlich, dass Siberu-san und Gary-san recht sympathisch wirken. Sie wirken aufrichtig“, fügte Ilang nun hinzu mit bedächtiger Stimme. „Vielleicht sind sie Abtrünnige oder so etwas?“, überlegte Azura. „Abtrünnige, die sich mit einer Hikari zusammentun?“ Kairas Stimme klang ungläubig und ihr Schnauben sprach dieselbe Sprache.  „Sie tun Green gut.“ Alle wirbelten zu Firey herum, die dem Gespräch zwar gefolgt war, sich aber bis jetzt rausgehalten hatte und nun ein wenig verunsichert wurde, als die Augen der vielen Fremden erwartungsvoll auf ihr lagen, weshalb sie schlucken musste, eher sie fortfuhr: „Ich kenne Green schon sehr lange ... Und noch nie habe ich sie so lächeln gesehen. Ihr Lächeln strahlt, ihre Augen sind nicht mehr dunkel, auch sie leuchten. Ich kann mich Ilang-sans Meinung, was Bakayama angeht, zwar nicht anschließen, aber ...“ Unverwandt blickte sie in die Runde: „Wenn ich sie zusammen sehe, sehe ich nichts anderes als drei sehr gute Freunde.“ Alle vier waren offensichtlich von Fireys Meinung überrascht und davon, dass sie sie so unverhohlen preisgab - ob die neue Wächterin sie allerdings überzeugt hatte, war eine andere Sache. Kaira jedenfalls nicht; sie schnaubte ein weiteres Mal und antwortete: „Ich glaube nicht an so einen sentimentalen Schwachsinn!“ Firey fuhr zusammen – und gleich noch ein weiteres Mal, als Kaira mit dem Fuß aufstampfte, um ihren folgenden Worten Nachdruck zu verleihen, die allerdings nicht mehr an Firey gerichtet waren, sondern an die anderen drei: „Dem ganzen ungeachtet, finde ich es sehr komisch, dass die Hikari so wenig von sich hören lassen! Warum wurden wir als Elementarteam noch nicht vorgeladen, jetzt wo unsere Hikari entsiegelt wurde? Und warum wissen die anderen Wächter noch nichts von Najotakes Existenz? Ich meine, auch wenn es einem schwerfällt, es sich vorzustellen, ist sie eine Hikari. Sollte das Wiederfinden unserer Lichterbin nicht allen Grund geben zu feiern, anstatt es unter den Tisch zu kehren?! Eins steht für mich fest ...“ Mit ihren steinharten Mahagoniaugen sah sie allen in der Runde – sogar Firey – durchbohrend in die Augen: „... Die Hikari verheimlichen etwas vor uns und es hat eindeutig etwas mit Najotake zu tun!“ Dann geschah es, als wäre es die Strafe des Himmels: Den Kämpfenden war eine Attacke entgangen und schoss genau in die Richtung der zusehenden Wächter.  Für die Ausgebildeten war es kein Problem auszuweichen, doch Firey reagierte zu spät. „Firey-san!“, hörte Firey Ilang rufen, und da sie gerettet wurde – sie spürte jedenfalls keinen Schmerz – nahm sie an, dass es Ilang war, bei der sie sich für ihre Rettung bedanken konnte ... Doch warte. Die Stimme klang zu weit weg? „Ich wusste, du wärst uns nur ein Klotz am Bein.“ Nur einen kurzen Augenblick starrte Firey ihren rothaarigen Retter mit verdatterten Augen an, bis ein zusammenstürzender Strommast sie ablenkte – genau an dem Punkt, an welchem sie eben noch gestanden hatte. Unsanft hatte Siberu sie gepackt und war noch im letzten Augenblick zusammen mit ihr hochgesprungen; doch nichtsdestotrotz hatte er sie gerettet, weshalb Firey auch nicht auf die Beleidigung achtete.  „Nakayama, du … du hast mir das Leben gerettet …“ „Ah, also doch nicht so ein Idiot?“ War das Einzige, was er dazu sagte, ehe er sie wieder zu Boden ließ – und sich dann tatsächlich herum wandte, um Green etwas zuzurufen: „Hast du das gesehen, Green-chan!? War das Entschuldigung genug?“ Die Röte in Fireys Gesicht verschwand sofort und skeptisch bogen sich ihre Augenbrauen: „Warte mal, du hast mich gerettet, um bei Green zu … punkten?“ „Natürlich habe ich das – ich hatte dich die ganze Zeit im Auge behalten, weil mir klar war, dass du schon irgendwie in Gefahr geraten würdest und ich denke „Leben retten“ ist eine gute Entschuldigung, nicht wahr? Also – nimmst du sie …“ „Du verdammtes A … wie kann Green nur so einen fiesen, arroganten und widerlichen Typen wir dich leiden!?“ „Oh, danke für die Blumen. Ich bin allerdings nur „fies“ zu denen, die ich nicht mag.“    „Schön! Ich kann dich auch nicht leiden. Um genau zu sein, habe ich noch nie jemanden getroffen, der mir weniger sympathisch war als du!“ „Offensichtlich findest du mich aber noch sympathisch genug, um bei meinem Anblick zu erröten – und ich bin mir recht sicher, dass ich ziemlich starkes Herzklopfen deinerseits gespürt habe, Flachbrett.“ „Du widerlicher---!“ „SIBI!“ Es war nicht Fireys aufflammende Hand, die Siberu dazu brachte, den Streit abzubrechen – sondern die riesige Faust des zu bekämpfenden Dämons und schockiert sah Firey, wie Siberu seitlich von einem enormen Fausthieb getroffen wurde, durch die Luft flog und gegen einen Laternenpfahl prallte. Obwohl sie ihn gerade noch selbst hatte angreifen wollen, schlug Firey bestürzt die Hände über ihrem Mund zusammen, als sie sah, wie Siberu schmerzverzerrt das Gesicht verzog und Blut erbrach – auch die anderen Wächter wurden alarmiert, doch Kaira hielt sie mit einem ausgestreckten Arm vom Handeln ab. „Noch nicht!“, herrschte sie die anderen drei an, aus den Augenwinkeln beobachtend, wie Rui und Gary ihrem verletzten Mitdämonen zur Hilfe eilen wollten – denn er richtete sich nicht wieder auf, sondern presste keuchend seine Hand über seine linke Schulter. Es waren jedoch nicht die beiden Dämonen, die ihm zur Hilfe eilten, sondern Green – was auch Siberu gerade bemerkt hatte, denn mit einem blutigen Grinsen hob er den Kopf, gerade in dem Moment, als der Dämon auf ihn zustampfte, um ihn ein weiteres Mal anzugreifen: „Pech gehabt, Mistvieh – ich habe nämlich einen Schutzengel!“ Und wie auf Kommando ertönte Greens Stimme, gefolgt von dem bekannten Lichtstrahl: „SPIRIT OF LIGHT!“ – Und ins Ziel traf. Green, die im gleichen Moment wie Gary bei Siberu angekommen war und die ihm jetzt gemeinsam auf die Beine halfen, wollte sich schon freuen, als ihr Garys Blick deutlich sagte, dass der Kampf noch nicht vorbei war. Verwundert, dass ihr Light Spirit nicht genug war, drehte sie sich um und sah genau wie die zwei Dämonenbrüder, wie der Dämon sich wieder zusammensetzte. „Was zur Hölle!?“, entfuhr es Green und empört fügte sie hinzu: „Das ist aber nicht fair! Das waren doch meine gesamten Reserven! Sollen wir sie wieder so aufladen wie bei dem Feuerdämon?“ Gary schüttelte den Kopf, während er Siberu stützte, dessen Schulter es scheinbar mehr erwischt hatte, als er zugeben wollte: „Wenn es beim ersten Mal nichts gebracht hat, wird es beim zweiten Mal auch nichts bringen – das wäre nur Magieverschwendung!“ „Aber was sollen wir dann machen!? Ich kann doch nur zwei Attacken …“ Eine Spur flehend sah Green Gary an, genau wie Siberu es tat, denn beide vertrauten viel zu sehr darauf, dass Gary schon für alles eine Antwort finden würde. Bevor er jedoch antworten konnte, mussten sie erst einmal ein weiteres Mal ausweichen – Green in die eine Richtung, Gary und Siberu in die andere Richtung. Und kaum waren die beiden Brüder aus Greens Hörweite, teilte Siberu Gary etwas sehr Beunruhigendes mit: „Aniki, Green-chans Attacke eben … sie hat meinen Arm gestreift. Ich spüre ihn nicht mehr.“ Sichtlich schockiert sah Gary seinen Bruder an, der versuchte ihn anzugrinsen, obwohl er offensichtlich Schmerzen hatte, und war einen Moment lang zu keiner Antwort fähig. „Sorry, Blue … jetzt bin ich wohl ein Klotz am Bein.“ Als könne Gary den Anblick seines Bruders nicht ertragen, musste er sich abwenden – und dann, gerade als er sah, wie der Dämon Green mit seinen eigenartigen Gliedmaßen angriff, kam ihm der Geistesblitz und überrascht sah Siberu, wie Gary herumwirbelte – und zwar zu Tinami:  „Tinami! Diese Gattung hat eine enorme Schwachstelle und das ist Kälte! Lass es schneien!“   Was?!   „Aber, Aniki, Green-chan! Das kannst du doch nicht ernst meinen …“ Auch ohne die überraschten und besorgten Worte Siberus, wusste Gary, dass er einen Fehler begangen hatte – doch es war zu spät, ihn rückgängig zu machen, denn Tinami vertraute seinem Urteil und überraschenderweise hielt Kaira sie nicht davon ab, ihnen zu helfen. Als Klimawächterin war es ihr ein Leichtes, Garys Worten Folge zu leisten; es genügte ein lässiger Schwung mit ihrer Hand in den Nachthimmel und mit einem Grinsen verkündete sie: „Dann bekommen wir wohl doch noch weiße Weihnachten!“ Blau leuchtete die über ihrem Kopf ausgestreckte Hand auf und der eben noch wolkenfreie Himmel bewölkte sich in Sekundenschnelle, womit die Temperatur sich eilig dem Gefrierpunkt näherte – und geschockt sah Green, wie die ersten Schneeflocken auf ihrer Nase landeten. Sie wich zurück, ihren Stab an sich geklammert, als könnte sie die vom Himmel herabfallenden Flocken umgehen --- sie musste sich zusammenreißen, es waren doch nur ein paar Schneeflöckchen … --- schnell wurden es immer mehr und es fing nicht nur an, zu schneien; alles wurde weiß, die Hand vor Augen kaum noch erkennbar --- andere freuten sich sicherlich über den Schnee --- es waren nur ein paar Flocken --- sie war gut angezogen, so kalt war es nicht --- vom heftigen Schneetreiben unterdrückt ertönte ein wehleidiger Klageschrei des sterbenden Dämons; gut, er war besiegt --- könnte es bitte aufhören, zu schneien, bitte? --- in der Ferne rief jemand ihren Namen, weit weg, vom Schnee verschluckt --- alles war weiß --- reiß dich zusammen, Green, reiß dich … „Kälte, die dich nie wieder freilassen wird ... Die dich festhält ...“ Langsam und lautlos hob Green den Kopf – und da mitten im weißen Schneetreiben stand ihre größte Furcht.   Green verlor ihr Gleichgewicht – und wurde von einer herbeisausenden Kaira aufgefangen, ehe ihre Hikari den Boden berührte. Doch davon bemerkte Green nichts mehr, denn sie hatte bereits das Bewusstsein verloren.     Als Green nicht viel später wieder die Augen öffnete, wusste sie zuerst nicht, was passiert war; sie fragte sich, warum sie lag und warum sie eine Decke über sich liegen hatte, warum sie auf einem Wärmekissen lag – und weshalb ihr die weit entfernte Decke bekannt vorkam, sie sie aber zuerst nicht einordnen konnte. Noch völlig benebelt richtete sie sich auf – und zog rasselnd die Luft ein, denn in dem Licht, das durch das Fenster von draußen hineinfiel, starrte jemand sie an.  Jemand ihr sehr bekanntes, jemand, der dort jedoch nicht sein durfte – weil Green sie nicht sehen wollte, weil Green nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte; nichts mehr mit ihr und diesem verdammten Schnee, der an ihrer Kleidung, ihren Haaren und ihrer Haut haftete und niemals schmelzen würde  – und erst recht wollte sie diese schrecklichen Augen nicht mehr sehen, die sie immerzu anstarrten und vor denen sie sich so fürchtete. „Lass … lass mich in Ruhe!“, zischte Green mit zitternder, aber entschlossener Stimme und warf das Wärmekissen samt Kabel durch das Schreckgespenst ihres eigenen, jüngeren Ichs, womit diese von Green verfluchte Erscheinung die Augen halb schloss und ihre dunklen blauen Augen Richtung Tür rollen ließ, als wollte sie ihr sagen …  „Du Vollpfosten!“ Im gleichen Moment, in dem Green die Stimme Siberus hörte, war ihr plötzlich wieder klar, was geschehen war und auch wo sie sich befand: Sie war zusammengebrochen, ohnmächtig geworden und dann … hatte sie wohl jemand zurückgebracht, denn dieses Dachzimmer war ihr früheres Zimmer gewesen. Doch jetzt war keine Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen oder ihrer Adoptivmutter dankbar zu sein, dass ihr Zimmer immer noch genauso aussah wie früher – sie hörte, dass Siberu wütend war und ja, sie war es auch, aber sie wusste, dass sie eigentlich keinen Grund hatte, wütend zu sein, denn Gary wusste ja nichts von ihrem verhassten … „Problem“. „Ernsthaft, Blue! Ich war noch nie so wütend auf dich, könntest du also bitte mal etwas sagen?!“ Green hatte ihre Beine schon aus dem Bett geschwungen und steuerte auf die angelehnte Tür zu, um die beiden von einem Streit abzuhalten, als Siberus nächste Worte sie zum Stillstand brachten: „Ist dir Green-chan etwa so unwichtig, dass du diese Konsequenz einfach in Kauf genommen hast?! Ich meine … ausgerechnet du hast ihr Schneetrauma ja wohl kaum vergessen?!“  Völlig regungslos blieb Green an der Tür stehen und die Hand, die sie eben noch angehoben hatte, um die Tür zu öffnen, verharrte – sie wussten ... es? Sie wussten es?! Woher?! Sie hatte nie irgendjemandem etwas davon erzählt, selbst nicht dann, als ihr eigenartiges Verhalten bei Schnee und Kälte für Aufsehen gesorgt hatte ... Und warum antwortete Gary nicht? Was brachte ihn dazu, zu schweigen? Sie ... Sie war ihm doch nicht egal? Aber wenn sie es gewusst hatten ... Und er dennoch ... Green wusste nicht, was sie damit erreichen wollte, aber sie hielt das Warten auf eine Antwort nicht länger aus – und Siberu scheinbar ebenfalls nicht, denn im gleichen Moment, in welchem Green die Tür mit einem Ruck öffnete, hatte er seine gesunde Faust in die Wand gerammt, nur um Green genau wie Gary verwundert anzusehen, als wären sie überrascht, sie zu sehen. „Gary will uns offensichtlich keine Antwort geben.“ Ihre Stimme klang tonlos und es war nicht möglich, ihr Gesicht zu sehen, denn ein dunkler Schatten fiel ihr ins Gesicht: „Also reden wir über andere … Dinge.“ Langsam hob Green den Kopf und durchbohrte sie beide mit einem ablehnenden Blick – von einem falschen Lächeln nicht die kleinste Spur. „… zum Beispiel, woher ihr davon wisst.“ Schweigen, bedrückendes Schweigen, in welchem sich besonders Siberu unwohl zu fühlen schien, da ihm einfiel, mit welchen Todesflüchen Green ihre Vergangenheit verteidigte. Es kam keine Antwort – weder von Siberu noch von Gary – nur ein absolutes Schweigen, in welchem Green etwas in sich aufkommen spürte. Etwas, was sie nicht wollte, etwas, was sie aber an diesem Tag schon einmal versucht hatte, zu unterdrücken und als sie endlich etwas sagte, bemerkte sie erschrocken, wie sehr ihre Stimme zitterte: „G–Gut, wisst ihr was ...“ Dann schluckte sie; versuchte, ihre Stimme wieder zu festigen, doch anstatt, dass sie so kühl klang, wie sie es erhofft hatte, spiegelte ihre Stimme ihre Verzweiflung wider: „Ihr könnt mich mal!“ Green wollte es nicht; sie wollte es partout nicht, aber ihre Füße bewegten sich gegen ihren Willen und viel zu schnellen Schrittes, ohne aufgehalten zu werden, weil die beiden Dämonenbrüder für einen Moment viel zu geschockt waren, stürmte Green die Treppen runter. Was tat sie da nur? Warum war sie so enttäuscht? Warum machte sie so ein Drama aus ... Aus ... Sie fluchte und bemerkte kaum, wie sie ihre Jacke nahm und ihre Schuhe anzog – doch als sie die Haustür öffnete und die kalte Luft zusammen mit kleinen Schneeflocken um sie herumwirbelte, hielt Green mit beschleunigtem Herzschlag inne. Den ersten Fuß hatte sie auf die nicht gefegte Auffahrt gesetzt und hörte nun, wie der frisch gefallene Schnee unter ihren Füßen knirschte. Sie wollte den Fuß zurückziehen, fliehen, irgendwohin, doch kam zum Stillstand – wieder sah Green das kleine Mädchen mit den dunklen blauen Augen und den wehenden Zöpfen. Barfuß im Schnee; unpassend gekleidet für die Jahreszeit mit halbwegs gesenktem Kopf. Die gleiche Erscheinung wie immer. Nur dieses Mal hielt sie Green die Hand hin.     „... Sie hat geweint.“ Froh darüber, dass Gary es von sich aus bemerkt hatte und noch erleichterter, dass Siberu aus der Stimme seines Bruders heraushören konnte, dass es ihm nicht egal war, richtete Siberu seine Wut doch nicht gegen seinen Bruder. Er sah ihn auch nicht an, als er dessen Aussage bejahte, woraufhin sie wieder schwiegen.  „Schlag mich, Silver.“ Erst jetzt linste der Angesprochene zu ihm herüber und stellte erleichtert fest, dass sich in Garys Gesicht endlich das schlechte Gewissen abzeichnete.  „Nein, das werde ich nicht tun, auch wenn du es mehr als nur verdient hast“, verkündete der Rotschopf beinahe triumphierend: „Denn jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Green-chan ihr Weihnachtsgeschenk zu geben!“ Mit hochrotem Kopf wirbelte Gary zum feixenden Siberu: „Was bitte?! Das ist ja wohl der schlechteste Zeitpunkt überhaupt! Wie kommst du denn darauf, dass so eine Schnapsidee was bringen könnte?!“ „Frag nicht, vertrau einfach auf den, der mehr Erfahrung mit Frauen hat, okay?“ Er machte einen Wink zu seinem dank Greens Licht tauben Arm und fuhr fort: „Tu es einfach, bevor ich mich doch dazu entscheide, dich mit nur einem Arm zum Mond zu schießen!“ Es kam selten vor – Siberu wusste nicht mal, wie lange es her war, dass Gary auf den Rat seines Bruders gehört hatte, doch dies war eines der seltenen Male, wo er es tat und kommentarlos rannte Gary Green hinterher, unter dem begutachtenden Blick seines Bruders, der ihm noch eine ganze Weile hinterher sah, bis er seufzte und sich eigentlich gerade abwenden wollte, als Firey plötzlich hinter ihm auftauchte. „Ich dachte, du wärst in Green verliebt?“ „Bin ich auch. Warum glaubst du habe ich das getan?“, forschend sah sie ihn an, doch gab keine Antwort, weshalb Siberu schulterzuckend fortfuhr: „Ich bin eben das Glied, das alles zusammenhält. Aber von so etwas hast du keine Ahnung, Flachbrett.“ Dann ignorierte er sie galant und schritt die Treppe herunter mit den Worten, dass er versuchen würde, sich um das Essen zu kümmern, damit nicht noch mehr Dramen entstanden. Kurz sah Firey ihm verdattert hinterher. Was war das nur für ein komischer Kauz?     In der Eingangshalle fand Gary weder Greens Jacke noch ihre Stiefel, weshalb er sofort die gläserne Haustür öffnete und besorgt im ruhigen Schneetrubel herumwirbelte – sie war ja wohl nicht in diesem Wetter----  „Suchst du mich?“ Überrascht, Greens Stimme zu hören, sah Gary über die Schulter hinweg zurück und erblickte sie – an der er schnurstracks vorbeigelaufen war, denn sie stand ein wenig abseits im gläsernen Eingangsbereich des Hauses und hätte daher eigentlich von ihm gesehen werden müssen. Als er jedoch wieder hereinkam, wünschte er sich für einen kurzen Moment, er hätte sie nicht gesehen, denn ihr Blick war genauso eisig wie das Wetter draußen vor der Tür. Ihre eiskalte Stimme richtete sich auch sofort gegen ihn, ohne, dass sie ihm die Gelegenheit ließ, selbst das Wort zu ergreifen: „Glaubst du, ich bin in diesem Wetter rausgegangen?“ Sie lächelte – sie lächelte ein überaus komisches Lächeln, hohl und künstlich. „Glaub mir, ich wäre gerne rausgegangen und einfach von hier verschwunden, aber weißt du, warum ich es nicht getan habe? Nein, das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, denn du hast offensichtlich nicht genug Bücher über Traumata gelesen!“ Ihre Stimme begann, sich zu überschlagen: „Vielleicht solltest du es tun, denn dann könntest du dir ein Bild davon machen, wie es ist – siehst du, wie ich zittere? Ich zittere nicht aus Wut, ich zittere aus Angst! Aus Angst vor so ein paar Flocken – ja, das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, weil es absolut bescheuert ist! Aber ich kann nichts dafür, verdammt nochmal! Ich kann es nicht abschalten, so sehr ich es mir auch wünsche!“ Green japste nach Luft, ihn unnachgiebig anstarrend und plötzlich schnellte ihre Hand hervor und packte seinen Kragen:  „Was hast du dir gedacht, als du Tinami dazu aufgefordert hast, es schneien zu lassen? Hast du dabei überhaupt an mich gedacht? Oder dachtest du so was wie „Green soll sich nicht so anstellen“?!“ Dann lockerte sie ihren Griff um seinen Kragen plötzlich; der Vulkan war ausgebrochen und verrauchte langsam – doch der Rauch war es, der Gary erst recht die Sprache verschlug: „… dass du Schwierigkeiten hast, zu deinen Gefühlen zu stehen und sie nicht so offen herum posaunst wie Sibi und ich ist ja ok, damit komm ich zurecht … aber du kannst verdammt nochmal auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen.“ Noch ein letztes Mal festigte sich ihr Griff um seinen Kragen: „Ich bin nämlich kein einzuplanender Faktor, Gary!“ Dann ließ sie ihn endgültig los und es wurde deutlich, dass sie alles gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er dazu sagen würde; sie stellte auch keine Erwartung an ihn, als wäre er plötzlich zu einer Person geworden, die sie nicht einschätzen konnte – aber warum eigentlich „plötzlich“? Wenn man es genau nahm, kannte sie ihn nicht; sie hatte nur geglaubt, dass sie ihn kannte, aber wahrscheinlich hatte er einfach Seiten, die sie ... „Es tut mir leid. All das – das tut mir leid.“ Green hatte sich abgewandt gehabt, als er diese Worte sagte, doch noch bevor sie ihn überrascht ansah, wusste sie, dass seine Entschuldigung ernst gemeint war. Vielleicht weil sie sich einbildete, ihn zu kennen und deswegen wusste, dass dieser reuevolle Tonfall, den sie noch nie von ihm zu hören geglaubt hatte, aufrichtig war. Sie guckte ihn wieder an, und sobald sie in seine dunkelgrünen Augen sah, wusste sie – über sich selbst in ihren Gedanken fluchend – dass sie ihm verzeihen würde. Warum war es ausgerechnet Gary als Einzigem gelungen, ein so tiefsitzendes Vertrauen zu ihr aufzubauen?  „Ich gebe zu, dass ich ... zu schnell gehandelt habe und zu wenig Rücksicht auf dich genommen habe, und das ...“ „Schon gut.“ Für einen kurzen Augenblick hatte Gary weggesehen, doch als Green ihn unterbrach, sah er sie stutzig an, denn er fand absolut nicht, dass alles „schon gut“ war. Auch ihr Körper verriet ihm dasselbe, denn sie zitterte nach wie vor und nun, da sie ihn nicht mehr am Kragen gepackt hielt, hatte sie die Arme auch wieder um ihren Oberkörper geschlungen – wahrscheinlich um sich selbst zu wärmen. Und das sollte „schon gut“ sein?  „Nichts ist gut“, begann Gary und fragend sah Green dabei zu, wie er seine Jacke auszog und ihre Augen wurden immer größer, als er die Jacke über ihre Schultern legte: „Es ist nicht viel und kann wohl kaum als Entschuldigung angenommen werden, aber ein wenig wärmen kann es dich vielleicht.“ Weiterhin sah Green ihn mit großen Augen an; ein Blick, der Garys Wangen dazu brachte, zu erröten – und er musste sich abwenden, da die Röte drohte, sich auszubreiten, weshalb er Greens leichtes Schmunzeln auch nicht mitbekam. Ihre Worte bemerkte er allerdings und sie brachten ihn dazu, sich noch roter wieder herumzudrehen: „Das mit der Entschuldigung überlege ich mir noch, aber ob ich dir vertrauen kann, lasse ich auf deine Antwort auf diese Frage ankommen - und zwar: Was bin ich für dich?"     „Also wenn das nicht mal eine interessante Wendung ist! Das ist meine Green-chan, haha!“ Gary und Green hatten sich den wohl schlechtesten Platz ausgesucht, um ihr Gespräch zu führen, denn es war Siberu ein Leichtes, sich hinter der nächsten Ecke zu verbergen – und natürlich war das Gespräch viel interessanter als das Weihnachtsessen. Das fanden scheinbar auch die zwei anderen Rotschöpfe des Hauses, weshalb sich auch Firey und die wieder aufgewachte Sho dazugesellt hatten, sowie Rui, die an Siberu geklebt hatte. „Meine Güte, Siberu-kun, du hast aber gute Ohren – ich kann gar nichts hören!“, beschwerte Sho sich, da sie nur Gesprächsfetzen hören konnte, da die „nächste Ecke“ leider am Ende des Ganges war. Firey sagte nichts; sie konnte zwar auch nichts hören, aber sie fand auch, dass sich Lauschen nicht wirklich gehörte ... Eigentlich wusste sie gar nicht, was sie da tat. Es gehörte sich nicht zu lauschen; es gehörte sich einfach nicht - oder?     „Also! Keine Ausflüchte dieses Mal, Gary! Das bist du mir jetzt schuldig!“ Entgeistert blickte der Angesprochene Green und ihren ausgestreckten Zeigefinger, der geradewegs auf ihn gerichtet war, an, doch er war scheinbar der gleichen Meinung wie Green, weswegen er versuchte, seine Röte herunterzuschlucken – mit zweifelhaftem Erfolg.  „A-Also ... A...“ Gary schlug sich sofort die Hand vor den Mund, als er – wie auch Green und deren Zuschauer – bemerkte, dass er zu stottern angefangen hatte.  „Ich denke ...“ Mit leuchtenden Augen und einem erheiterten Schmunzeln – denn sie fand seine unerwartete Schüchternheit unheimlich niedlich – beobachtete Green ihn und steckte ihre Hände dabei in die Taschen seiner Jacke – und wurde jäh abgelenkt. In seiner rechten Jackentasche lag etwas – etwas mit einer Schleife, etwas eingepacktes, kleines ... viereckiges?! Klein und viereckig, wie Schmuck normalerweise eingepackt wurde? Jetzt war es Green, die rot anlief; von Gary allerdings unbemerkt, denn dieser stammelte gerade seine Antwort, die Green gar nicht hörte – das Geschenk ... war das ... ihr Weihnachtsgeschenk?     „Was tut Green denn da!? Sie hört ihm ja gar nicht zu! Siberu-kun, was hat Gary denn jetzt gesagt, erzähl!“ Siberu grinste nur verschmitzt, denn was Green nicht gehört hatte, er aber schon, war tatsächlich genau das, was sie sich erhofft hatte: „Ich denke ... man kann uns schon Freunde nennen.“     Als Gary, der immerhin so lange dafür gebraucht hatte, zu einer Antwort zu kommen, bemerkte, dass Green ihm nicht zuhörte, wollte er gerade ein wenig aufgebracht um ihre Aufmerksamkeit bitten, als er bemerkte, weshalb sie abgelenkt war – und beide starrten mit komplett errötetem Gesicht das kleine, viereckige Geschenk auf Greens ausgestreckter Handfläche an – und sahen gleichzeitig auf, nur um noch röter zu werden, als sie sich ansahen. Beiden schien es die Sprache verschlagen zu haben, weshalb Green auf Körpersprache zurückgriff, um mit dem Zeigefinger auf sich selbst zu zeigen, wohl um zu fragen, ob das Geschenk für sie war, was er mit einem zurückhaltenden Nicken bejahte. Über diese Aussage scheinbar enorm erfreut, begann Green zu grinsen: „Ach du Schande, Gary! Ich wusste gar nicht, dass du es so ernst meinst!“ Seine Stimme wiederfindend antwortete Gary aufgebracht: „Das war nicht meine Idee!“ Doch noch bevor Gary mehr sagen konnte, kam Siberu aus seinem Versteck angerast: „Du Trantüte! So macht man das doch nicht! Du musst so was sagen wie: Ich habe jedes Geschäft nach passenden Ohrringen für dich abgesucht, aber keine waren hübsch genug für dein Gesicht----" „So was Hochtrabendes sagt nur ein Schleimer wie du! Ich würde so etwas niemals sagen ...“ „Ohrringe? Du hast mir Ohrringe gekauft?“ Und schon kam Sho ebenfalls angeflitzt, sich an Greens Schulter hängend, um über diese hinweg zu sehen: „Nun mach schon auf, Green! Mach auf!“ „Wo kommt ihr denn plötzlich alle her?“, fragte Green, als sie die ganze Meute plötzlich um sich hatte – nicht wirklich überrascht, sondern eher als reine Pro-forma-Frage gestellt. Sogar Pink kam angerannt, als sie den Aufstand bemerkte. „Das ist doch jetzt vollkommen egal! Mach auf – ich will wissen, was so ein langweiliger Streber wie Ookido einem Mädchen schenkt! Du hast doch sicherlich geholfen, Siberu-kun?“ „Hahaha, Sho, du glaubst doch nicht, dass mein Bruder so was alleine hinbekommt ...“ „Ich wusste, das würde peinlich werden ...“  „Green-chan hat schon ein Geschenk! Oooh das ist gemein, ich will meins auch schon!“    „Das ist wirklich ein Tag fürs Geschichtsbuch“, schlussfolgerte Tinami grinsend, die um Green herumtänzelnde Meute von weiter weg beobachtend, zusammen mit Kaira und Azura.  „Jetzt bekommt eine Hikari sogar ein Weihnachtsgeschenk von einem Dämon.“ Tinami lachte über ihre eigenen Worte und schien es sehr erheiternd zu finden, wie Green mit leuchtenden Augen die Schleife von dem Geschenk löste und Gary von Siberu und Sho aufgezogen wurde, dass er das Paket doch niemals selbst verpackt hatte. Kaira schnaubte; sie teilte Tinamis Gefühle nicht. „Was wohl ihre Vorfahren dazu sagen werden?“  „Sie würden sich wohl im Grabe herumdrehen, wenn sie denn in einem Grab liegen würden. Eines steht jedenfalls fest ...“ Tinami brach ihren Erdbeerpocky in zwei Stücke in genau dem Moment, als Green zwei Ohrringe mit daran hängenden Glöckchen auspackte und ein einstimmiges „Ooooh!“ ertönte: „Wir sind in eine spannende Generation geboren worden.“   [1] ”Baka” bedeutet ”Idiot” auf Japanisch  Kapitel 18: Das heilige Reich der Hikari ---------------------------------------- „Bin ich jetzt mal dran mit Fragen stellen?“, fragte Green mit skeptisch erhobenen Augenbrauen, während Grey seine Medizin von Ryô erhielt, sich aber sofort aufgeregt abwandte; wahrscheinlich, weil er glaubte, dass Green irgendeinen von den viel zu langen Namen von irgendeinem enorm wichtigen Hikari vergessen hatte – aber nein, das hatte sie nicht, wie ihn ein Wink in Richtung ihres Kleides vermuten ließ.  „Ist dieses Kleid wirklich notwendig? Ich meine, es ist ein Familientreffen und kein Ball oder so etwas Ähnliches.“ „I-Ich dachte, es gefalle dir?“ Greys Tonfall sagte Green sofort, dass sie jetzt nichts Falsches sagen durfte – und ja, es war ja nicht so, dass sie das Kleid nicht mochte, sie hielt es nur für nicht angebracht; und auch wenn es ihr vielleicht stand, fühlte sie sich unwohl darin. Allein schon, dass der Rock drei Unterröcke besaß, war für Green sehr ungewöhnlich und gehörte für sie nicht zur Alltagskleidung– genau dies versuchte sie Grey zu erklären, doch kaum, dass sie ihm versichert hatte, dass es ihr im Prinzip schon gefiel, winkte er mit der Hand ab und wollte kein „Aber“ mehr hören. Er schluckte seine Medizin, sah den neidischen Blick Itzumis nicht, den Green aber sehr wohl bemerkte, und zerschlug die Einwände seiner Schwester: „Natürlich ist eine solche Kleidung notwendig! Du musst doch angemessen gekleidet sein für deinen ersten Besuch im Jenseits. Oder willst du unserer Familie in Schwarz gekleidet gegenübertreten?“ Green antwortete nicht mehr, denn sie bemerkte, dass die anderen sich bereit machten – und blitzartig spürte sie die bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich verdrängte Nervosität in sich emporsteigen. In der vergangenen Woche hatte sie schon konstant Siberu und Gary die Ohren mit ihrer Unsicherheit abgekaut, welche immer wieder auf ihre Art und Weise versucht hatten, sie zu beruhigen und auf andere Gedanken zu bringen. Dabei ging es Green gar nicht direkt um ihre verstorbene Familie, denn sie war nicht scharf darauf, sie kennenzulernen; es war einfach zu deutlich, dass sie getestet werden musste. Das ganze Auswendiglernen der Regeln und der Hikarigeschichtscrashkurs – von dem sie die Hälfte schon vergessen hatte – musste irgendeinen Grund haben; irgendetwas, was nichts mit einem normalen Familientreffen bei Kaffee und Kuchen zu tun hatte. Aber wenn das eine Art Prüfung war, was wollten sie dann überhaupt überprüfen? Die wussten doch am besten über ihre Unreinheit Bescheid und sie sollte wohl kaum ihre Kampferfahrung unter Beweis stellen? Aber was war es dann? Vielen Fragen, die sie in den nächsten Stunden sicherlich beantwortet bekommen würde– aber diese Fragen waren es nicht, die sie nervös werden ließen. Es war das Treffen mit ihrer Mutter. „So, Green, wir können aufbrechen. Bist du so weit?“ Die Angesprochene schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah, wie Grey einen mit blauen Juwelen besetzten, goldenen Schlüssel unter seinem Oberteil hervorholte. Doch obwohl die vielen Juwelen sofort Greens Blick fesselten, mitsamt der Frage, wie viel der Schlüssel wohl wert war, war da noch etwas anderes, das sie an der zierlichen Kette bemerkte, die Grey wieder unter seinem Oberteil verschwinden ließ, nachdem er den Schlüssel von der Kette gelöst hatte.  „Was ist denn, Green?“, fragte Grey, denn scheinbar hatte er ihren aufmerksamen Blick bemerkt. „Der andere Anhänger an der Kette – was war das?“ Grey lächelte und antwortete: „Meine Waffe natürlich. Ansonsten trage ich eigentlich keinen Schmuck.“ Erstaunt sah Green ihn an, denn sie konnte sich Grey so gar nicht als Kämpfer vorstellen. Auf sie wirkte er wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, die schon der kleinste Riss zum Zerbersten bringen konnte. Sein Immunsystem war immerhin schwach, weshalb sie ihn eher hinter denen, die kämpften, vermutet hätte - als derjenige, der die strategischen Anweisungen gab. Allerdings hatte er ihr ja auch erzählt, dass das Immunsystem ihrer Mutter ebenfalls schwach gewesen war und den ganzen Lobeshymnen nach zu urteilen hatte sie sich nicht von ihrer Gesundheit von irgendeinem Kampf abhalten lassen. Was war das nur für eine Frau? „Wie kommen wir jetzt eigentlich ins Jenseits, ohne uns umzubringen?“, witzelte Green, nachdem sie sich entschloss, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, über solche Dinge nachzudenken. „Mit dem Schlüssel! Aber das wirst du gleich sehen.“ Grey streckte die Hand nach seiner Schwester aus, ihr versichernd, dass er schon auf sie aufpassen würde. „Du darfst nur meine Hand nicht loslassen. Das ist das Einzige, woran du denken musst, alles andere übernehme ich.“ Green entschloss sich, dass sie besser nicht fragte, was passieren würde, wenn sie aus Versehen seine Hand losließ. Ohne dass sie es bemerkte, drückte sie die Hand ihres Bruders ein wenig fester, was ihm nicht unbemerkt blieb: „Aber Green, du brauchst doch nicht nervös zu sein; es ist genauso wie das Teleportieren! Der einzige Unterschied ist die Notwendigkeit der Schlüssel und dass nur direkte Nachfahren der Hikari dorthin teleportieren können. Es wird vielleicht ein wenig länger dauern, aber das ist schon alles.“ Das Nicken Greens war leider unsicherer als von ihr vorgesehen, denn das Gefühl zu teleportieren gehörte gewiss nicht zu ihren Lieblingserfahrungen und die zwei Sekunden, die es brauchte, von einem Ort zum anderen zu wechseln, waren ihr eigentlich schon genug. „So, Green, schließe bitte deine Augen ...“ Green beeilte sich, es sofort zu tun und wirkte dabei recht angestrengt, was Grey zu einem Schmunzeln brachte, doch Ryô holte ihn auf den viel zu harten Boden der Tatsachen zurück: „Ich wünsche Euch ein angenehmes Treffen mit Eurer Familie.“ Grey sah seinem Tempelwächter ernst in die goldenen Augen, denn er wusste, was Ryô eigentlich hatte sagen wollen: viel Glück. „Danke, Ryô.“ Dann atmete Grey tief durch und sprach folgende Worte:   „Heilige Göttin des Lichts, ich, Euer treuer Erbe, bitte um einen erleuchteten Pfad. Schenkt mir eine Feder Eurer engelshaften Schwingen. Geleitet mich in die lichtdurchfluteten Hallen … … bis ich irgendwann eine Reflektion Eurer Heiligkeit werden kann. Oh, Hikari-kami-sama, ich bitte Euch.“     Noch während er diese für Green ungewöhnlichen Worte ausgesprochen hatte, bemerkte sie das von der Teleportation bereits bekannte Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie verlor für einen Augenblick den Boden unter den Füßen – und was war das? Waren das Glöckchen? Es mussten viele sein; viele, die in seliger Harmonie erklangen, aber ... Sie klangen anders als das Klingen, das ihr Eigenes verursachte. Woher kam es? Sie hatte das Gefühl, als käme es ganz aus der Nähe; aber wenn sie die Augen öffnen würde, was würde dann passieren? Sie wollte die Hände ausstrecken, beide, sich von ihrem Bruder lösen, unvernünftig sein, genau wie damals, als Pink ihr ihr eigenes Glöckchen hingehalten und ihr Leben für immer verändert hatte ... und wie damals hörte sie auch wieder eine an sie gerichtete Stimme: „Mein Schmetterling! Mein Schmetterling, endlich, endlich ... Befrei---“ „Green, du darfst meine Hand nicht loslassen!“ „---uns mit deinem sehenden Blau.“ „“Meinem sehenden Blau?““, wiederholte Green im gleichen Moment, als die komische Stimme verschwand und sie stattdessen das Klicken einer Tür hörte – sofort hatte Green andere Dinge, über die sie nachdenken musste, denn als sie nach Luft schnappte, erhielt sie keine. Alle komischen Stimmen verschwanden prompt aus ihren Gedanken, denn die Panik brach in ihr aus – ohne Luft würde sie ersticken!  Dann bekam Green einen Schlag auf den Hinterkopf – sachte, aber hart genug, um sie von ihrer Panik abzulenken. „Du brauchst an diesem Ort nicht zu atmen! Green, öffne deine Augen!“ Green hörte auf, nach Luft zu ringen und tatsächlich: Sie brauchte keine Luft. Aber wie war das möglich? Zögernd öffnete sie ihre Augen und fand sich selbst in einer riesigen, von Licht erleuchteten Halle wieder. Green kniete auf dem Boden, etwas, was sie nicht tun sollte, wie Greys tadelnder Blick ihr sagte, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen, um acht auf die Etikette zu geben. Der Boden unter ihren Knien und Handflächen fühlte sich komisch an, als wäre er aus einer Art Glas; aus weißem Glas, aber sie spürte keine glatte Oberfläche, keine Rillen, die verschiedene aneinandergereihte Platten andeuteten, sah nur ein verschwommenes Spiegelbild von ihrem verwirrten Gesichtsausdruck. Weit entfernt über ihr wölbte sich eine mit fliegenden Engeln reich verzierte Kuppel, in deren Mitte ein kleiner Engel in Form eines Mädchens thronte – in seiner rechten Hand ein massives Buch haltend, die andere warnend erhoben. Da Green das Buch in Massen im Tempel gesehen und Grey ihr immer wieder ein Exemplar unter die Nase gehalten hatte, wusste Green, was dieses Fresko bedeuten sollte: Halte dich an die Regeln oder du bist tot. Naja – außer dass die hier „Lebenden“ bereits tot waren, dachte Green mit einem säuerlichen Grinsen. Dann erstarrte sie plötzlich; noch während sie das selig lächelnde Engelsmädchen angrinste, hörte sie wieder die komische Stimme: „Du musst sehen ... Du musst sehen, um uns von den Ketten befreien zu können.“ „Ich muss ... sehen?“, wiederholte Green verblüfft, doch mit fern klingender Stimme. „Green?“ Überrascht sah sie ihren sehr verwirrten Bruder an, der ihr schon seit einigen Sekunden die Hand hingehalten hatte, um ihr aufzuhelfen. Verschmitzt lächelnd ergriff sie sie nun und kaum, dass sie aufrecht stand, konnte Grey seine Neugierde nicht zurückhalten: „Was hattest du damit gemeint, du müsstest sehen? Schmerzen dir deine Augen?“ Verwundert wurde Grey angesehen: „Ach, ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, die Worte dieser komischen Stimme zu wiederholen.“ „Stimme? Welche Stimme?“ „Na, diese Kinderstimme – sie klang auf jeden Fall wie die eines Kindes ...“ „Green, es gibt hier keine Kinder. Die jüngste verstorbene Hikari, die einen Platz im Jenseits erhielt, ist mit 17 gestorben.“ Brr, was für eine Vorstellung, dachte Green, immerhin war sie selbst fast genauso alt und sterben wollte sie jetzt garantiert nicht.  Grey machte ihr schnell klar, dass jetzt nicht die Zeit war, um über irgendwelche Stimmen zu sprechen und bedeutete ihr, dass sie es eilig hatten. Kaum dass Green einen Schritt gegangen war, bemerkte sie auch schon eine weitere Eigenart des Jenseits: Ihre Schritte waren ungewöhnlich leicht, viel eher federleicht, als hätte sie Flügel auf dem Rücken. „Oh mein Gott! Grey, guck mal, guck mal! Als wäre ich schwerelos!“ Und ehe Grey etwas dagegen tun konnte, nahm Green Anlauf und hopste von einer Stelle zur nächsten mit federnder Leichtigkeit. „Green, ich habe wirklich größte Ehrfurcht davor, dass du überhaupt auf diesen Absätzen springen kannst, aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn du es unterlassen und dich stattdessen deinem Alter angemessen benehmen würdest.“ Spielend streckte Green ihm die Zunge aus, doch die Röte auf ihren Wangen sagte ihm, dass sie sich schon bewusst war, dass es weder der rechte Zeitpunkt war noch dass das Kleid für ausgelassenes Springen geeignet war. Aber entschuldigen tat sie sich nicht, auch als die beiden Geschwister vor eine riesige Flügeltür gelangten, die von zwei – ohne Zweifel – Tempelwächter bewacht wurde, die Green beide etwas länger mit hochgezogenen Augenbrauen bedachten, ehe sie sich ihrer Pflicht widmeten: „Wir bitten um Autorisierung“, forderten die zwei Tempelwächterzwillinge – ob die immer im Doppelpack kamen? – sie gleichzeitig auf. Grey wollte ihrer Aufforderung gerade nachkommen, da unterbrach Green ihn: „Ich dachte, du wärst schon oft hier gewesen, warum musst du dich also autorisieren?“ „Wir bitten um Verzeihung für die Unannehmlichkeiten, doch Vorschrift ist Vorschrift“, antworteten die zwei Tempelwächter ein weiteres Mal absolut synchron. „Da haben sie vollkommen recht, Green“, erwiderte Grey mit einem verstehenden Nicken: „Auch wenn ich bezweifle, dass sich ein Dämon auch nur mit einem Fuß hierher wagen würde.“ Er holte tief Luft, wandte sich von Green ab und verkündete dann das, was die beiden offensichtlich hören wollten: „Eien Kaze Grey. Sohn von Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White und Eien Kaze Kanori. Elementarwächter des Windes; erster Rang.“ Er warf einen erwartungsvollen Seitenblick an Green, welche sich zusammennahm und es ihm gleichtat: „… Kurai Yogosu Hikari Green. Tochter von Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White und …“ Sie sah Grey verwirrt an; sie wusste den Namen ihres Vaters doch gar nicht.  „Ehm, Elementarwächterin des Lichtes; dritter Rang“, schloss Green ihre Vorstellung ab und sofort verbeugten sich die beiden gleich aussehenden Tempelwächter. „Willkommen, Grey-sama und Green-sama.“ Nachdem sie ihre Verbeugung ausgeführt hatten, öffneten sie zusammen die große Flügeltür. Green spürte wieder eine kleine Welle an Nervosität in ihr hochsteigen, als Grey ihre Hand nahm und sie durch die Tür führte. Er hatte ihr nicht gesagt, wann und wie sie ihre Mutter treffen würde, aber sie spürte regelrecht, dass es nicht mehr lange dauern konnte ... Ausgestorben lag eine Weggabelung vor ihnen; beide Wege schienen in ein endloses weißes Nichts zu führen, denn sowohl die Wände als auch der Boden waren komplett weiß. Auch hier war der Boden unter ihren Füßen wie in der Eingangshalle mit merkwürdig aussehenden Schriftzeichen graviert; war es überhaupt eine Schrift? Sie wirkte wie eine, aber es war nicht die Sprache der Wächter. Doch dies war die einzige Verzierung, denn anders als im Tempel gab es hier keine Gemälde, weshalb alles recht eintönig auf Green wirkte. Green wollte gerade fragen, welchen Weg sie nehmen sollten, als von rechts Schritte zu hören waren. Ohne dass Grey sich überhaupt herumgedreht hatte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und Green sank das Herz in die Knie. „Mutter!“ Green traute sich nicht, sich umzudrehen wie Grey es getan hatte, denn die Nervosität war in ihr ausgebrochen, als ihr bewusst geworden war, dass es ihre Mutter war, die hinter ihr stand. Ihre Mutter. Ihre ... leibliche Mutter.  Ihre Mutter, nach der sie sich in ihren Kindheitstagen immer gesehnt hatte … Was war, wenn ihre Mutter sie jetzt abschätzend anschauen würde, sie skeptisch beäugen und sich dann angewidert abwenden würde? Immerhin hatte Green gehört, dass ihre Mutter die Reinheit in Person war und das ... das spürte sie jetzt auch regelrecht. „Green?“ Ihre Stimme … Die Stimme ihrer Mutter. Sie war ruhig, aber nicht ausdruckslos; Green meinte sogar, ebenfalls ein wenig Nervosität heraushören zu können und das erleichterte sie ein wenig - wie auch, dass sie keine abschätzende Kälte vernehmen konnte, weshalb sie sich traute, sich zögernd umzuwenden.  Als sie ihre Mutter das erste Mal sah, verstand Green plötzlich, warum die Künstler der Wächter ihre Mutter auf Gemälden oft mit Engelsflügeln darstellten; sie sah tatsächlich aus wie ein Engel. Ihre Erscheinung war beinahe komplett weiß; ihre weißen Augen waren groß, weich und warm, unterstrichen ihr ebenso warmes Lächeln. Sie schien förmlich von Innen heraus zu leuchten; reiner und gegensätzlicher zu Green hätte sie gar nicht aussehen können. Dieser Engel, nein, diese Frau war ihre Mutter und doch wirkte ihre Reinheit bedrückend und Green fragte sich tatsächlich kurz, ob sie sich verbeugen sollte. Aber nein, es war ihre Mutter; keine Königin. Doch was sollte Green tun? Einfach „Hi Mutter!“ sagen? Da Green ihren Blick abgewandt hatte, hatte sie nicht bemerkt, dass White näher herangekommen war – sie bemerkte Whites Nähe erst, als sie eine warme Hand an ihrer Wange spürte und ihr Gesicht langsam und sanft nach oben gehoben wurde, damit Mutter und Tochter sich zum ersten Mal in die Augen sehen konnten. Erst da bemerkte Green, dass ihre Mutter recht klein war; sogar ein wenig kleiner als sie selbst. „Du bist wirklich meine Tochter; unverwechselbar. Das gleiche Gesicht, die gleichen Haare und der gleiche, zierliche Körperbau; aber zum Glück hast du nicht meine Zerbrechlichkeit geerbt. Es freut mich sehr, zu sehen, dass dir auch mein schlechtes Immunsystem erspart geblieben ist; du siehst sehr gesund aus.“ „I-Ich bin auch kaum krank“, purzelten die Worte unkontrollierbar aus Greens Mund, ohne zu wissen, warum sie gerade diese Worte als die ersten an ihre Mutter gewählt hatte. White lächelte weiterhin, auch wenn es Green schien, dass es ein wenig erfreuter wurde, als hätte Green irgendetwas besonders Bedeutsames gesagt. „Aber deine ungewöhnlichen Augen hast du von deinem Vater; es ist dasselbe Blau. Wie das tiefe Meer ... Ganz anders als die Augen Greys. Seine sind offen und weit wie der Himmel. Wie ... Kanoris.“ Die letzten Worte hatte sie kaum hörbar ausgesprochen, weshalb Grey sie wahrscheinlich nicht gehört hatte. Doch Green hatte sie hören können und in diesen wenigen Worten hatte sie mehr als nur Traurigkeit herausgehört. Sie musste Greys Vater wirklich sehr geliebt haben … „Nun gut“, begann White wieder mit einem gelassenen Lächeln: „Leider ist es notwendig, dass wir unser Gespräch hier abbrechen müssen, denn es gibt viel zu tun dank einiger kurzfristiger Planänderungen.“ „Kurzfristige Planänderungen!?“, entfuhr es Grey aufgeregt; ganz offensichtlich war er über diese Neuigkeit nicht nur überrascht, sondern auch empört. „Aber wir sind doch extra eine Stunde früher hier, damit wir drei Zeit miteinander verbringen können, ehe alles anfängt ...“ Jetzt war es Green, die die Augenbrauen hob, denn davon hatte sie bis jetzt nichts gehört; hatte er sie nicht die ganze Zeit gescheucht? „Das war auch ein sehr schöner Gedanke von dir, Grey“, sagte White immer noch lächelnd, sich nun an ihren Sohn wendend: „Nur leider verlangt euer Großvater nach Grey und mir. Er besteht vehement darauf, noch einmal mit uns zu sprechen, bevor wir uns alle versammeln.“ Grey wollte gerade seine Unzufriedenheit zur Kenntnis geben, als Green dazwischen ging: „Ach, das macht gar nichts! Du bist ja hier im Jenseits, wir können dich also immer besuchen! Sagt mir einfach die ungefähre Richtung und dann finde ich schon den Weg ...“ „Das geht leider nicht, Green", unterbrach Grey seine eifrige Schwester: „Hier im Reich der Hikari können nur Hikari – also tote Hikari – den Weg finden. Versucht jemand anderes, seinen Weg durch das Jenseits zu finden, wird er sich zwangsläufig verirren, denn die Korridore selbst werden sich der Person in den Weg stellen, indem sie sich verschieben oder endlose Weiten annehmen. Du siehst, ohne einen Hikari ist es unmöglich, von einem Punkt zum anderen zu kommen.“ „Meine Güte, wie kompliziert!“ „Sicherheitsvorkehrungen.“ Es gab eindeutig ziemlich viele Sicherheitsvorkehrungen dafür, dass man bezweifelte, dass Dämonen jemals einen Schritt hierher wagen würden. Wofür das Ganze? Waren die Hikari nicht sowieso tot? Wo lag denn der Sinn darin, tote Hikari schützen zu wollen?  „Wer wird Green dann zum Familientreffen bringen, wenn es nicht du bist?“ White bedeutete ihnen mit einer ruhigen Geste ihrer Hand, dass sie anfangen sollten zu gehen, während sie antwortete: „Seigi-kun wird sie geleiten.“ Green konnte mit den Namen nichts anfangen, aber Grey konnte es ganz offensichtlich, denn sein Gesicht verfinsterte sich augenblicklich: „Warum denn der?“ „Weil der Rat es so bestimmt hat, mein Sohn.“ „Hätte es keine Alternative gegeben? Seigi ist ein Mörder!“ White seufzte erschöpft bei dieser Antwort und machte nicht gerade den Eindruck, als würde ihr das Thema sonderlich behagen. „Wenn Seigi-san ein Mörder ist, sind wir alle es.“ Green kam nicht drum herum, ihre Mutter verdattert anzustarren; eine solche Aussage hatte sie von ihrer Mutter nicht erwartet.  „Dämonen zu töten ist kein Mord. Das, was Seigi getan hat, schon.“ „Das Gericht hat ihn einmal für unschuldig befunden und es ist nicht an uns, diese Entscheidung anzuzweifeln.“ Abwechselnd sah Green ihre beiden Familienmitglieder an: White lächelte wieder ruhig und Grey ähnelte einem beleidigten Kind, das seinen Willen nicht bekam, sich aber seinem Elternteil aus Respekt beugte, auch wenn er nicht seiner Meinung war. Dieser Seigi machte Green neugierig, besonders da Grey ihn vorher nie erwähnt hatte, als sie über deren Familie gesprochen hatten, um sie für das Familientreffen vorzubereiten. Warum wollte ihr Bruder nicht, dass sie mit ihm in Kontakt kam? Und was hatte er verbrochen, wofür er vor ein Gericht gestellt worden war und Grey ihn als einen Mörder betitelte? Einen Dämon zu töten war immerhin kein Mord – jedenfalls aus der Sicht der Hikari nicht. Das brachte Green plötzlich ins Grübeln: Fühlte sie sich wie ein Mörder, wenn sie diese monströsen Wesen tötete? Eigentlich hatte sie bis jetzt keine Schuldgefühle oder Gewissensbisse ihretwegen gehabt ...   „Ah – da fällt mir ein, dass ich mich im Namen meiner Schwester über Pinks Befinden erkundigen muss“, ertönte Whites Stimme plötzlich und riss Green somit aus ihren Gedanken hoch und sofort blickte Green ihre Mutter an, weshalb ihr Greys eigenartig bekümmerter Blick, den er kurz seiner Mutter zuwarf, ehe er sich abwandte, nicht auffiel. „Von ihrer Mutter?“, wiederholte Green, als würde ihr erst plötzlich bewusst werden, dass Pinks Mutter natürlich ihre Tante war. „Ja, von meiner großen Schwester Violet.“ „Pink geht es gut! Quietschfidel und fröhlich wie immer! Ich wusste gar nicht, dass Pinks Mutter hier ist ...“ Grey drehte sich zu Green herum: „Aber Green, das habe ich dir doch schon erklärt: Nur Hikari haben die Möglichkeit auf ein Leben nach dem Tod. Außerdem ist unsere Tante nicht tot …“ Abrupt brach Grey sich selbst ab, als die Drei nun in einen etwas belebteren Part des Jenseits gelangten – und jetzt verstand Green plötzlich um einiges besser, warum man von ihr sagte, sie würde nicht zu ihnen passen. Die Hikari waren eine große Ansammlung komplett weißer Wesen: weiße Haare, weiße, sehr vornehme und aristokratisch-wirkende Kleidung mit nur geringen Farbnuancen und weiße Augen, die Green alle gleichzeitig zu bemerken schienen, wie sie Seite an Seite mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf dem obersten Absatz einer Treppe kurz verblüfft stehen geblieben war. Natürlich hatten sie sie bemerkt; Green stach heraus wie ein schwarzer Fleck auf einem komplett weißen Papier; ob mit oder ohne weißes Kleid. Die wenigsten jedoch starrten Green direkt an; die meisten waren gut erzogen und taten so, als ob sie das jüngste Mitglied ihrer Familie nicht bemerkt hätten. Andere jedoch tuschelten hinter vorgehaltener Hand mit ihrem weißen Ebenbild und – war das ein Fingerzeig? Ja, einer der Hikari hatte für einen kurzen Augenblick verächtlich mit dem Finger auf Greens Glöckchen gezeigt, ehe seine Gesprächspartnerin ihn ermahnte und sich beeilte, sich abzuwenden. Es war ganz klar, was Greens Glöckchen anders machte als deren: als einziges Glöckchen im Jenseits hatte ihres schwarze Flügel. Na und? Green hatte oft genug mit Ausgrenzung und Lästerei zu tun gehabt, um nun nicht den Kopf hängen zu lassen – außerdem: Hatten die sich mal im Spiegel geschaut? Was für ein schrecklich langweiliger Einheitsbrei! Sie alle sahen gleich aus; alle trugen sie Kleidung, die einen hohen gesellschaftlichen Stand vermuten ließen – und überall entdeckte Green das kompliziert zu zeichnende Wappen der Hikari, als würden sie befürchten, jemand könnte vergessen, welcher Familie sie angehörten. Ein antrainiertes Lächeln, welches Gelassenheit und Freundlichkeit imitierte, war auf ihren weißen Gesichtern zu finden, als wäre es ein Teil ihrer Kleidung und daher nicht wegzudenken. White wurde von vielen mit strahlenden Augen begrüßt und auch Grey erfreute sich einiger Beliebtheit, wie er freundlich Begrüßungen austauschte, als kenne er sie alle. Wie hielt er sie überhaupt auseinander? Unter den vielen anwesenden Hikari kämpfte sich nun eine vor, ohne dabei sonderlich aufzufallen, denn ihr viel zu leises „Entschuldigung, dürfte ich ...“ wurde nicht gehört, zu sehr waren die Hikari damit beschäftigt, sich zu profilieren oder so zu tun, als würden sie Green nicht sehen. Erst als das Dreiergespann angeführt von White um die nächste Ecke bog, in der nicht so viel los war, gelang es ihr endlich, die Aufmerksamkeit Whites zu erregen: „W-White-sempai!“ Alle drei wandten sich zu dem Mädchen herum, welches mit ihren langen geflochtenen Zöpfen und recht großen Augen sehr jung und mädchenhaft wirkte, wie Green fand; sie war eindeutig eine der jüngeren Verstorbenen, auch wenn Green sie trotz des vielen Lernens mit Grey nicht einordnen konnte. Doch auch wenn sie kindlich aussah, verbarg sich hinter ihrem Aussehen die gleiche Abneigung Green gegenüber wie bei den anderen – nur war sie schlechter darin, sie zu verbergen. Sie begrüßte White begeistert, ebenso wie Grey, den sie ganz offensichtlich enorm sympathisch fand – als sie sich dann jedoch Green zuwandte, kam sie ins Stocken und einen Augenblick lang starrte das Mädchen Green an; nicht nur mit Abneigung, sondern mit ... Furcht? War das tatsächlich Furcht in ihren Augen? Zitterte sie gar kurz? Aber Green tat doch gar nichts, außer ratlos herumzustehen? „Ist das ... Ist das Eure Tochter, White-sempai?“ Als ob das nicht klar war; anscheinend war sie ja bekannt wie ein bunter Hund. Warum die Frage? „Ja, in der Tat, Lili-san. Das ist meine Tochter. Doch ich denke, sie kann sich selbst vorstellen.“ Auch wenn Green diese gezwungene Höflichkeit nicht nachvollziehen konnte, fügte sie sich dennoch und sagte: „Kurai Yogosu Hikari Green.“ Und reichte im gleichen Atemzug Lili die Hand.  Etwas, was sie wohl lieber nicht hätte tun sollen; Lilis Lächeln brach in sich zusammen und erschrocken starrte sie die Hand an, die Green ihr gereicht hatte. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe, warf einen flüchtigen Blick zu White, um ein standhaftes Lächeln zu sehen, als hätte White gar nicht bemerkt, wie viele Sekunden Lili schon gezögert hatte. Green konnte sich vorstellen, warum; wahrscheinlich glaubte sie ... „Also so weit ich weiß ist Unreinheit nicht ansteckend, Mutter!“ Alle wirbelten zum Ursprung der sehr selbstbewusst klingenden Männerstimme herum und sofort waren Greens Gedanken um Höflichkeit und Unreinheit vergessen: denn, wow, es gab doch nicht nur langweilige, immer gleich aussehende Hikari, sondern richtig Gutaussehende! Einige Meter von ihnen entfernt lehnte ein verwegen aussehender Hikari an der Wand; ein breites, von sich selbst überzeugtes und Green unwillkürlich an Siberu erinnerndes Grinsen zierte sein Gesicht, auf dessen rechter Wange eine lange Narbe zu sehen war. Zwar hatte auch er weiße Haare, doch seine waren zerzaust und ein wenig unordentlich, seine weiße Kleidung zwar vornehm, aber eher praktisch und die lange Schwertscheide, in der ein geflügeltes Schwert ruhte, ließ vermuten, dass er ein Schwertkämpfer war. Was Green aber an ihm sofort gefiel, war nicht nur der lange schlanke Zopf, sondern vor allen Dingen, dass er keine weißen Augen hatte. Seine waren zwar auch hell, aber sie waren nicht weiß wie die der anderen Hikari: Sie waren minzgrün. „Seigi!“, rief Lili erschrocken, offensichtlich nicht sonderlich begeistert, ihn zu sehen. Das war Seigi? Und das Mädchen … seine Mutter?! Er war eindeutig älter; wie komisch die beiden im Vergleich zueinander wirkten. Kaum vorstellbar, dass sie Mutter Sohn waren – sie sahen eher aus wie Geschwister. Wie eigenartig es sein musste, wenn die eigene Mutter jünger war als man selbst … „Ich habe jedenfalls kein Problem, mich vorzustellen: Mein Name ist Seigi! Ich bin das Licht der Entschlossenheit und trage zu Recht den Titel des Tausendtöters!“ Seine Vorstellung hatte er gerade beendet, da sprang er auch schon auf Green zu und tat etwas, was nicht nur sie überraschte, sondern erst recht Grey und Lilli, die beide vor Schreck an die Decke zu gehen schienen, während White ausgesprochen ruhig blieb, als Seigi plötzlich vor Green stand, mit einer galanten Handbewegung ihre Hand zu seinen Lippen hob und flüchtig ihren Handrücken küsste. Green, sich wie eine Märchenprinzessin fühlend und jede Ablehnung ihrer Familie vergessend, errötete begeistert und grinste übers ganze Gesicht: „Und ich bin Green, hihi!“ „Jaha, ich weiß – das ist ein ziemlich komischer Name in den Ohren von jemandem, der Englisch gelernt hat, so wie ich! Ich meine, nach Farben benannt zu werden ...“ Feixend sah Seigi zu Grey, Lili und White und schien sich enorm über Greys und Lilis erschrockene und teils heftig verärgerte Gesichtsausdrücke zu amüsieren: „Ihr solltet eure Gesichter sehen, wahahahahaha!“ „Seigi! Mein Sohn, wie kannst du nur so unhöflich sein!“, jammerte Lili verzagt, sich hastig an White wendend, um sich beschämt für das kontroverse Benehmen Seigis zu entschuldigen. Auch Grey schien nicht nach Lachen zumute zu sein und schien es alles andere als witzig zu finden, dass sein Name gerade „komisch“ genannt wurde; White schien sich von Seigis Kritik nicht angesprochen zu fühlen. Green stimmte Seigi jedoch zu, was Grey offensichtlich zu erschüttern schien: „Also ich habe mich immer über meinen Namen gewundert. Ich stimme Seigi total zu; es ist verflu … schon komisch, nach Farben benannt zu sein!“ „Nun, dann werde ich euch wohl aufklären müssen, denn an unseren Namen ist nichts „komisch“. Sie sind wohlweislich ausgesucht worden!“ Theatralisch räusperte Grey sich hörbar und fuhr fort in seinem typischen belehrenden Tonfall fort, den Green mittlerweile gut kannte:   „Der Name einer unserer alten Gottheiten, Green, wird ähnlich ausgesprochen wie das englische Wort für „Licht“, weshalb sein Name heutzutage auch auf diese Weise geschrieben wird – jedenfalls, wenn sein Name in den lateinischen Buchstaben der Menschen geschrieben ist. Mit unserem Alphabet schreiben wir seinen Namen ein wenig anders …“ Grey räusperte sich abermals und fuhr fort, ohne auf Greens ungläubigen Blick zu achten, welche wohl nicht geglaubt hatte, dass ihr Name irgendetwas mit einer Gottheit zu tun hatte: „Unser Großvater entschied sich für eine Anlehnung, als er die Namen seiner Kinder beschloss, in der festen Überzeugung, dass sein erstes Kind ein Lichterbe sein würde, von dem er Großes erwartete. Doch obwohl Mutter seine zweitgeborene Tochter ist, erhielt sie den Namen, den sie heute trägt und …“ Grey lachte ein wenig und war ganz offensichtlich recht stolz, als er fortfuhr: „… hat in der Tat Großes vollbracht und macht ihrem Namen alle Ehre. Nicht umsonst nennt man unsere Mutter im Volksmund die „Wiedergeburt des Lichtes“.“ „Oh ja, das ist White-sempai, in der Tat!“, quiekte Lili begeistert, während Seigi nur mit den Augen himmelte, doch Green bemerkte, dass White nicht sonderlich froh zu sein schien, als sie sich für das Kompliment bedankte; aber vielleicht strahlte White auch nie vor Freude, das wagte Green nicht zu beurteilen. „Großvater hat auch meinen Namen ausgesucht und so die Tradition fortgeführt“, fügte Grey hinzu: „Er hat es mir zwar nie gesagt, aber ich denke, Großvater wollte eine „Familie in der Familie“ schaffen.“ „Also hat Großvater auch meinen Namen ausgesucht?“ Greys vorher noch sehr zufrieden aussehendes Lächeln verkrampfte sich und auch Lilis Begeisterung verpuffte augenblicklich. „Also … das …“ „Nein, das war ich.“ Green sah zu White, die den Blick ihrer Tochter eine Spur zu ernst erwiderte, weshalb Greens Stirn sich in verwunderte Falten legte – doch bevor Green etwas sagen konnte, beendete White das Thema: „Ich glaube, wir sollten das Thema hier lieber abschließen. Meinen Vater würde ich ungerne warten lassen.“ White hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Lili schon vorschoss, als hätte sie nur auf die Chance gewartet: „Aber natürlich, White-sempai, Sie haben natürlich absolut recht! Bitte entschuldigt das frevelhafte Verhalten meines Sohnes! Ich bin untröstlich ...“  „Vorher möchte ich allerdings noch kurz mit meiner Tochter sprechen. Green?“ Es gab einen kleinen Ruck in Green, als ihre Mutter ihren Namen nannte und sie mit einer bedächtigen Geste zu sich bat. Für einen kurzen Moment war sie wieder nervös, als sie sich zu ihrer Mutter gesellte und sie Abstand zu den anderen Hikari nahmen, doch Green riss sich zusammen. Ehe White das Gespräch begann, sah sie sich nochmal um, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich nicht von jemandem gehört wurden, was offensichtlich der Fall war, denn Lili hatte angefangen, mit Grey über dessen Schneiderkunst zu sprechen; offensichtlich im schwärmerischen Tonfall, den Seigi mit himmelnden Augen quittierte.  „Green, im Umgang mit meinem Vater, sei so …“ „Höflich wie möglich? Das hat mir Grey schon erzählt!“, unterbrach Green ihre Mutter, die sie verwundert ansah; scheinbar war sie es nicht gewöhnt, dass jemand anderes außer der besagte Hikari sie mitten im Satz unterbrach. „Selbstverständlich. Dem ungeachtet ist es allerdings wichtig, dass du die Ruhe bewahrst. Denn dein Großvater ist bekannt für sein hitziges Temperament und er duldet keinen Widerspruch.“ „Das krieg ich schon hin“, erwiderte Green mit einem selbstsicheren Grinsen – aber da war noch mehr; sie sah es ihrer Mutter an… sie zögerte, als bringe sie es kaum übers Herz. „Er hat allerdings auch etwas gegen … Unreinheit.“ „Mit anderen Worten: Er mag mich nicht.“ Das war nun wirklich mehr als harmlos ausgesprochen, dachte White mit bedrücktem Herzen. Allerdings brachte sie es nicht fertig, Green zu erzählen, dass ausgerechnet ihr eigener Großvater ihr ärgster Feind war; ein starker Feind mit großem Einfluss. Noch war der richtige Zeitpunkt nicht gekommen. Doch wann würde er das? Green konnte sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihre Familie sie ablehnte, ohne sie überhaupt jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Green hatte allen Grund zur Verunsicherung, aber diese spürte sie momentan nicht; ja, ihre Familie lehnte sie ganz offensichtlich ab – und offensichtlich gehörte ihr Großvater dazu – aber das störte Green nicht, denn ihr Bruder und ihre Mutter schienen diese Ablehnung nicht zu teilen, und nachdem Green ihre Mutter nun getroffen hatte, war sie auch nicht mehr so nervös – was kümmerte sie schon ein Familientreffen? Was kümmerte es sie, dass fremde Personen ihre Hand nicht schütteln wollten, weil sie glaubten, dass Unreinheit wie die Pest sei? In ihren Augen hatten sie einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und ihr Großvater gehörte wohl dazu; aber darauf hatte Grey sie schon vorgewarnt. Sein Dämonenhass sollte auffällig ausgeprägt sein, sein Stolz enorm und die Würde und die Werte der Hikari-Familie verteidigte er mit eiserner Härte und einem hitzigen Temperament. Aber Green machte sich keine Sorgen, denn so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. „Green, es fällt mir schwer, das zu sagen, aber so leid es mir auch tut, ich werde für dich keine Partei ergreifen können.“ Green nickte, denn obwohl sie keine Ahnung hatte von irgendwelchen politischen Zwisten, hatte sie nichts dagegen, dass ihre Mutter nicht für sie sprechen konnte. Immerhin hatte sie ihre Mutter erst seit gut einer halben Stunde und wollte deshalb nicht, dass White für sie einsprang. Green wollte beweisen, dass die anderen ach so heiligen Hikari nicht mehr wert waren als sie – worum auch immer es ging.  „Was genau muss ich eigentlich tun? Nen Fragebogen ausfüllen?“ „Selbstverständlich nicht. Einzig und allein deine Anwesenheit ist von Nöten; es ist ein einfaches Familientreffen, welches wir regelmäßig abhalten.“ Greens Augenbrauen hoben sich eine Ahnung, denn ihr war klar, dass das nicht alles sein konnte. Sie hatte einfach schon zu viele Mahnungen und Warnungen erhalten. White bemerkte ihre Skepsis und führte daher weiter aus: „Es ist kein Test, Green. Nicht im traditionellen Sinn. Doch manchmal sind die Blicke der eigenen Familienmitglieder die prüfendsten.“ Diese Aussage brachte Greens Augenbrauen nicht dazu, sich zu senken; im Gegenteil. Doch es war ganz offensichtlich Zeit, dass White und Grey sie verließen, denn ihre Mutter wandte sich herum – entschied sich dann aber anders: „Eine Frage hätte ich allerdings noch …“ „Ja?“ Wurde White rot? Ihre Augen flüchteten kurz in eine andere Richtung, ehe sie sich wieder auf Green festigten: „Wurdest du wegen deines Namens gehänselt? Ich bin kaum vertraut mit der menschlichen Gesellschaft und …“ Ihre Augen wurden wieder kurz unsicher, nahmen einen besorgten Ausdruck an: „… ich wollte dir ganz gewiss keinen Kummer bereiten. Nichts läge mir ferner.“ „Ach was, nicht so schlimm. Ich mag meinen Namen!“, antwortete Green grinsend, um ihre Lüge zu verschleiern; aber jetzt war garantiert nicht der Augenblick, über ihre Kindheit zu sprechen – und wenn White der Gedanke schon so sehr plagte, dass sie wegen ihres Namens gehänselt wurde, wie würde sie dann erst bei den anderen Dingen reagieren? White durchschaute ihre Lüge nicht: Sie freute sich auf eine zurückhaltende Art und Weise, dass Green ihren Namen mochte und dass White ihr keine Probleme bereitet hatte – und Green ließ sie in diesem Irrglauben. Irgendwann würde sie ihr vielleicht davon erzählen. Aber nicht jetzt.     Es fiel Lili sehr schwer, Seigi und Green alleine losgehen zu lassen und es beruhigte sie absolut nicht, dass Seigi ihr mehrere Male versicherte, dass er sich benehmen würde, als ob sie befürchtete, dass Green jeden kleinen Fehltritt sofort an ihre Mutter weiterleitete– als ob sie annehmen würde, dass Green sich für Fehltritte interessieren würde. Aus diesem Grund war sie wahrscheinlich auch aufgekreuzt, wie Seigi grinsend zum Unsegen seiner Mutter sagte; sie hätte Green lieber selbst begleitet und hatte sich wohl erhofft, dass sie Seigi zuvorkommen konnte. Zwar traute sie sich nicht länger als nötig, in Greens Nähe zu sein, aber die Angst, dass Seigi sich blamieren könnte, war größer gewesen. Davor musste sie jedoch keine Angst haben, wie Grey und sie bemerkten: munter plaudernd verließen Seigi, den sie jetzt „Onkel Seigi“ nannte, und Green, die er jetzt „Greeny“ nannte, die anderen Hikari, als würden sie sich schon ewig kennen. Grey musste sich eingestehen, dass er doch ein wenig eifersüchtig war, sich deutlich daran erinnernd, dass Green seinen höflichen Arm bei deren erstem Treffen abgelehnt hatte, sich aber nun ohne Scheu bei Seigi eingehakt hatte. Es gab jedoch Wichtigeres als Stolz, denn kaum, dass er und seine Mutter alleine auf dem Weg zu seinem Großvater waren, sagte White leise mit ernster Stimme: „Jetzt ist also sogar Lili-san auf Vaters Seite.“ Kaum merklich nickte Grey, ehe er antwortete: „Konntest du mit Adir-san sprechen?“ „Ja, ich konnte ihn dazu bewegen, heute anwesend zu sein, aber auch er ist nicht auf Greens Seite.“ „Aber Adir-san ist wenigstens neutral. Nur leider …“ Grey seufzte und verlangsamte seine Schritte ein wenig: „… Green trägt ihr Herz auf ihrer Zunge und so wie wir an die Reinheit des Licht-Elementes glauben, so überzeugt ist sie von der Freundschaft mit diesen beiden Halblingen. Ich bezweifle, dass sie sie verleugnen wird.“ Obwohl White Green eigentlich nur von Akten und Greys Erzählungen her kannte und nun nur wenig Zeit mit ihr verbracht hatte, wusste sie, dass Grey recht hatte; Green würde mehr als eine große Portion Glück brauchen, um Shaginai zu überzeugen; sie müsste nicht nur die Freundschaft mit den beiden Halbdämonen verleugnen, sondern auch sich selbst. White besaß zwar einen großen Einfluss bei den Hikari, aber nicht, wenn es um Green ging. Gleich nach dem Familientreffen war bereits eine Ratsversammlung veranlasst worden, bei der abgestimmt werden sollte, ob Green nun ein Sonderregelfall werden sollte oder nicht. Wenn es ihrer Tochter nicht gelang, bei der Mehrheit jener Hikari einen positiven Eindruck zu hinterlassen, dann … konnte White nichts mehr für sie tun. Wenn die Regeln Green nicht länger beschützten, dann konnten jegliche Maßnahmen gegen sie ergriffen werden, um sie unschädlich zu machen und White konnte sich nur allzu gut vorstellen, was der Mann, der keine Skrupel hatte, ein Neugeborenes hinrichten zu lassen, vorhatte, wenn er erst einmal die offizielle Erlaubnis dazu hatte.         Fertiggestellt: 25.08.2013     Kapitel 19: Die erhabenen Drei ------------------------------ Green hätte nicht gedacht, dass ihr Aufenthalt im Jenseits so unterhaltsam sein würde; schon gar nicht im Beisammensein mit einem Familienmitglied, das schon vor mehr als fünfhundert Jahren gestorben war und vor dem Grey sie auch noch so vehement gewarnt hatte. Sie und Seigi verstanden sich prächtig; die ganze Zeit sprachen sie miteinander über dieses und jenes – ihr Gespräch war sogar so heiter, dass einige Hikari, deren Weg sie kreuzten, verwundert die Augenbrauen hoben - doch Green achtete gar nicht auf sie und das gleiche tat Seigi. Er wirkte ganz anders als ihr Bruder, wie er davon erzählte, dass die Regeln zwar schön und gut seien, aber das Wichtigste was es für einen Wächter zu lernen gab, war, die Regeln zu wahren und sie trotzdem zu umgehen. Man müsse sie einfach ein bisschen drehen; das wäre das Geheimnis, meinte Seigi grinsend. Nicht alle Hikari seien Heilige, sie wüssten nur, wie sie es so wirken lassen konnten. „Außer vielleicht deine Mutter“, fügte Seigi nachdenklich hinzu: „Angeblich hat sie wirklich noch nie eine der heiligen Regeln gebrochen. Aber ich glaube da nicht so wirklich dran. Jeder hat eine Leiche im Keller. Es kommt nur darauf an, wie tief man sie vergräbt – Hey! Wenn das nicht Blacky ist!“ Green hätte viel lieber noch weiter mit Seigi gesprochen – er schien ganz auf ihrer Wellenlänge zu sein – aber als sie nun an einem langen Gang ankamen, an dessen Ende sich eine große Flügeltür befand, war ihr klar, dass nun der ernste Teil anstand. Und dort wartete tatsächlich ihr Bruder auf sie, schweigen an der Wand lehnend, von welcher er sich sofort abfederte um auf sie zuzuschreiten. Grey versuchte zu lächeln, aber auf Green wirkte es falsch; doch auch Seigis Grinsen war verschwunden und statt dessen zeichnete sich auch auf seinem Gesicht ein fahles Lächeln ab. „Vorhin hatten wir ja gar keine Gelegenheit uns zu begrüßen. Erfreut dich zu sehen, Blacky!“, rief Seigi sich von Green lösend und seine starke Hand nun Grey reichend, die dieser annahm und fest zu drücken schien.     „Die Freude ist ganz meinerseits, Mörder“ „Du wirst es wohl nie verstehen, was?“, anstatt auf Greys finsteren Blick einzugehen, warf er einen seitlichen Blick zu Green: „Ich sag dir mal was, Greeny – wenn du deinen lieben, großen Bruder mal ein wenig ärgern willst, dann sprich ihn auf seine schwarzen Haare an. Whites Sohn hätte nämlich gerne weiße Haare.“ Green wollte gerade kichernd antworten, als ihr auffiel, dass in Seigis Augen etwas Fieses, etwas Abwertendes lag, als er wieder Grey ansah: „Und der Grund warum deine Haare schwarz geworden sind, ist ganz klar, Blacky. Weil die heilige Farbe der Hikari dir als jämmerlicher Halbhikari nicht zusteht, ganz egal, wer deine Mutter ist.“ Green hätte erwartet ihren Bruder wütend zu sehen, doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper. In ernstem, aber ruhigem Tonfall antwortete er: „Dann weiß ich beim besten Willen nicht, warum du weiße Haare hast, Seigi.“ Der Angesprochene wollte gerade antworten, als hinter ihnen eine tiefe Stimme ertönte: „Seigi, lass White-sans Sohn los. Sofort!“, als wäre die Stimme ein Stromschlag gewesen, ließen die beiden jungen Männer voneinander ab und traten auseinander. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen Hikari, mit streng nach hinten gekämmten Haaren und einer hohen Stirn, die eine auffällige Narbe teilte, die quer über sein rechtes Auge und sein Gesicht ging; seine weißen Augen waren durchdringend und er wirkte streng; so streng, dass Green sofort schluckte. Grey jedoch schien sich zu freuen ihn zu sehen: „Adir-san! Ihr konntet wirklich kommen; das freut mich.“ Adirs Augen wurden sanfter als er Grey zur Begrüßung anlächelte – und dann sah er kurz zu Green, die ihn fragend ansah, Seite an Seite mit Grey stehend. Er musterte sie kurz, aber durchdringend; aber nicht abwertend, sondern eher neugierig, verblüfft. Wie ein seltenes Tier. Er sagte jedoch nichts; kommentierte seine Begutachtung nicht, sondern wandte sich Seigi zu, mit einer erschöpft klingenden Stimme:   „Seigi, dir ist die Regel 13B sehr wohl vertraut, nehme ich an.“ „Ich habe mich nicht mit ihm gestritten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst. Wir haben debattiert!“, erwiderte Seigi erhitzt und Green sah nichts mehr von einem Grinsen. „Eine allseits gern benutzte Ausrede, die zu hören ich leid bin. Wann lernst du endlich, Grey den gebührenden Respekt zu zollen, so wie jeder Hikari seinen Mithikari akzeptiert und respektiert… oder eher sollte“, fügte er mit einen Seufzen hinzu und sah Seigi dann scharf an. „Haben wir uns verstanden?“ „Adir, Blacky ist aber definitiv kein Hikari-“ „Haben wir uns verstanden, Seigi?“, sagte er diesmal mit einer messerscharfen Stimme, die keinen Widerspruch zuließ und der Seigi sich beugte. Aber widerwillig, wie Green sah, denn Seigi hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Na, in was für eine friedliche Familie war sie denn geraten? Adir sagte nichts weiter, sah nur noch kurz zu den beiden Geschwistern, lächelte freundlich und ging dann durch die große Flügeltür. „Wer war denn das?“, fragte Green sofort, kaum, dass die Tür hinter Adir zugefallen war. Grey himmelte aufgebend mit den Augen, denn er hatte seiner Schwester mehrere Male von ihm erzählt:   „Hikari Hou Abaku Adir, Green. Wir sprachen auch über ihn; denn Adir-san ist als einer der ältesten Verstorbenen eine sehr wichtige Persönlichkeit, die in seiner langen Zeit hier im Jenseits viele politische Angelegenheiten entschieden hat. Zu seiner Lebenszeit spielte er eine entscheidende Rolle im Abschluss des ersten Elementarkrieges.“ „“Elementarkrieg“? Was ist denn das?“ „So werden die Kriege wegen ihres umfangreichen Einsatzes der Elemente genannt. Die Kriege gegen die Dämonen. Auch das habe ich dir…“ „Momentan gibt es Sieben“, fügte Seigi hinzu, jetzt anscheinend wieder mit guter Laune – oder die Wut verbergend? „Der erste war der Längste; zu meiner Lebenszeit glaubte man, er hätte mehr als 2000 Jahre gedauert.“ „Mittlerweile ist aber dank Tao-san allgemein bekannt, dass er nur 741 Jahre gedauert hat.“ Tao? Hatte Green diesen Namen nicht erst vor Kurzem gehört? „Und dann griffen die Dämonen 136 Jahre später wieder an. Der Aktuellste ging vor sechzehn 16 Jahren zu Ende – eindeutig zu unseren Gunsten.“ Grey schien dieser Aussage nicht ganz zustimmen zu wollen, doch kam Green ihm mit einer Frage zuvor: „Sag mal, greifen die Dämonen eigentlich immer zuerst an?“ Seigi hob daraufhin fragend die Augenbrauen, die Hände in die Hüfte gestemmt: „Aber natürlich greifen die Dämonen immer zuerst an! Da ist doch klar, wir sind doch…“ Dieses Mal war es Grey, der Seigi unterbrach: „Danke, Seigi. Zurück zum eigentlichen Thema: Green, ich hoffe, du erinnerst dich noch, dass ich dir von „den Erhabenen Drei“ erzählt habe? Adir-san ist nämlich einer von ihnen jenen.“ An Greens ratlos suchendem Blick erkannte Grey schnell, dass sie sich nicht erinnern konnte – war es verwerflich, dass er sich fragte, ob seine Schwester ihm überhaupt zugehört hatte? Seigi schien sich einen Spaß daraus zu machen, Erklärungen zu geben, die eigentlich Grey geben wollte und fiel ihm auch dieses Mal mit einer zweifelhaften Erklärung ins Wort: „“Die Erhabenen Drei“ sind die drei Hikari, die das Meiste zu sagen haben!“ „Überaus vereinfacht ausgedrückt, ja. Das Trio besteht aus Adir-san, Shaginai, unserem Großvater, und unserer Mutter, weshalb ich mich wundere, dass du dich nicht daran erinnern kannst, dass ich es dir erzäh-“ „Wahrscheinlich hast du es mit deiner staubigen Erklärungsart probiert, Blacky! Und wer würde sich dann noch daran erinnern können; nicht wirklich verwerflich, wie ich fin-“ „Die Erhabenen Drei genießen das größte Ansehen und haben bei den meisten Versammlungen das entscheidende Wort“, fuhr Grey mit seinen Erklärungen fort, ohne auf die Kritik Seigis einzugehen oder auf Greens heiteres Grinsen zu achten, die Seigi scheinbar zustimmen wollte. „Man nennt sie übrigens auch „Der Gerechte“, Adir, „Der Stolze“, Shaginai und unsere Mutter nennt man auch „Die Reine“, bezogen auf ihre Titel…“ Dieses Mal war weder Seigi noch Green der Grund für Greys abruptes Verstummen, sondern eine laute, durchdringende Stimme, die Green sofort zusammenzucken ließ und auch Seigi und Grey zum Zusammenfahren brachte: „Das ist die reinste Zeitverschwendung!“ Ein wenig angespannt lächelnd wandte Grey sich zum Ursprung der Stimme herum: „Oh, da kommt unser Großva…“, weiter kam Grey nicht, denn genau in dem Moment, als ihr Großvater tatsächlich mit großen Schritten um die Ecke stolziert kam, hatte Seigi Green und Grey an den Armen um die nächste Ecke gezerrt. Grey wollte schon protestieren, doch Seigi und Green hatten sich schon positioniert und lugten um die Ecke. Warum Seigi sein Familienmitglied beobachten wollte, war Grey ein Rätsel, aber Green schien tatsächlich neugierig zu sein, weshalb Grey schnell beschloss, sie nicht zu verraten. „Ich stimme Ihnen nicht ganz zu, Shaginai-san. Ich denke es könnte interessant werden“, antwortete ein anderer Hikari der ein kleines Stückchen hinter Shaginai ging und offenbar Schwierigkeiten hatte, mit ihm Schritt zu halten – der einzige Hikari, den Green sogar sofort erkannte; es war Hizashi, einer der ältesten Toten, mit einem so strahlenden, falschen Lächeln, dass Green irgendwie unwohl wurde. Aber auch, wenn das Lächeln ihres Vorfahren ihr sofort auf den Gemälden ins Auge gestochen war, war dies nicht der Grund, weshalb sie sich ihn gemerkt hatte: er war der Autor der Dämonen-Enzyklopädie. Jenem Bücherschinken, der sie zum Einschlafen brachte. Und obwohl Green sogar mal wusste, wer der Begleiter ihres Großvaters war, interessierte sie sich nicht für ihn – zu sehr verschlug Shaginais gebieterischer Auftritt ihr die Sprache. Dieser forsche Gang, diese alles durchdringenden Augen, die überhaupt nicht weiß wirkten, sondern eher als wären sie aus Titan gehauen und seine kräftige Stimme die Green sofort an einen Richter denken ließ, der einen Richtspruch verkündete: „Ich teile Ihren Enthusiasmus nicht. Sie scheinen sich ja schon richtig darauf zu freuen, Hizashi-san.“ „Oh ja, das kann ich nicht verneinen…“, Hizashi räusperte sich und richtete seinen Kragen: „Immerhin hat ihre Enkelin-“ „Diese Missgeburt ist nicht meine Enkelin!“ Grey bereute es sofort, dass er nicht auf sich aufmerksam gemacht hatte, denn zwar sagte Green nichts und er konnte auch ihr Gesicht nicht sehen, da sie mit dem Rücken zu ihm stand, aber er hatte sie zusammenzucken gesehen und die zaghafte, an der Wand abgestützte Faust, brachte seine Stimme dazu, mitfühlend zu klingen, als Shaginai und Hizashi hinter der Tür verschwunden waren: „Mutter und ich haben ja versucht dich darauf vorzubereiten, Green…“ „Keiner von euch hat erwähnt, dass er meint, ich wäre eine Missgeburt.“ Dem konnte Grey nicht viel entgegen setzen, weshalb er auch bedrückt schwieg, denn er kannte keine Worte, um diese Tatsache schön zu reden. Seigi sagte nichts, entweder er bemerkte die bedrückende Stimmung nicht, oder es interessierte ihn nicht: „Schade, ich dachte, er würde vielleicht etwas über die Sonderregeln verlieren…“ Jetzt ging es Grey entschieden zu weit und obwohl Green neugierig aufhorchte und sich gerade erkundigen wollte, was die Sonderregeln seien, nahm Grey Greens Hand und führte sie von Seigi weg, weshalb sie ihm stattdessen die Frage stellte, die Grey recht knapp beantwortete: „Das sind Regeln für Dämonen.“ Wie konnte Seigi nur so gedankenlos dieses Thema anschneiden während Green in der Nähe war?! Hatte er denn überhaupt keinen Anstand, keine Erziehung keine Empathie?! Allein auf die Idee zu kommen, einen Familienangehörigen zu belauschen, konnte nur von einem Ungehobelten wie ihm stammen! Von wegen, er brach keine Regeln, er tat es doch ständig! Seigi sah den Geschwistern nach und musste dabei wieder an die Worte denken, die Adir zu ihm gesagt hatte: „Wann lernst du endlich, Grey den gebührenden Respekt zu zollen?“ Er musste ein hohles Lachen unterdrücken: dem sollte er Respekt zollen? Niemals. Er war ja nicht einmal ein Hikari. Im Prinzip musste er sich glücklich schätzen, dieses Reich überhaupt betreten zu dürfen. Grey war immerhin nur ein Kaze – kein Hikari. Trotzdem genoss er ein - Seigis Meinung nach – viel zu hohes Ansehen und das hatte nichts mit seiner Persönlichkeit oder gar seinen Fähigkeiten zu tun, sondern weil er Whites Sohn war. Der Sohn der Hikari, die alle als Gottgesandte verehrten! Nur deshalb wurde Grey mit Samthandschuhen angefasst, behandelt wie man einen Hikari behandelte. Seigi erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem Grey zum ersten Mal das Jenseits besucht hatte… ein kleines, verwöhntes Muttersöhnchen, ständig an dem Rockzipfel seiner Mutter hängend. Seigi konnte ihn von Anfang an nicht leiden und hatte seine Abneigung wohl auch ein paar Mal zu oft gezeigt. Doch Seigi hatte keine Spur von schlechtem Gewissen. Seigis Meinung über Grey änderte sich erst, als er ihn zufällig einmal beim Training gesehen hatte. Grey wurde, genau wie früher White, von den besten Hikari ausgebildet – man hatte eigentlich Seigi als seinen Lehrmeister in der Schwerkunst vorgesehen, aber dieser hatte sich geweigert. Was er nun im Nachhinein bereute, denn es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, Grey das Leben zur Hölle zu machen. Doch obwohl viel Zeit und Mühen in Greys Ausbildung investiert worden waren, so hatte Seigi trotzdem nicht geglaubt, dass er ein besonders guter Wächter werden würde. Aber nachdem er ihm beim Trainieren unbemerkt zugesehen hatte, musste er zugeben, dass er sich geirrt hatte: Grey wusste sehr wohl, wie man mit einem Schwert umzugehen hatte und besaß einen recht außergewöhnlichen Kampfstil. Seitdem brannte Seigi darauf, Grey in einem Kampf gegenüber zu stehen. Kein Trainingskampf, nein – einen echten bei dem ihn niemand ermahnen würde, dass er doch so nicht mit „Whites Sohn“ umgehen könnte. Aber das würde nur dann möglich sein, wenn Grey die Seiten wechselte – und dass Grey die Seiten wechseln würde, war genauso unwahrscheinlich, wie die Vorstellung White mit Dämonen Tee trinken zu sehen. Seigi seufzte tief und ging durch die große Flügeltür.     Green konnte es kaum glauben, aber es schien wirklich ein… relativ normales Familientreffen zu sein, auch wenn sie der Normalität des Treffens gegenüber sehr skeptisch war. War das Lachen, das sie hier und dort am langen Tisch hörte echt und nicht gespielt? Waren es normale Gespräche die sie führten, oder vertuschen sie etwas? Niemand sprach mit ihr; es war eher so, dass man sie komplett ignorierte, als wäre sie Luft; nicht einmal ein kleiner Seitenblick wurde ihr zugeworfen. Man hatte sie neben Grey platziert, welcher wiederum neben White saß – auch sie war in ein Gespräch vertieft. Sie, Adir und Shaginai hatten die Köpfe zusammengesteckt und hielten sich aus den Gesprächen um sie herum heraus. Auch sie hatten von Green keine weitere Notiz genommen und das war auch gut so. Wenn sie hier nur herumsitzen und nichts tun sollte, war das wirklich um einiges einfacher als von ihr angenommen; einfacher, aber auch langweiliger, denn sie mischte sich nicht von sich aus in eines der Gespräche um sie herum ein. Abwesend fing sie ein paar Gesprächsfetzen auf, deren Inhalt sich für die unerfahrene Hikari nicht erschloss und hatte auch keine besondere Lust, sich in jene Gespräche einzumischen – sie wollte diesen langweiligen Nachmittag einfach schnell hinter sich haben… vielleicht konnten sie und ihre Mutter ja danach noch ein wenig miteinander reden?   Der Nachmittag nahm allerdings eine unauffällige, jedoch entscheidende Wendung, als Grey sich bei Green entschuldigte, da eine auffällig hübsche Frau ihn zu sich winkte. Sie war wirklich sehr hübsch, wie Green bemerkte, während sie Grey dabei zusah als er sie auf seine elegante, vornehme Art begrüßte. Langes, gewelltes, seidiges Haar, reich verziert mit dezenten Blumen und sanfte, sehr weibliche Gesichtszüge. Worüber sie sich wohl unterhielten? Da Green sie nicht so auffällig anstarren wollte, verbarg sie ihr Gesicht hinter einem der vielen, auf den Tisch verteilten Regelbüchern, weswegen sie sich auf Greys Platz setzte, um an eines heran zu kommen. Warum verteilte man auf einem Familientreffen Regelbücher, als wäre es ein spannendes Magazin? Sie sollte eine Liste über die Merkwürdigkeiten ihrer Familie machen…    „Shaginai, das kann unmöglich dein Ernst sein!“, hörte Green Adirs Stimme plötzlich rechts von sich und wunderte sich über seinen aufgebrachten Tonfall – stritten die drei sich? Weiterhin tat Green so, als wären die heiligen Regeln das Interessanteste, was sie je gelesen hatte, obwohl das Gespräch der drei Erhabenen nun um einiges spannender war, als ein paar viel zu alte Regeln: „Und warum sollte es nicht mein Ernst sein? Warum sollten wir nicht auch einmal einen Krieg anfangen?“ Green verlor vor Schreck fast das Buch: Krieg?! Einen Elementarkrieg gegen die Dämonen?! „Hältst du das wirklich für das richtige Thema für ein Familientreffen?“, erwiderte Adir um einiges ruhiger als Green es getan hätte, die bemerkte, dass ihre Hände zu zittern angefangen hatten.  „Es gibt für mich keine andere Möglichkeit mit dir ins Gespräch zu kommen; immerhin weigerst du dich, an einem Prozess teilzunehmen, Adir. Also, was hältst du von meinem Vorschlag?“ Green flehte Adir in Gedanken förmlich an, gegen den Vorschlag zu sein und ihre Gebete schienen erhört: „Ich halte nichts von so einem Vorschlag. Seit wann ist es an uns, einen Krieg zu beginnen? Dazu kommt noch, Shaginai, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass unsere Feinde die Absicht verfolgen, in absehbarer Zeit den nächsten Krieg zu beginnen; der letzte Krieg liegt erst sechzehn Jahre zurück… Ich denke, damit lässt sich auch ihre Passivität zur Zeit erklären und natürlich dürfen wir auch Whites Bannkreis nicht vergessen.“ Innerlich atmete Green erleichtert auf; genau, sie planten keinen Krieg. Hoffte sie auf jeden Fall – und, passiv?! Sie fand nicht gerade, dass die Dämonen sich „passiv“ verhielten. Hatte ihre Familie überhaupt eine Ahnung davon, wie wenig Schlaf Green wegen deren angeblich so „passiver“ Art, vergönnt war?!    „Ich bitte dich!“, erwiderte Shaginai aufgebracht; „Sollte das Wichtigste nicht sein, dass wir dieses lästige Dämonenproblem endlich aus der Welt schaffen?! … Ich sage euch, dass sie sich aktuell zurückhalten kann sich nur um eine Falle handeln. Wir dürfen den Fehler mit Espiritou del Aire nicht wiederholen und noch einmal riskieren, dass wir so viele Wächter sterben lassen. Wer weiß ob es uns… unter den aktuellen Umständen ein weiteres Mal gelingen würde, uns aus der Asche zu erheben. Der Bannkreis meiner Tochter würde uns vor Herausforderungen stellen, aber keine unlösbaren; vielleicht würde er uns sogar ungeahnte Vorteile bieten, weshalb wir die Forschung innerhalb dieses Gebiets unbedingt fördern sollten.“ Redet es ihn doch endlich aus, dachte Green, redet es ihm aus! „Über die Förderung lässt sich natürlich reden. Warum besprecht ihr das nicht bei der nächsten Ratsversammlung ob wir die nötigen Mittel dafür besitzen? Allerdings sollte eine solche Förderung unserer Verteidigung dienlich sein… nicht unserem Angriff, Shaginai. Auch wenn ich natürlich verstehe, warum dir das ein besonders wichtiges Anliegen ist, immerhin…“ „Damit hat das nichts zu tun“, erwiderte Shaginai mit kalter, schneidender Stimme, die Adir auch zum Schweigen brachte, weshalb sich White nun zu Wort meldete und Green dazu brachte, erleichtert aufzuatmen, denn ihre Mutter war ja wohl nicht für einen Krieg: „Ich halte es nicht für richtig einen Krieg anzufangen, Vater, ganz gleich, wie günstig eine Lage auch für uns aussehen mag. Es verstößt gegen unseren Kodex.“ Green dankte ihrer Mutter tausendfach für diesen Einwurf, dem sich auch Adir anschloss:   „Ich gebe White absolut Recht, Shaginai. Außerdem haben wir genug Probleme in unseren eigenen Reihen, weshalb ich eigentlich nicht verstehe, warum du ein solches Thema überhaupt besprechen möchtest...“ „Diese Probleme werden schon noch schnell genug gelöst – ist doch bereits alles in die Wege geleitet!“ Er schwieg kurz, dann fing er wieder an: „Ich kann euch beide beim besten Willen nicht verstehen! Ist es nicht unsere Aufgabe, den Frieden zu sichern?! Dafür müssen wir halt über dieses Detail hinwegsehen, immerhin ist unser Hauptanliegen die Vernichtung unserer Feinde und wenn sich ein günstiger Moment bietet, sollten wir ihn zu nutzen wissen!“ Jetzt wusste Green woher sie ihren Sturkopf geerbt hatte… „Vater, ich kann nicht glauben was ich da höre: was ist mit unseren Kodex „Erhebe deine Waffe nur, wenn du angegriffen wirst“? Willst du das wirklich über Bord werfen? Das wird keinen Frieden bringen, sondern das Gegenteil. Solange sie uns nicht direkt angreifen, haben wir keinen Grund es als Erste zu tun. Wenn wir anfangen sie anzugreifen, begeben wir uns auf die gleiche Stufe wie die Dämonen.“      „White trifft es auf dem Punkt“, schloss Adir ab, doch Shaginai war nicht gewillt, klein bei zu geben; er grummelte, schwieg eine Weile und dann wurde Green eiskalt getroffen und zwar von Adir: „Aber wir könnten herausfinden, ob die Dämonen einen erneuten Krieg planen um dieses Thema endgültig abschließen zu können… Yogosu?“ Die Pluspunkte, die Adir gerade gewonnen hatte, verlor er auch sofort wieder. Zuerst tat Green so, als hätte sie es nicht gehört um nicht den Eindruck zu wecken, dass sie gelauscht hatte und reagierte erst, als Adir sie ein weiteres Mal direkt ansprach. Sie sah auf, legte das Buch beiseite und sah aufmerksam in seine Richtung – plötzlich war es außerordentlich ruhig geworden; alle hatten ihre eigentlichen Gespräche unterbrochen, als hätten sie alle nur auf das gewartet, was jetzt passieren würde.   „Deine „Freunde“ sind meinen Informationen nach Dämonen?“ Zwar sah Green es nicht, da ihr Blick auf Adir gerichtet war, doch sie konnte Grey förmlich erblassen sehen. „Halbdämonen“, korrigierte Green und führte aus: „Aber ja, sind sie.“ Adir deutete ein gleichgültiges Zucken mit den Schultern an, ehe er antwortete: „Das ist nicht von Belang. Ein Wesen, durch dessen Adern mehr als 20% Dämonenblut läuft, wird als solcher kategorisiert.“ Green sagte dazu nichts und er fuhr fort: „Kann ich dir eine Frage stellen?“ Adir faltete seine Hände und stützte seinen Kopf auf diese; er hatte ein ruhiges Lächeln auf dem Gesicht, aber die Stimmung war zum Zerreißen gespannt, weshalb Green überrascht war, dass sie nicht nervös wurde; es fiel ihr nicht schwer, ihm zustimmend zuzunicken.   „Ist dir dank deiner „Freunde“ zu Ohren gekommen, ob die Dämonen einen neuen Elementarkrieg planen?“    „Wir reden sehr selten über dieses Thema“, antwortete Green wahrheitsgemäß und hielt seinem Blick stand, die Umgebung ausfilternd, weshalb sie auch nicht bemerkte, wie die Hikari unter sich Blicke austauschten. Hizashi hatte einen Notizblock herausgeholt, wurde aber von Mary von seinem Vorhaben abgebracht indem sie den Kopf schüttelte und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte, während Seigi ein schadenfrohes Grinsen an Grey sandte. Dieser bemerkte es jedoch nicht – er war zu angespannt. Auch Shaginai hatte großes Interesse an dem Gespräch; nur White verbarg ihre Unruhe. „Aber du könntest es herausfinden…“, bemerkte Adir mit ruhiger Stimme, sich scheinbar nicht von Greens nun leicht finstererem Blick aus der Ruhe bringen lassend. „Was verlangt Ihr von mir? Das ich meine besten Freunde ins Kreuzverhör nehme?“ „Das sind nicht deine Freunde, sondern deine Feinde!“, brach es aus Shaginai heraus und er schien noch mehr sagen zu wollen, doch Green fiel ihm ins Wort: „Ich weiß, dass Dämonen meine Feinde sind! Aber Gary und Sibi sind anders. Sie würden mich niemals verletzen! Sie beschützen mich auch oft! Wir erledigen die Dämonen zusammen, gehen gemeinsam zur Schule, essen gemeinsam zu Abend und lernen zusammen!“ Diese förmlich aus Green heraus gesprudelten Worte lösten unerwartet eine Welle von Fragen aus, auf die sie gar nicht vorbereitet war:  „Sie beschützen eine Hikari?“  „Was soll daran schon unnormal sein? Es ist immerhin allgemein bekannt, dass Dämonen sich gegenseitig umbringen.“ „Wohl wahr.“ „In Lights Namen! Wie ist eine solche Denkweise nur möglich…!“     „Dämonen besuchen eine menschliche Schule?“ „Vielleicht liegt es daran, dass sie Halbdämonen sind?“ „Die Vorstellung, dass eine Hikari am gleichen Tisch zu Abend isst wie Dämonen…“ „Stell dir das lieber nicht vor.“ Ein Räuspern Whites brachte die aufgeregten Hikari zum Schweigen; ein Schweigen welches allerdings nur kurz anhielt, ehe die Fragen sich nun direkt an Green richteten, die nun gezwungen war, eine Frage nach der anderen zu beantworten. Jede Frage reizte Green mehr, doch sie befahl sich selbst, ruhig zu bleiben – ihr war bewusst, dass ein Wutausbruch das Schlimmste war, was jetzt passieren konnte. Aber es war schwer, sehr schwer. Shaginai lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete fast schon genüsslich das Schauspiel, das sich ihm bot. Er sah seiner Enkelin förmlich an, dass sie sich nicht mehr lange zurückhalten können würde und ob sie nun die Beherrschung verlieren würde oder nicht; mit  jedem kleinen unnormalen Wort aus ihrem Mund schaufelte sie ihr Grab tiefer. Es war nicht einmal nötig, dass er eingreifen musste, denn sie kreidete ihre Fehler schon selbst an. Jeder, der noch so sehr für eine friedliche Lösung plädiert hatte oder jene, die sich schlichtweg geweigert hatten zu glauben, dass eine Hikari eine auf Sympathie beruhende Bindung zu Dämonen aufbauen konnte, wurde mit jedem weiteren Wort davon überzeugt, wie unnormal dieses Mädchen war… und dass die Gefahr, die von ihr ausging, real war.    Adir wandte sich tief seufzend von dem Schauspiel ab und warf einen verstohlenen Blick zu Shaginai, dem das ganze ohne Zweifel sehr zusagte. Adir, durch und durch ein sehr familienbewusster Wächter, konnte Shaginais Verhalten nicht verstehen – dieses komische Mädchen war immerhin seine Enkelin; sein eigen Fleisch und Blut und keine weit entfernte Verwandte. Natürlich war auch Adir gegen Unreinheit  und er konnte auch nicht gerade von sich behaupten, dass er Green sympathisch fand, aber seiner Meinung nach waren die Sonderregeln einen Schritt zu weit in die Radikalität gegangen – und diese Radikalität war es, die für weitere Probleme sorgte, indem sie die Familie der Hikari in zwei Lager teilte. Adir konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Mädchen den ganzen Aufwand überhaupt wert war… ihre Aura war überaus schwach und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie mangelnde Lichtmagie mit Können ausglich und wenn sie sterben würde, dann kam sie wegen ihrer offensichtlichen Unreinheit nicht ins Jenseits. Die Gefahr, die Shaginai und jene in ihr sahen, die auf Shaginais Seite waren, sah Adir nicht und das war auch der Grund, weshalb er sich weigerte an den aktuellen Ratsversammlungen teilzunehmen – es war ihm zu blöd.     Green riss sich außerordentlich zusammen um auch ja höflich auf alle Fragen zu antworten, die ihre Familie ihr stellte; eine Frage nach der anderen beantwortete so kurz angebunden wie möglich und als ihre Familie schwieg, hoffte sie, dass sie die letzte Frage beantwortet hatte, doch dann wurde die alles entscheidende Frage gestellt:   „Wie kannst du dir so sicher sein, dass sie dich nicht einfach nur ausnutzen, um an Informationen zu gelangen?“ Green empfand diese Frage so simpel, dass ihre aufgestaute Wut fast schon abflaute. „Aus einen sehr einfachen Grund: Weil ich ihnen vertraue.“ „Du vertraust Dämonen?“ Green lächelte, errötete sogar ein wenig, wirkte ein wenig überrascht über ihre eigenen Worte, sagte sie aber dennoch mit liebenswerter Entschlossenheit: „Es hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass sie Halbdämonen sind. Wir sind Freunde… Nein, wir sind mehr. Ich würde meine Hand für sie ins Feuer legen.“ Das Geräusch eines umstürzenden Stuhls ließ alle Hikari zu Shaginai blicken, inklusive Green, deren Lächeln ernst geworden war. Shaginai war wütend aufgesprungen, fast so als wäre Greens Wut auf ihn übergegangen. Wutentbrannt durchbohrten seine stählernen Augen sie und es gelang ihm nur mit Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Wie kannst du es wagen, solche Worte als Hikari zu sagen! Wie kannst du es wagen, solche Worte hier zu sagen! Besitzt du denn kein Schamgefühl!?“ „“Schamgefühl“?!“, wiederholte Green mit brodelnder Stimme, Shaginais Blick erwidernd, während Grey sich am Liebsten die Hände über den Kopf zusammengeschlagen hätte  – warum mussten ausgerechnet die beiden aneinander geraten!? Er hatte es ja schon befürchtet… hatte es als unvermeidlich gesehen… aber warum beim ersten Treffen? „Ich soll mich schämen, dass ich Freunde habe?!“ „Wenn du auch nur einen Funken Stolz als Hikari in dir besitzt, dann solltest du dich tatsächlich schämen, solche Wesen als „Freunde“ zu betiteln!“ Green wurde plötzlich ruhiger; ihre Wut schien zu erkalten und sie wählte ihre Worte bewusst, als ihr plötzlich wieder durch den Kopf schoss, dass ihr eigener Großvater sie eine Missgeburt nannte und genau deshalb sprach sie ihn mit folgendem Wort an:  „Großvater…“ Shaginai zuckte bei diesem Wort so heftig zusammen als hätte sie ihn geschlagen, doch Green ignorierte es und fuhr fort: „Du hast vollkommen Recht! Ich bin nicht stolz darauf eine Hikari zu sein. Warum sollte ich das auch? Ich will kein Leben, in welchem ich nicht einmal selbst bestimmen darf, welche Farbe ich trage, was ich denke und welche Freunde ich hab! Das nenne ich nicht „leben“! Ich lebe allein für mich, nicht für die Menschheit und auch nicht für euch! Deshalb werde ich nicht darum betteln, von euch akzeptiert zu werden. Es ist mir nämlich ehrlich gesagt gleichgültig, was ihr von mir denkt. Ich bin nun mal „unrein“ – und verdammt stolz drauf!“ Shaginai war bei jedem Wort bleicher geworden. Doch nicht nur er, so gut wie alle Hikari starrten Green entsetzt an, als wäre sie das leibhaftige Unheil. Erschöpft und sichtlich schockiert sank Shaginai in sich zusammen und brauchte einen Moment um sich wieder zu sammeln – dann brüllte er: „…Raus. Verschwinde! RAUS!“ Green sagte dazu nichts, sondern stand einfach nur auf und verließ den Raum.     Keiner der Hikari sagte oder tat etwas; Grey war der Erste, der sich rührte, als er den Raum verließ um Green hinterherzurennen; sie alle waren zu schockiert von dem, was sie eben gesehen und gehört hatten und niemand bemerkte, wie Whites Hände zu zittern begannen, als sie sich langsam zu ihrem Kopf hoben, zuckten – um sich dann mit aller Macht ihrer kleinen Porzellanhände die Ohren zuzuhalten. Es herrschte absolute Stille im Raum, doch in Whites Kopf dröhnte es. Die Melodie… die Melodie… die verfluchte Melodie; lange verdrängt, lange erfolgreich verdrängt – doch jetzt brachte sie ihr ganzes Sein zum erzittern.   Die Nocturne.   Sie hörte wieder jeden Ton, so klar, so klar, als wäre es erst gestern gewesen, als sie in ihr Sein eingebrannt worden war; wieder, begleitet von dieser schrecklich traurigen Melodie der Nocturne, sah sie die in sich eingesperrten Bilder der Vergangenheit – und ganz deutlich, angeregt durch die in ihr wiederhallenden Klänge der Nocturne und Greens leidenschaftlichen Worten… sah sie ihn jetzt wieder ganz deutlich vor sich. Das strahlende Himmelblau seiner Augen; so aufrichtig, so lebensfroh – und die Worte die Greens so sehr ähnelten:   „Ich versteh Euch nicht, White-sama!“ „Selbstverständlich versteht Ihr mich nicht. Wie solltet Ihr auch? Ihr seid nun mal kein Hikari. Auf Euch lastet nicht das Schicksal des Wächtertums! Dies ist mein Leben, meine Welt… und ich bin zufrieden damit.“ „Dies nenne ich nicht „leben“! Ihr wisst doch gar nicht, was das Wort „leben“ überhaupt bedeutet.“        Wie konnte das nur möglich sein? Wie konnte Green ihm nur so ähnlich sein, obwohl sie keine Blutverwandtschaft mit ihm aufwies und ihn auch niemals kennen gelernt hatte?   Wie konnte Green Kanori so ähnlich sein?!       Erschöpft lehnte sich Green an die Wand vor der großen Flügeltür und sah in das unendliche Nichts der weißen Decke – sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie sich besser fühlen würde, wenn sie ihrer Familie die Leviten lesen würde, doch irgendwie… fühlte sie sich nicht sonderlich erfreut. Es war ihr egal, was ihre ganzen Vorfahren von ihr dachten – und es war ihr auch egal, dass sie sie jetzt alle verärgert hatte, aber dennoch hätte sie sich für Grey und White zurückhalten sollen, denn sie machte den beiden damit Probleme, die sie nicht verdient hatten. Aber hätte Green ihre Freunde verleugnen sollen? Nein, auch wenn Green noch „neu“ auf dem Gebiet der Freundschaft war, so war sie fest davon überzeugt, dass man die Personen, die man Freunde nannte, niemals verleugnen durfte. Aber vielleicht hätte sie weniger radikale Worte nutzen sollen… Sie sah auf, als die Flügeltür aufging und Grey auf sie zusteuerte. Kurz vor ihr blieb er stehen und die beiden Geschwister blickten kurz in die blauen Augen des jeweils anderen, ehe Green leicht beschämt wegsah; keiner von ihnen sagte etwas und schweigend ließ sich Green zu Boden rutschen, während Grey sich wie sie vorher an die Wand lehnte.   „Entschuldigung…“, flüsterte Green kaum hörbar. Grey sah zu seiner Schwester herunter und seufzte kaum hörbar:  „Schon gut…“ Was sollte Grey schon dazu sagen? Er konnte ihr nicht sagen, dass sie gerade ihr Schicksal besiegelt hatte und sich lieber bei sich selbst entschuldigen sollte, als bei ihm. Green bemerkte jedoch an seinen Blick – und an der Stimmung – dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, doch es gelang ihr nicht mehr zu antworten, denn die Tür öffnete sich ein weiteres Mal und heraus kamen die Hikari, die alle an ihr vorbei gingen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Nur Seigi hob kurz die Hand zum Gruß und Green hätte  schwören können, dass Shaginai ihr einen zutiefst verächtlichen, aber auch triumphierenden Blick zugeworfen hatte. Als Letzte verließ White den Raum. Sofort sprang Green auf die Füße und Grey federte sich von der Wand ab, obwohl sie keines ihrer beiden Kinder ansah, als sie auf sie zuging, fast so, als wäre sie mit ihren Gedanken gänzlich woanders.   Green blickte auf ihre Füße und wartete darauf, dass ihre Mutter etwas zu ihr sagen würde; etwas Zurechtweisendes, vielleicht enttäuschte Worte  –  doch das tat sie nicht. Gerade, als Green sich einfach auch bei ihr entschuldigen wollte, umarmte White Green plötzlich und völlig unerwartet. Green war absolut sprachlos. Das… das war ihre erste, mütterliche Umarmung – sie wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte; durfte sie sich freuen, obwohl sie Mist gebaut hatte? Doch dann bemerkte Green etwas, was ihre Freude sofort verrauchen ließ: Ihre Mutter weinte. Hilfesuchend sah Green zu ihrem Bruder, doch auch er sah aus, als müsste er die Tränen zurückhalten – was… was war denn nur los?     White sagte etwas, doch es fiel Green schwer, sie zu verstehen, da die Stimme ihrer Mutter abgehackt war und von Greens Körper teilweise verschluckt wurde. Aber White wiederholte es; immer die gleichen Worte, weshalb ihrer Tochter deutlicher und deutlicher bewusst wurde, was ihre Mutter sagte: „…Es tut mir Leid… Es tut mir Leid…. Es tut mir Leid…“                                                       Kapitel 20: Mensch-Sein -----------------------                                     Mensch-Sein             „Und, Green-chan? Wie war‘s mit deinen Verwandten?“ Es war klar, dass diese Frage unweigerlich kommen würde: natürlich musste sie kommen, immerhin hatte Green eine Woche lang von nichts anderem mehr gesprochen, als von ihrem ersten Familientreffen und Siberu und Gary waren ihre Freunde; natürlich waren sie neugierig und vielleicht sah man ihr auch an, dass sie nicht gerade vor Freude strahlte. Sie war erst spät Nachhause gekommen und hatte nicht so gut geschlafen, denn die Worte ihrer Mutter, ihr immer wieder wiederholtes „es tut mir leid“, und Greys niedergeschmetterter Blick... Ja gut, sie hatte nicht gerade Pluspunkte gesammelt – na und? Als ob das nicht von Anfang an klar gewesen wäre. Warum hatten die beiden so getan als wäre es das Ende der Welt? Ihr Tyrann von einem Großvater würde ihr jawohl nicht verbieten mit ihnen zu sprechen, oder? „Großartig. Es lief großartig", erwiderte Green bitter auf dem Weg zum morgendlichen U-Bahn Chaos; warum hatten die Hikari sich auch einen normalen Werktag für ihr verdammtes Treffen ausgesucht?  „Detaaaaails, Green-chan! Details!“ „Jetzt lass sie doch mal in Ruhe“, unterbrach Gary Siberus Gebettel um mehr Informationen. Doch gerade das brachte Green zum Auftauen. Sie seufzte erschöpft und den beiden Dämonenbrüdern war klar, dass ihr Seufzen nichts mit der Menge an Menschen zu tun hatte, die sich auf der Metroplattform versammelt hatten und nun Schub für Schub in die U-Bahn stiegen. „Ich kann jetzt auf jeden Fall mit gutem Recht behaupten, dass meine Familie einen Knacks weg hat. Reinpassen tue ich auf jeden Fall nicht – und das ist auch ganz gut so. Ich bin wie das schwarze Schaf in der ach so weißen Herde und deshalb gab es gleich mal ein paar Reibereien. Ich denke sie mögen mich genauso wenig wie ich sie.“ Greens Erzählung wurde unterbrochen, da die drei sich wie die anderen in die Metro zwängen mussten die vollgestopft war bis oben hin, weshalb sie sich bemühen mussten überhaupt alle drei in den gleichen Zug zu kommen. Siberu und Gary hatten Glück und bekamen beide einen der Halterungsringe zu fassen, Green dagegen wurde umgehend von Siberu im Arm genommen, damit sie nicht umkippte – obwohl das nicht nötig war, denn dafür war die Metro viel zu voll. „Und deine Mutter? Wie war das erste Treffen mit ihr?“, fragte Siberu obwohl der Blick Garys ihm eigentlich hätte sagen sollen, dass die Metro nicht der beste Ort war um solche Dinge zu besprechen. Green schien nichts dagegen zu haben, doch die Gedanken die sie in der Nacht wachgehalten hatten, spiegelten sich jetzt wieder in ihrem Gesicht. Siberu konnte sie nicht sehen, da er sie im Arm hatte, aber Gary bemerkte sie stirnrunzelnd als er über sein kleines Physiktaschenbuch hinweg sah. „Meine Mutter ist auch komisch. Aber...“ Wieder dachte Green an die unbeholfene Umarmung ihrer Mutter und gedankenverlorenen runzelte sie die Stirn; Regungen die Gary aufmerksam beobachtete: „... Ich glaube nicht, dass sie mich hasst so wie die anderen es tun. Aber sie wirkt so... fremd.“ „Ihr habt euch gerade erst kennengelernt, Green. Du darfst nichts überstürzen.“ Green nickte sachte gegen Siberus Arm: „Ich weiß, Gary, ich weiß.“ Noch einmal bemerkte Gary wie die Augen Greens wegdrifteten ehe sie mit einem Lächeln aus ihrer Gedankenwelt zurückkehrte. „Aber mit einem meiner Verwandten habe ich mich super verstanden!“ Sie hob den Kopf und grinste Siberu entgegen der fragend zu ihr runter sah: „Er ist dir nämlich total ähnlich! Ich glaube deshalb mochte ich ihn sofort.“ „Oh, na dann muss er aber gut ausgesehen haben, haha! Aber keiner ist so charmant wie ich; besonders kein Hikari“, erwiderte Siberu mit einem heiteren Grinsen, welches Gary mit verdrehten Augen quittierte. Eigentlich wollte er es kommentieren, aber er beschloss sich, dass die Metro voller Menschen nicht der beste Ort war um über das Jenseits zu sprechen. Green schien das herzlich wenig zu interessieren.   „Vielleicht sagt euch der Name ja etwas. Er heißt Seigi. Aber ich nenne ihn „Onkel Seigi“, obwohl richtiger wäre ja Urururur...“ „Der Tausendtöter?!“, entfuhr es den beiden Brüdern schockiert und brachten Green sofort zum verblüfften Schweigen. Gary war sogar so schockiert, dass er seine Umgebung vergaß:  „Green, dir ist klar, dass dieser Hikari den Rekord hält in Dämonen töten?! Seigi ist mit seinem Schwert eine wahre Tötungsmaschiene die schon so einige Kämpfe entschieden hat!“ Dann bemerkte Gary, dass nicht nur Green ihn fragend ansah sondern auch Umherstehende. Rot angelaufen stammelte er irgendetwas von einem Spiel und hielt sich von da an lieber an physikalische Formeln.     Firey versuchte nicht daran zu denken. Sie wollte es nicht und sie hatte auch genug andere Dinge um die sie sich kümmern musste. Der Umschwung von einer englischen Schule zu einer japanischen Schule war kein Klacks: sie war zwar in Japan geboren und aufgewachsen, aber ihre gesamte Jugend hatte sie in England verbracht – hatte einer anderen Kultur angehört, Freunde gehabt und in einer völlig anderen Umgebung gelebt. Zwar hatte Firey hier ihre große Schwester Sho und ihre adoptierte Schwester Green um sich und hatte deshalb nicht befürchtet einsam zu werden, aber dennoch konnte sie gut verstehen warum Minako, ihre Zwillingsschwester, ihr nicht nach Japan folgen wollte. Die Kulturen waren einfach sehr unterschiedlich: bei den kleinsten Dingen machte sie Fehler, wie das Aufschlagen eines Buches. Selbst nach einer verstrichenen Woche musste sie mit roten Kopf das Lehrbuch richtig herum aufschlagen – und es war nicht gerade hilfreich wenn Siberu sie einige Plätze links von ihr sie fies angrinste.  Dennoch war sie überzeugt von der Richtigkeit ihrer Entscheidung. Der Hauptsitz der Firma ihrer Familie war nun einmal in Japan und auch wenn Firey keine Intention hatte deren Firma irgendwann einmal zu leiten, wollte sie dennoch irgendwann dort arbeiten und dann sollte sie schon mit der Kultur und dem Leben in Japan vertraut sein. Auf jeden Fall hatte sie das bis jetzt geglaubt. Das war bis zu diesem Vorfall der Plan… Warte – Firey! – nicht daran denken. Nicht. Daran. Denken. Aber es war schwer nicht daran zu denken. Seit Weihnachten war zwar nichts komisch-magisches mehr geschehen und ihre Hand war normal und hatte nicht mehr in Flammen gestanden. Firey versuchte sich sogar einzureden, dass das alles nichts anderes als ein Traum gewesen war, doch es hatte nichts gebracht, denn gleich am ersten Schultag nach dem Weihnachtsfest hatte Green Firey mitgeteilt, dass ihr großer Bruder sie kennenlernen wollte. Es gab wohl irgendwelche Tests die sie machen sollte, aber momentan sei noch keine Gelegenheit dazu... Green hatte sie erwartungsvoll angestrahlt, was Firey versuchte zu erwidern, aber bis zu diesem Zeitpunkt war sie überzeugt davon gewesen, dass sie alles nur geträumt hatte, weshalb es ihr doch schwer gefallen war Greens Begeisterung zu teilen. Die neugebackene Feuerwächterin war sich bewusst, dass es Green gegenüber nicht fair war und sie sich nicht gerade von ihrer nettesten Seite zeigte, wenn sie Green und ihren Freunden aus dem Weg ging und jeden Abend im Bett sagte sie sich, dass sie am nächsten Tag auf Green zugehen würde – nur um es dann auch nicht weiter zu bringen, als ein schweigsames Beobachten aus der Ferne.  Green war wirklich konstant zusammen mit Siberu und Gary... Es war komisch sie so ausgelassen zu sehen. Firey und ihre Schwestern hatten immer versucht Green dazu zu bringen sich zu öffnen, doch war es ihnen nie gelungen. Und die drei sollten sich wirklich nur ein paar Monate kennen? Sie wirkten unzertrennlich.  Beneidenswert. Firey seufzte tief, während sie den Blick über die gefüllte Kantine schweifen ließ und die drei zusammen an einem Tisch ausmachte – ihre Hände zitterten ein wenig, aber nachdem sie tief durchgeatmet hatte, beschloss sie sich, dass eine Woche des Aus-Dem-Weg-Gehens eindeutig zu viel war, weshalb Firey dieses mal mit ihrem Tablett zu ihnen ging und das Essen entschlossen auf den Tisch stellte, ohne auf ihre fragenden Blicke zu achten, denn es hatte sicherlich einen Grund, weshalb sie sich an einen Tisch gesetzt hatten der nur drei Stühle besaß. „Oho, das Flachbrett beehrt uns mit einem Besuch!“, kommentierte Siberu Fireys plötzliches Auftauchen und bekam umgehend Greens Ellenbogen in die Rippen gerammt. „Wie lief das Familientreffen?“, fragte Firey Siberu strickt ignorierend der sich mit einem Schmollmund die Stelle rieb, die Green gerammt hatte. „Gut. Meine Familie ist genauso komisch wie ich dachte.“ Green lächelte, aber schien nicht mehr sagen zu wollen. Hatte sie den beiden mehr erzählt? Oder gab es einfach nicht mehr zu erzählen?  Unbehagliche Stille herrschte zwischen ihnen; zunehmend fühlte Firey sich wie ein Fremdkörper obwohl Green sich offensichtlich freute sie zu sehen und auch schon aufgestanden war, um ihnen weiteren Stuhl zu holen, doch Firey unterbrach sie in diesem Vorhaben:  „Können...“ Firey schluckte, versuchte nicht auf Siberus erhobene Augenbrauen zu achten oder auf den leichten Anflug seines neckenden Grinsens: „Können wir unter vier Augen miteinander reden?“ Green hatte schon den Mund geöffnet um natürlich zuzustimmen, doch Siberu kam ihr zuvor: „Wiesoooo? Macht meine bloße Anwesenheit dich nervös?“ Schon winkelte Green ihren Ellenbogen ein weiteres Mal an, doch Firey konnte selbst antworten: „Nein, deine bloße Anwesenheit nervt einfach.“ Daraufhin entfernten sich die beiden Mädchen von den Brüdern, wo der Kleinere jetzt vom Größeren ausgeschimpft wurde, wie Green aus den Augenwinkeln grinsend bemerkte. „Also, Firey, was gibt e-“ „Ich bin doch noch ein Mensch, oder, Green?!“ Green überraschte diese Frage und auch Firey war über sich selbst überrascht. Sie hatte nicht über die Worte nachgedacht die sie hatte Green sagen wollen, nicht die Frage im voraus festgelegt und als die alles entscheidende Frage aus ihr rauspurzelte wollte sie sie am liebsten wieder zurückziehen, als ob sie sich nicht eingestehen wollte, dass es das war über das sie die ganze Zeit unbewusst nachgedacht hatte. Sie wusste nicht warum, aber sie schämte sich es gefragt zu haben: sie schämte sich für die Worte und die Verzweiflung die in ihrem Tonfall gelegen hatte.  Jäh wurde Firey aus ihren Gedanken gerissen, als sie plötzlich spürte wie Green ihre Hände auf die Schultern ihrer Freundin legte: „Du hast dich wirklich gar nicht verändert, Firey!“ Sie grinste, doch Firey konnte das Grinsen nicht erwidern. In ihrem Blick lag Verwirrung und Verwunderung, weshalb sie auch nichts entgegnete und Green fortfahren ließ: „Du machst dir immer noch viel zu viele Gedanken.“ Ihr Grinsen verwandelte sich zu einem geschwisterlichen Lächeln, etwas was Firey selten von ihr gesehen hatte: „Du bist immer noch genau die Firey sich ich vor fünf Jahren kennengelernt habe.“ Firey konnte gar nicht anders als ebenfalls zu Lächeln und ein leichtes Nicken anzudeuten, aber dennoch war das Thema nicht so leicht für sie abzuschließen, was Green ihr ansah, weshalb sie doch noch ein wenig konkreter wurde. „Also so viel wie ich von Tinamis Erklärung verstanden habe, bist du wirklich noch genau die gleiche; nur eben ein Mensch mit magischen Fähigkeiten. Du bist immer noch ein Mensch, immer noch die vierte Tochter von Akiko und Katsuya und daran wird sich auch nichts ändern, das verspreche ich dir.“ Die Schulglocke läutete, kaum, dass Green ihren Satz beendet hatte und darüber bestürzt, dass sie gar nicht geschafft hatten etwas zu Essen, wollte Green gerade fluchend zusammen mit Firey zum Unterricht aufbrechen, als Firey sie aufhielt als hätte sie die Klingel und den Trubel um ihr herum gar nicht bemerkt: „Und was ist mit dir, Green?“ Ihre Freundin blieb auf dem Treppenabsatz stehen, verharrte kurz, schien zu überlegen – oder zu zögern? – und drehte sich dann herum: „Ich dagegen bin definitiv kein Mensch.“ Es war Green schwerer gefallen diese Worte zu sagen als sie gedacht hatte. Es war ihr schwer gefallen zuzugeben, dass... Green blieb stehen. Mitten im Strom der sich zum Unterricht beeilenden Schüler blieb sie einfach stehen, hob langsam den Kopf, nichts hörend, vom Lauf der Alltäglichkeit isoliert und blickte direkt in die durch die Fenster hinein strahlende Wintersonne.  Green war kein Mensch mehr. Sie war niemals ein Mensch gewesen.  „Green-chan!“ Es gelang Green nicht mehr auf die ihr so bekannte stimme zu reagieren, als sie schon spürte wie sich jemand in ihrem linken Arm einharkte und sie schon von dem grinsenden Siberu mitgezogen wurde. „Was trödelt ihr so herum? Der Unterricht fangt gleich an!“, herrschte Gary die zwei von Greens rechter Seite aus an. Sein Blick war streng, doch als Green sich ihm zuwandte, lockerte sein Blick überrascht auf: „Green, gehst dir gut? Deine Augen...“ Ja, sie hatte Tränen in den Augen, ja, das spürte sie jetzt auch. Doch anstatt sie wegzuwischen presste Green die Augen zusammen und grinste. War es nicht eigentlich egal was sie war solange sie selbst wusste, wer sie war?     Die winterliche Nachmittagssonne tauchte den Himmel in ein rötliches Farbenspiel als sie hinter den um die Schule herum stehenden Baumkronen versank; der Unterricht war vorbei, aber noch war es nicht Zeit Nachhause zurückzukehren, um sich den vielen Hausaufgaben zu widmen, die Gary akribisch auflistete, während die drei über den Schulhof zu ihren jeweiligen AGs gingen. Als wären die Hausaufgaben nicht schon genug Grund zum Stöhnen, fügte Gary noch hinzu, dass sie noch genug aufzuholen hatten und daher eigentlich auch noch lernen müssten: „Mit anderen Worten; ein stink langweiliger Abend“, schloss Green, wofür Gary allerdings kein Mitleid hatte und knapp antwortete: „Es ist deine Schulausbildung. Nicht meine. Ich brauche mir keine Sorgen um meine zu machen.“ Nun mischte sich auch Siberu ein, indem er sich in Greens Arm einharkte: „Was gibt’s denn heute Abend zu essen, Green-chan?“ „Reste von Vorgestern die ich eingefroren habe – und nein, du brauchst mich gar nicht so anzugucken, Reste werden nicht weggeworfen. Das kostet alles nur Geld.“ „Das war mir aber ein wenig zu scharf…“, murmelte Siberu mehr zu sich selbst, als zu Green. „Also mir hat es geschmeckt“, erwiderte Gary, immerhin mochte er scharfes Essen.   „Na, wenigstens einer, der keinen schlechten Abend haben wird“, seufzte Green und warf Siberu einen düsteren Blick zu, denn auch ihr war seine Kritik nicht entfallen: „Green-chaaaan! Mir hat dein Essen natürlich auch geschmeckt! Ich mag doch alles was du kochst…“   „Silver-sama!“ Alle drei blieben auf der Stelle stehen; zwar hatte nur der Blasseste von ihnen einen Grund zu Eis zu erstarren, aber auch die beiden anderen hatten die schrille Stimme hinter sich erkannt – und waren alles andere als erfreut über den überraschenden Besucher. „Oh nein, oh nein, oh neeeeeeeeeeeeeeein, versteckt mich, versteckt mich!“ Weder Gary noch Green schienen im Sinn zu haben Siberu zu helfen, denn beide waren zu sehr mit der berechtigten Frage beschäftigt weshalb Rui nicht nur plötzlich in deren Schule aufgetaucht war, sondern vor allen Dingen, woher sie die Schuluniform der Schule hatte, die überaus befremdlich an der kleinen Dämonin aussah.   Sofort raste Rui auf Siberu zu als sie sich herum gewandt hatten, welcher allerdings noch genau im richtigen Moment Abstand genommen hatte und somit ihrem ersten Umarmungsversuch entgehen konnte: „Rui, was zur Hölle machst du denn hier?!“ So schnell gab Rui nicht auf; ein weiteres Mal holte sie aus, wollte seine Hände ergreifen, doch bekam nur die Halterung seiner Sporttasche zu fassen: „Oh, Silver-sama, ich bin hier um Euch zu helfen! Ich verstehe jetzt warum Ihr hier seid und…“ „Green, vielleicht sollten wir uns entfernen und so tun als würden wir sie nicht kennen…“ „… will euch unterstützen! Ich habe sogar die richtige Tarnung besorgt!“ „Ja, Gary, ich glaube das ist eine gute… Idee.“ „Ihr könnt mich jawohl hier nicht alleine lassen!“, rief Siberu, Ruis Hände von seiner Sporttasche lösend und zu Green springend, hinter der er sich auch sofort verbarg – und aus irgendwelchen komischen Gründen, die Green nicht verstand – und nicht verstehen wollte – brachte eben diese verzweifelte Geste Siberus Rui zum Weinen. Ob alle Dämonen so eigenartig waren; oder war Rui als Person einfach nur eigenartig?       Gerade als Green sich von Siberu entfernen wollte, ihn daran erinnernd, dass ihr Training in Rhythmische Gymnastik demnächst beginnen würde, unterbrach ein schriller Aufschrei Ruis sie: „Ah! Da ist diese verfluchte Feuerwächterin!“ Und ihr mit Inbrunst ausgestreckter Finger zeigte auf Firey, die mit einem geschulterten Köcher und ihrem Bogen eigentlich gerade auf dem Weg zum Bogenschießen war, nun aber stehen geblieben war – und ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie genauso wenig darüber erfreut war Rui zu sehen, wie es umgekehrt der Fall war. Eigentlich schien Firey vor zu haben, Rui einfach zu ignorieren, doch ihr folgender Satz, gesagt mit einem breiten Grinsen, brachte sie dazu sich doch umzudrehen: „Silver-sama, ihr müsst Acht geben! Ich habe diese Wächterin genau beobachtet und zwar wie sie Euch beobachtet hat! Die ganzen letzten Tage ist sie um Euch herum geschlichen…“ „… wie lange bist du schon hier…?“ Doch Rui überhörte die Frage ihres Angebeteten: „…und hat Euch von weiten mit ihren Augen verschlungen!“ Green hatte keinen Zweifel daran, dass Rui von sich selbst sprach und glaubte ihr daher kein Wort. Firey schien es allerdings nicht so einfach abzutun, denn, obwohl sie so weit von ihnen entfernt gewesen war, hatte sie dank Ruis kreischendem Sprachorgan jedes Wort deutlich gehört und genauso durchdringend war auch ihre Antwort: „Das ist überhaupt nicht wahr!“ Es war tatsächlich nicht wahr, dass Firey Siberu beobachtet hatte; jedenfalls… nicht nur ihn. Aber leider konnte sie nicht leugnen, dass sie vielleicht doch etwas zu auffällig das Trio beobachtet hatte. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Wir gehen in die gleiche Klasse, deshalb bin ich nun einmal gezwungen eine gewisse Zeit mit so einem eingebildeten A…“ „Wag es nicht, meinen Silver-sama zu beleidigen! Hörst du!? Ansonsten wirst du die Kraft meines unendlichen Verlangens zu spüren bekommen!“ „…Wie bitte?!“ „So, das ist mir jetzt definitiv alles zu dumm“, klagte Gary mit himmelnden Augen und wandte sich zu Green: „Wollen wir…?“ Doch dann erstarrte Gary, als er, Firey und Rui das Gleiche sahen. Während Rui und Firey sich gestritten hatten, hatte Siberu für sich selbst beschlossen, dass auch er genug hatte und dass etwas getan werden musste, dass ein für alle Mal für Klarheit sorgte; ob Rui dabei nun Recht hatte mit ihren Beobachtungen was Firey anging, war ihm egal. Er hatte sich von Green gelöst, den Moment ausgenutzt, als sie mit erhobenen Augenbrauen dem Streit der beiden Mädchen gefolgt war und hatte sie dann plötzlich und unerwartet zu sich gezogen – und ehe Green wusste, was ihr geschah, küsste er sie bereits. „So, Rui – noch Frage…“ Nur einen Moment lang durchbohrten Siberus ungewohnt kalt wirkenden Augen die tränenden Augen Ruis – dann bekam er von Green eine so heftige Ohrfeige, dass der Halbdämon rückwärts stolperte. Wutentbrannt, mit rotem Gesicht, starrte Green ihn noch mit erhobener Hand zornig an und schritt dann mit wehenden Haaren an ihm vorbei ohne ein weiteres Wort zu sagen. „Aber, Green-chan! Wenn der Kuss nicht gut gewesen wäre, dann hättest du mir doch einfach auf die Zunge…“ Das hätte Siberu nicht sagen sollen. Ehe er es sich versah, knallte Green ihm nicht noch eine Ohrfeige, sondern fuhr sofort die harten Geschütze auf, indem sie ihn mit der linken Hand am Kragen packte und ihn dann den leuchtenden Stab ins Gesicht presste. „Green! Nicht in der Schule!“, fuhr Gary dazwischen, doch Green schien nicht im Sinn zu haben sich von der Stimme der Vernunft bremsen zu lassen; und auch nicht von Rui, die ihrem „Silver-sama“ trotz allem kreischend zur Hilfe eilen wollte, dem ein Schweißtröpfen von der Wange herunter kullerte. „Das war mein erster Kuss, du unsensibles Arsch!“ Dann riss sie sich von ihm los, schulterte ihren Stab und stampfte Richtung Turnhalle davon. „Green! Dein Stab!“, rief Gary ihr hinterher und war auch lief ihr auch schon hinterher. Auch Firey entfernte sich verächtlich schnaubend von dem verdatterten Rotschopf: „Du bist so widerlich, Bakayama, so widerlich! Das Allerletzte bist du!“ „So habt Ihr mich aber noch nie geküsst, Silver-sama! Das ist gemein! Aber… aber ich verzeihe ich natürlich…“        Alle waren wütend auf ihn; aber ausgerechnet Rui – die er eigentlich hatte vergraulen wollen – liebte ihn immer noch.     Während Siberu mit der durchaus berechtigten Frage beschäftigt war, warum er Rui einfach nicht loswerden konnte, gingen die anderen Zuschauer des romantischen Spektakels gänzlich unterschiedlich mit dem eben Gesehenen um: Firey demonstrierte Bogenkunst vom Feinsten in dem jeder ihrer Pfeile in die rote Mitte traf. Sie selbst realisierte es aber kaum, da sie zu beschämt darüber war, dass jemand – und das auch noch Rui – mitbekommen hatte, dass sie sich eine Woche lang nicht getraut hatte, sich dem Trio zu nähern. Das ganze wurde natürlich umso schrecklicher und peinlicher dadurch, dass Gary, Green und Siberu es nun wussten und ihr Beobachten aus der Ferne auch noch so fälschlich gedeutet worden war… was sollte sie nur tun? Green dagegen bekam eine Standpauke nach der anderen und musste sich wiederholt anhören, dass Rhythmische Gymnastik kein Fußball sei und wenn sie weiterhin solch ruppige Bewegungen vollführen würde, dann müsse sie sich wohl einen anderen Sport suchen. Gary war der einzige der sich augenscheinlich keine Gedanken mache: alles was sich in seinem Kopf finden ließ, waren Zahlen. Diese drängten sich erst wieder in den Hintergrund, als Siberu mit frisch geföhnten Haaren in dem nun leeren Klassenzimmer eintrat, als Gary gerade dabei war, seine Bücher wieder in seine Schultasche zu ordnen.  „Endlich bin ich Rui losgeworden! Hat das lange gedauert; sie wollte unbedingt beim Basketball-Training zusehen, obwohl sie überhaupt nicht verstanden hat, was wir da machen… es war so peinlich!“   „Heute war so einiges peinlich.“ Diese doch sehr knappe Antwort brachte Siberu kurz dazu zu Schweigen; er sah seinen Bruder an, der ihn wiederum nicht ansah, sondern so tat als würde er ein altes Mathebuch plötzlich extrem interessant finden, bis Siberu seine Augen Richtung Decke gleiten ließ. „Ich spüre Green-chans Ohrfeige immer noch.“ Gary antwortete nicht. „Aber selbst eine zweite dieser Art wäre es wert gewesen. Ich wollte sie schon immer küssen. Ich hätte es schon viel früher tun sollen… sie schmeckt genauso süß wie ich geglaubt hatte.“ „Du hast eine komische Art deine Zuneigung zu zeigen.“ „Wieso? Weil ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will? Wer von uns beiden ist den der, der immer zuerst an Effektivität denkt?“ Siberu senkte seinen Kopf genau im richtigen Moment um kurz zu sehen, dass Gary ihn angeguckt hatte, während er dies gesagt hatte – jetzt beschäftigte er sich wieder mit seinen Büchern. Doch die nächsten Worte seines Bruders brachten ihm dazu seine Bücher beiseite zu legen: „Dann lass uns doch mal über deine Art Zuneigung zu zeigen sprechen, Aniki.“     Als Gary Green am Abend in der Turnhalle auffand, war ihre Wut nach wie vor nicht abgeflaut und anstatt grazile Bewegungen der Rhythmischen Gymnastik zu sehen, sah er wie Green die blauen und rosafarbenen Gummibälle gegen die Wand der Turnhalle schmetterte – das Training war schon seid 15 Minuten vorbei, doch Green hatte sich scheinbar noch nicht genug abgeregt um sich umzuziehen und den Nachhauseweg anzutreten – oder sie zögerte es mit Absicht heraus, weil sie Siberu nicht sehen wollte. Auch Gary warf sie einen wütenden Blick zu, als dieser herein trat, sagte aber nichts, sondern beobachtete ihn aus den Augenwinkeln wie er sich einige Meter von ihr entfernt hinsetzte, sein Mathebuch herausholte und den Kugelschreiber, den er immer in der Brusttasche hatte, um offensichtlich Aufgaben zu lösen. „Was willst du?“, zischte Green ihre Wut zurückhaltend während Gary bereits angefangen war zu schreiben: „Ich nutze die Zeit und lerne. Es scheint noch eine Weile zu dauern, bis dein Gemüt sich abgekühlt hat.“ „Ich kann auch alleine Nachhause gehen; du musst nicht warten.“ „Es ist kalt Draußen: ich werde uns zurück teleportieren. Ausnahmsweise.“ Hätte Gary seine Matheaufgaben für einen kurzen Moment ignoriert und aufgesehen, hätte er gesehen, dass Green ein wenig rot geworden war, denn sie konnte ein kleines, dankbares, Lächeln trotz Wut nicht zurückhalten ehe sie den nächsten Ball warf. „Möchtest du vielleicht nochmal von deinem Familientrefffen erzählen?“ Die Hikari fing den rosafarbenen Ball gekonnt auf und sah verwundert zu Gary, der allerdings in sein Buch herab sah – aber sein Stift hatte inngehalten. „Warum? Ich habe doch schon alles erzählt.“ „Ich denke das würde dich ablenken; heute Morgen wirkte es nämlich so, als hättest du noch etwas auf dem Herzen.“ „Kannst du dich denn auf beides konzentrieren?“ „Die Aufgaben sind einfach.“ Green fand sie nicht so einfach, wie sie auch nuschelnd zugab, was Gary jedoch nicht hörte. Er wartete geduldig bis Green anfing, ohne sie zu drängen; wie unterschiedlich die beiden Brüder doch waren… „Naja, ich weiß ehrlich gesagt nicht, worüber ich da noch reden soll…“, begann Green langsam und zögerlich den Ball nun nicht gegen die Wand werfend, sondern auf einer Stelle drippelnd. „Die Gesprächsthemen haben sich sowieso immer nur im Kreis gedreht; die Hikari reden über nichts anders als Krieg. Immer nur Krieg.“ Der Ball kam zum Stillstand als Green auf ihn herab sah und verschwommen ihr Gesicht auf der Oberfläche sehen konnte. „Krieg? Warum sprechen die Hikari über einen Krieg, wenn sie doch ein Bannkreis schützt und sie somit keine Bedrohung fürchten müssen?“ Garys Antwort klang interessiert, doch Green hatte keine sonderliche Lust darüber zu reden und antwortete abwesend: „Sie sprachen irgendwie von Forschung die man darin investieren müsste. Aber ich weiß nicht wirklich, was sie damit meinten.“ Und es interessierte sie auch nicht sonderlich, doch Gary erklärte es dennoch, während er fleißig weiter schrieb: „Zwar denke ich, dass dein Bruder das sicherlich viel besser erklären könnte – und ich wundere mich darüber, dass er es noch nicht getan hat – aber ich werde mein bestes geben: Die Rede ist von einem extrem mächtigen Bannkreis den deine Mutter vor 16 Jahren geschaffen hat und welcher den 7ten Elementarkrieg abgeschlossen hat, denn dieser Bannkreis hat uns in unsere Welt eingesperrt…“ Green horchte kaum merklich auf: das war das erste Mal, dass „uns“ gesagt hatte wenn er von den Dämonen sprach: „… und die Teleportationsmöglichkeiten zwischen der Menschenwelt und der Dämonenwelt unterbunden. Es ist nur für eine sehr begrenzte Anzahl Dämonen möglich diese Grenze zu überschreiten, weshalb du es auch noch nie mit einem vollblütigen Dämon zu tun gehabt hast, denn die können die Menschenwelt nicht länger betreten. Das ist nur möglich für Mischlinge – die, gegen die wir bereits oft gekämpft haben – und Halbdämonen. Umgekehrt ist es für Wächter auch nicht mehr möglich die Grenze zu überschreiten. Daher verstehe ich auch nicht, warum die Hikari von einem Krieg sprechen… es wäre wohl kaum ihr Wunsch ein Brechen des Bannkreises zu forcieren. Ob sie womöglich fürchten, dass er brechen könnte? Es war sicherlich nicht gewollt, dass Dämonen mit anderem Blut den Bannkreis überwinden können…“ Gary stellte sich dann selbst laut die Frage, ob das wirklich eine berechtigte Befürchtung war und wollte Green gerade fragen, ob die Hikari etwas in diese Richtung gesagt hatten, als ihm auffiel, dass Green ihm nicht zuzuhören schien; sie sah in eine andere Richtung. „Macht dir das Angst?“ Green zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung. Krieg gehört in den Geschichtsunterricht.“ „Bei den Hikari gehörte der Krieg zum Alltag.“ „Zum Glück bin ich keine Hikari.“ „Was meinst du damit?“ Dieses Mal schoss der Ball daneben und er flog quer durch die Turnhalle.   „Sie ist nicht meine Enkelin! Sie ist eine Missgeburt!“     „Ich denke ich wurde enterbt.“ Kurz schwamm Traurigkeit in Greens Augen, ehe sie sie zusammenpresste und sich grinsend abwandte: „Eine Missgeburt will man eben nicht in der Familie haben.“ „Eine – was?!“ Verwirrt sah Gary auf, traute seinen Ohren wohl nicht, doch Green sprach schon weiter: „Aber das macht mir nichts; ich will eigentlich auch nichts mit ihnen zu tun haben – mit solchen Leuten, die mir vorschreiben wollen, mit wem ich zusammen sein darf. Stell dir vor, Gary, sie wollten, dass ich euch aushorche! Ich habe natürlich abgelehnt und ihnen deutlich klar gemacht, dass ich so etwas nicht mache.“ Triumphierend stemmte Green die Hände in die Hüfte und verkündete: „Blut ist dicker als Wasser – oder wie heißt das nochmal – aber wenn ich Regeln umdrehen kann, dann kann ich auch Sprichwörter umdrehen, oder? Jedenfalls kann mich meine „Familie“ mal.“ Verdattert hatte Gary Greens Grinsen angestarrt, während sie diese Worte gesagt hatte, senkte nun aber den Blick, sah wieder das eben Geschriebene an, den Kugelschreiber eben über dem Papier, einen tiefen Schatten im Gesicht, die dunklen, grünen Augen zwar auf die geschriebenen Wörter gerichtet, doch mit den Gedanken an einem anderen Ort; auch seine Stimme klang so, als würde sie von weit her kommen: „Das hättest du nicht für uns tun müssen. Deiner Familie den Rücken zukehren für eine Freundschaft die gerade mal zwei Monate besteht.“ Fast automatisch begann seine Hand wieder zu schreiben – bis etwas ihm hart am Kopf traf und der Kugelschreiber im hohen Bogen in die Luft flog, auf den Boden fiel und dort klappernd liegen blieb. „Ja, ihr beide seid ziemliche Idioten!“, fauchte Green, das Gesicht rot vor Aufregung, den zweiten Ball in der Hand habend; bereit ihn ein zweites Mal abzuwerfen. Vorerst begnügte sie sich aber damit mit glühenden Augen Garys überraschten Blick zu erwidern: „Aber für eine Familie, deren Regeln, Reinheit und Traditionen wichtiger ist als die eigene Enkelin verleugne ich nicht meine Freunde! Um genau zu sein, ist es mir eigentlich vollkommen egal, wie meine Familie ist – und wenn sie die beste überhaupt gewesen wäre – für niemanden würde ich mein Herz verraten!“ Die Worte hallten wieder an den Wänden der Turnhalle; beide sahen in die unterschiedlichen Augen des jeweils anderen, starrten sich an – Gary verblüfft und überrumpelt, Green voller Entschlossenheit, bis ihr plötzlich bewusst wurde, was sie gesagt hatte und sie ein wenig rot wurde. Anstatt allerdings beschämt in eine andere Richtung zu sehen, drehte sie sich herum und verkündete, dass sie duschen würde und sie dann Nachhause konnten. Bevor sie sich allerdings in die Umkleide zurückziehen konnte, sammelte sie noch den Kugelschreiber auf den Gary fallen gelassen hatte und warf ihn seinem Besitzer zu, ehe sie Duschen ging. Mit leicht brummendem Kopf sah Gary sich den Kugelschreiber in seiner offenen Hand an und packte dann seine Sachen zusammen – er hatte heute schon genug gearbeitet.     Es war tatsächlich ziemlich kalt Draußen, weshalb Green sehr dankbar darüber war, dass Gary ihr vorgeschlagen hatte, sie und ihn ausnahmsweise Nachhause zu teleportieren. Doch gerade als sie aufbrechen wollten wurden sie von Siberu unterbrochen, der plötzlich in die Turnhalle hereingeschneit kam. Dank Gary hatte Green beinahe Siberu und ihre Wut auf ihn vergessen, doch als sie ihn sah kam die Wut sofort wieder zum Vorschein und ihr Gesicht verfinsterte sich umgehend. Es war ein Gesicht das ihm das Fürchten lehrte und eigentlich wollte er am liebsten rückwärts wieder heraus gehen, aber er entschied sich der Gefahr zu trotzen. Er war schon einer Gefahr entronnen, nun würde er es bei der zweiten darauf ankommen lassen – auf den Weg zur Turnhalle war er nämlich in Firey hinein gelaufen. Eigentlich hatte er sie gar nicht weiter beachtet, sondern war einfach, mit seinen Gedanken vollkommen bei Green, an ihr vorbei gerannt, ohne den anderen Rotschopf sonderlich zu realisieren. Aber sie hatte ihn bemerkt und sich zu ihm herum gewandt, gerade als er sie passiert hatte. „Ich hoffe du bist auf dem Weg zu Green um dich zu entschuldigen, Bakayama!“ Mitten in der Bewegung blieb der Angesprochene stehen und drehte sich schwunghaft zu ihr herum: „Oh, das Flachbrett. Mischt du dich wieder in Angelegenheiten die dich nichts angehen?“ Fireys Augen loderten sofort wütend auf, als er sie wieder so nannte, aber sie unterdrückte ihre Wut: „Green geht mich sehr wohl etwas an; sie ist meine Schwester. Also – entschuldigst du dich bei ihr?“ „Warum sollte ich? Ich denke einen besseren ersten Kuss hätte Green-chan gar nicht bekommen können. Ich beherrsche immerhin mein Handwerk.“ Fireys Gesichtszüge zuckten gefährlich als sie entschlossen auf ihn zuschritt: „“Handwerk“? Du bist wirklich so was von eingebildet; so ein richtiger, eingebildeter Playboy---“ Siberu begann zu Grinsen; allerdings nicht das fröhliche Grinsen, welches sie von weiten nun öfters gesehen hatte, sondern ein sehr Unsympathisches. „Ach, keine Sorge, Firey. Dich würde ich nicht einmal in meinem schlimmsten Alptraum küssen!“ Kurz zuckten Fireys Hände und sie hatte das brennende Verlangen ihren Bogen zu spannen, doch sie zwang sich ruhig zu bleiben – ihre Pfeile waren viel zu schade für so einen schrecklichen Kerl! „Du bist wirklich das Allerletzte, Bakayama! Du spielst mit den Gefühlen anderer, als wären sie Spielzeuge. Der erste Kuss ist wichtig, aber das war dir vollkommen egal, denn du wolltest Rui einfach nur eins auswischen! Green war dir dabei vollkommen egal!“ Siberu ging nun ebenfalls auf sie zu, womit sie nun genau gegenüber von einander standen und finster in die Augen des jeweils anderen starrten. Sein Grinsen war verschwunden.   „Ich weiß nicht wieso, aber ich glaube, dass ausgerechnet du keine Ahnung von diesem Thema hast, Flachbrett. Außerdem wollte ich Rui nicht eins auswischen, sondern sie abwimmeln. So ein Fangirl ist nämlich ziemlich nervig.“ „Nein, von Beziehungen habe ich keine Ahnung, das stimmt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Green nicht in dich verliebt ist und deswegen garantiert nicht von dir geküsst werden wollte.“ Dieses Argument brachte Siberus fieses Grinsen wieder zum Vorschein, als er die Hand in seine Hüfte stemmte und sich zu ihr herunter beugte, wohl in Erwartung, dass sie wegweichen würde, aber das tat sie nicht:   „Ach, hast du das durch deine wochenlange Beobachtung herausgefunden?“ Leider musste Firey sich eingestehen, dass das sie aus dem Konzept warf und zu ihrer Schmach bemerkte sie, dass die Schamesröte sich auf ihren Wangen ausbreitete. „Ich habe aber nicht dich beobachtet…“ „Oh, du brauchst es gar nicht zu leugnen; ich weiß, dass ich unverschämt gut aussehe und dass es schwer ist den Blick von mir abzuwenden.“ Jetzt war es Firey die zurück schlug und sie stellte sich auf Zehenspitzen um ihn mit ihren Augen zu durchbohren:     „Ja, du siehst gut aus.“ Überrascht über Fireys Bestätigung hoben sich Siberus schmale Augenbrauen, aber er sagte nichts und ließ die Feuerwächterin ohne Unterbrechung fortfahren: „Aber dein gutes Aussehen kann deinen miserablen nicht Charakter verbergen und ich bin mir sicher, dass Green dich auch durchschaut.“ Mit diesen Worten und wirbelten Zopf wandte sie sich von ihm ab und setzte ihren Weg fort so als wäre überhaupt nichts geschehen. „Miserabler Charakter... pah, das Flachbrett ist doch nur eifersüchtig.“ Und mit diesen Worten wandte auch Siberu sich ab, strich sich beiläufig durch seine roten Haare und stand dank seiner schnellen Schritte auch schnell Green gegenüber. „Was willst du?“, lautete ihre erste Frage, die Arme über ihre Brust verschränkt, nur Siberu fixierend, weshalb sie nicht bemerkte, dass Gary Sicherheitsabstand nahm. „Oh, Green-chan, ich wollte dich abholen kommen; wir sind ja jetzt alle mit unseren AGs fertig und wir gehen doch immer zusammen…“ „Ich verzichte. Gary und ich teleportieren uns Nachhause.“ Siberu warf einen Seitenblick an seinen Bruder, doch dieser machte ihn mit einem Blick klar, dass er sich lieber raushielt und mit nichts etwas zu tun haben wollte. „Green-chan, warum bist du denn so wütend?“ Obwohl Gary eben noch verdeutlicht hatte, dass er sich raushalten wollte, konnte er bei dieser unüberlegten Frage nicht umher, sich die flache Hand gegen die Stirn zu hauen – was für eine dumme Frage! Was für eine gefährliche Frage! „Warum ich wütend bin, Sibi?“, wiederholte Green mit einem steifen, langen Lächeln und fuhr nachdenklich fort, als wüsste sie es plötzlich nicht mehr: „Ja, warum könnte ich denn wütend sein? Oh, ich weiß nicht… vielleicht weil du mich um meinen ersten Kuss beraubt hast, nur um Rui loszuwerden?!“ „Das stimmt überhaupt nicht!“, erwiderte Siberu hastig in einem energischen Tonfall: „Ich liebe dich, Green-chan – deswegen habe ich dich geküsst!“ „Ach und das mit Rui war einfach nur ein angenehmer Nebeneffekt? Als ob ich dir das glauben würde!“ Das brachte Siberu umgehend zum erschreckten Schweigen, aber das bemerkte Green nicht, denn sie hatte sich an Gary gewandt, ohne Siberus Reaktion sonderlich zu beachten. „Weißt du was, Sibi – eigentlich sollte ich jetzt Gary küssen.“ „Wie---was!?“, brachte Gary mit hochroten Kopf hervor, worauf Green keine Rücksicht nahm, denn sie fixierte nun den ebenfalls sehr verdattert dreinsehenden Rotschopf: „Nur um dir eins auszuwischen, damit du weißt wie es ist.“ Die Hikari ließ die Drohung in der Turnhalle hängen, sah beide abwechselnd an, ehe sie wieder ihren Kontrahenten ansah: „Aber das tue ich nicht. Weil man so etwas nämlich nicht ausnutzt. Man spielt nicht so schamlos mit den Gefühlen anderer – so etwas ist…“ Das ziemlich blasse und deutlich eingeschüchterte Gesicht Siberus brachte Green dazu, ihren Satz nicht zu Ende zu führen. Stattdessen schwieg sie nun, sich unzufrieden auf die Unterlippe beißend, dabei einen Seitenblick an Gary werfen, dessen ratloser Blick ihr allerdings auch nicht weiterhalf – es war deutlich, dass er sich lieber heraushalten wollte. Niemand von ihnen brach die Stille, die sich in der Turnhalle verbreitet hatte; es war deutlich, dass die beiden Brüder darauf warteten, zu hören, worüber Green sich den Kopf zerbrach. Nach einigen Sekunden ergab sie sich und hörte mit einem Seufzen auf, mit sich selbst zu ringen. Sie warf ihren hellblauen Schal über ihren braunen Mantel und machte kehrt: „Danke für dein Angebot wegen der Teleportation, Gary – aber Sibi und ich gehen alleine nachhause.“ Keiner der beiden Halbdämonen rührte sich auf diese Aussage hin; beide sahen Green wegen ihres abrupten Sinneswandels nur verwirrt an, was auch Green nicht unbemerkt blieb: „Kommst du nun?!“ Siberu fuhr zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. „Bin schon unterwegs, Green-chan!“, rief Siberu, raffte alarmiert seine Schultertasche und rannte Green hinterher – allerdings nicht ohne Gary einen hilfesuchenden Blick zuzuwerfen, der ihm allerdings nur im Stillen „Viel Glück“ wünschte.     Fertiggestellt: 18.10.13             Kapitel 21: Dämon-Sein ---------------------- Es war selten, dass irgendetwas Siberu die Sprache verschlagen konnte – sehr, sehr selten fand er sich in Situationen wieder, in denen er keine Worte fand. Das war so gar nicht er, so kannte er sich selbst gar nicht, so wollte er sich auch gar nicht kennenlernen. Es kam ihm so eigenartig vor, links neben Green her zu gehen, ohne dabei mit ihr herumzualbern, ihre Hand zu halten, seinen Arm um ihren Arm zu schlingen. Er hatte solcherlei Annäherungsversuche jetzt nicht probiert, hatte auch gar nicht versucht, die Stimmung aufzulockern – er spürte unterbewusst, dass das jetzt nicht angebracht war. Aber das änderte nichts daran, dass er es nicht mochte; das graue Tokio, die Kälte um sie herum, die den baldigen Schnee ankündigte, Greens sturer Blick geradeaus, Mundwinkel, die schwer nach unten hingen und nicht zu einem Grinsen finden konnten ... all dies gefiel ihm nicht, ließ das sonst so vertraute Beisammensein befremdlich wirken. Was war nur los? Warum ließ sie ihre Wut nicht einfach an ihm aus und dann war die Sache gegessen, vergessen, hinter ihnen und sie konnten wieder lachen? Warum schwieg Green so? War das ihre Art, ihn zu bestrafen? Wusste sie, wie sehr ihn dieser schweigsame Spaziergang durch Tokio quälte? Wie er litt? Dass er sie am liebsten anschreien wollte, nur um sie zu provozieren, um das Schweigen endlich zu vertreiben? Warum nur war Gary nicht mitgekommen...  er kannte doch für alles eine Lösung. Obwohl – war das hier, das soziale Miteinander – nicht eigentlich Siberus Gebiet? Was war es, das ihn in diesem Moment so ohnmächtig werden ließ? War es wirklich Greens Schweigen? Reichte das aus, um so ein Unwohlsein in ihm hervorzurufen? Sie sollte damit aufhören … er wollte dem Ganzen ein Ende setzen; sie tatsächlich direkt konfrontieren, obwohl jeder Zentimeter ihres Körpers ihm sagte, dass sie nicht angesprochen werden wollte… aber als er seinen Mund öffnete, um ihren Namen zu sagen, brachte er keinen Ton über die Lippen, war wieder zum Schweigen verflucht und als hätte ihn das Leben tatsächlich verdammt, starrte er tatenlos auf den Fußgängerweg, als wäre das das einzige, was er in diesem Moment noch tun konnte. Er sah nun einfach nur auf den Boden unter sich, auf seine sich vorwärts bewegenden Füße, Greens eigenes Fortbewegen von der Seite aus beobachtend.   Das Größenverhältnis stimmte nicht. Er war natürlich viel größer geworden seit… damals… er war rechts von ihr gegangen… damals. Aber Green und sie waren gleich groß. Ihre Schritte klangen gleich, die langen auf und ab hüpfenden Haare, die leicht angespannte Körperhaltung. Das Schweigen. Das Nichtansehen. Das Ignorieren.    Siberu war das bis jetzt nicht aufgefallen. Ob es seinem Bruder aufgefallen war? Bis auf die roten Haare… sahen Green und die Frau, die er gerne mit einem warmen Gefühl „Mama“ nennen würde, sich ähnlich.   Auch dieses Gefühl war ähnlich. Aber es sollte sich nicht ähneln! Siberu mochte das nicht; er mochte nicht an damals denken, mochte sich nicht daran erinnern, wie lange seine Mutter ihn angeschwiegen hatte… auf dem Weg nachhause… als Siberu einen weiteren Fehler begangen hatte… er beging viele Fehler. Einen. Nach. Dem. Anderen.   „Green-chan!“ Siberu wollte das nicht mehr, er wollte es unterbrechen – er wollte nicht zurück denken, wollte nicht mehr schweigen, wollte nicht mehr über Gleichheiten nachdenken, über Fehler, die nicht mehr gutzumachen waren, Dinge, die nie wiederkehren würden, Fehler, die begangen worden waren---   Siberu war stehen geblieben, aber Green blieb nicht stehen. Sie ging weiter; deutete eine eher genervte Kopfbewegung an und von fern, als gehörten sie nicht in dieselbe Welt, dieselbe Realität, hörte er, wie sie sagte, dass sie sich irgendwo hinein setzen wollte, es würde bald anfangen zu schneien, das spüre sie…   „Jetzt rede endlich mit mir! Dieses Schweigen halte ich nicht aus! Sag was!“ Aber da packte er ihr Handgelenk und zwang sie so dazu, stehenzubleiben – etwas zu hart, wie er an ihrem vergeblichen Versuch sich loszureißen und an ihrem Blick bemerkte, als sie sich zu ihm herumwandte, ihn zuerst verärgert anfunkelte – aber dann veränderte sich der Ausdruck in ihren Augen. Was war das? Ihre Augen brachten sein Herz zum Rasen – deutlich konnte er sehen, wie sie sich langsam weiteten, voll Überraschung, Erstaunen. Aber sehr … negativ; war das schon Entsetzen? „Deine … Augen, Sibi, was ist mit deinen …“ Aber weiter kam sie nicht. Die Luft um sie herum veränderte sich plötzlich, erstarrte – und was auch immer Green so schockierend an Siberus Augen gefunden hatte, so lenkte ihre Umgebung sie nun ab. Alles um sie herum erstarrte; die Autos, die Menschen, die Vögel am weit entfernten Himmel, selbst die Lichter hörten auf zu leuchten – als wäre die Zeit eingefroren. „Was zur Hölle – ist das etwa Kaira?!“, fragte Green die einzige Person außer er selbsst, die sich noch bewegen konnte. „Keine Ahnung! Das ist auf jeden Fall ein Zeitbann, das könnten auch andere Wächter sein…aber ich spüre keine Aura-“ Schneller als ihm lieb war, spürte er allerdings eine und ohne, dass er es verhindern konnte, wurde ihm Greens Handgelenk entrissen. Er rief ihren Namen, aber es ging alles zu schnell. Irgendetwas von gewaltiger Größe traf ihre Magengegend, schleuderte sie über den Fußgängerübergang und schon kollidierte Greens Rücken mit einem in der Zeit eingefrorenen Auto. Der Schmerz lähmte ihren Körper, Blut sammelte sich in ihrem Mund, aber noch bevor sie sich wundern konnte, dass ihre bereits nicht mehr klar sehenden Augen nicht nur einen riesigen Dämon vor Siberu auszumachen glaubten, sondern auch einen… sie glaubte es jedenfalls… Wächter… ergab sich ihr Körper den Schmerzen. Ihr Kopf sackte auf ihre Brust und sie wurde ohnmächtig.     Von all dem bemerkte Gary nichts. Nach der Aufforderung Greens, er solle sich alleine auf den Heimweg machen, hatte er kurz gezögert, war aber dann doch in seine und Siberus Wohnung zurückgekehrt. Ein wenig Sorgen machte er sich schon um seinen Bruder – Green konnte immerhin eine wahre Furie sein – aber wenn er es sich genauer überlegte, hatte Siberu es auch nicht anders verdient. Anstatt sich also nun einem unbekannten Gegner zu stellen, machte er sich, seinen eigenen Gedanken nachhängend, einen Kaffee und entschloss sich dazu, dass er die ungewohnte Ruhe mit Lesen verbringen würde – und das, obwohl der Kampf nur wenige Kilometer von ihm entfernt stattfand. Aber davon spürte der sonst so achtsame Gary nichts, denn das Vorhandensein des Bannkreises blockierte jedes Herausdringen der Auren, weshalb es für Gary nicht möglich war, die magischen Aktivitäten zu erspüren. Dennoch. Ein ungutes Gefühl hatte sich in ihm eingenistet. Aber eben dieses versuchte er nun in den Seiten seiner Lektüre und dem starken Kaffee zu vergessen, während Siberu sich nicht nur einem ziemlich großen Dämon, sondern auch noch einem Wächter gegenüberstehen sah.     Langsam verstand Siberu die Situation, in die Green und er unbeabsichtigt hineingestolpert waren: jedenfalls glaubte er, dass er sie verstand. Der Wächter hatte den Dämon wohl verfolgt und deswegen den Zeitbann gelegt – die Wächter waren ja immer so sehr um die Bewahrung der Umgebung bemüht – und in diesen waren Green und er blindlings hineingerannt. Der blauhaarige Wächter sah offensichtlich nicht nur Siberus Augen, sondern spürte auch seine Aura, womit er nun zwei Dämonen zu seinen Gegnern zählte. Wenigstens sorgte das große Ungetüm nicht dafür, dass der Wächter glaubte, die beiden Dämonen würden irgendwie zusammengehören oder gar zusammenarbeiten, denn nachdem die ohnmächtige Green für den Dämon nicht mehr von Interesse war, widmete er sich nun Siberu. Dieser wich dem Asphalt vernichtenden Schlag des Dämons geschickt aus, drehte sich um seine eigene Achse, um Schwung für einen Gegenangriff zu erhalten, als er bereits bemerkte, dass das nicht nötig war. Ein markerschütternder Aufschrei ertönte, als ein türkisfarbener Blitz  dem Dämon den linken Arm abriss – noch bevor er zu Boden krachen konnte, löste er sich in viele kleine Funken auf, womit der erstaunt dreinblickende Siberu nun freie Sicht hatte auf die von Blitzen umgebene Hand des Wächters ihm gegenüber. Er hatte Siberu ganz gewiss nicht helfen wollen – er war einfach geschickt und erfahren genug gewesen, um den Moment zu nutzen, in dem der Dämon durch Siberu abgelenkt gewesen war. Haha, wahrscheinlich war es klüger, das Ganze einfach diesem Wächter mit den langen, ultramarinen Haaren und der vornehmen Uniform zu überlassen; sich einfach Green zu schnappen und die Fliege zu machen, denn er hatte sicherlich genau dasselbe mit Siberu vor wie mit dem anderen Dämon – und wenn er so daran dachte, wie der Wächter mit einem felsenfesten, entschlossenen Blick den anderen Dämon mittels seiner Blitze förmlich auseinandergerissen hatte… ah, nein. Musste nicht sein.   Es war nicht so, dachte Siberu, während die schwarzen Reste des anderen Dämons sich in Funken auflösten, dass er glaubte, dass er schwächer als der Wächter war… es war nur… Siberus Augen huschten zu Green herüber. Sie könnte jeden Moment wieder aufwachen, ihre Verletzung war nicht… ach, egal, nicht nachdenken – handeln! Siberu hatte schon die Hand auf den kalten Stahl der Straßenabsperrung gelegt, wollte gerade über diese springen, um zu Green zu gelangen, um sich mit ihr davon zu teleportieren, seinem Bruder Bericht erstatten… als ein genau vor seinem Gesicht auftauchender Blitz ihn von diesem Vorhaben abhielt. Siberu spürte eine sehr starke Magie von dem türkisfarbenen Blitz ausgehen und er wollte wirklich nicht herausfinden, was passieren würde, wenn der Blitz seiner Haut zu nahe kam – scheinbar war das aber nicht die Absicht des Angreifers, denn anstatt ihn genauso auszulöschen wie er den anderen Dämon ausgelöscht hatte, schien es, als würde er ihn stattdessen gefangen nehmen wollen: der vor Siberu aufgetauchte Blitz veränderte blitzend und vibrierend seine Form, verlängerte sich und umschloss den Rotschopf, womit dieser sich nun nur noch in einem sehr kleinen Radius bewegen konnte, da der Blitz ihm nur sehr wenig Freiraum ließ. „Beweg dich nicht“, befahl der Wächter auf Englisch, was es nur noch deutlicher machte, dass er Siberu gefangen nehmen wollte, anstatt ihn zu töten – aber warum? Siberu wusste es nicht und eigentlich machte er sich darüber auch keine sonderlich großen Gedanken; das Vorhaben des Wächters war deutlich und genauso bewusst war sich Siberu, dass er sich garantiert nirgendwohin verschleppen ließ – ganz egal wohin und weshalb. Daher antwortete Siberu ihm auch nicht, obwohl er seine Worte schon sehr wohl verstanden hatte; stattdessen drehte er sich langsam zu dem entschlossenen Wächter herum, darauf achtend, nicht in Kontakt mit den Blitzen zu kommen, die von der ausgestreckten Hand des Wächters geführt wurden. Bei dieser Bewegung fiel sein Blick auf sein Spiegelbild rechts von ihm in dem Schaufenster einer Boutique. Jetzt sah man ihm deutlich an, dass er kein Mensch war. Seine Augen hatten sich verändert, der rote Ton seiner Augen trat deutlicher hervor, die Pupille war dünner; ein kleiner schwarzer Riss in einem dunklen, roten Meer. Bei Halbdämonen nannte man diese - eigentlich willentlich - herbeigeführte Veränderung des Körpers umgangssprachlich „Dämonenmodus“. In diesem Fall war es allerdings nicht willentlich geschehen, denn er hatte nicht gewollt, dass Green es sah, aber manchmal geschahen Ausrutscher – manchmal entglitt einem die Menschlichkeit, siebte durch die Finger wie Wasser. Seufzend wandte Siberu sich von seinem Spiegelbild ab, schloss kurz die Augen, ehe er sie entschlossen dem fremden Wächter zuwandte und ihm auf Englisch antwortete: „“Nicht bewegen“? Sorry, aber das kann ich nicht. „Nicht bewegen“ passt nicht zu meinem Image.“ Entweder Siberu ließ sich gefangen nehmen – oder er tat das, was Dämonen nun einmal taten und am besten konnten.         Das erste was Green bemerkte, als sie die Augen wieder öffnete, war ein ekelhafter, metallischer Geschmack in ihrem Mund – und Schmerzen besonders im Rücken, was sie zu einem schmerzhaften Stöhnen brachte. Noch ziemlich benebelt suchten Greens Hände nach Halt und langsam hievte sie sich auf die Beine, den Kopf immer noch gesenkt, darum bemüht, wieder vollends zu Bewusstsein zu kommen. Was war eigentlich…   Dann stockte ihr der Atem und mit aller Härte kehrte sie zurück in die unbarmherzige Realität, auch wenn sie im ersten Augenblick nicht glauben konnte, was sie da sah – sie wollte es auch nicht, sie wollte nicht wahrhaben, dass die Person, deren Spiegelbild sie im Schaufenster sehen konnte, deren Gesicht von mehreren roten Sprenkeln gemustert war und deren Augen in der grauen Wirklichkeit förmlich zu leuchten schienen, zu „ihrem Sibi“ gehörten – und dass dieser stoßweise atmend gerade vor dem leblosen Körper eines Wächters stand, dessen Brust von einem blutenden See entstellt wurde. Green hatte bis jetzt schon viele Dämonen umgebracht, hatte mittlerweile auch schon oft gesehen, wie Gary oder Siberu es getan hatten und natürlich waren sie dabei oft dreckig geworden … sie hatten dabei oft sinnlos herumgealbert … sie und Siberu … es immer mehr wie ein Spiel abgetan … aber jetzt, in diesem Moment, hatte Green nicht das Gefühl, als wäre es ein Spiel. Zum ersten Mal, obwohl sie und ihre Freunde schon oft getötet hatten, hatte sie das Gefühl, bei einem Mord dabei zu sein. „…Sibi?...!“ Siberu reagierte nicht auf ihre Stimme; er machte absolut gar keine Anzeichen darauf, irgendetwas anderes wahrzunehmen als den Wächter vor ihm – und dass dieser nicht tot war und das es somit kein Mord war, fand Green schnell heraus. Es war nur ein kurzer Moment der Stille gewesen, eine kurze Verschnaufpause und ohne, dass einer der beiden Notiz von Green nahm, ging der Kampf in die zweite Runde. Für den Moment war das einzige, was Green tat, sich an dem Griff der Autotür festzuhalten; zu sehr war sie abgelenkt und eingenommen von dem, was sie sah – der Kampf… er sah… anders aus. Ganz anders als die Kämpfe, an denen sie selbst teilgenommen hatte. Ganz besonders Siberu sah anders aus: es waren nicht seine Augen, die der Grund für dieses „Anderssein“ waren, sondern die Art, wie er kämpfte. Verbissener, ernster – keinen Augenblick lang entdeckte Green ein Grinsen auf seinem Gesicht; er hatte keinen Spaß. Er kämpfte nicht aus Spaß; er kämpfte, um den Wächter zu töten. Und das gelang ihm nicht. Der Wächter war talentiert, das sah auch Green mit ihrer mangelhaften Kampferfahrung – Siberu war zwar schneller als er, aber der blauhaarige Wächter besaß eine gute Verteidigung und war stets i­n der Lage, Siberus Angriffe mit seinen Blitzen zu blocken. Ein Gedanke streifte Green; war das Blut auf seiner Schulter vielleicht gar nicht seins? Er wirkte nicht so, als wäre er aus der Puste oder als ob er Schmerzen hätte; er wirkte sehr souverän … war das Siberus Blut? War er verletzt? Green konnte es nicht beurteilen, denn Siberu war trotz einer möglichen Wunde immer noch zu schnell … Und Green starrte auch eher auf sein Gesicht. Dieser Gesichtsausdruck … dieser Wille, zu töten … das war einfach … „Jetzt hör auf, Sibi! Das bringt doch nichts!“ Green hatte gehofft, dass sie Siberu würde erreichen können, aber stattdessen reagierte der Wächter auf ihre Stimme; vielleicht weil er sie wegen ihrer Sprache für eine japanische Passantin hielt, einen Menschen, den er verteidigen musste … jedenfalls drehte der blauhaarige Wächter den Kopf zu ihr – und Siberu reagierte schnell und wusste diese Ablenkung, die erhoffte Lücke, zu nutzen. „SIBI, NEIN! NICHT!“ Endlich bemerkte Siberu seine Freundin und seine roten Dämonenaugen huschten zu ihr – doch es war zu spät. Er hatte sie zu spät bemerkt und zwar erst in dem Moment, als seine schwarzleuchtende, zu Klauen geformte Hand mit der linken Brust des Wächters kollidierte. Der heftige Aufprall der Attacke warf den Wächter rücklings in die Fensterscheibe der Boutique, in deren zerbrochener Schaufensterscheibe er reglos hängen blieb. Auch Green stöhnte auf; die Magie, Siberus Magie, hatte auch sie getroffen. Sie hatte zu nah gestanden, die Magie hatte zu weit ausgestrahlt und schon schoss Greens Hand an ihren Hals. Der Querschläger hatte den Stoff ihres Rollkragenpullovers zerrissen und einen vertikalen Kratzer an ihrem Hals hinterlassen. Nicht tief, aber… was war das für eine brennende Magie? Dieser kleine Kratzer schmerzte fürchterlich, stärker und intensiver als jede andere Attacke, die sie in ihrer Laufbahn als Wächter bereits eingesteckt hatte – lag es nur an der Platzierung der Wunde? Nein, sie war schon früher einmal am Hals getroffen worden… es war Siberus Magie, die stärker und schmerzlicher war als alles, was sie vorher gespürt hatte. Absolute Stille trat ein. Green starrte auf den Körper des Wächters, die Glasscherben auf dem Boden, den im Glas festhängenden rechten Arm des Wächters, seine zerrissene Uniform, die geschlossenen, halb von seinem ultramarinen Haar verborgenen Augen… und das Blut – das Blut auf seinem Oberkörper, das Blut an den Scherben… das Blut in Siberus Gesicht, als er sich von dem Wächter abwandte und zu Green sah, deren eigene Wunde im Takt seiner Drehung pulsierte. Zuerst schien er sie am liebsten ignorieren zu wollen, doch dann wandte er sich langsam zu ihr herum, sah über die Schulter hinweg zu ihr, die roten Dämonenaugen von seinem roten Haar teilweise verborgen. Er sagte nichts. Seine Augen durchbohrten sie einfach. War das der Grund für ihre Gänsehaut? Oder war es der Schmerz? „Sibi … er wird ja wohl nicht … der Wächter, er ist nicht … oder?“ Es war nicht Siberu, der ihr eine Antwort auf diese verzagte Frage gab, sondern der Wächter selbst: anscheinend hatte Greens Stimme Siberu noch rechtzeitig erreicht und den Wächter nur für eine kurze Zeit bewegungsunfähig gemacht, denn nun riss er seinen von Schrammen und Kratzern übersäten Arm heraus – was allerdings nur Green sah, denn Siberu hatte immer noch wie hypnotisiert seine Freundin fixiert, unfähig, sich von ihr abzuwenden oder auf seine Umgebung zu achten. Seine Dämonenaugen nahmen einen reuevollen Ausdruck an, er schien etwas sagen zu wollen, aber darauf achtete Green in diesem Moment nicht. Greens Körper erlaubte ihr noch nicht die gewünschte Schnelligkeit und so war sie nicht schnell genug, um zu Siberu und dem ihn angreifen wollenden Wächter zu gelangen; das ganze Gebiet leuchtete türkis, die Blitze schossen auf Siberus Kopf zu, er wirbelte herum, das Licht spiegelte sich in seinen roten Augen – aber auch wenn es Greens Körper nur gelungen war, wenige Meter nach vorne zu hechten, so war ihre Stimme schnell genug gewesen: „Halt!“ Wieder war es ihre Stimme, die einen Wächter zum Innehalten brachte und da Green die Wirkung ihrer Stimme wegen dem Treffen mit Kaira nicht vergessen hatte, fügte sie entschlossen hinzu: „Ich befehle es!“ Ihre Stimme zeigte zwar die Entschlossenheit, die dieserlei Worten Wirkung verlieh, aber die Worte fühlten sich sehr eigenartig an auf ihrer Zunge, ungewohnt und falsch. Aber wenn sie etwas Falsches tun musste, um Siberu davor zu bewahren, von einem Blitz erschlagen zu werden, dann war das wohl das richtige. Der Wächter hatte tatsächlich innegehalten und sah sie nun skeptisch an, nachdem er die Überraschung über ihr Einmischen abgelegt hatte. Aber darauf achtete Green im Moment nicht – um einiges weniger entschlossen, sondern viel mehr erleichtert, dass ihre Stimme ein weiteres Mal Unheil unterbunden hatte, stolperte sie auf Siberu zu, packte den erstaunten Dämon am Arm und zog ihn zurück, beschützend hinter sich schiebend. Er sagte nichts, tat nichts – er sah sie mit diesen ungewohnten Augen einfach nur verdattert an. Der Wächter war es, der zuerst seine Stimme wiederfand – doch obwohl Greens Stimme Effekt gezeigt hatte, so war er nach wie vor in Angriffsposition und seine Blitze tänzelten immer noch ihren ruckartigen Tanz um seine Hand und seinen Oberarm herum. „Wer seid Ihr? Gebt Euren Rang und Eurer Element preis.“ Green musterte den zwar schwer verwundeten, aber dennoch kampfbereiten Wächter vor ihr eingehend, aber sie war sich sicher: sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Gut, das war wahrscheinlich auch nicht verwunderlich; so viele Wächter kannte sie immerhin noch nicht. „Mein Name ist Green. Kurai Yogosu Hikari Green“, fügte sie noch hinzu, da ihr kompletter Name in diesem Fall wohl angebrachter war und seine Augen weiteten sich auch für einen kurzen Moment, besonders als Green, um ihre Worte zu untermauern, ihren Stab umwandelte: „Ich bin die Wächterin des Lichts.“ Das schien der Wächter jedoch nicht zu hören; er starrte ihre Waffe an und stieß überrascht hervor: „Aber das ist ja eine Waffe von Asuka-dono! Das bedeutet… Dann seid Ihr ja…“ Sein verwirrter Blick widmete sich Green, dann wieder Siberu – eine Kombination, die er nicht zu verstehen schien: „Wenn Ihr wirklich unsere Hikari seid … warum schützt Ihr dann einen Dämon?“ „Weil er mein Freund ist. Meistens jedenfalls – das tut hier aber auch gar nichts zur Sache! Kehren Sie zurück in den Tempel, erstatten Sie Bericht… oder so. Hier ist ja jetzt alles in Ordnung, oder?“ Immer noch sah er sie entgeistert an, aber langsam legte sich die Verwirrung – eigentlich ungewöhnlich schnell, als würde er plötzlich irgendwelche Zusammenhänge verstehen, die ihm vorher schleierhaft gewesen waren. Die Blitze verschwanden und er nahm plötzlich eine entspannte Haltung an, die Siberu und Green dazu brachte, sich einen verwirrten Blick zuzuwerfen – damit hatten sie wohl nicht gerechnet. Aber noch weniger hatte Green die Frage seinerseits kommen gesehen, die er lächelnd vortrug: „Wenn ich mir noch eine letzte Frage erlauben darf, Hikari-sama: in genau einem Monat findet die Hochzeit meiner Frau und mir statt. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Ihr kommen würdet.“ „Eine … Hochzeit? Uhm, ja, klar, warum nicht?“ Green verwirrte diese Bitte, aber da sie ihn so schnell wie möglich loswerden wollte, sagte sie einfach zu, was sein höfliches Lächeln noch breiter machte – ehe er sich verbeugte und sich dann tatsächlich endlich davon teleportierte. Genau in dem Moment verlor auch der Zeitbann seine Wirkung: die Zerstörung um sie herum verschwand, nichts war mehr davon zu sehen und Menschen und Autos setzten wieder ihren gewohnten Gang fort.     Der Name des Wächters war Shitaya, Kikou Docere Shitaya, ein Klimawächter wie Tinami, einer der obersten Kommandeure der Wächterstreitmächte und nicht nur einer der talentiertesten Wächter des Wächtertums, sondern auch überaus intelligent. Er lebte gewissenhaft nach den heiligen Regeln und diente den Hikari treu – was ihn allerdings nicht daran hinderte, seine eigenen Schlüsse zu ziehen, weshalb er auch nun nicht im Tempel war, um irgendeinen Bericht zu erstatten, sondern, nachdem er sich in aller Eile hatte verarzten lassen, auf dem Weg zu seinem besten Freund und baldigem Trauzeugen. Die Abenddämmerung hatte sich über die schwebende Insel gesenkt und rotgoldenes Licht durchflutete die stillen Säulengänge, in denen weder gerannt noch laut gesprochen wurde. Alles hatte seine Ordnung und auch wenn Shitaya überaus aufgeregt war, so hielt auch er sich an diese und unterdrückte den Impuls, rennen zu wollen. Erst als er in einem der vielen Innenhöfe des großen Gebäudekomplexes ankam, begann er über das Feld zu rennen, um zu seinem Freund zu gelangen, der eine Gruppe von jungen Wächtern im Licht der Abendsonne beim Trainieren überwachte. Der hochgewachsene junge Mann mit den kurzen, violetten Haaren trug eine ähnlich vornehme Uniform wie Shitaya und wandte sich mit wehendem Umhang zu ihm herum, als er seinen Freund kommen hörte. Seine dunklen, braunen Augen entdeckten sofort Shitayas Verletzung und die zerrissene Kleidung, weshalb er sich doch einen neckischen Kommentar nicht verkneifen konnte: „Ach, hat der Held des Wächtertums Probleme, mit einem C-Dämon fertig zu werden?“ Die Neckerei verging ihm allerdings schnell, denn er sah an Shitayas Blick, dass die Situation sehr ernst war. „Wäre es möglich, kurz ein Gespräch unter vier Augen zu führen, Cebir?“ Argwöhnisch verengten sich die Augen des Angesprochenen, dann wandte er sich ohne weitere Fragen an die in Reih und Glied trainierenden Wächter und erklärte das Training kurzerhand für beendet. Unter dem verdatterten Blick von Shitaya und der ersten Verwirrung der Schüler verließen diese nun den Platz. „Das wäre jetzt nicht nötig gewesen …“ „Wir waren sowieso schon fünf Minuten über der Zeit.“ Cebir beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die letzten Wächter den Hof verließen, dann setzte er dazu an, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, seinen Freund zum Reden auffordernd. Die Erzählung Shitayas machte auch Cebir skeptisch: „Und du bist dir ganz sicher, dass es sich bei dem Mädchen um unsere Hikari gehandelt hat?“ Shitaya deutete ein Nicken an. „Sie war unzweifelhaft White-samas Tochter; die Ähnlichkeit war verblüffend. Aber der deutlichste Beweis war ihre Waffe. Tinami-dono hat mir einst die Skizzen für diese Waffe gezeigt. Damals erklärte sie mir, dass es die Waffe für die zukünftige Hikari sei… und dass das Mädchen sie benutzen konnte, beweist, dass sie die Hikari ist, für die sie geschmiedet worden ist. So unglaublich das auch sein mag.“ „Das erklärt auch, warum sie der Öffentlichkeit noch nicht vorgestellt worden ist. Eine Hikari, die sich mit dem Feind verbrüdert …“ Cebir machte ein abfälliges Geräusch: „Ist denn das zu fassen! Da bist du echt über etwas Großes gestolpert… viel größer als jede Information, die wir dem Halbdämon hätten entnehmen können, wenn du ihn gefangen genommen hättest. Unsere Hikari lebt nicht nur und führt irgendwo in der Menschenwelt ein munteres Leben, sie bandelt auch noch mit Dämonen an! Für deine Frau und ihre Klatschpresse ist das wirklich ein gefundenes Fressen. Warum lassen die Hikari so eine Schmach nur geschehen?!“ Shitaya antwortete darauf nicht; nachdenklich hatte er die Stirn in Falten gelegt und schwieg für eine kurze Weile, bis er seine Gedanken preisgab: „Ich habe sie zu meiner Hochzeit eingeladen.“ Cebir warf seinem Freund einen verdutzten Blick zu, was Shitaya jedoch nicht beachtete. „Sie wusste nichts von der Feier, obwohl es eine sehr große Feierlichkeit sein wird und sie als Hikari eigentlich Ehrengast sein sollte … Das Mädchen scheint genauso wenig über uns zu wissen wie wir über sie. Ich frage mich, warum die Hikari diese Isolation wünschen, wenn sie es denn überhaupt sind, die diese herbeiführen.“ Diese Worte brachten Cebir dazu, stehen zu bleiben und Shitaya erstaunt anzusehen. Es war allerdings nicht nur er, der in diesem Moment stehen geblieben war – am anderen Ende des Ganges, in den dunklen Schatten der Säulen, war eine weitere Person verharrt, die nun langsam den weißen Kopf zu ihnen drehte. „Das verstehst du nicht? Also das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum das Mädchen noch am Leben ist! Auf Verbrüderung mit dem Feind steht die Todesstrafe!“ Die weißen Augen der Person weiteten sich kurz überrascht über das, was sie da gehört hatte – allerdings nur kurz, denn schon löste sie sich nun aus dem Schatten, doch die beiden Wächter waren zu sehr mit ihrem Gespräch beschäftigt, als dass sie es bemerkt hätten. Cebir merkte nur, dass er zu laut gesprochen hatte, weshalb er seine Stimme nun mäßigte: „Jeder andere Wächter wäre vom Kriegsgericht schon längst für schuldig befunden worden; nur weil sie eine Hikari ist, ist sie noch am Leben. Eine Hikari lässt man nicht so einfach hinrichten …“ „Guten Abend.“ Beide Wächter fuhren erschrocken zusammen, als sie diese ruhige Stimme hinter sich hörten, plötzlich nervös werdend, besonders als sie entdeckten, wem die Stimme gehörte: dem Hikari Hizashi. Dieser lächelte breit, als hätte er zwei Schulkinder bei etwas Unartigem entdeckt und die Schatten der Abendsonne verliehen seinem weißen Gesicht etwas Bedrohliches, als er gemächlich die Hände faltete. „Folgen Sie mir bitte in mein Büro.“             Siberu hätte Green und sich auch nachhause  teleportieren können, aber das hatte er nicht getan. Einem unterbewussten Impuls folgend hatte er sie an einen Ort gebracht, den er schon lange, lange nicht mehr aufgesucht hatte. Green kannte diese Gegend von Tokio nicht, weshalb sie sich auch sehr verwirrt in der Wohngegend umsah, wo ein Haus aussah wie das andere, mit dicht aneinander gereihten Grundstücken umgeben von hohen Mauern, um die Häuser von den Blicken der Passanten und den Geräuschen der Autos abzuschirmen. Es wirkte alles genauso grau wie der dunkle Himmel über ihnen, die Straßen waren kaum befahren, nur wenige Bewohner waren unterwegs. Im Gegensatz zu Green kannte Gary diese Gegend allerdings sehr gut – gerade deshalb wunderte es ihn sehr, dass Siberus Aura ihn dorthin geführt hatte. Er hatte sich natürlich nicht wie erhofft auf sein Buch konzentrieren können und der Kaffee war kalt geworden, ohne dass er viel davon getrunken hatte, denn sein ungutes Gefühl hatte ihm keine Ruhe gelassen. Nun, da der Zeitbann aufgelöst worden war, hatte er Siberus und Greens Aura wieder erspüren können, wobei ihm mit pochenden Herzen nicht unbemerkt geblieben war, dass die Aura seines Bruders sich unmerklich schwächer angefühlt hatte.  Noch hatte er die beiden allerdings nicht gefunden. Er war einige Straßen und Ecken von ihnen entfernt; genau wie Siberu hatte auch er seine Schritte verlangsamt. Green tat es ihm gleich, womit sie nun einige Meter hinter ihm stand. Sie wollte ihn gerade fragen, wo sie seien, ob der Ort nur ein Zufall sei oder ob Siberu diese Gegend kannte, als er sich zu ihr herumwandte. Er hätte den Dämonenmodus deaktivieren können, aber das hatte er nicht getan. Es war wahrscheinlich ein Fehler; er sollte sie nicht provozieren, es war immerhin deutlich, dass Green seine Augen so nicht mochte – aber vielleicht tat er es gerade deshalb. Denn auch jetzt bemerkte er, dass Green seine Augen anstarrte, dass sie nicht in der Lage war, sich von diesen abzuwenden. Aber sie sagte nichts, sie musterte ihn einfach nur verwirrt, ein wenig argwöhnisch und besorgt. „Sag etwas“, forderte er sie genau wie zuvor auf und wieder hörte Green Verzweiflung auf der Oberfläche seiner Stimme, besonders als er sie ein weiteres Mal aufforderte. Verzweiflung und Wut: „Sag etwas, Green-chan! Was siehst du?! Warum starrst du mich so an, was ist es, was du siehst?!“ Green antwortete ihm immer noch nicht; seine so offensichtlichen Gefühle verschlugen ihr die Sprache, aber Siberu war noch nicht fertig: „Vorhin warst du doch noch so wütend auf mich – ist der Kuss etwa schon vergessen?! Willst du deswegen gar nichts mehr sagen, mich deine Wut nicht spüren lassen?!“ Green musste zugeben, dass sie den Kuss in der ganzen Aufregung tatsächlich vergessen hatte – deswegen jetzt noch wütend zu sein, kam ihr ziemlich läppisch vor. Aber Siberu wartete nicht darauf, dass sie dies sagen konnte: „Und gerade eben – da hattest du Angst vor mir, oder?! Das solltest du auch – Angst und Wut sind die richtigen Gefühle, man sollte sich von mir fernhalten. Ich bin ein Dämon, ich töte und nehme mir die Dinge, die ich will. Das ist es, was ich bin und das ist es auch, was du in meinen Augen siehst.“ Seine Haltung verlor an Anspannung, die Wut war verschwunden, nur die zu Fäusten geballten Hände zeugten von seiner inneren Zerrissenheit und seine Augen, die Greens Blick nicht mehr standhalten konnten, aber von ihrer Stimme wieder aufgerüttelt wurden: „Sag mir nicht, was ich zu sehen habe, Sibi!“ Siberu gelang es gerade noch, verwirrt den Blick zu heben, als sein Kopf schon von zwei kalten Händen gepackt und angehoben wurde, womit es nun er war, der in Greens tiefe, dunkle Augen starrte und nicht umgekehrt. Ihre Augen, die Verbissenheit, eine Spur Wut und ein wenig Sorge widerspiegelten und die ihn mit diesen Gefühlen förmlich bewegungsunfähig machten.    „Das einzige, was ich denke, wenn ich diese Augen sehe, ist, dass du mit deinen normalen besser aussiehst! Ich bin nicht Rui …“ Sie löste die eine Hand von seinem Gesicht, schüttelte ihren Ärmel aus und begann ihm grob das Blut aus dem Gesicht zu wischen, ohne auf seine eher halbherzigen Proteste zu achten. „… und ich ziehe deine normalen Augen vor. Die stehen dir einfach besser. Ich habe mich…“ Ihre reibenden Bewegungen wurden ein wenig langsamer und deutlich erkannte Siberu mit pochendem Herzen, wie Green plötzlich selbst auch ein wenig rot wurde: „… damals nämlich besonders in deine Augen verliebt.“ Siberus Augen weiteten sich und er spürte, dass die Freude über diese Aussage, deren Tragweite Green sich in diesem Moment nicht bewusst war, ihn durchspülte, jeden negativen Gedanken verblassen ließ und sogar der grauen Welt um sie herum ihre Farbe zurückgab. Aber Green bemerkte es nicht, die Röte war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie fluchte über die Hartnäckigkeit des Blutes und setzte ihre Beschwerde wieder verbissen fort: „Und ja, ja! Ich hatte Angst, aber nicht vor dir, du Idiot! Ich hatte Angst um dich. Ich meine, die Hikari haben mich schon im Visier, aber sie müssen nicht auch noch ihre weißen Stieraugen auf euch richten – und wenn du irgendeinen ihrer Wächter umbringen würdest, oh Gott, ich will gar nicht wissen, was dann passiert. Ich weiß, ich weiß… ich hätte in diesem Moment lieber um den Wächter besorgt sein müssen.“ Green zog ihre Hand zurück und ein ironisches Lächeln tauchte auf ihrem Gesicht auf, welches Siberu nach wie vor von Nahem mit roten, fast glühenden Wangen betrachten konnte: „Ich bin wahrscheinlich einfach zu egoistisch und trage meinen Namen als unreine Hikari sicherlich zu Recht, aber ich bin nun einmal kein Gutmensch, das brauche ich auch nicht mir selbst vorzuheucheln. Was interessiert es mich, wenn eine Person stirbt, die ich gar nicht kenne… Sibi?“ Für einen kurzen Moment war sie abgelenkt gewesen, weswegen sie auch erst jetzt sah, dass die Dämonenaugen, die sie einige Minuten vorher noch so wütend angestarrt hatten, jetzt plötzlich glasig geworden waren – und noch ehe sie etwas tun konnte, warf er sich plötzlich in ihre Arme, so stürmisch, dass es sie beide zu Boden riss. Verzagt klammerte der plötzlich sehr klein wirkende Rotschopf sich an Green, schlang seine Arme um ihren Körper und nachdem Green aufgehört hatte, ihn überrascht anzusehen, bemerkte sie etwas, was sie nicht geglaubt hatte, jemals von Siberu zu sehen; seine Schultern bebten und obwohl er den Kopf gegen ihre Brust gesenkt hielt, spürte sie, dass er weinte. Aber warum hatte sie geglaubt, dass sie es niemals sehen würde? Sie war dumm gewesen. Jetzt verstand sie plötzlich, dass der sonst so cool-tuende, eingebildete, immer grinsende Junge, der gerne das andere Geschlecht um den Finger wickelte, eigentlich immer noch ein Kind war – er war Dämon, er war Mensch. Aber eigentlich nur ein Kind, das mehr Trost und Wärme benötigte, als Green ihm jemals geben könnte, auch wenn sie jetzt versuchte, ihm eben dies zu geben, damit er zu seinem Grinsen zurückfinden konnte: jetzt durfte er seine schwächste Seite zeigen. Jetzt war alles gut.          „…Das Ganze ist irgendwie doch zu deinen Gunsten verlaufen, Sibi. Ich wollte nämlich eigentlich wirklich sehr lange auf dich wütend sein.“ Der sich an sie klammernde Rotschopf hörte ihre halb geflüsterten Worte gar nicht; er bemerkte auch nicht, wie Gary um die Ecke gebogen kam, anders als Green, die kurz aufsah und ihm mit einem Blick zu verstehen gab, dass sie ihn bemerkt hatte und dass alles „in Ordnung“ sei. Sanft legte sie mit einem Lächeln den einen Arm um Siberu, während sie mit der anderen seinen Kopf streichelte, ohne sich davon stören zu lassen, dass sich somit das Blut Siberus auf ihrer Kleidung verteilte. „Aber du musst mir versprechen, dass du dich bei Firey entschuldigst. Ich mag dich zwar so wie du bist, aber ihr gegenüber kannst du schon ein ganz schönes …“ Siberu nickte einfach zustimmend – er hätte ihr in diesem Moment wohl alles versprochen. Seinen Bruder bemerkte er nach wie vor nicht; er bemerkte auch nicht, dass es angefangen hatte zu schneien, anders als Green, die nun, während sie Siberu beruhigend über den Kopf strich, in den dunklen Himmel hinauf sah – bis sich ein Regenschirm vor ihr Blickfeld schob und Gary und sie sich ansahen. Auf den ersten Blick sah er ernst wie immer aus, aber während er so auf die beiden eng ineinander Verschlungenen hernieder blickte, kam es Green so vor, als würde sie Erleichterung in seinen dunklen, grünen Augen sehen. Dankbar für den Schutz vor dem Schnee grinste sie ihn an und fragte leise, mit neckischem Unterton, ob Siberus Verhalten normal wäre. Gary seufzte ruhig und umgeben von seinem eigenen, weißen Atem in der kalten Luft blickte er in eine andere Richtung – nicht um sich von ihr abzuwenden, wie es ihr schien, sondern als suchten seine dunklen Augen einen bestimmten, längst verblassten Ort dort zwischen den Häusern, über deren Mauern die kahlen Kirschblütenbäume lugten. „Nein, normal ist sein Verhalten nicht. Aber längst überfällig.“         Kaum, dass Siberu und Green sich voneinander gelöst hatten, machte sich der Halbdämon die größte Mühe, sich überhaupt nichts von seinen vergossenen Tränen anmerken zu lassen und versuchte auch, die Spuren selbiger aus seinem Gesicht zu wischen, was ihm nur schwer gelang, doch Green und Gary hatten schweigend und einstimmig beschlossen, ihn nicht damit aufzuziehen. Als sie allerdings alle drei mittels Teleportation im Eingangsbereich ihres Wohnhauses landeten, rückten auch schnell andere Themen in den Vordergrund.   „Aniki, du spürst es sicherlich auch, oder?“ Green warf einen verwirrten Blick zu den beiden, denn sie konnte nichts Konkretes spüren und verstand darum nicht, warum Gary nickte: „Ja, es befinden sich drei unbekannte Auren in Greens Wohnung.“     Fertiggestellt: 04.07.14 Kapitel 22: Die Sonderregeln ---------------------------- Die Hikari waren durch die vielen erlebten Krisensituationen in der Lage, innerhalb kürzester Zeit alle Ratsmitglieder zu versammeln. Während White und Grey Green zurück ins Diesseits brachten, sorgte Shaginai dafür, dass alle anwesenden Hikari sich schnell einig wurden, dass die momentane Situation ebenfalls eine „Krise“ genannt werden konnte; jedenfalls war genauso schnell eine Ratsversammlung einberufen worden, wie es zu Kriegszeiten der Fall gewesen wäre. Auch wenn White nichts von dem Gesprochenen hören konnte, so war ihr, als könne sie die aufgeregten Stimmen und die eiligen Schritte in den Gängen deutlich vernehmen. Ein Großteil der Ratsmitglieder war beim Familientreffen anwesend gewesen und hatte sich wahrscheinlich umgehend in den Versammlungsraum aufgemacht, jenen Versammlungsraum, in dem alle politischen Stränge des Wächtertums zusammenliefen. Und die restlichen Hikari die an dieser Versammlung nicht teilnehmen konnten, waren wohl in diesem Moment dabei, den anderen Hikari von dem eben Erlebten zu berichten.   Das von der unreinen Hikari. Das von dem erneuten Gebrauch der… Sonderregeln.     „Ich verstehe Großvater ja … ich sehe Greens Unreinheit ja auch, aber zur gleichen Zeit … verstehe ich ihn auch nicht.“ White hatte bis eben noch auf den Punkt gesehen, wo Green verschwunden war und sah erst jetzt zu Grey, welcher nervös die Finger ineinander verkrampft hatte. Als White ihm nicht antwortete, wandte er sich zu ihr herum: „Ich meine, was fürchtet er an ihr? Wenn wir ihr keine Informationen zukommen lassen, dann kann sie auch diesen Halblingen keine weitergeben. Vielleicht verlieren sie dann auch irgendwann das Interesse an ihr …“ „Grey, du kennst ihre Vorhersage.“ „Ja, aber, Mutte r… glaubst du nach eurem heutigen Treffen denn wirklich, dass sie eine Gefahr für uns ist? Ich denke, Green hat überhaupt kein Interesse an dem Wächtertum. Weder positiv noch negativ. Natürlich, die Halblinge sind ein Problem … aber wenn wir Green dauerhaft von ihnen trennen könnten … wäre das keine Lösung?“ White sah in die entschlossenen, aber auch stark beunruhigten Augen ihres Sohnes; die himmelblauen Augen seines Vaters, die wohl etwas Ähnliches gesagt hätten … die das Schicksal verspottet hätten … sie kannte die Meinung dessen, den sie geliebt hatte, auch wenn er nie die Gelegenheit bekommen hatte, sie zum Ausdruck zu bringen und musste sich daher nicht die Frage stellen, was er an ihrer Stelle getan hätte. Doch sie war anders als er – und auch, wenn sie nicht länger die aktive Regime-Führerin des Wächtertums war, so hatte die Last der Verantwortung sie nachhaltig geprägt, weshalb sie durchaus in der Lage war, Shaginai zu verstehen, denn auch ihr war die Vorhersage, die die Hinrichtung ihrer Tochter als Konsequenz nach sich gezogen hatte, ins Bewusstsein gemeißelt und Greens Wesen spiegelte jene Vorhersage allzu deutlich wieder. Das Familientreffen war weitaus schlimmer verlaufen, als sie vorher befürchtet hatte. „Ich weiß nicht, ob es eine Lösung gibt“, gab White zu, löste den besorgten Blick von Grey und sah Richtung Decke, ließ ihre Augen über die schwebenden Engel gleiten, die eifrig den Kopf zu schütteln schienen und sie mit bösen leeren Augen anstarrten: „Ich will an eine Lösung glauben, die sich noch nicht hat finden oder erahnen lassen. Nur weiß ich nicht, ob ausgerechnet ich das Recht habe, die Macht des Schicksals anzuzweifeln.“ Mehr sagte sie nicht, denn sie wollte ihren Sohn nicht weiter belasten, doch sie wusste, dass sie, die die Gewalt des Schicksals und ihre Hilflosigkeit angesichts dessen so deutlich zu verstehen gelernt hatte, kein Recht hatte, auf eine Lösung für ihre Tochter zu hoffen.      Das goldene, mit Flügeln verzierte Siegel rauschte hernieder und hinterließ mit der Macht eines Pistolenschusses seinen leuchtenden Abdruck auf der mit feiner Schrift ausgefüllten Akte Greens. Golden strahlte das Zeichen der Sonderregeln auf, erhellte kurzzeitig das eiserne Gesicht Shaginais, ehe sich goldene Fäden wie Ketten um das Dokument legten und es fest umschlossen, ehe es sich von selbst zusammenrollte und das Wappen der Hikari das Dokument verschloss und verschwinden ließ. Shaginai räusperte sich und schon ertönte seine Stimme im Saal: „Zur Wiederholung, dem allgemeinen Verständnis dienend: Mit sofortiger Wirkung sind die Sonderregeln für Kurai Yogosu Hikari Green gültig und können erst nach einem Mehrheitsbeschluss von 70% des Rates aufgehoben werden. Die Sonderregeln dienen einzig und alleine dem Schutze und Wohle des Wächtertums und verlangen eine Vollstreckung innerhalb der nächsten 365 Tage. Anders ausgedrückt verlieren die Sonderregeln nach 365 entweder ihre Gültigkeit oder es folgt unweigerlich eine sofortige Hinrichtung von Kurai Yogosu Hikari Green. Die Sonderregeln setzen alle anderen unserer heiligen Regeln außer Kraft, doch dürfen nur wir Hikari uns diesen zunutze machen – sollten andere Wächter sich über die heiligen Regeln hinwegsetzen, werden sie nach geltendem Recht bestraft. Jede geplante Überschreitung der heiligen Regeln durch die Nutzung der Sonderregeln muss hier mit jenen, die mit ihrer Unterschrift die Sonderregeln bewirkt haben, besprochen und mit einer Mehrheit abgesegnet werden. Willkür wird nicht toleriert.“  Shaginai löste die Finger voneinander und lehnte sich in seinem Stuhl zurück: „Ich schlage vor, dass das weitere Vorgehen sofort besprochen wird.“ Ohne weiter drumherum zu reden, verkündete Shaginai ohne einen Augenblick des Zögerns: „Ehe Yogosu dem Wächtertum nachhaltigen Schaden zufügen kann, halte ich eine erfolgreiche Ausführung ihrer Hinrichtung für angebracht.“ Ein gedämpftes Raunen ging durch die Reihen der anderen Hikari; es gab nur sehr, sehr wenige Fälle, in denen die Hikari einen anderen Hikari zum Tode verurteilt hatten und obwohl Shaginai sie bereits einmal davon überzeugt hatte, dass dieser drastische Schritt in Greens Fall eine Notwendigkeit darstellte, so schienen sie sich jetzt nicht mehr einig zu sein. Shaginai schien das schnell zu bemerken: „Sie hätte bereits vor 16 Jahren sterben sollen. Damals hatten wir es beschlossen, einstimmig, wie sich einige hier sicherlich noch erinnern mögen …“ Er warf Adir zu seiner Rechten einen Blick zu, welcher tatsächlich damals anwesend gewesen war und dessen Hand sich damals ebenfalls erhoben hatte, als Shaginai seine Familie gefragt hatte, ob sie für die Hinrichtung eines Kindes stimmen würden, das gerade mal zwei Tage auf der Welt gewesen war. Doch obwohl Adir damals zu denjenigen gehört hatte, sah Shaginai ihm deutlich an, dass er ihn kein weiteres Mal würde überzeugen können. „Und da sie eigentlich schon längst hätte tot sein sollen, schlage ich vor, dass wir diesen Fehler wieder gutmachen, indem wir ihre Hinrichtung zu Ende bringen. Sang und klanglos.“ Genau wie Shaginai es vermutet hatte, war es Adir, der sich zuerst gegen ihn stellte: „Du hast es gerade gesagt, Shaginai: Die Sonderregeln, die damals eine Hinrichtung möglich gemacht haben, sind nur 365 Tage wirksam, womit die damals erreichte Einstimmigkeit hinfällig ist. Du kannst dich daher nicht auf einen 16 Jahre alten Beschluss beziehen, der obendrein in tiefem Schock und unter dem Einfluss starker Beunruhigung zustande gebracht wurde.“ „Sie hätte bereits tot sein müssen! Es ist nur einem überaus dummen und bedauerlichen Fehler zu verdanken, dass Yogosu es nicht ist und nur deswegen müssen wir uns mit diesem unliebsamen Thema beschäftigen, anstatt uns wichtigeren Dingen zuzuwenden“, antwortete Shaginai aufgebracht und löste Gemurmel und Genicke aus, welches jedoch von der Faust Seigi unterbrochen wurde. Alle blickten zu ihm, sahen, wie er sich über seinen Tisch gelehnt hatte und ihnen einer nach dem anderen in die weißen Augen starrte: „Ihr wart euch alle zu fein, eure weißen Hände mit Kinderblut dreckig zu machen und habt mir diese profane Aufgabe untergejubelt, obwohl ich auch nicht sonderlich von ihr begeistert war! Aber ich hätte die Aufgabe ausgeführt, wenn da nicht dieser Dämon dazwischengefunkt hätte! Also wenn ihr euch weiter beklagen wollt, dann bringt das nächste Kind gefälligst selbst um.“ „Dämon?“, wiederholte Shaginai und Buchstabe für Buchstabe hatten sich seine Augenbrauen weiter zu einem skeptischen Bogen verformt: „Dämon? Du hast nie einen Dämon erwähnt!“ Man sah Shaginai an, dass er kurz davor war, Seigi wütend anzuschreien und dass er sich zusammenreißen musste, es nicht zu tun, was ihm schwerfiel, besonders als Seigi so tat, als hätte er gar nichts gesagt. „Wie kommt es, dass du nie die Anwesenheit eines Dämons zu Protokoll gegeben hast?!“  Anstatt Seigi die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen, mischte sich nun auch Mary ein: „Was war das für ein Dämon?“ Es war nicht Seigi, der ihr antwortete, sondern Hizashi: „Es kann sich nur um einen handeln, da nur ein einziger Dämon nicht vom Sicherheitssystem des Tempels erfasst wird, da ihm als einzigem bis jetzt bekannten magischen Wesen eine Aura fehlt.“ „Es war Nocturn.“ Alle blickten zu White, welche gerade den Raum betreten und eben diese Worte gesagt hatte, ehe sie nun ihren Platz aufsuchte – doch noch ehe sie sich setzen konnte, ertönte Shaginais schneidende Stimme: „Wusstest du das?“ White sah nicht auf, als sie antwortete: „Nein, darüber besaß ich bis jetzt keine Kenntnis. Aber wie Hizashi-san schon erwähnte, wird nur ein Dämon nicht vom Sicherheitssystem erkannt, weshalb es sich um jenen Dämon handeln muss. Außerdem ist es ja auch naheliegend, immerhin haben er und ich uns einige Stunden nach der geplanten Hinrichtung gegenseitig in einem Kampf getötet.“ White hatte diese Worte so monoton und gefühllos ausgesprochen, als handele es sich um etwas so Belangloses wie das Wetter des nächsten Tages und nicht um ihren eigenen Tod. Für Shaginai war das ganze allerdings alles andere als ohne Bedeutung: „Ja, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Und bei diesem Kampf wurde Yogosu kein einziges Mal erwähnt?“ „Wenn es der Fall gewesen wäre, so hätte ich natürlich davon berichtet.“ „Und du kannst dir nicht vorstellen, dass er etwas mit Yogosus fehlgeschlagener Hinrichtung zu tun hatte?“ „Vater, das weiß ich nicht. Es wäre möglich. Aber ich bezweifle, dass er für eine solche Aktion genügend Zeit besaß.“ Zum Glück für White unterbrach Adir an dieser Stelle, weshalb Shaginai nicht sah, dass die Augen seiner Tochter kurz wegdrifteten: „Shaginai, Seigi hat gar nicht gesagt, dass der Dämon etwas mit Green-sans Hinrichtung zu tun hatte.“ Shaginai schien es nicht zu gefallen, dass Adir Green nicht ebenfalls mit „Yogosu“ betitelte, doch begnügte sich damit, die Augen zu verengen, als er ihren Namen gesagt hatte – stattdessen wandte er sich Seigi zu, welcher eigentlich schon gehofft hatte, dass er aus dem Schneider sei; er schien nicht heiß darauf zu sein, darüber zu reden und tat dies auch erst nach Hizashis Aufforderung: „Nun, keine Ahnung, ob dieser Dämon – Nocturn oder wie auch immer – etwas damit zu tun hatte. Wir haben nur kurz gegeneinander gekämpft und dann war er wieder verschwunden.“ „Und daraufhin?“ „Ging ich meiner eigentlichen Aufgabe nach und begab mich in das verabredete Gemach – und da war niemand. Kein Kind, niemand. Nicht einmal ein offenes Fenster; genau wie ich es zu Protokoll gegeben habe.“ „Aber die Anwesenheit des Dämons ist dir entfallen.“ Der ironische Unterton Shaginais war kaum zu überhören. „Ich hielt es nicht für wichtig. Es hatte ja nicht direkt etwas mit der Hinrichtung zu tun.“ „Dass sich ein Dämon bei einer fehlgeschlagenen Hinrichtung in unmittelbarer Nähe aufhält „hat nichts mit der Hinrichtung zu tun“?!“ „Wie gesagt“, erwiderte Seigi mit schneidendem Unterton: „Wenn ihr das nächste Mal ein Kind getötet sehen wollt, dann macht es selbst. Oder am besten gleich vor versammeltem Wächtertum, damit es auch ja viele Zeugen gibt.“ Shaginai war ganz offensichtlich nicht gewillt, Seigis bissigen Tonfall zu ignorieren, doch das Gespräch wurde von Mary übernommen: „Das ist ein guter Punkt, an welchem wir das Thema wechseln können: die Wächter, die Öffentlichkeit. Die Elementarwächter wissen bereits von Yogosu und mir ist zu Ohren gekommen, dass unsere Mitwächter bereits munkeln, dass eine neue Lichtwächterin gefunden wurde – und natürlich wundern sie sich, dass wir ihre Wiederfindung publik gemacht haben.“ „Das ist doch kein Problem, was einer eventuellen Hinrichtung im Wege stehen würde“, erwiderte Hizashi, der gänzlich auf Shaginais Seite war, was Greens Hinrichtung anging: „Yogosu besitzt keine nennenswerten Fähigkeiten und ihre Aura – nun, sie ist lachhaft. Niemand würde anzweifeln, dass sie von einem Dämon getötet wurde. Wir müssen gar nichts von irgendwelchen Halbdämonen in ihrer Nähe erwähnen. Wir führen die Hinrichtung durch, verkaufen es als tragischen Mord und dann planen Sie, Mary-san, einfach eine Ihrer so schönen Trauerfeiern und das Problem ist geklärt. Ich bin ganz Shaginais Meinung: besser wir klären dieses unliebsame Thema, bevor es sich zu dem prophezeiten Problem entwickelt …“ „Das einzige, was ich in der nächsten Zeit plane, ist eine Hochzeit, denn falls ihr es vergessen habt: Unser talentiertester Wächter feiert nächsten Monat seine Vermählung.“ Hizashi überhörte Marys ruppigen Tonfall ebenso wie ihr Argument: „…denn es wird sich zweifelsohne zu einem Problem entwickeln, wenn sich im Volk das Gerücht verbreitet, dass die momentane Hikari Kontakt zu Dämonen pflegt – obendrein freundschaftlichen Kontakt. Nach diesem heutigen Treffen bezweifle ich, dass Yogosu sich im Volk zurückhalten wird.“ „Hizashi-sensei hat recht. Wer weiß; vielleicht wird sie versuchen, unsere Mitwächter von ihren abnormen Ideen zu überzeugen? Ich denke, so könnte man die unheilschwangere Vorhersage durchaus ebenfalls interpretieren.“ Hizashi zweifelte daran, dass das Mädchen, das er an diesem Tag kennengelernt hatte, politisches Geschick besaß; sie besaß ein vorlautes Mundwerk, kombiniert mit einem Kopf voll abnormem Unwissen, von dem sie sicherlich so schnell niemanden würde überzeugen können. Auf der anderen Seite gab es selbst in ihrer Gesellschaft dumme und leicht zu manipulierende Wächter … aber selbst bei denen zweifelte Hizashi daran, dass Green mit ihren unlogischen Gedanken Gehör finden würde. Sie waren einfach zu abstrus. Bevor Hizashi seine Gedanken zu diesem Thema äußern konnte, kam ihm allerdings Adir mit einem Themenwechsel in die Quere:  „Es gibt viele Arten, die Vorhersage zu interpretieren“, begann er, seine feingliedrigen Hände dazu benutzend, seine Worte zu untermauern: „Aber würde es nicht – als ersten Schritt – genügen, Green-san vom Wächtertum zu isolieren? Wir könnten sie unter strengster Beobachtung halten, um herauszufinden, wie die Vorhersage Form annimmt. Mein Vorschlag lautet konkret, Green-san von ihrem schlechten Einfluss zu trennen. Denn eine flüchtige Freundschaft mit dem Feind, die bei Distanz in Auflösung geht, halte ich zwar für beunruhigend, aber nicht für gefährlich. Wenn wir sie beispielsweise im Tempel von allen negativen Einflüssen schützen könnten und ihr unsere Werte und unsere Lebensart beibringen würden, könnten wir sie möglicherweise von ihrem Irrglauben abbringen. Immerhin müssen wir in Betracht ziehen, dass das Mädchen sechzehn Jahre als Mensch gelebt hat... unsere Kultur ist ihr fremd. Wenn sie selbst begreift, dass sie Dämonen nicht zu ihren Freunden zählen kann, dann denke ich, dass wir und das Wächtertum die Vorhersage nicht länger fürchten müssen.“ Gemurmel brach hier und dort in den Reihen der weißen Gesichter auf; einige schienen ihrem Mithikari zuzustimmen, aber Adir sah deutlich, dass Shaginai keiner von ihnen war. Doch er hielt sich bedeckt und begnügte sich einstweilen damit, Adir mit einem finsteren Blick mitzuteilen, wie sehr er absolut nicht seiner Meinung war. Adir wusste natürlich, warum Shaginai dieses Problem, das mit so viel prophezeitem Unheil verbunden war, so schnell wie möglich klären wollte, dennoch blieb Adir bei seiner Meinung und bat um eine Abstimmung. 40% stimmten für Adirs Vorschlag, 30% enthielten sich – kein besonders gutes Ergebnis, aber dennoch ohne Zweifel eine Mehrheit, der sich Shaginai überaus widerstrebend beugte. In den darauffolgenden Diskussionen um die praktische Ausführung hielt er sich bedeckt; erst als die Ratssitzung vorbei war und alle anderen Hikari den großen Saal bereits verlassen hatten, richtete er sich an Adir, welcher bewusst im Saal geblieben war, da er gewusst hatte, dass Shaginai sich noch einmal an ihn wenden würde – und wie immer sprach Shaginai nicht um den heißen Brei herum. „Umso länger der Tod Yogosus hinausgezögert wird, umso mehr werden wir letzten Endes zu bereuen haben. Ich dachte, unsere Vergangenheit hätte auch dich gelehrt, dass Aufschieben nur Unheil mit sich bringt.“ Beide Hikari sahen sich kurz durchdringend in die weißen Augen, ohne die absolute Stille um sie herum zu brechen. „Shaginai, ich verstehe absolut, warum besonders dir das ein sehr wichtiges Anliegen ist, aber wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ Shaginai schritt auf Adir zu, ohne den Blickkontakt abzubrechen – kein Wanken war in seinen Augen zu sehen und wie schon oft war Adir von dem unerschütterlichen Willen Shaginais, sich von seiner Vergangenheit nicht schwächen zu lassen, beeindruckt. „Nein, Adir. Du verstehst es nicht. Ansonsten würdest du das Wächtertum nicht ein weiteres Mal einer solchen Gefahr aussetzen.“         Fertiggestellt: 01.01. 2014           Kapitel 23: Ein gutes Argument ------------------------------ Mit einem ersticken Keuchen stürzte Green auf den mit groben Sandkörnern ausgelegten Untergrund und hustete und prustete, da die Hand, die sie zu Fall gebracht hatte, ihr einen Schlag gegen ihren Brustkorb verpasst hatte. Aber wenn Green glaubte, dass Itzumi deswegen mit ihrem nächsten Angriff warten würde, hatte sie sich geirrt – sie wartete nicht einmal, bis ihre Herrin sich wieder aufgerichtet hatte. Mit ungeschickter Müh und Not gelang es Green sich zur Seite zu rollen, womit sie der Attacke ihrer Tempelwächterin entging und schnell genug wieder auf den Beinen war, um einem weiteren goldleuchtenden Hieb von rechts knapp auszuweichen. Itzumi attackierte sie schweigend und ohne die kleinste Andeutung einer Gefühlsregung – doch sie musste nichts sagen; Green sah die Geringschätzung und die Missachtung, die sie ihrer Herrin gegenüber empfand, auch ohne dass Itzumi sie in Worte umformulierte. Manch einer hätte sich wahrscheinlich gefreut oder wäre stolz darauf, ein besserer Kämpfer als sein Kontrahent zu sein, aber Itzumi schien wütender und wütender zu werden mit jedem Angriff, dem Green nicht entgehen oder parieren konnte. Aber was hatte Itzumi denn erwartet – was erwarteten sie alle eigentlich von ihr?! Natürlich konnte Green nicht so gut kämpfen wie die anderen Wächter; offensichtlich war sie nicht einmal so gut wie ihre eigene Dienerin – aber woher sollte sie dieses Können auch besitzen? Hatte es ihr jemand beigebracht? Nein; sie hatte sich alles selbst beigebracht und eigentlich war sie auch ziemlich stolz darauf, mit der Hilfe von Siberu und Gary bis jetzt mit relativ wenig Blessuren überlebt zu haben. Aber nein, das war natürlich nicht gut genug; das war ihrer Familie nicht gut genug – und was sollte dieser Schwachsinn, dass sie lernen sollte, ohne ihren Stab zu kämpfen!? Und als Green ein weiteres Mal von Itzumis wohl platziertem Schlag auf den Boden befördert wurde, stellte die junge Hikari sich wieder einmal die Frage, was sie hier eigentlich tat: wie konnte ein harmloser Besuch ihres Bruders nur in so etwas ausarten?      Green konnte nicht gerade behaupten, dass dies der gemütlichste Zeitpunkt ihres Lebens war; selten hatte sie so eine angespannte, gar bedrohliche Stimmung erlebt. Den ersten Besuch ihres Bruders in ihrer eigenen Wohnung hatte sie sich gewiss anders vorgestellt. Dieser saß ihr nun gegenüber, flankiert von Ryô und Itzumi, während die Dämonenbrüder jeder auf der anderen Seite von Green saßen – die Einzige, die ihr Gegenüber nicht irgendwie abwartend oder feindselig beobachtete, war Pink. Sie saß am Ende des Couchtisches und schien als einzige Anwesende gute Laune zu haben, wie sie mit ihrem Hello!Kitty-Plüschtier auf einem Kissen hockte und fröhlich hin und her wackelte, nachdem sie den überraschten Besuchern das angebrannte Ohr ihres Plüschtiers gezeigt hatte. Anders als Grey hatte sie auch überhaupt nicht auf Greens blutbeflecktes Oberteil reagiert; für sie schien klar zu sein, dass es von einem Dämon stammen musste, der aber natürlich bereits besiegt war – das hatte Green auch Grey erzählt; eine Lüge, die er nicht so ganz zu glauben schien, es aber dabei beließ. Siberu musterte Grey ziemlich skeptisch und sah öfter zu Green, als ob er die Ähnlichkeit der beiden Geschwister überprüfen wollte. Ryô dagegen blickte abwechselnd zwischen Siberu und Gary hin und her, Itzumi sah aus den Augenwinkeln ständig zu Grey und dieser versuchte, die beiden Halbdämonen systematisch nicht zu beachten, indem er stur nur Green ansah, die seinen ernsten Blick herausfordernd erwiderte. Gary war der Einzige, den es scheinbar nicht interessierte, dass sie gerade Besuch bekommen hatten; was natürlich nicht wahr war, doch er ließ sich die Anspannung nicht anmerken. „Grey, kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Wasser?“, fragte Green nach einer Weile, als sie bemerkte, dass Grey einen kritischen Blick über die Wohnung und ihre Einrichtung schweifen ließ und sie ihm keine Möglichkeit geben wollte, seine Meinung zu äußern.   „Nein danke, Green. Wir werden uns hier nicht lange aufhalten.“ Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, stand Green auf und richtete ihr Wort an Siberu und Gary: „Und was ist mit euch?“  „Gerne, Green-chan!“ „Das Übliche, stimmt’s, Sibi?“ Als Antwort bekam sie ein grinsendes Nicken, woraufhin sie sich Gary zuwandte: „Wasser?“ Gary nickte und Pink sagte in ihrem üblichen schrillen Tonfall, dass sie gerne Kakao haben wollte. Doch bevor Green sich hinter der Theke, die die Küche von der Stube trennte, an die Arbeit machte, warf sie noch einen Blick auf Grey und Siberu, ehe sie mit scharfer Stimme verkündete: „Ein negatives Wort und ihr fliegt raus! Alle beide!“ Grey grummelte irgendetwas als Antwort, was Green von Weitem nicht hören konnte; sie konnte aus den Augenwinkeln nur sehen, dass Ryô Grey beschwichtigen musste, während Siberu sich murrend an Gary wandte: „Warum hat Green-chan es denn nicht zu dir gesagt?“ „Das ist ganz simpel: weil ich weiß, wie man sich zu benehmen hat“, antwortete er und konnte einen rechthaberischen Schielblick zu seinem Bruder nicht zurückhalten, was den Angesprochenen nur zu einem leisen Grummeln brachte, denn das konnte er nicht verneinen – und er wäre auch nicht Siberu gewesen, wenn er diese unverhoffte Gelegenheit nicht nutzen würde, um ein paar Dinge mit Greens Bruder zu klären. Er überlegte nicht einmal besonders lange; achtete nur darauf, dass Green den in der Stube sitzenden Besuchern den Rücken zugekehrt hatte und lehnte sich dann provozierend über den Tisch. Sofort erwiderte Grey das finstere Anfunkeln des Rotschopfes. „Was willst du, Halbling?“, fragte der Windwächter genervt auf Japanisch; zuvor hatte er nur in der Sprache der Wächter gesprochen und nun zeigte sich auch warum: sein Japanisch war nicht sonderlich ausgereift. „Sag mal… ich habe gehört, dass bei euch Wächtern Inzest normal ist.“ Gary machte sich bereit, zu handeln; aus der Küche ertönte der Wasserkocher. Grey blieb ruhig, auch wenn seine Stimme Verärgerung nicht verbergen konnte: „Ja, das ist es.“ Siberu achtete ganz offensichtlich nicht auf seine Umgebung und fuhr ungehindert fort: „Und? Wie sieht es mit dir aus? Stehst du auf Inzest?“ Den vielsagenden Blick an Green hätte er sich definitiv verkneifen müssen, aber es waren seine Worte, die Itzumi und Ryô dazu brachten, sich alarmierte Blicke zuzuwerfen, die Grey jedoch nicht sah. Seine sonst so hellen Augen hatten sich verdunkelt und seine Körpersprache wirkte plötzlich merkwürdig steif: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Halbling.“ Noch bevor Siberu antworten konnte, hatte Gary ihn am Kragen gepackt und mit Wucht zurückgezogen, womit auch Grey sich zurücklehnte – und somit begann der Windwächter in der Sprache der Wächter mit seinem Tempelwächter zu reden. Man musste die Sprache nicht verstehen, um zu merken, dass die unüberlegten Worte Siberus ihn erzürnt hatten und die beschwichtigenden Worte Ryôs schienen keinen Effekt zu haben. Gary kam sich irgendwie blöd vor, weil er deren Sprache nicht beherrschte und er genau wusste, dass die drei über ihn und seinen Bruder redeten. „Die reden aber echt nett über euch!“ Beide Brüder drehten sich hastig zu Pink, die die beiden unschuldig anstrahlte. „Sag bloß du kannst die Sprache verstehen, Pink?“, fragte Siberu überflüssigerweise, denn natürlich konnte Pink die Sprache verstehen; immerhin war sie auch ein Wächter. „Klar, ihr nicht?“ „Pink-chaaaan! Was sagen die denn?“, säuselte der Rotschopf sich zu ihr beugend, die ihm auch sofort das Gespräch übersetzte: „Grey-chan meint, es wäre eine Frechheit, wie du es wagen kannst, so mit ihm zu reden, und äh… warte, äääääh, Ryô sagt, dass Grey es ja nicht mehr lange ertragen muss oder so. Grey-chan redet über…hä? Das Wort kenn ich nicht… Sonder…regeln? Was ist das denn? Ryô antwortet, dass sie den Auftrag-“ „Pink!“, rief Grey so aufgeregt dazwischen, dass Green, die gerade wieder zu ihnen kam, beinahe das Tablett mit den Getränken verlor. Als er bemerkte, dass er unhöflicherweise seine Stimme zu laut erhoben hatte, wurde er ein wenig rot, doch er richtete sich nichtsdestotrotz zornig an die beiden Halbdämonen: „Wie könnt ihr es wagen, Pinks Naivität für eure gemeinen Zwecke auszunutzen?!“ „Und wie könnt ihr es „wagen“, die Sprache der Wächter zu benutzen?“, fragte Green, nachdem sie die Gläser auf den Tisch gestellt hatte und nun ihre Hände in ihre Hüfte stemmte, Grey vorwurfsvoll anblickend, der allerdings mehr Angst davor hatte, dass sie deren Gespräch gehört hatte, als vor ihrem Vorwurf: „Findet ihr es nicht ein wenig unhöflich Sibi und Gary gegenüber?“ Kurzes Schweigen, in welchem Grey deutlich anzusehen war, dass er es absolut nicht unhöflich fand, aber Green ignorierte seinen Blick sowie Siberus Beipflichtung, dass „Green-chan“ natürlich absolut recht hatte. „Sagt mal; könnt ihr euch nicht fünf Minuten unterhalten, ohne dass ihr euch streitet?“ Sie seufzte demonstrativ und fuhr fort, während sie wieder neben Siberu und Gary Platz nahm: „Also, Grey… was ist der Grund für deinen Besuch? Und wenn du in deiner Sprache sprichst, werde ich nicht antworten.“ Grey sah sie kurz an, schien zu überlegen und sagte dann auf Japanisch: „Ich muss mir dir reden, Green. Wenn es möglich wäre …“ Seine Augen huschten zuerst zu Gary, dann zu Siberu, bevor sie wieder bei Green landeten: „… allein.“ Siberu öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Green kam ihm zuvor: „Solange du in meinen vier Wänden bist, hast du nicht das Recht, meinen Besuch rauszuwerfen.“ Deutlich spürte Ryô, wie Itzumi sich unruhig regte, als sie hörte, wie unhöflich Green mit ihrem älteren Bruder sprach, doch sie konnte sich zum Glück zurückhalten, sich wohl selbst daran erinnernd, wer von den beiden ihr eigentlicher Herr war.   „Green, ich glaube, du solltest tun, wonach dein Bruder verlangt“, mischte sich nun Gary mit einem ruhigen Tonfall ein, womit er sich ein Anstarren aller Anwesenden einhandelte. Deshalb wandte er sich an Green, um die offensichtliche Frage, die sich in ihrem Gesicht zeigte, zu beantworten: „Es muss sich immerhin um etwas Wichtiges handeln; ansonsten wäre dein Bruder wohl kaum höchstpersönlich hierher gekommen.“ Grey sah ihn forschend an, was Gary nur aus den Augenwinkeln bemerkte, da er zu Green schaute, die seinen Blick eher bockig erwiderte. Grey gefiel es nicht, wie er mit Green redete. So… schrecklich vertraut. Doch viel beunruhigender empfand Grey die Art, wie dieser Halbdämon seine Schwester ansah und dass sie seinen Blick auch noch erwiderte – und dass seine einsichtigen Worte bei seiner sonst so widerspenstigen Schwester zu wirken schienen. Sie nickte langsam und richtete sich dann zusammen mit den beiden Halbdämonen auf. „Gut, von mir aus. Aber erst einmal will ich ein paar Wörtchen mit Sibi und Gary wechseln. Ich hoffe, mein großer Bruder erlaubt mir das?“ Widerwillig nickte der Angesprochene, auch wenn er nicht nachvollziehen konnte, warum sie auf ein Gespräch mit den beiden bestand – doch Grey hoffte einfach, dass Green diese Halblinge danach rauswerfen würde, weshalb er sich nicht sträubte.  Sofort verschwanden die drei in Greens Zimmer und sie verschloss die Tür hinter sich. Kaum war die Tür zu, ließ Siberu sich maulend auf den Boden fallen und verschränkte missgelaunt die Arme über der Brust.   „Was bildet sich dieser Lackaffe eigentlich ein?! Ich kann ihn nicht leiden. Das weiß ich jetzt schon!“   „Keine Sorge, Sibi. Ich denke, er mag dich auch nicht“, erwiderte Green mit einem kleinen Grinsen, als sie sich auf ihr Bett setzte; Gary dagegen blieb an ihrer Zimmertür, als wolle er sich so wenig wie möglich in Greens kleinem Zimmer umsehen. Siberu fühlte sich natürlich wie Zuhause; er hatte sie immerhin schon mehrere Male mit einer stürmischen Umarmung aus dem Schlaf geweckt und kannte Greens Zimmer wie sein eigenes – für Gary dagegen war es das erste Mal, dass er sich in ihrem Zimmer befand und ihm war ein wenig unwohl zumute. Das Zimmer an sich war allerdings relativ unspektakulär: die Wand rechts von ihm wurde, genau wie es auch in seinem Zimmer der Fall war, komplett von einem großen Wandschrank eingenommen, daneben befand sich ein großer Spiegel, an welchem Fotos der Familie Minazaii angeklebt waren – allerdings keine, auf denen Green ebenfalls zu sehen war – und links daneben ein ordentlich gemachtes Bett, bezogen mit blauer Bettwäsche. Auf der Kommode gegenüber vom Bett lagen einige Wächterbücher, die allerdings nicht benutzt aussahen, zusammen mit den Sportutensilien, die Green für rhythmische Gymnastik benötigte und dafür wohl entweder gekauft oder aus der Schule stibitzt hatte, denn Gary meinte nicht, dass es erlaubt war, die Utensilien mit nach Hause zu nehmen. Einen Schreibtisch besaß sie nicht. Neben den eigentlich unerlaubten  Gymnastik-Utensilien und den Wächterbüchern war das einzig Eigenartige an Greens Zimmer die Tatsache, dass es recht dunkel war – das große Fenster, das mit hellen Vorhängen versehen war, war mit einem Rollo zugezogen. Ob sie es wegen dem Schnee den gesamten Winter lang zugezogen hielt? „Also, Jungs …“, begann Green, das eine Bein über das andere schlagend: „...Ich werde mir schnell das anhören, was mein Bruder mir zu sagen hat, hoffen, dass er dann wieder abzischt und dann kommt ihr einfach wieder, okay?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, richtete sie ihr Wort speziell an Siberu: „Sibi... Plan L. Egal was passiert, halte dich daran, okay?“ Das Gesicht des Angesprochenen hellte auf, er schlug die Hände zusammen und antwortete mit einem Grinsen: „Wie Ihr wünscht, Madame!“ „Könnte ich auch mal eingeweiht werden?“, fragte Gary misstrauisch von einem zum anderen blickend, doch Siberu zuckte nur neckisch mit den Schultern: „Davon verstehst du eh nichts, Aniki! Nicht wahr, Green-chan?“ „Haargenau! Das ist ein Diebesgeheimnis! Aber, Sibi, höchste Diskretion!“ Gary verstand immer noch kein Wort, doch er beschloss, lieber nicht weiter nachzufragen, weshalb sich Siberu nun erhob und Green hastig umarmte, ehe sie etwas anderes tun konnte: „Green-chan, halt dich bloß nicht zu lange mit diesem Kerl auf!“ Dann verschwand er, doch ehe Gary es ihm gleich tun konnte wandte er sich noch einmal an Green:   „Pass auf dich auf.“ Green sah ihn verwundert an, schmunzelte dann und antwortete lachend: „Gary… er ist mein Bruder!“ „Ich weiß. Aber ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ Green stand vom Bett auf und sagte lachend: „Keine Sorge! Grey würde sich eher selbst umbringen als mir irgendetwas anzutun.“ Gary erwiderte ihr Lächeln kurz, nahm allerdings schnell wieder seinen gewohnten, ernsten Gesichtsausdruck an, verabschiedete sich von ihr und verschwand. Green sah kurz schweigend auf den Fleck, wo er eben noch gestanden hatte. Was Gary wohl damit gemeint hatte? Eigentlich konnte man sich ja immer auf sein Gefühl verlassen… Aber was sollte an Grey gefährlich sein? Er wollte sie sicherlich ermahnen, dass sie mehr in ihre Bücher schauen sollte... oder sie vielleicht einladen, in den Tempel zu kommen... oder vielleicht bekam sie eine verspätete Standpauke wegen dem Familientreffen – ja, das war es garantiert, dachte Green und seufzte, die Augen resigniert Richtung Decke gewendet. Da sie nicht gerade heiß darauf war, nahm sie sich bewusst Zeit, aus ihrer blutigen Kleidung herauszukommen - wobei sie allerdings unfreiwillig ins Stocken geriet: Schmerzen zuckten durch ihren Körper, als sie ihren in Mitleidenschaft gezogenen Rollkragenpullover über den Kopf zog und mit gerunzelter Stirn besah sie sich Grund; den geraden Kratzer, der deutlich auf ihrem Hals sichtbar war. Er war ein wenig bläulich, lilafarben geworden und wenn Green mit den Fingern über die kleine Wunde strich, musste sie ein schmerzhaftes Stöhnen unterdrücken. Wahrscheinlich sollte sie Jod darauf tun, aber dieses befand sich im Badezimmer und dafür musste sie durch die Stube – und nein, sie wollte nicht, dass Grey Wind davon bekam. Das war eine Sache, die ihn nichts anging; die Wunde würde sicherlich bald heilen. War doch nur ein Kratzer! Aber Gott, er tat weh. Sie hätte nicht gedacht, dass Siberu zu so einer schmerzhaften Magie fähig war … aber warum nicht? Er war immerhin ein Dämon; was hatte sie denn sonst geglaubt? Warum war sie so erstaunt über den Schmerz?  Sie seufzte noch einmal, entschloss sich dazu, nicht mehr darüber nachzudenken und kleidete sich ein, sich dabei seelisch auf die Standpauke vorbereitend. Sie wollte sich gerade mit den Armen hinter dem Kopf verschränkt den Raum verlassen, als sie beim Vorbeigehen die Ohrringe, die Gary ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, auf der Kommode liegen sah. Bis jetzt hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, sie zu tragen, da hängende Ohrringe in der Schule nicht erlaubt waren. Ihr persönlich war das natürlich egal, aber Gary hatte darauf bestanden, dass sie sie nicht in der Schule tragen sollte – er hätte sie ihr nicht geschenkt, um sie zu einem Regelverstoß zu animieren, hatte er mit tadelnder Stimme gesagt und mit himmelnden Augen hatte Green nachgegeben. Aber jetzt waren sie genau das Richtige, um Grey ein wenig zu ärgern, überlegte Green mit einem Grinsen – und obendrein kleideten sie Green auch noch, wie sie feststellte, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie hätte Gary gar nicht zugetraut, dass er dafür ein Händchen besaß... natürlich war ihr klar, dass Siberu garantiert geholfen hatte bei der Wahl des Geschenks, aber alleine der Gedanke, dass Gary... „Green, ich glaube, Grey-chan ist leicht genervt!“ Errötend fuhr Green zusammen und wirbelte zu Pink herum, die ihren blonden Haarschopf durch die Tür geschoben hatte. „Oh, Green! Du trägst ja Garys Ohrringe ...“ Aus einem Green unbekannten Grund wurde sie noch röter: „I-Ich komme ja schon, ich komme ja schon ...“     In der Wohnung nebenan war Siberu sofort in Stellung gegangen, daher erhielt Gary die Erklärung auf die Frage was „Plan L“ bedeutete recht schnell, denn er fand seinen Bruder kniend an der Wand seines Zimmers, das Ohr konzentriert horchend an eben diese gepresst.  „Aha. Dafür steht also das „L“ - für „Lauschen““, konstatierte Gary, mit verschränkten Armen in der Zimmertür seines Bruders stehend. Verärgert drehte sich ebendieser herum, den Finger an die Lippen gelegt: „Pssst! Ansonsten kann man doch gar nichts hören! Green-chan hat zwar ihre Zimmertür offen gelassen, aber so gut sind meine Ohren nun doch nicht, dass ich deren Gespräch verstehen kann, wenn du dazwischen quatschst. Komm lieber her!“ Schon wandte sich Siberu wieder seinem Lauschen zu und ignorierte das verzagte Seufzen seines Bruders. Er mochte es nicht, zu lauschen und kam sich ziemlich blöd vor, als er es seinem Bruder gleich tat – aber Green hatte die beiden ja dazu aufgefordert... und tatsächlich war ihre Stimme recht deutlich durch die Wand zu hören, weshalb sich Gary sofort die Frage stellen musste, ob Siberu so etwas schon öfter getan hatte, aber er behielt die Frage für sich. „Also, Onii-chan – was gibt’s so Dringendes zu besprechen?“ Grey antwortete nicht sofort; er schien zu zögern; die Antwort, die dann jedoch folgte, überraschte sowohl Green als auch Gary: „Green, ich hoffe, du bist damit einverstanden, dass deine schulische Ausbildung hier in der Menschenwelt von nun an beendet ist.“ Green verschluckte sich beinahe an ihrem Getränk, als sie das hörte. „Wie bitte?!“ Genau dasselbe wollte Gary auch sagen, doch er hielt sich zurück und begnügte sich damit, verwirrte Blicke mit seinem Bruder auszutauschen. „Wie kommst du dazu, dich in mein Privatleben einzumischen?! Wie kommst du überhaupt auf die Idee, das entscheiden zu können?! Ich meine, ich gehe vielleicht nicht unbedingt gerne zur Schule, aber ob ich nun hingehe oder nicht, das entscheide immer noch ich!“ Grey blieb ruhig angesichts Greens wütender Reaktion: „Nun, erst einmal ist es nur für vier Monate, Green ...“ Seine Schwester hatte offensichtlich keine Geduld, ihm zuzuhören: „Vier Monate?! Ich bin sowieso schon keine besonders gute Schülerin ...“ Gary gab ihr nebenan stillschweigend recht – „...wie soll ich denn jemals wieder Anschluss finden, wenn ich vier Monate lang nicht zur Schule gehe?! Wozu mache ich denn die ganze Nachhilfe – doch nicht um im Endeffekt durch alle Prüfungen zu rasseln! Außerdem gehe ich auf eine private Schule; da kann ich nicht einfach unentschuldigt fehlen wie auf den öffentlichen Schulen! Schon gar nicht vier Monate – und das zur Prüfungszeit!“ Und wieder gab Gary ihr recht, obwohl er doch ein wenig verblüfft darüber war, Green ihren schulischen Werdegang so verteidigen zu hören – und ein wenig stolz war er auch. „Ich glaube nicht, dass du dir um deine nächsten Prüfungen Gedanken machen musst...“ Green schnaubte ärgerlich: „Nein, denn wenn ich vier Monate fehle, kann ich auch genauso gut die Schule schmeißen! Ist es das, was du bezweckst?!“ Immer noch blieb Grey ruhig, doch eine Spur Ungeduld mischte sich in seine Stimme:  „Ich bezwecke nichts. Es geschieht auf Wunsch unserer Familie.“ „Die ach so tollen Hikari wollen mir wohl eins auswischen, weil ich so ungezogen war, oder wie soll ich das verstehen???      “ Nun erwiderte Grey ihren wütenden Blick finster: „Zu diesen „ach so tollen Hikari“ gehörst du zufällig auch.“ „Ohja? Sag das denen! Ich denke, Großvater hat dazu eine ganze Menge zu sagen!“ „Ich bin nicht hergekommen, um mich mit dir zu streiten!“ „Dann erzähl doch mal, warum du hier bist, um mein Leben auf den Kopf zu stellen – würde mich echt interessieren.“ Die beiden Geschwister funkelten sich kurz muffig an, ehe Grey sich mit einem Seufzen ergab. „Green, du bist sechzehn und immer noch auf dem dritten Rang. Ich weiß natürlich, dass es nicht deine Schuld ist, dennoch muss etwas gegen deine Unerfahrenheit unternommen werden. Doch deine Schulung ist nicht möglich, wenn du weiterhin noch eine Menschenschule besuchst.“ Grey zeigte auf die Schulbücher, die sie und Gary bei ihrem letzten Nachhilfe-Unterricht gebraucht hatten: „Eine Hikari benötigt, was Mathematik angeht, nur das Grundwissen. Algebra, Geometrie, Bruchrechnung, Gleichungen… wozu brauchst du das in deinem späteren Leben als Regime-Führerin? Die Antwort lautet, dass du es gar nicht benötigst. Für dich ist das völlig unnötiges Wissen, denn für solcherlei hast du Klimawächter wie Tinami-san.“ In der Nachbarswohnung musste Gary einen Kommentar zurückhalten: als ob es so etwas wie „unnötiges Wissen“ überhaupt gab... Green kommentierte es allerdings nicht, sondern begnügte sich damit, ihren Bruder weiterhin zornig anzusehen.  „Und deswegen, Green, werden wir morgen mit deinem Training beginnen, um dir das beizubringen, was du in deinem weiteren Werdegang benötigst.“ „Ach – und mein Leben hier ist vollkommen egal?“ Die gesamte Zeit über hatte Grey versucht, das Ganze so ruhig und diplomatisch wie möglich zu klären, doch nun wurde er langsam wütend – ein ungewohnter Anblick für Ryô und Itzumi.  „Green! Du bist kein Mensch: du bist nicht auf einen Schulabschluss angewiesen! Das Einzige, was wichtig ist, ist, dass du unsere Familie so schnell wie möglich davon überzeugen kannst, dass du zu etwas fähig bist! Ich weiß, dass du es bist. Dir mangelt es nur an Wissen und Erfahrung!“ Er atmete tief durch und sah sie nun fast schon flehend an: „Versuch doch bitte, mich zu verstehen. Ich tue das doch nicht, um dich zu verärgern. Bitte Green … mach mir hier keine Szene.“ Doch Green ignorierte seinen Tonfall gekonnt: „Ich soll dir keine Szene machen? Du stellst gerade mein ganzes Leben auf den Kopf! Mein Leben ist sowieso schon chaotisch, aber ich mag es so, wie es ist und ich habe nicht vor, etwas daran zu ändern.“   „Das ist aber nicht das Leben, in welches du gehörst!“ „Ich will aber kein Leben als Hikari!“ „In Lights Namen! Dir bleibt aber nun einmal keine andere Wahl! Und wenn du nicht freiwillig mit mir kommen willst, dann fühle ich mich leider dazu gezwungen...“ Das war der Moment, in welchem Siberu aufsprang und als hätte er vergessen, dass er sich teleportieren konnte, stürzte er Hals über Kopf aus dem Zimmer, gefolgt von seinem Bruder. Gary konnte dessen Reaktion zwar durchaus nachempfinden, doch wusste er dennoch nicht, ob dessen Aktion so vernünftig war. „Silver! Warte!“, rief er dem Rotschopf zu, als dieser schon ihre Haustür geöffnet hatte, aber trotz seiner Eile kurz stehen blieb und sich ärgerlich nach seinem langsamen Bruder umdrehte: „Was ist denn los, Blue?! Wir können hier doch nicht tatenlos rum sitzen und nichts tun! Ich wette, dieser Typ steht wirklich auf Inzest – ganz wie ich es vermutet habe – und will uns Green-chan wegnehmen! Wahrscheinlich …“ Alarmiert wirbelte Siberu herum, schon dabei ins Treppenhaus zu rennen: „... will er sie vergewaltigen!“ „...Was?!“ Siberus Aussage schockierte Gary allerdings nur einen kurzen Moment und schnell konnte er sich aus seiner Starre lösen, um Siberu hinterher zu rennen, auch wenn sein Gesicht sich immer noch verwirrt zeigte. Mit einem Krachen riss Siberu die Haustür Greens auf – zum Glück war sie nicht abgeschlossen gewesen; er hätte die Tür ohne Zweifel auch eingetreten, wenn es Not getan hätte – und schon entdeckte Gary, dass Siberus Sorge gar nicht so unberechtigt war: Green lag ohnmächtig in den Armen ihres Bruders. „DU VERFLUCHTER---“, rief Siberu aufgebracht und sofort zum Angriff auf Grey bereit. Allerdings wurde er unterbrochen; nicht von Grey oder den beiden ebenfalls angriffsbereiten Tempelwächtern, sondern von Pink, die mit tränennassem Gesicht schnurstracks in die Brüder hinein rannte und von Gary aufgefangen wurde. Anstatt sich ihm jedoch zu widmen, drehte sie sich weinend zu Grey herum: „Ich komme nicht mit! Ich will nicht in den Tempel und Green-chan auch nicht! Sibi, Gary, ihr müsst Green-chan retten!“ „Pink, bitte, du kannst unmöglich hier bleiben!“, versuchte Grey es flehentlich; scheinbar sah er Siberu nicht als Gefahrenquelle. Als das Zimmer sich jedoch plötzlich verfinsterte und die Luft des Raumes förmlich vor freigesetzter Magie bebte und zitterte, wurde auch Grey alarmiert – zu spät allerdings. „Silver, nein!“ Gary griff nach seinem Bruder, bekam jedoch nur ein Fitzelchen seiner Schuluniform zwischen die Finger, die ihm schnell aus eben diesen gerissen wurde. Die Schnelligkeit Siberus unterschätzend wäre es Grey alleine nicht gelungen, der schwarzen Stichattacke – die, wie Gary wusste, tödliche Absichten verfolgte – auszuweichen, doch Ryô hatte seinen Meister in letzter Sekunde am Arm packen können, womit er ihn nach unten riss und so der tödlichen Attacke des Halbdämons entging – allerdings nur sehr knapp, denn obwohl Ryô frühzeitig gehandelt hatte, war Siberu so schnell gewesen, dass er dennoch Greys Stirn streifte. Und dann waren alle Wächter, bis auf Pink, verschwunden. Siberu hatte so viel Tempo drauf, dass es ihm nur in letzter Sekunde gelang abzubremsen, um die gläserne Tür des Balkons nicht zu zerschmettern. Stoßartig atmend blieb er vor eben dieser stehen und kurz war sein schneller Atem das Einzige, was in der Wohnung zu hören war. Langsam hellte es wieder auf, doch die Deckenlampe schwankte so heftig hin und her, als wäre ein Sturm durch die Wohnung gefegt. „Er... dieses Arschloch... hat Green entführt!“, entfuhr es Siberu plötzlich, als er sich zu Gary und der sich immer noch an ihn klammernden Pink herumdrehte, nun mehr bestürzt und besorgt als wütend. „Ja... offensichtlich“, antwortete Gary, der dabei war, die momentane Situation zu analysieren: „Und du wolltest Grey umbringen.“ „Er hat Green-chan entführt“, wiederholte Siberu, ein wenig eingeschnappt, nun Vorwürfe zu hören. „Umbringen halte ich aber dennoch für ein wenig unangebracht.“ „Du ergreifst doch jetzt nicht etwa Partei für diesen ...“ „Also ich finde, Grey-chan hat es verdient“, warf Pink dazwischen, die sich nun langsam von Garys Schuluniform löste, welcher sie bestürzt ansah, dann aber zu dem Schluss kam, dass Pink – wie so viele Kinder – sich sicherlich keinen Begriff davon machte, wie endgültig der Tod war. „Er... er hat Green-chan entführt! Wie... wie konnte er nur...“ Wieder begann sie zu weinen. „Pah, jetzt hat er aber nur eine Schnittwunde an der Stirn. Ich hoffe, Blut tropft auf seine bekloppten Klamotten und lässt sich nicht rauswaschen. Das wär das Mindeste! Welcher Bruder schlägt schon sein Geschwisterchen k.o.“ „Also ich habe dich schon fünf Mal bewusstlos geschlagen.“ Siberu wurde leicht rot und hüstelte: „Das ist ja auch was anderes.“ Das sah Gary offensichtlich nicht so: „Und ich musste dich auch einmal mit Gewalt mitnehmen – das könnte durchaus ebenfalls eine Entführung genannt werden.“ „Ach, du meinst das damals in diesem russischen Dorf?“ „Du nennst Sankt Petersburg ein „russisches Dorf“?!“, fragte Gary, dessen Augenbrauen einen extrem skeptischen Bogen geformt hatten, worauf Siberu gerade grinsend antworten wollte, als Pinks schrille Stimme die Aufmerksamkeit an sich riss: „Was ist denn jetzt mit Green-chan!?“ Die beiden Brüder, die beinahe eine ihrer geliebten Auseinandersetzungen beginnen wollten, drehten sich zu Pink herum, die hin und her und auf und ab hibbelte, aber Siberus Antwort brachte sie zum Stillstand: „Na, wir retten sie natürlich – ist doch klar!“ Und schon drehte er sich mit erwartungsvollen Augen Gary zu, welcher ihn zuerst verwundert, dann aber misstrauisch beäugte, denn ihm war klar, dass sein Bruder von ihm erwartete, bereits einen umsetzbaren Plan liefern zu können. „Silver, weißt du, wie man in den Tempel gelangt?“, begann Gary, was sein Gegenüber mit einem Kopfschütteln erwiderte. „Gut. Ich nämlich auch nicht.“     Als Green erwachte, wusste sie schon, dass sie das, was passiert war, nicht mögen würde. Mehrere Meter über ihr wölbte sich ein feiner Baldachin, dessen Farben dem Morgen im Dämmerlicht ähnelten und dessen Ränder mit goldenen Schnörkelchen bestickt waren und als Green erschöpft ihre Hand auf ihre Stirn legte, bemerkte sie ähnliche Verschnörkelungen an ihrer Kleidung, die aber garantiert nicht ihre eigenen waren. „Oh, verdammt ...“ Sie schob die Hand vor ihre Augen, atmete kurz tief durch und sprang dann zähneknirschend auf, mit der gleichen Erkenntnis, die auch schon Siberu erzürnt hatte: Ihr eigener Bruder hatte sie entführt! Green sprang aus dem Himmelbett, welches viel höher war als ihr eigenes, weshalb sie beinahe eher aus dem Bett gefallen wäre und wollte eigentlich sofort zur Zimmertür stürzen, als sie doch kurz über die Größe und die Einrichtung des Zimmers stutzte. Es war mehr als doppelt so groß wie ihr eigenes Zimmer; ihre gesamte Wohnung hätte beinahe in diesen einen Raum hineingepasst, dessen zwei Wände komplett aus Fenster bestanden und ihr somit das Gefühl gab, als befände sie sich direkt im Himmel. Es war sicherlich ein sehr hübscher Raum und sicherlich keiner, der von jedem Wächter bewohnt werden durfte; sogar die Vorhänge, die für die großen Fenster vorgesehen waren, waren sehr fein mit goldenen Mustern verarbeitet; wie so ziemlich alles in diesem Zimmer. Nur waren die Regale und der Schreibtisch sowie der weiße Nachtschrank neben dem Himmelbett leer und wirkten sehr unbenutzt – fast so, als würden sie darauf warten, dass sie mit Inhalt gefüllt wurden. Pah, aber garantiert nicht von ihr, wie Green mit einem finsteren Gesichtsausdruck beschloss, an einem mit Aquarell gemalten Sonnenaufgang vorbeirauschte und schon in den bereits bekannten Korridoren des Tempels landete.  Nur wusste sie nicht, wo sie sich im Tempel befand – und darüber hinaus war es das erste Mal, dass sie alleine und ohne Führer durch die großen, von hellem Licht durchflutenden Korridore des Tempels ging – sich ein wenig ratlos umsehend, doch die vielen Gemälde konnten ihr natürlich weder eine Aufklärung darüber geben, wo sie genau war, noch wie sie von hier fort kam. Klar war natürlich, dass sie nur mittels Teleportation von hier fliehen konnte und leider konnte sie das nicht. Also musste sie einen Wächter fragen... und das natürlich möglichst ohne für Aufsehen zu sorgen, weshalb sie bereits ihre Schritte verlangsamt hatte, um auch ja keinen Laut zu verursachen und bei jeder Biegung des Korridors um eben diese spähte, statt kopflos voran zu stürmen – sie hatte wohl etwas von Gary gelernt. Aber wo waren die ganzen Wächter, die sie bei ihrem letzten Treffen noch gesehen hatte? Gut, diese alten Gemäuer konnte man wohl kaum „belebt“ nennen, aber sie hatte doch ein paar Wächter gesehen; jetzt allerdings herrschte absolute Ruhe. Es war gespenstisch still im Tempel; von nirgends waren Schritte oder gar Stimmen zu hören. Wie spät war es eigentlich? Oder eher, wie früh? Vom Licht her zu urteilen hätte Green nämlich geurteilt, dass es morgens war. Wie lange hatte sie eigentlich geschlafen? Immer noch überhaupt nichts wiedererkennend gelangte Green an eine nach unten führende Treppe, die abgesperrt war. Genau vor ihr tauchte ein weißes, auf einer goldenen Stange platziertes Schild auf, auf welchem mit feiner Handschrift Folgendes geschrieben stand:   „Restaurierung – den West- und Südflügel bitte umgehen.“   Restaurierung? Davon hatte Grey ihr ja gar nichts erzählt – aber wenn dort gebaut wurde, waren dort doch sicherlich auch Wächter zu finden? Von diesem Gedanken überzeugt umging Green das informierende Schild und schlich sich auf Zehenspitzen die lange Treppe herunter, dabei hinaus aus den gotisch angehauchten Fenstern links und rechts von ihr blickend, die alle den Himmel zeigten. Das Schild hatte nicht gelogen; der West – oder Südflügel, sie wusste nicht, wo sie war – benötigte wirklich eine gründliche Ausbesserung. Er war zwar genauso hell und freundlich wie der Bereich des Tempels, aus dem sie gerade gekommen war, doch wirkte das Licht bleich, da die vielen Plastikplanen das Licht fahl erschienen ließen. Es war staubig und anstatt dass Kunstgemälde oder Statuen den Korridor schmückten, waren überall Löcher und Risse in der Wand und im Boden zu sehen. Je weiter Green voran schritt, umso größer schien der Schaden zu werden; einige Wände waren sogar gänzlich eingestürzt und gaben den Blick frei zu den ebenfalls zerstörten Räumen, die dahinter lagen: ehemalige Wohnzimmer, Schlafzimmer und sogar Küchen und kleine Badezimmer. Ob diese beiden Flügel früher die gewesen waren, in denen die Wächter normal gelebt hatten, also ihre Zimmer, ihr Zuhause? Die Räume sahen jedenfalls nicht danach aus, als hätten sie politischen Nutzen gehabt ... aber warum herrschte hier immer noch eine Totenstille? Wo waren die Arbeiter? Hatten die Wächter Wochenende oder Feierta- Plötzlich und mit einem spitzen Schrei stürzte Green nicht in die Tiefe, sondern beinahe in den freien Himmel; wäre ihre Hand nicht im letzten Moment gepackt worden, die sie nun auch mit einem etwas schmerzhaften Ruck zurückzog. „Was... was... was...“, stammelte Green aufgeregt und zeigte zitternd auf ein großes, direkt in den Tempel hinein gerissenes Loch, womit der Korridor abrupt im Himmel endete. Es sah aus, als wäre ein Komet mit dem alten Gebäude kollidiert. „Hikari-sama, was tut Ihr denn?“ Erst da wandte Green sich um und sah Ryô vor ihr stehen; ihren Retter. „Habt Ihr das Schild denn nicht gesehen?“ „A-Also auf dem Schild... auf dem Schild stand nichts von Löchern im Boden, wo nichts außer Himmel drunter ist!“ Wieder zeigte Green anklagend auf die Zerstörung vor ihr: „Woher soll ich denn wissen, dass sich unter meinen Füßen nichts außer LUFT befindet?! Ich dachte, der Tempel sei auf einer Insel gebaut! Also auf Erde... die fliegt und... ach keine Ahnung!“ Mit mechanisch nach oben gehobenen Augenbrauen erwiderte Ryô ruhig: „Das ist in der Tat wahr, nur sind der Westflügel sowie der Nordflügel viele Jahre nach der Grundsteinlegung des Tempels hinzu gebaut worden. Diese beiden Flügel schweben daher und besitzen tatsächlich keine Erde als Untergrund. Deswegen rate ich Euch, Euch hier auch nicht aufzuhalten, bis die Restauration abgeschlossen ist.“ Ja, das hatte Green auch nicht vor, dachte sie mit einem leichten Schielblick nach unten, wo weiße Wolken vorbei glitten, bis sie bemerkte, dass Ryô ihr helfend seine Hand anbot, denn ihre Knie waren auf den Boden gesackt. Etwas abwesend, immer noch in den Himmel hinausblickend, nahm Green die helfende Hand an und erhob sich. „Was zur Hölle hat eigentlich dieses Loch verursacht?“ „Die genauen Kampfhergänge sind unbekannt“, antwortete Ryô und bedeutete ihr mit einer sehr vornehmen Handbewegung, ihm zu folgen. „Achso, aber es war ein Kampf?“ Sofort bereute Green die Frage; natürlich war es ein Kampf, was sollte sonst so eine Zerstörung angerichtet haben; wohl kaum ein Erdbeben! „Ja, es war ein Kampf. Es war der letzte Kampf des siebten Elementarkrieges.“ Obwohl Greens Frage recht dumm war, war Ryôs Antwort nett und freundlich, ohne ihr das Offensichtliche vorzuhalten – und wieder mal stellte Green sich die Frage, warum er nicht ihr Tempelwächter war. Auch seinem Gesicht schien monotone Zurückhaltung antrainiert worden zu sein, doch ab und zu entdeckte Green ein kleines, schüchternes Lächeln. Seine Gegenwart war so beruhigend und entspannend. „Ist das denn nicht der Kampf, bei dem meine Mutter gestorben ist?“, bohrte Green weiter nach, zurückblickend auf die Zerstörung und froh darüber, dass sie diese und das Schild hinter sich ließen. „Ja, Hikari-sama, genau dieser Kampf ist es. Allerdings wurde ihr Körper an einem anderen Ort hier im Tempel gefunden, weshalb anzunehmen ist, dass der Kampf sich verlagerte.“ „A-Ahja...ja.“ So genau wollte Green es dann doch nicht wissen. Doch gerade als sie eben dies auch sagen wollte, gingen sie über eine Brücke, was Green sehr wunderte, denn unter der Brücke floss kristallklares Wasser. „Wie ist das denn möglich? Wie kann auf einer fliegenden Insel denn ein Fluss fließen?“ „Das ist der Sancire. Ein Fluss, dessen Quelle sich unter dem Gebäudekomplex befindet. Das Wasser ist so rein, dass es direkt zum Trinken angeboten werden kann.“ Als er das sagte bemerkte Green nicht nur, dass sie Durst hatte, sondern auch, dass der Hunger sich langsam ankündigte. Vielleicht sollte sie ihre Abreise verschieben... Ryô würde sie ohnehin nicht nach Tokio zurückbringen, das musste sie gar nicht fragen. Er war immerhin Greys Tempelwächter und nicht ihrer und musste somit den Befehlen seines Herren nachgehen. „Sag mal, Ryô, du scheinst dich hier sehr gut auszukennen. Wie lange lebst du denn schon hier?“ „Ich lebe hier seitdem ich Grey-sama diene.“ Wieder huschte ein schüchternes Lächeln über sein Gesicht: „Der Tempel ist mein Zuhause.“ Ohne dass Green es bemerkt hatte, waren sie angekommen und schon klopfte Ryô an die Zimmertür Greys – allerdings nicht ohne ihr vorher zu versichern, dass sie sich sicherlich auch bald an diesem Ort auskennen würde. Er wollte sie aufheitern, aber sein Vorhaben hatte den gegenteiligen Effekt, denn der Gedanke, dass sie sich solange hier aufhalten musste, bis sie den Tempel in- und auswendig konnte, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Grey schien das allerdings gänzlich anders zu sehen und erwiderte ihren grimmigen Gesichtsausdruck mit einem freundlichen Lächeln. „Ah guten Morgen, Green! Willst du frühstücken?“ Er saß an einem gedeckten Frühstückstisch – Greens Magen knurrte zu ihrem Ärgernis – und war bis eben noch in ein dickes Buch vertieft gewesen. Jetzt schob er seine feine Lesebrille allerdings über seinen Pony und erhob sich, um Green zum Tisch zu führen, doch obwohl ihr Magen dieser Aufforderung gerne nachgegangen wäre, blieb Green stur stehen. Ein Benehmen, welches Grey weiterhin zu ignorieren wusste; er begutachtete seine Schwester, zupfte kritisch an dem rechten Ärmel und murmelte geistesabwesend, dass er noch ein wenig zu lang war, was Ryô sofort niederschrieb.    „Nein, ich will nicht frühstücken!“, begann Green, den Ärmel hektisch aus dem Fingern ihres Bruders reißend. „Ich will nicht frühstücken; ich will nach Hause. Jetzt.“ Grey sah auf und antwortete: „Du bist Zuhause, Schwesterchen.“  „Das sehe ich anders und das weißt du genau!“ Der Angesprochene schlug die Augen nieder und wandte sich daraufhin schweigend ab. „Grey, du hast mich entführt. Du hast deine eigene Schwester entführt!“ Grey seufzte bedauernd, antwortete allerdings immer noch nicht. „Ich verlange, sofort wieder auf die Erde zurückzukehren, hast du verstanden, Grey?!“ „Das liegt nicht im Bereich des Möglichen. So leid es mir auch tut, du wirst hier bleiben müssen. Ich habe dir doch schon gesagt, dass es der Wille unserer Familie ist, dass du deine Lehre beginnst.“ „Ich pfeife auf den Willen der Hikari! Und wenn du mich nicht sofort gehen lässt, geh ich selbst!“ Grey drehte sich zu ihr um und sah sie belustigt an. „Und wie willst du das machen? Willst du vom Rand der Insel springen?“ Green lief rot an und fluchte unschön, was Grey zu empören schien, aber er kommentierte es nicht. „Green, dir bleibt gar keine andere Wahl. Selbstverständlich kannst du dich weigern, das Training zu absolvieren und dich in deinem Zimmer einschließen-“ „Ey,  das ist eine gute Idee!“ Doch bevor sie irgendetwas in diese Richtung unternehmen konnte, hielt Grey ihren Arm fest. „Willst du wirklich nie besser werden? Du wirst irgendwann mal Regime-Führerin werden und somit bist du als Oberhaupt für die Wächter verantwortlich. Doch wie willst du das sein, wenn du schwächer als sie bist?“ Green sah ihn schweigend an, aber Grey bemerkte schon, dass es das falsche Argument gewesen war; sie interessierte sich zu wenig für die Meinung der Allgemeinheit oder Verantwortung. „Willst du unserer Familie – Shaginai denn niemals beweisen, dass du fähig bist?“ Sofort veränderte Greens Gesichtsausdruck sich, kaum dass Grey den Namen ihres Großvaters genannt hatte und nach kurzem Überlegen antwortete sie widerwillig:  „Gut, von mir aus. Aber ich werde dich nicht Meister oder so nennen!“       Fertig gestellt: 05.01.2014         Kapitel 24: Glühwürmchen ------------------------ Notgedrungen akzeptierte Green ihren aufgezwungen Aufenthalt im Tempel und den damit verbundenen Trainingsbeginn; sie sah immerhin dessen Nutzen ein. Was sie Grey allerdings nicht sagte, war, dass es nicht nur das Argument ihres Bruders war, dass sie Shaginai von sich überzeugen könne, sondern auch der Wunsch, Siberu und Gary nicht länger zur Last zu fallen. Denn ja, bis jetzt besaß sie zwar noch alle ihre Glieder und die Verletzungen, die sie sich schon so manches Mal zugezogen hatte, hatten nur kaum sichtbare Narben hinterlassen, aber das war nicht nur einem verflucht guten Schutzengel zu verdanken, sondern vor allen Dingen ihren Dämonenbrüdern. Zwar sagte sie es weder ihrem Bruder noch hatte sie es jemals Siberu und Gary gesagt, aber es wäre tatsächlich schön, wenn sie nicht das schwächste Glied des Teams wäre, sondern die beiden anderen komplettieren würde – wenn man es genau nahm, war es ja ohnehin ihre Arbeit.   Nach dem gemeinsamen, eher schweigsamen Frühstück hatte das Training allerdings nicht sofort begonnen, wie Green enttäuscht feststellte. Denn auch wenn sie den Sinn hinter dem Training schon einsah, wollte sie es doch so schnell wie möglich hinter sich gebracht haben.  Es kam ihr schon komisch vor, an diesem Abend in dieses riesige Himmelbett klettern zu müssen, um dort Schlaf zu finden – wie komisch war dann erst die Vorstellung, es die nächsten vier Monat zu tun!?  Und was war mit Pink? Sie konnte wohl kaum vier Monate lang alleine gelassen werden; sie konnte nicht einmal eine Woche allein gelassen werden, wie die Klassenreise deutlich demonstriert hatte. Als Green Grey diese Frage stellte, bemerkte sie deutlich, wie seine Bewegungen plötzlich steif wurden und sein Lächeln nahm gleichzeitig eine mechanische Art an. Der Frage, was plötzlich mit ihm los sei, versuchte er auszuweichen, doch er war ein schlechter Lügner – allerdings ein Lügner, der das Glück auf seiner Seite hatte, denn genau in dem Moment, als Green eine Antwort forderte, klopfte es an der Tür des sonnigen Wintergartens und schon stand keine Geringere als Tinami in der Tür. „Guten Morgen, Grey-sama – Guten Morgen, Ee-chan!“ „“Ee-chan“? Aber, Tinami-san, so dürfen Sie doch nicht mit unserer Hikari...“, stotterte Grey sofort entrüstet, als hätte Tinami soeben eine kriminelle Tat begangen, was sie allerdings nur zu einem Grinsen brachte. „Papperlapapp! Unsere Hikari-sama hat es mir gnädig wie sie ist...“ Ihr verschmitztes Grinsen wurde nur noch breiter: „... erlaubt, sie so nennen zu dürfen!“ „Genau, das habe ich!“ Dem konnte Grey dann natürlich nicht viel entgegensetzen, auch wenn er es nicht sonderlich gut zu heißen schien. Er räusperte sich und erklärte, dass er Tinami gerufen hatte, damit sie an Green ein paar gesundheitliche Tests durchführen konnte; aber auch ihre Magie und Reaktionszeit sollte überprüft werden. Kaum, dass Green ihre goldene Gabel beiseite gelegt hatte, legte Tinami auch schon lachend den Arm auf ihre Schulter und während sie beteuerte, dass es nur lange dauern, aber gar nicht weh tun würde, führte sie sie aus dem Wintergarten heraus, womit Grey nun mit seinem Tempelwächter alleine war – und sofort erleichtert aufseufzte. „In Lights Namen – das war zu knapp für meine Nerven!“ Ryô begann mit dem Aufräumen, da ihm bewusst war, dass sein Herr nicht mehr essen würde – er hatte für seine Verhältnisse schon sehr viel gegessen. „Meine Familie verlangt zu viel von mir. Wie soll ich es schaffen, Green vier Monate lang anzulügen? Ich kann nicht lügen! Ich bin doch kein Dämon!“, klagte Grey und vergrub kurz sein Gesicht in seinen Händen als hätte er Kopfschmerzen. Besorgt musterte Ryô seinen Herren und obwohl ihm keine Lösung für das Problem einfiel, versuchte er dennoch, ihn aufzuheitern: „Versucht, es positiv zu sehen, Grey-sama. Sollte es gelingen, dann müsst Ihr Hikari-sama niemals mehr anlügen.“ Grey deutete ein leichtes Nicken an, ehe er sich erschöpft in seinem Sessel zurücklehnte und durch das ordentlich zurechtgestutzte Blätterwerk über sich durch die gläserne Außenwand des Wintergartens nachdenklich in den Himmel hinaus blickte. „Ich hoffe, meine Familie wird schnell zu einem Entschluss kommen, was mit Pink geschehen soll. Es bereitet mir große Sorge, dass sie alleine in der Menschenwelt geblieben ist...“ Diese Bedenken konnte Ryô sehr wohl nachvollziehen, doch leider befürchtete er, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Hikari zu einem Entschluss gekommen waren – die Sache war nämlich recht heikel. Pink war kein Sonderregelfall, daher konnte man sie nicht dazu zwingen, mitzukommen; das war dann nämlich ohne Zweifel ein Regelverstoß. Aber natürlich konnte Pink auf der anderen Seite nicht alleine in Tokyo zurückbleiben. Und wieder stellte Grey sich laut die Frage, warum Pink lieber in der Menschenwelt geblieben war, anstatt mitzukommen. Eine Frage, die auch Ryô sich stellte und genau wie Grey fand er keine Antwort auf diese. Das wohl dritte Seufzen an diesem Tag entglitt Grey, welcher sogar kurz seine Hand in seinem Pony vergrub, um seiner Verzweiflung Luft zu machen. Zu viele Fragen. Zu viele Unsicherheiten. Zu viele Lügen. Und genau wie Itzumi wusste auch Grey, dass sie einen langen Weg vor sich hatten, wenn sie Green trainieren wollten. Grey war das natürlich von Anfang an klar gewesen, weshalb er auch nicht sonderlich überrascht war über das, was er von weitem von einem im Schatten gelegenen Säulengang aus gesehen hatte. Es war kein Meister vom Himmel gefallen und obwohl Green in dem Alter war, in dem die meisten Wächter ihre Grundausbildung schon lange abgeschlossen hatten, konnte man das gleiche einfach nicht von seiner Schwester verlangen. Sie war nie geschult worden; war sich ihrem Element erst seit kurzem bewusst. Es lag ein steiniger Weg vor ihnen. Dennoch war Grey nicht gewillt, seinen Optimismus aufzugeben – denn wenn er es tun würde, wäre das Zusammensein mit seiner Schwester unaushaltbar; ständig von dem Gedanken gequält, dass jede gemeinsame Minute die letzte sein könnte.   „Wow, Talent ist wirklich nicht erblich.“ Grey wandte den Kopf herum und erblickte Seigi, der gelassen auf ihn zu schlenderte und sich zu ihm gesellte, jedoch mit einigen Metern Abstand. „Seigi?“ Die skeptische Verwunderung über das plötzliche Auftauchen seines Verwandten war Grey ins Gesicht geschrieben – genau wie ihm deutlich anzusehen war, dass er alles andere als erfreut war über den plötzlichen und unangekündigten Besuch. „Warum so überrascht? Ich habe deinen Tempelwächter gefragt, wo du bist. Ganz nebenbei gesagt…“ Seigi lehnte sich grinsend über die steinerne Brüstung, Grey dabei fixierend: „… du hast deinen Tempelwächter zu sehr verwöhnt. Ich hatte das Gefühl, als würde er es mir nicht sagen wollen, ganz so, als hielte er es nicht für eine gute Idee, dass ich dich besuche! Ganz schön viel Eigensinn für einen Tempelwächter, wenn du mich fragst. Du behandelst unsere Diener zu gut.“   „Und du zu schlecht“, erwiderte Grey in einem kalten Tonfall, der Seigi zu amüsieren schien: „Standesunterschiede sollten gewahrt werden.“ „Das ist wahr, aber sie sollten nicht missbraucht werden.“ Ehe die Diskussion ausartete – und das würde sie ohne Zweifel tun – erkundigte Grey sich, was der Grund für Seigis plötzlichen Besuch sei. „Im Jenseits ist es mir momentan zu langweilig“, gab Seigi offen zu und lehnte sich über die Brüstung, die Ellenbogen auf dieser platziert und nun wieder Green und Itzumi beobachtend, während er fort fuhr: „Im Rat werden mal wieder nur trockene Regeln hin und her diskutiert und das können sie ruhig ohne mich machen.“ Oh, bedeutete das, dass sie nun über Pinks Fall diskutierten? Grey wollte sich gerade erkundigen, als Seigi jedoch seine Klage fortsetzte: „Der Fall Greenys liegt so klar auf der Hand; sie liefert ja sogar selbst die Beweise, macht Geständnisse. Wäre sie keine Hikari, sondern nur ein Wächter, wäre sie schon längst tot und das gesamte Thema wäre gegessen.“ Das war in der Tat wahr, denn auf Mord, Verbrüderung mit dem Feind und Obrigkeitsverleumdung stand der Tod, sollte sich der Verdacht bestätigen – und Seigi hatte recht; in Greens Fall benötigte es keiner weiteren Untersuchung, jeder Verdacht war bestätigt worden; sie hatte sich mit dem Feind verbrüdert. Das stand ohne Zweifel fest. Sie mochte es anders nennen, aber das war für die heiligen Regeln nicht von Belang. „Aber meine Schwester ist nun einmal eine Hikari; sie trägt dasselbe Element in sich wie du es tust.“ Und das war ihr Glück, denn die Hikari, als Träger des Lichtes, dem wichtigsten Element im Kampf gegen die Dämonen, waren aus diesen Gründen vor einem sofortigen Todesurteil geschützt. Bevor dieses verhängt werden konnte, sollten erst andere Maßnahmen ergriffen werden, um den verbrecherischen Hikari zu züchtigen. Das bedeutete allerdings nicht, dass Hikari nicht hingerichtet wurden. „Ja, eine Hikari mag sie von Namen her sein, aber sehen tut man das wirklich nicht!“ Ein höhnisches Lachen begleitete diese Worte. Schnippisch wollte Grey gerade die berechtigte Frage stellen, ob Seigi sich bei seiner Vergangenheit und seinem Aussehen – er besaß immerhin keine weißen Augen – so weit aus dem Fenster lehnen konnte, als Seigi plötzlich ohne jede Vorwarnung oder Begründung seiner Taten mit einem Grinsen über den Balkon sprang. Verdutzt starrte Grey einen kurzen Moment auf den Punkt, von dem Seigi gerade verschwunden war, bis das heitere „Hey, Greeny!“ ihn aus seiner Starre weckte; sofort machte er kehrt und rannte den Gang herunter, um zur nächsten Treppe zu gelangen. Grey konnte sich absolut kein Bild davon machen, was Seigi von Green wollte, ob er einfach nur Schabernack verbreiten wollte, oder ob sein Dasein ein konkretes Vorhaben verfolgte – aber er hatte ein ungutes Gefühl. Denn Seigi... Seigi war einer dieser gezüchtigten Hikari. Er war wegen Mordes angeklagt gewesen. Soweit Grey es von Gerüchten erfahren hatte, war der vermeintliche Mord ein Unfall gewesen und natürlich... nicht alle Gerüchte waren wahr. Im Jenseits kursierten sehr, sehr viele Gerüchte, aber war das kleine, oval-geformte Gerät in seinem Haar nicht Beweis genug dafür, dass es einen konkreten Sachverhalt gegeben haben musste? Dass Greys Skepsis ihm gegenüber nicht unbegründet war? Warum sonst musste Seigi, sobald er das Jenseits verließ, ein Gerät tragen, dass seine Mordlust maß? Für Green gab es jedoch andere Dinge, die sie weitaus verwunderlicher fand als das kleine grün leuchtende Etwas in Seigis Haaren. „Ein Zombie!“ Vor Schreck, einen Totgeglaubten plötzlich vor sich zu sehen, wäre Green ihrer Tempelwächterin beinahe auf die Arme gesprungen. Nicht nur, dass es ausgerechnet Seigi war, der vor ihr auftauchte – er war auch noch gänzlich unbeschädigt aus dem zweiten Stock herunter gesprungen. Ein ekelig lauter Knall war ertönt, als Seigis Füße auf dem sandigen Boden aufgeprallt waren, worauf Seigi gar nicht achtete; lässig, als wäre es eine Aufwärmübung beim Sport, schüttelte er zuerst das rechte, dann das linke Bein ein wenig und sah viel eher Green verwundert an, weil sie ihn so genannt hatte. Es war allerdings nicht er, der die allgemeine Verwirrung aufklärte, sondern Itzumi, nachdem sie sich pflichtgemäß verbeugt hatte: „Hikari-sama, mit Verlaub, ein „Zombie“ ist wohl kaum die richtige Bezeichnung.“ „Was ist denn ein „Zombie“?“, fragte Seigi, als er bei den beiden Mädchen angekommen war und einen munteren Eindruck hinterließ, den Green nicht erwidern konnte; sie war schlichtweg zu verwirrt, einen toten Hikari im Diesseits zu sehen. Sie sah ihn an, als würde sie irgendwo an seinem Auftreten einen Haken suchen, aber er wirkte unglaublich... echt. Er war weder durchscheinend noch sonderlich blass – und einen Schatten warf er ebenfalls. „Menschen definieren „Zombies“ als „lebende Tote“, Hikari-Seigi-sama, jedenfalls soweit ich informiert bin... Hikari-sama?“ Itzumi erwartete offensichtlich eine Zustimmung von Green, aber sie war immer noch zu beschäftigt damit, sich Seigis Anwesenheit zu erklären. „Ah, ich verstehe... aber dann bin ich doch ein „Zombie“... ich glaube, ich verstehe es doch nicht.“ „Ich auch nicht, Onkel Seigi“, erwiderte Green aufgebend, nachdem sie einfach nichts Ungewöhnliches an Seigi feststellen konnte außer seiner bloßen Anwesenheit. „“Onkel“?“, wiederholte der Hikari fragend, woraufhin Green ihm, genau wie schon Siberu und Gary, genau dasselbe noch einmal erklärte und Seigi schien gut zu verstehen, warum sie darauf verzichten wollte, ihn Ururururgroßvater zu nennen; er hatte nichts dagegen, dass sie ihn „Onkel Seigi“ nannte, es schien ihm sogar irgendwie zu gefallen. Aber eine Erklärung für seine Anwesenheit hatte sie immer noch nicht bekommen, weshalb sie mit ihrer Bitte um Aufklärung ein wenig fordernder war.   „Diese Technik nennt sich „Eciencé“, Greeny. Sie kann nur von uns Hikari angewandt werden, deren Körper sich auf unserem Friedhof befindet...“ Er deutete mit einer saloppen Handbewegung Richtung Nordosten, wo Green in der Ferne sah, wie sich im Dunstschleier der Wolken ein hoher, dünner Turm abzeichnete. Das war ein Friedhof? „... du musst wissen, Greeny, dass die toten Körper aller hochrangigen Wächter – und dazu zählen die meisten Hikari! –  sich im Gegensatz zu den Leichen der Menschen nach dem Tod nicht mehr verändern. Hikari, die nun obendrein ihren Tod im Jenseits verbringen, können mit der Eciencé-Technik eine Kopie ihres toten Körpers schaffen, in dem die Seele je nach Ausmaß der zu Lebzeiten besessenen Lichtmagie wohnen kann.“ Seigi lachte ein wenig und zeigte ihr seinen Zopf: „Leider war meine eher... bescheiden, daher – wenn du genau hinschaust – siehst du auch, dass mein Zopf sich schon auflöst. Da fängt mein Eciencékörper immer zuerst an zu verfallen, hehe.“ Green nickte, obwohl sie den Gedanken immer noch ein wenig unheimlich fand – und jetzt wo sie darauf achtete, bemerkte sie auch plötzlich, dass Seigis Brust sich nicht hob und senkte. Er atmete nicht. „Und du bist am Trainieren, Greeny?“ Obwohl Grey gerannt war, kam er erst jetzt bei einer Treppe an, die ihn hinab ins Erdgeschoss führte. Der Tempel war einfach zu verwinkelt und er kannte leider nicht alle seine Geheimgänge. „Eh, ja.“ Endlich unten angekommen erhöhte er das Tempo, um schnell zu seiner Schwester zu gelangen... „Training ist die Freude eines jeden Elements, wie wir so schön sagen...“ Nur noch ein Gang-- „Was, mein Element kann sich freuen?“ „... lass mich dir ein Exempel statuieren.“   „Seigi!“ Aber Grey kam einige Sekunden zu spät auf den Innenhof gestürzt – er sah gerade noch das triumphierende Grinsen Seigis und das Aufglänzen seines gezogenen Schwertes und konnte nicht verhindern, dass es mit gekonnter Professionalität auf Greens Glöckchen zuraste--- und genau vor dem goldenen Ring des Glöckchens zum Stillstand kam. Sobald Green bemerkte, was geschehen war, zog sie sich geschockt mehrere Meter rückwärts zurück, wobei sie fast gegen die geschockte Itzumi gestolpert wäre, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, ihr Glöckchen an sich zu drücken. Sie hatte eine ganz offensichtlich abwehrende Haltung eingenommen. „Sorry, Greeny, ich bin ein unverbesserlicher Angeber! Habe ich dich etwa erschreckt?“ Das hatte er, wie Green jetzt ebenfalls bemerkte; ihr Herz raste. „Seigi!“, tobte Grey jetzt bei ihnen ankommend: „Wie kannst du es wagen, meiner Schwester zu drohen?!“ „“Drohen“?“, wiederholte der Angesprochene, sein Schwert lässig schulternd: „Ich wollte nur ein Exempel statuieren, immerhin trainiert Greeny doch und ein wenig Hilfe kann nie schaden, oder?“ Er wandte sich wieder Green zu: „Hast du dich bedroht gefühlt, Greeny?“ Green versuchte zu grinsen, aber sie hatte das Gefühl, als würde es ihr nicht ganz gelingen und ihre Antwort war auch mehr Lüge als Wahrheit: „Ach, was, nein, schon… gut.“ Von Green die Bestätigung erhaltend sandte Seigi einen feixenden Blick an Grey: „Guuuuuck? Kein Grund, gleich Panik zu verbreiten, Blacky! Jetzt wisst ihr ja, woran ihr auf jeden Fall arbeiten müsst; an Greenys Reaktionszeit, haha!“   „Dem muss ich zustimmen!“ Alle Anwesenden wirbelten herum und sahen Tinami, die grinsend auf sie zuging und sich, sobald sie bei ihnen angekommen war, erst einmal standesgemäß vor Seigi verneigte, mit der Hand über ihrem Herzen. „Ich habe hier die Ergebnisse unserer Tests vorhin!“ Um ihre Worte zu unterstreichen hielt sie eine kleine Mappe empor, was Seigi lachend auffasste: „Sehr gut; wie gut, dass auf unsere Kikou immer Verlass ist! Dann wisst ihr ja, was zu tun ist!“ Er gab Grey einen neckenden Schlag gegen die Schulter, winkte Green zu und verließ schon den Hof. „Er ist schon wirklich eine Sache für sich“, flüsterte Green, weil sie nicht wollte, dass Seigi sie womöglich noch hörte. Grey, sich unauffällig den schmerzenden Punkt reibend, wo Seigi ihn geschlagen hatte, erwiderte: „Das kann man wohl laut sagen.“ „Aber Onkel Seigi ist schon ziemlich cool.“ Sofort wirbelte Grey zu Green, sie schockiert ansehend. „“Cool“? Er ist...was?“ „Das bedeutet so viel wie „toll“, ein sehr positiv geladenes Adjektiv der jugendlichen Sprache von heute!“, warf Tinami grinsend dazwischen, was Grey zum Erröten brachte: „Das weiß ich auch...“ Tinami kicherte und da Grey es langsam zu peinlich wurde, verkündete er mit Inbrunst, dass sie keine Zeit für Plaudereien hatten. Sie hatten viel zu tun!     Aber es war unmöglich, Green zum Trainieren zu überreden, denn sie war genauso neugierig auf die Testergebnisse wie Grey es war. Sie bestand darauf, dass es ihr gutes Recht war, die Ergebnisse ebenfalls zu erfahren, weshalb ihr Bruder nachgab und sie sich auf eine Pause einigten. Die Wächter verließen den Innenhof, durchquerten den Tempel und nahmen dann in dem großen Garten auf der südlichen Seite des Tempels in einem kleinen, weißen Pavillon Platz, wo Itzumi mit Ryôs Hilfe in Windeseile ein kleines Mittagessen aufgetischt hatte und soeben den Tee einfüllte, als die drei Wächter sich setzten. Itzumi wandte sich daraufhin ihren üblichen Pflichten zu, die wohl zu dieser Uhrzeit daraus bestanden, die vielen verschiedenen Blumen des großen Gartens zu bewässern; allerdings blieb sie in der Nähe, wahrscheinlich, wie Green mit einem säuerlichen Lächeln bemerkte, um ebenfalls mithören zu können, wie die Tests ihrer Herrin verlaufen waren. Diese hatten eindeutig gezeigt, dass Green großes sportliches Talent besaß, worüber sich Grey sehr zu freuen schien. Mit Stolz erzählte sie ihm, dass sie in diesem Bereich auch immer die besten Noten gehabt hatte. Als sie dann auch noch erwähnte, dass sie rhythmische Gymnastik betrieb, war er hin und weg und wollte unbedingt einmal eine Kür von ihr sehen. Auch wenn er ein wenig errötend zu bedenken gab, dass ein solch hautenges Trikot nicht gerade die passende Bekleidung für eine Hikari sei. Skeptisch stellte er sofort die Frage, ob „die beiden Halblinge“ sie denn schon mal in einem solchen gesehen hatten. Natürlich hatte Green es nicht verneint, denn sein finsteres Gesicht war einfach Gold wert. Das darauffolgende Thema war allerdings weniger amüsant. „Hikari-Seigi-sama hat recht – Ee-chans Reaktionsvermögen ist für einen Menschen zwar nicht schlecht, aber verglichen mit unseren Werten... liegt sie unter dem Durchschnitt.“ „Ich musste auch nie darauf vorbereitet sein, von einem Schwert durchbohrt zu werden. Außer in Videospielen vielleicht und da kann man speichern!“, erwiderte Green sich selbst verteidigend, was Tinami zum Lachen brachte: „Natürlich, natürlich, Ee-chan! Das war auch kein Vorwurf, du kannst selbstverständlich direkt nichts dafür.“ Grey, der nicht sonderlich lange mit seinem Essen beschäftigt gewesen war, blätterte nun durch Tinamis Bericht – wie hatte sie es geschafft, einen zehn Seiten langen Bericht in nur so kurzer Zeit zu verfassen?   „Lesen Sie mal Seite vier, Kaze-sama, das wird ihnen nicht gefallen.“ Tinami lag mit dieser Vermutung absolut richtig: denn kaum, dass Grey die Seite überflogen hatte, stöhnte er. „Was ist denn das Problem?“, fragte Green, da Grey das Originaldokument in den Händen hielt und es noch keine Kopie gab, die Green hätte lesen können. „Oh, nur eine Zahl.“ „Eine Zahl?“ „46%?!“ Grey vergrub seine Hand in seinem schwarzen Pony: „Das ist nicht gut, das ist absolut nicht gut...“ „Was ist denn das für eine Zahl?“ Tinami grinste und erklärte ihrer Hikari nun endlich: „46% ist der Anteil der „nicht-Licht“-Magie in deinem „Spirit of Light“, den wir vorhin getestet haben – und der ist eben, nun ja, 46%, obwohl er eigentlich nicht existent sein sollte.“ „Also ist das schlimm?“ Grey schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Natürlich ist das schlimm, Green! Du bist doch nicht die Wächterin der Dunkelheit, sondern des Lichts! Deine Angriffe müssen aus reiner Lichtmagie bestehen, um die größtmögliche Wirkung zu erbringen. Das ist ja wohl logisch.“ Green sah die Kritik überhaupt nicht ein: „Also bis jetzt hat es immer ganz gut geklappt.“ „Ja, weil du Glück hattest. Ich wette, die Schuld für dieses Problem ist bei den Halblingen zu suchen!“ Green machte gerade den Mund auf, um zu widersprechen, als sich überraschenderweise Tinami einmischte: „Diese Wette werdet Ihr verlieren, Kaze-sama! Ihr könnt die Schuld nicht immer den beiden zuschieben. Denn der Filter von Ee-chans G.H 06.G funktioniert einwandfrei – ich beherrsche mein Handwerk!“ Grey wirkte kurzzeitig ein wenig eingeschnappt, dass seine Theorie nicht der Wahrheit entsprach, aber er schob diese Gefühle schnell in den Hintergrund, als er sie fragte, was es dann sei: „Es liegt an Ee-chan selbst natürlich!“ Green wollte gerade lauthals protestieren, als Tinami eine ungewöhnliche Bitte stellte: sie wollte, dass Green ihren Stab hervorholte. Kurz zögerte sie, tat es aber dann, jedoch ohne Rücksicht auf den recht vollen Tisch zu nehmen und als das Glöckchen seine wahre Gestalt annahm und der Stab sich vergrößerte, hätte sie beinahe die Tasse Greys umgekippt. Etwas verschmitzt grinste sie ihren Bruder an, der die Tasse noch mittels seiner eigenen Magie hatte auffangen können und sie nun tadelnd ansah, während die Tasse zurück in seine Hand schwebte. „Seht hier“, Tinami streckte sich über den Tisch und zeigte auf die schwarze, links platzierte Leiste: „Wie Ee-chan ja schon herausgefunden hat, kann sie mit ihrem Stab die von den Dämonen angewandte Magie aufnehmen und diese entweder in ihrer Ursprungsform speichern und einsetzen, oder sie zu Lichtmagie konvertieren.“ Green nickte, denn das war ihr natürlich nicht neu, aber Grey runzelte die Stirn: „Wenn ich mir die Frage erlauben darf...wie kamen Sie eigentlich auf diese Idee, Tinami-san?“ „Oh, das war nicht meine; ich habe sie nur umgesetzt! Ich hatte genaue Anweisungen. Ich war auch überrascht über diesen eigenartigen Wunsch, aber ich habe mich daran gehalten und ich muss sagen, ich bin auch auf das Ergebnis ziemlich stolz – oder hast du etwas an deiner Waffe auszusetzen, Ee-chan?“ Die Angesprochene beeilte sich zu verneinen, denn natürlich hatte sie das nicht. Sie war sehr zufrieden mit ihrem Stab, den sie jetzt wieder zu sich zog und zurückverwandelte, wobei ihr nicht auffiel, dass Grey nachdenklich die Stirn in Falten gelegt hatte – Tinami allerdings schon, sich ihren Teil denkend. Sie sprach ihn jedoch nicht darauf an, wählte das Gespräch stattdessen fortzusetzen: „Ich denke, bei dem gerade genannten Konvertierungsprozess läuft etwas schief. Ee-chan scheint noch nicht in der Lage zu sein, die dämonische Magie komplett zu konvertieren.“ „Das bedeutet aber auch“, antwortete Grey nachdenklich, sich wieder Tee nachfüllend: „Dass Green, wenn sie sich bis jetzt nur auf ihren Stab verlassen hat...“ „Noch nie ihr eigentliches Element angewandt hat, ja, das ist richtig“, ergänzte Tinami und erklärte weiterhin: „Deswegen sage ich ja auch, dass ihre Waffe ziemlich ungewöhnlich ist.“ „Also ich mag sie.“ Grey stimmte Green da nicht zu; ganz und gar im Gegenteil. Wussten die Hikari das? War das eine Information, die ihm nicht zugetragen worden war? Und falls sie es nicht wussten – wie würden sie darauf reagieren? Das waren keine guten Nachrichten. Besonders in Anbetracht dessen, dass Green nicht einmal im Stande dazu war, ihre eigentlich nur  „geliehene“ Magie in etwas gänzlich Reines zu verwandeln. Es stand um ihre Lichtmagie tatsächlich schlechter als von Grey erwartet, weshalb er mehr denn je von der Wichtigkeit ihres Trainings überzeugt war. Wenn sie auf ihre eigene Lichtmagie zugreifen würde, würden diese 46% wahrscheinlich gar kein Problem mehr sein; sie würden wahrscheinlich nicht existieren – Tinami stimmte dem zu, gab aber zu bedenken, dass es dafür weitere Nachforschungen benötigte. Es benötigte tatsächlich noch weitere Nachforschungen, aber Tinami hatte schon eine Theorie, die sie allerdings für sich behielt: Green wusste, dass „Licht“ für ihre Freunde schädlich war und um diesen nicht zu schaden, schwächte sie ihre Lichtmagie, indem sie sie verunreinigte. Doch Tinami konnte sich nicht vorstellen, dass Green etwas von diesem Prozess wusste. Es geschah unbewusst, dessen war sich die Kikou sicher. Das Element des Lichtes war höchst sensibel, reagierte wie kein anderes Element auf jede noch so kleine Gefühlsregung des Trägers. Wenn beispielsweise der Wille zum Kampf fehlte, der Glauben ins Wanken geriet, man nicht mit vollen Herzen das vertrat, wofür man kämpfte, dann wurde die Lichtmagie beeinflusst. Im schlimmsten Falle konnte sie sogar versiegen... Andersherum war das auch ihr größter Vorteil, da es bei starken Gefühlen zu wahren Magieexplosionen kommen konnte. In Greens Fall wurde ihr Element von ihrem Willen, ihren Freunde nicht zu schaden, gestört und sie spürte es nicht einmal. Tinami glaubte nicht, dass sich etwas daran ändern würde, wenn Green direkt auf ihr Element zugreifen würde; im Gegenteil sogar. Dennoch stimmte sie Grey zu, als er meinte, dass es dann wohl am besten sei, wenn Green sich beim weiteren Training darauf konzentrieren würde, ohne ihren Stab zu kämpfen und sich dabei gänzlich darauf konzentrierte, Licht zu produzieren. Green starrte beide nur sprachlos an; offensichtlich verstand sie Bahnhof. Licht produzieren... von sich aus schaffen... ohne Stab eine Attacke einsetzen... wie sollte sie das machen?   „Also, Green, wir haben viel zu tun; zurück zum Training!“ Itzumi kam heran geeilt wie ein geölter Blitz und stand schon einsatzbereit neben Green, ehe sie sich überhaupt aufrichten konnte. Bildete Green sich das ein, oder gefiel ihrer Tempelwächterin das Ganze irgendwie? „Bekomme ich eigentlich etwas für das alles?“ Grey war kurz davor „Ja, du überlebst hoffentlich“ zu antworten, aber stattdessen erwiderte er: „Ist ein Fortschritt nicht Belohnung genug?“ „Natürlich, ja, das will ich ja auch – ich meine nur, ein wenig was, du weißt schon…“ Green klimperte auffällig mit den Augen, wie sie es sonst bei Siberu tat, wenn sie von ihm Geld haben wollte – und siehe da, es funktionierte auch bei Grey, der nun ein wenig rot wurde. „…eine kleine Belohnung, ein Extra, ein Ansporn…“, süßholzraspelte Green weiterhin: „Ein kleinen, klitzekleinen Anruf vielleicht?“ Sofort verschwand sämtliche Schamesröte aus Greys Gesicht und er wurde ernst: „Nein. Kein Kontakt mit den Halblingen.“ Auch Green schob ihre süße Masche sofort beiseite: „Mein Gott, Grey, als ob das jetzt so schlimm wäre! Ich will doch nur wissen, ob es ihnen gut geht und ob in Tokio alles gut läuft!“ „Schwesterherz, du bist gerade erst zwei Tage hier.“ „In zwei Tagen kann verdammt viel passieren! Sibi war immerhin verletzt…“ „An deinem Fluchen müssen wir auch arbeiten.“ „Du versuchst immer, das Thema zu wechseln! Es ist eine Sache, dass ich trainieren soll, das ist auch alles schön und gut – aber es ist eine gänzlich andere, mich von Sibi und Gary zu isolieren, was soll das?!“ „Sie lenken dich nur unnötig ab.“ „Das kannst du so doch gar nicht sagen...“ Zum Glück unterbrach Tinami das Gespräch genau zum richtigen Zeitpunkt: „Ich kann die beiden ja von dir grüßen, Ee-chan – wäre das nicht ein guter Kompromiss für euch beide?“ Widerstrebend ergaben sie sich, aber Grey sah Green deutlich an, dass es für sie kein zufriedenstellender Kompromiss war und es tat ihm im Herzen weh, als er sah, dass Green für einen kurzen Moment traurig wurde – und sie versuchte sogar noch einmal, ob sie Tinami nicht einen Brief mitgeben dürfte, aber nein, Grey blieb hart, auch wenn er deutlich sah, dass es Greens Traurigkeit und Wut auf ihn steigerte. Als sie dann nach erfolglosem Kampf mit Itzumi davonschritt, würdigte sie ihn keines Blickes. „Passt auf, dass Ihr nicht zu ihrem Gefängniswärter werdet, Kaze-sama.“ Grey nahm einen Schluck von seinem Tee. Er war kalt geworden. „Das bin ich doch schon längst.“     Green war frustriert – und wütend. Sie war schon froh gewesen, wenn sie überhaupt einem Schlag von Itzumi ausweichen konnte; bei zwei Hieben war sie gänzlich aus dem Häuschen; jetzt sollte sie auch noch Licht aus dem Nichts entstehen lassen? Und das nebenbei? Wie tat man das überhaupt; sie war doch keine Glühbirne! Was erwarteten die eigentlich alle von ihr? Ja, sie hatte verstanden, dass sie eine ziemlich miserable Kämpferin war und dass alle Hikari vor ihr in ihrem Alter auf einem viel, viel höheren Level waren, aber sie hatten ja auch ihr ganzes Leben lang trainiert, das konnte man doch gar nicht vergleichen… wahrscheinlich würde Grey auf dieses Argument sowas sagen wie „natürliche Veranlagung“, pah. Die hatte sie eben nicht. Na und!? Und wieder landete sie im Sand. Und wieder sah Green das, was sie schon oft zu sehen geglaubt hatte; ein kleines Zucken von Itzumis linken Mundwinkel. Diese verfluchte Ziege freute sich darüber, ihr überlegen zu sein, mit ihren verfluchten golden leuchtenden Händen, die sie immer wieder zu Boden warfen – da wo sie hingehörte, was? „Hör auf zu grinsen!“, fauchte Green, die nun spürte, wie ihre wütende Frustration sie übermannte. Itzumi dagegen fand sofort zu ihrer gewohnten, gefühlsneutralen Professionalität zurück. Obwohl ihre Mundwinkel wieder einen geraden Strich bildeten, hatte Green immer noch das Gefühl, als würde sie sie überlegen belächeln. Es lag in ihren Augen; der Spott, der Hohn. „Entschuldigt, Hikari-sam---“ Darauf hatte Green jetzt keine Lust, absolut keine Lust, weshalb sie sie unterbrach, ohne, dass sie genau wusste, was sie da eigentlich sagte: „Wenn ich meinen Stab benutzen dürfte …“ Green suchte nach den passenden Worten für ihre Drohung, aber sie fand sie nicht, weshalb Itzumi den Satz gegen jegliche Professionalität zu Ende führte: „...Würde Euch das auch nichts nützen.“ Ihre Augen verhärteten sich Wort für Wort und der Schatten der sich vor die Sonne schiebenden Wolken verstärkte die Konturen ihres herablassenden Gesichtsausdruckes: „Denn Ihr seid des Namens „Hikari“ nicht würdig – Ihr seid es nicht wert, das heilige Symbol der Hikari um den Hals zu tragen!“   „Sie ist nicht meine Enkelin! Sie ist eine Missgeburt!“ „Sie ist nicht meine Enkelin! Sie ist eine Missgeburt!“ „… Missgeburt!“ „… Missgeburt!“ „… Missgeburt!“ „… Missgeburt!“   Green waren sämtliche Konsequenzen absolut egal; Itzumi sollte einfach nur ruhig sein, ganz egal wie – aber sie erhielt keine Genugtuung, denn der Schlag, mit dem sie dafür hatte sorgen wollen, dass Itzumi ihre Worte bereute, ging daneben, da ihre Tempelwächterin diesem Ausdruck der Wut mit scheinbarer Leichtigkeit seitlich auswich. Nur hatte sie dabei nicht auf ihre Haarringe geachtet und die Faust, die eigentlich für ihr Gesicht vorgesehen gewesen war, rauschte an ihrer Wange vorbei, direkt durch den rechten Ring hindurch und was vielleicht hätte witzig aussehen können, endete schmerzhaft für Itzumi, denn Green hatte doch zu viel Schwung drauf gehabt und riss die so wohlgeflochtenen Haare aus ihrer Halterung heraus. Green landete wieder im sandigen Boden, schürfte sich dabei das Knie auf, fluchte laut und ungestüm, weil sie Itzumi nicht getroffen hatte, bis sie sich herum drehte und sah, dass das Lösen und Ruinieren ihrer sonst so streng aufgesetzten Haare Itzumi scheinbar mehr aus der Fassung brachte, als ein Schlag es hätte tun können. Aber noch bevor Green sich über diese unerwartete Überraschung freuen konnte, kamen Grey und Ryô angerannt. „Green! Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen „Training“ und „Prügelei“! Die Dämonen tun Letzteres, aber wir doch nicht. Du warst wirklich eindeutig zu viel zusammen mit---“ „ARGH!“ Grey verstummte sofort, als er diesen frustrierten Ausruf hörte und wich Green wohlwissend aus, die mit großen Schritten an ihm vorbeistampfte und auf dem Weg hinein in den Tempel gegen den nächstbesten Blumenkrug trat – leider ging er nicht kaputt, nur Greens Fuß begann zu schmerzen. Aber das war ihr egal, genau wie ihr alles andere im Moment egal war – und an diesem Tag lernten die Wächter, dass man sich Green nicht nähern sollte, wenn sie in Rage war.      Für den Rest des Tages traute Grey sich nicht in die Nähe seiner Schwester; ihm, dem Zurückhaltung und Reserviertheit anerzogen worden waren, waren solche Gefühlsexplosionen fremd. Er kannte sie nicht. Gefühle auf der Zunge zu tragen, die Kontrolle wegen dieser zu verlieren, war nichts, was für die Wächter erstrebenswert war. Man hielt Gefühle hinterm Zaun, schadete niemandem mit ihnen und drängte sie auch niemandem auf – daher stand er Greens Jähzorn recht ratlos gegenüber und hatte so den Rest des Tages damit verbracht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was man in so einer Situation tat. Green erschien nicht beim Abendbrot; Itzumi hatte sie gefragt, als wäre absolut nichts zwischen ihnen vorgefallen, aber sie hatte sie durch ihre Zimmertür angeschwiegen. Als Ryô es dann versucht hatte, hatte sie ihm geöffnet und ihn gebeten, Grey mitzuteilen, dass sie keinen Hunger hätte, wenn Ryô aber so lieb wäre und ihr zeigen könnte, wo sie vielleicht ein Bad nehmen konnte…? In der Hoffnung, dem Bad sei es gelungen, Greens Gemüt zu besänftigen, suchte Grey seine Schwester in einem der vielen Aufenthaltsräume des Tempels auf; Ryô hatte ihm erzählt, dass Green sich dorthin zurückgezogen hatte, um zu, Grey traute seinen Ohren kaum, lesen – und tatsächlich fand er sie im Schein des tänzelnden Kaminfeuers lernend vor; sie hockte auf einem wolligen Teppich, den Kopf auf die Couchlehne gestützt. Genau wie Ryô es Grey berichtet hatte, lernte sie; mit einem kleinen vor ihr schwebenden Bildschirm, auf welchem Grey meinte, Kampfaufnahmen sehen zu können. Anstatt allerdings gleich wieder über ihr Training zu sprechen, wählte Grey zuerst etwas anderes zu kommentieren: „Oh.“ Denn Grey staunte, als er Green mit geflochtenen Zöpfen sah: „Diese Frisur kleidet dich.“ „Mir war danach.“ Green drehte sich nicht zu ihm herum, aber Grey sah, dass sie die Aufnahme mit einem Fingerzeig pausierte; das war doch nicht möglich, dass sie schon schneller mit der Technik umgehen konnte als Grey, der immer noch bei fast allen technischen Angelegenheiten die Hilfe von Ryô benötigte. „Es freut mich zu sehen, dass du lernst“, sagte Grey zögerlich, sobald er sich auf die Couch gesetzt hatte, an die Green sich gelehnt hatte. „Ich komme hier ja nur weg, wenn ich Fortschritte vorweise.“ Anstatt darüber verletzt zu sein, dass Greens Beweggrund nun scheinbar war, ihn so schnell wie möglich zu verlassen, antwortete Grey: „Ich habe geglaubt, dass du Großvater von dir überzeugen wolltest?“ Green schwieg kurz, dann spulte sie die Aufnahme zurück. „Will ich auch.“ Die Aufnahme begann von vorne.   „Ich verstehe einfach nicht, wie sie das mit dem Licht machen. Ich habe schon mehrere angeguckt und manchmal… brauchen die gar keinen Stab? Das Licht kommt irgendwie aus deren Körper, als wären sie wirklich Glühbirnen… was zur Hölle.“ Grey kommentierte ihr Fluchen nicht, aber eine Sache konnte er nicht unkommentiert lassen, als er nun auch bemerkte, wessen Aufnahme sie sich gerade zum zweiten Mal ansah: „Ich denke, wenn du dich auf den direkten Einsatz von Lichtmagie konzentrieren willst, dann solltest du dir eine andere Aufnahme angucken als die von Seigi.“ Da Grey auf der Couch saß, konnte er Greens Gesicht nicht sehen; aber er sah, dass die Ohren seiner Schwester rot wurden. „Er ist zu seinen Lebzeiten nämlich nicht sonderlich begabt gewesen auf diesem Gebiet, Green… du solltest dir lieber Aufnahmen unserer Mutter ansehen.“ „Das habe ich und sofort die Aufnahme gewechselt, da fühle ich mich nur schlecht bei.“ Offensichtlich wollte Green nicht gerne über dieses Thema sprechen, denn sie wechselte es wieder zu Seigi. Mädchenhaft kichernd schlug sie sich die Hände an die Wange und erwiderte: „Und Seigi ist so cool!“ Schon wieder dieses Wort, von dem Grey nicht fand, dass Seigi es verdient hatte. Besonders nicht nach dem, was er heute getan hatte; diese ganz offensichtliche Zuneigung hatte er nicht verdient. Was fand sie nur an ihm? „Ich meine, ich habe ja keine Ahnung von dem Ganzen, aber er gibt mit seinem Schwert echt eine gute Figur ab; richtig verwegen, hihi ♥!“ „Jaaah“, antwortete Grey säuerlich und himmelte obendrein genervt mit den Augen, wobei Green ihn erwischte, weil sie sich genau in diesem Moment zu ihm herum gedreht hatte. Sie grinste sofort neckend: „Waaas, ist mein lieber, großer Bruder etwa eifersüchtig?“ Sofort wurde Grey rot; „W-Was, ich?! Nein, Green, nein. Eifersucht ist ein dämonisches Gefühl; wir Wächter sind von solchen Gefühlen gänzlich bewahrt…“ „Ich habe dich ja auch noch nie was machen sehen, daher kann ich euch ja gar nicht so richtig vergleichen. Trainierst du eigentlich? Ich sehe dich nie etwas anderes machen als in irgendwelchen Dokumenten vertieft zu sein.“ Wenn möglich wurde Grey noch röter und empört begann er damit, sich zu rechtfertigen: „Natürlich tue ich das. Ich trainiere fünf Stunden täglich, genau wie es die Vorschrift gebührt!“ „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du kämpfst.“ „Aber natürlich tue ich das…“ „Das geht wirklich nicht in meinen Kopf rein, dass du kämpfen kannst!“  Grey bemerkte nicht, dass Green ihn nur neckte, anders als Ryô, welcher gerade hereingekommen war mit einem heißen Kakao für jeden der beiden und ein paar selbstgebackenen Keksen. Er musste ein wenig unbemerkt in sich hinein schmunzeln: es war so schön zu hören, wie Green ihrem Bruder half, ein wenig aus sich herauszukommen, offener mit seinen Gefühlen zu sein. Es war wirklich gut für ihn, dass er endlich die Schwester bei sich hatte, auf die er so lange gewartet hatte.     Itzumis Haarringe saßen wieder absolut perfekt und sie ließ sich nichts von irgendeinem Streit anmerken, als wäre am gestrigen Tag absolut nichts geschehen – und noch vor dem Frühstück ging es weiter. Green hatte darauf bestanden, erklärte Grey seinem Tempelwächter, als er sich darüber wunderte, die beiden wieder trainieren zu sehen; denn sein Herr hatte ihm noch am Vorabend erzählt, dass er und Green sich einig geworden waren, sich zuerst mehr der Theorie zu widmen. „Das war ihre Idee. Sie kam heute Morgen zu mir gerannt und wollte es unbedingt noch einmal versuchen.“ Ryô entging nicht, dass Grey sehr gute Laune zu haben schien. „Habt Ihr schon zu so früher Stunde gute Neuigkeiten aus dem Jenseits erhalten?“ Grey nickte lächelnd: „Ja. Endlich!“ Sein Herr wollte ihm diese gerade mitteilen, als sie beide etwas bemerkten.     Noch bis tief in die Nacht hatte Green sich mit den Videoaufnahmen beschäftigt, aber im Endeffekt hatte sie trotzdem nicht verstanden, wie ihre Vorfahren Licht aus dem Nichts entstehen ließen. Grey hatte ihr nicht sonderlich dabei helfen können; es sei bei jedem Element unterschiedlich, meinte er, weshalb sie da mit einem Hikari sprechen müsste – aber diese würden sie wahrscheinlich auslachen, denn so wie Green es bereits mitbekommen hatte, sollte das eigentlich etwas sein, was sie nicht nur schon lange beherrschen sollte, sondern auch etwas, das ziemlich einfach war. Sie wollte es selbst meistern; sie brauchte deren belächelnde Hilfe nicht! Aber Training was ihr Reaktionsvermögen anging benötigte Green tatsächlich, da musste sie Tinami und Grey leider recht geben, denn es fiel ihr leider auch mit neu erwachter Entschlossenheit sehr schwer, Itzumis senkrechten Handflächen auszuweichen – und kam es ihr nur so vor oder war sie schneller geworden als gestern? Scheinbar war deren gestriger Zusammenstoß doch nicht so vergessen, wie sie vorgab. Wieder brachte ein ausgefeilter, seitlicher Hieb Itzumis Green zu Fall. Sie musste sich konzentrieren und von dem Gedanken abkommen, dass sie Itzumi besiegen musste – denn das musste sie immerhin nicht. Sie musste Licht entstehen lassen… und das in einer Kampfsituation. Warum ausgerechnet mitten im Kampf? Hätten sie es nicht erst einmal so üben können? Nein, Green musste aufhören, sich über solche Dinge Gedanken zu machen; es hatte schon einen Hintergrund. Licht – wo kam Licht her? Von der Sonne; diese war gerade verdeckt, es war ein grauer Morgen – und das Licht sollte ja auch nicht von außen kommen, es musste von innen kommen, von ihr selbst. Wenn sie es richtig verstanden hatte, so waren die Elemente doch in ihnen, sie musste es also sichtbar machen und dieses Licht für einen Angriff umformen; einen „Spirit of Light“ konnte man auch ohne Stab freisetzen, wie sie bei ihren nächtlichen Studien gesehen hatte – au, da stürzte sie wieder. Aber diese verfluchten Handflächen Itzumis, die sie immer spätestens bei der zweiten Attacke trafen, die leuchteten auch. Zugegeben, sie leuchteten anders als bei den Hikari; matter, weniger strahlend, wie das Gold alter Münzen… aber die Bewegung war dieselbe. Dieser strikte 90°-Winkel der Hand; den hatte sie auch gestern Nacht oft gesehen. Ob das zum Kampfstil der Wächter gehörte? Green kam diese Handhabung ein wenig unnatürlich und steif vor, aber sie ahmte sie dennoch nach, wobei ihr auffiel, dass Itzumi sie für einen kurzen Augenblick spöttisch belächelte. Jetzt musste sie nur oft genug ausweichen und sich noch nebenbei auf irgendein Licht in ihr konzentrieren – ahahaha… Itzumis goldenes Licht war nicht warm; das spürte Green jedes Mal, wenn sie sie traf. Das Licht der Hikari dagegen war warm; sie hatte es an ihrem eigenen Körper gespürt, als das Glöckchen sich aktiviert hatte, als sie geheilt worden war – sie musste dieses warme Licht finden, irgendwo in ihr war es --- wo bist du nur? Hier. Green erschrak so fürchterlich, dass sie zurückzuckte, womit Itzumis Schlag, den sie auf ihre Brust gerichtet hatte, ins Leere ging, was sie zu verblüffen schien – denn damit war es Green gelungen, drei Attacken nacheinander auszuweichen. Aber die Hikari war zu erschrocken über das plötzliche Gefühl, als sich über ihren kleinen Triumph zu freuen. Was zur Hölle war das denn gewesen? Sie hatte das Gefühl gehabt, als hätte ihr jemand geantwortet; jemand… in ihr. Nicht mit einer Stimme, sondern mit einem erwidernden Gefühl. Einem Handausstrecken. Itzumi musterte ihre sehr erstarrt wirkende Hikari misstrauisch, die Hände immer noch zum Angriff erhoben. Brauchte sie etwa schon eine Pause? Greens Gegenangriff kam ein wenig unerwartet für Itzumi, aber es gelang ihr dennoch, seitlich auszuweichen und sie wollte ihre Hikari schon darauf hinweisen, dass, wenn sie sie schon nachmachte, sie wirklich auf die neunzig Grad achten musste, ansonsten war das nichts Halbes und nichts Ganzes… aber dann sah sie das, was Grey und Ryô auch sahen: viele kleinen Pünktchen wirbelten um Greens Hand herum – und sie… sie leuchteten! „Glühwürmchen!“, rief Green mit freudestrahlendem Gesicht; sie sahen tatsächlich aus wie viele, kleine Glühwürmchen, die Greens Hand umtanzten, als wäre ihre Hand ihr Mittelpunkt. Wie schön es aussah – und diese Wärme, es fühlte sich genauso an wie… Die Wärme war schnell verschwunden, denn Itzumi gönnte ihr den Triumph ganz offensichtlich nicht; sie nutzte den Moment, in dem Green sich ihrer Freude hingab und schlug ihr die Beine weg, womit Green rücklings in das Wasserbecken fiel, das den Hof umgab. „Achtet auf Eure Deckung, Hikari-sama.“         Kapitel 25: Geschwisterliebe ---------------------------- „Grey....Onii-chan.... Ist das hier wirklich nötig?!“ Greens Zähne klapperten in der windigen Kälte, während sie sich bibbernd die Oberarme rieb, um sich ein wenig aufzuwärmen; binnen Sekunden war es dem peitschenden Regen gelungen, sie bis auf die Knochen zu durchweichen. Auch ihr dicker Mantel hatte sie davor nicht schützen können. Im Gegensatz zu der sich beschwerenden Green schien Grey das schlechte Wetter nicht zu stören. Er ging sehr zielstrebig durch dieses Unwetter, welches man mit Recht „Mistwetter“ nennen konnte. Die ganze Zeit hatte Green den Boden der Erde herbeigesehnt, aber jetzt, wo sie ihre schlammigen Stiefel aus dem feuchten Boden beinahe herausziehen musste und sie von Sekunde zu Sekunde nasser wurde, wünschte sie sich schnell wieder zurück in den Tempel. Was taten sie hier überhaupt? Nun, gut, Green wusste, was sie vorhatten, aber warum hatte Grey sich so ein Ort ausgesucht? Hätte er sich nicht einen wärmeren, trockeneren Ort aussuchen können für den theoretischen Unterricht? Hawaii oder so?! Grey blieb plötzlich so abrupt stehen, dass Green gegen ihn prallte, was sie dazu brachte, sich lauthals zu beschweren. Aber darauf achtete Grey nicht: „Green, du weißt, warum wir hier sind?“ Er musste seine Stimme ziemlich anheben, um gegen den peitschenden Wind anzukommen, genau wie Green es tun musste: „Ja, ich verstehe, was wir vorhaben - aber nicht, warum das gerade hier sein muss.“ „Weil hier im Umkreis von 10 Kilometern keine Menschen zugegen sind.“ „Kann ich verstehen!“ Greens Antwort wurde offensichtlich vom Wind verschluckt: „Was hast du gesagt?“ „Nichts!“ Sie gab Grey einen leichten Klaps und bedeutete ihm, dass er anfangen solle – nicht weil sie so erpicht auf den Unterricht war, sondern weil sie ihn schnell hinter sich bringen wollte. Es war nass, kalt, windig und absolut schrecklich. Aber Green verstand schnell, dass es noch einen anderen Grund gab, weshalb Grey diesen Ort ausgesucht hatte, um ihr ein Element im aktiven Einsatz zu zeigen als Teil ihres theoretischen Unterrichts. Der Windwächter bedeutete Green, dass sie ein wenig Abstand von ihm nehmen sollte, ehe er ruhig und mit einem kleinen angedeuteten Lächeln die Augen schloss. Mit Sanftheit hob er die Hand ein wenig in die Höhe, kaum so hoch, dass sie auf Höhe seiner Schulter war. Diese kleine, unscheinbare Geste genügte und schon spürte Green es; der peitschende Wind hielt inne, als hätte die Zeit plötzlich angehalten. Doch Greens nassen Haaren gelang es nur knapp, wieder ruhig auf ihren Platz zurückzufallen, da drehte sich der Wind; nun aber in eine vorgegebene Richtung, dirigiert von einem kleinen Fingerzeig Greys. „Das ist schon wirklich ziemlich cool“, musste Green beeindruckt zugeben, als sie bemerkte, was ihr Bruder gerade mit seinem drehenden Zeigefinger schuf; ein Auge im Sturm. Erstaunt sah sie zu der weit entfernten Öffnung der dunklen Wolkendecke und begrüßte die durchscheinende Sonne mit einem erfreuten Lächeln. „Das ist wirklich wunderschön, Grey, dass du sogar den Regen angehalten hast... – wie machst du das?“ Ein zurückhaltendes Grinsen zeigte sich auf Greys Gesicht, als er sich zu ihr herumdrehte; offensichtlich freuten ihn diese Komplimente sehr, denn Green war sich sicher, dass er nicht sonderlich oft direkt grinste. „Ich habe den Regen nicht angehalten, sondern nur umgelenkt. Das Wetter direkt zu beeinflussen ist das Gebiet der Klimawächter.“ Aber natürlich musste er sie zuerst belehren, natürlich. „Es ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst einmal eine Verbindung aufgebaut hat“, begann Grey, eine elegante Geste mit der Hand machend, woraufhin Green einen warmen Luftzug spürte, der um ihr Gesicht herum wirbelte, ehe er Greens Haare in einer warmen Umarmung anhob und diese aufwärmte, besser und schneller als jeder Föhn. Green staunte nicht schlecht, ihre erwärmten Haare durch die Finger gleiten lassend. „Das wichtigste, das aller, allerwichtigste, Green, ist, dass du dein Element hörst. Man nennt es die „Stimme des Elements“, auch wenn es keine Stimme ist, die in der Lage dazu ist, laut hörbare Worte zu formen. Es ist eine Stimme, die mit unseren Herzen kommuniziert; sie schärft unseren Instinkt und ist mit unseren Gefühlen verbunden. Sie ist eine Art Unterbewusstsein.“ Das hörte sich in Greens Ohren schon ein wenig eigenartig an, aber sie schwieg, ließ Grey fortfahren: „Es ist von Wächter zu Wächter sehr unterschiedlich, wie sich diese Verbindung zeigt; einige  sind in einem so starken Einklang mit ihrem Element, dass sie nie mit diesem kommunizieren müssen; das ist allerdings ein Ausnahmefall... Allgemein ist es für jeden Wächter erstrebenswert, eine erfolgreiche Kommunikation mit seinem Element aufzubauen, um so sein ganzes Potential entfalten zu können. Es ist allerdings schwer, eine solche Verbindung zu „erlernen“, denn die Verbindung ist, wie gesagt, sehr unterschiedlich von Wächter zu Wächter. Innerhalb desselben Elementes gibt es natürlich gemeinsame Nenner, aber jedes Element ist anders und jeder Wächter muss selbst herausfinden, wie er die Verbindung mit seinem Element schmiedet. Das kann ein sehr harter Prozess sein... zugegeben, einige scheitern daran; einige gänzlich, andere teilweise, weil das Element sie nicht als würdig ansieht.“ „Na, da muss ich mir ja keine Sorgen machen! Bei mir hat das heute Morgen doch gut geklappt!“, erwiderte Green mit einem erfreuten Grinsen, was Grey versuchte, mit einem kleinen Lächeln zu erwidern; er war wahrlich erleichtert darüber, dass es Green gelungen war, Licht entstehen zu lassen und noch erleichterter darüber, dass sie ihm erzählt hatte, dass sie das Gefühl gehabt hatte, etwas zu hören. Er hatte sofort erfreut einen Bericht für das Jenseits geschrieben, denn das bedeutete immerhin, dass das Licht sich Green nicht gänzlich verweigerte. Ein gutes Zeichen. Die Tatsache, dass die Zahlen allerdings immer noch eine starke Verunreinigung bezeugten, klammerte Grey zum Wohle seines Optimismus aus. „So, Green, ich werde dir dann auch noch etwas Anderes zeigen; nämlich wie man eine effektive Verbindung mit seinem Element für einen Angriff nutzen kann...“ Gespannt auf das, was sie sehen würde, nickte Green eifrig und beobachtete, wie Grey seinen Hals nach seiner Kette und dem damit verbundenen Anhänger abtastete. Es war derselbe geflügelte Anhänger, über den Green sich schon einmal gewundert hatte und kurz leuchtete auch der juwelenbesetzte Schlüssel für das Tor zum Jenseits auf. Wieder schloss Grey die Augen und erstaunt stellte Green fest, dass der kleine, silberne Flügel, der bis eben noch über seiner ausgestreckten Hand geschwebt hatte, sich nun in Luft auflöste.  Green vernahm einen starken Windstoß, der ihre Haare kurz in die Lüfte hob und der auch Greys Haare herumwirbelte, welcher eine kämpferische Bewegung mit der rechten Hand vollführte, fast als würde er ein Schwert in der Hand halten, doch Green konnte nichts dergleichen erkennen. Er merkte ihren verwirrten Blick und erklärte: „Das ist das „Katanakaze“; eine Klinge, die die Gestalt von Wind annehmen kann, was einen gewissen Vorteil bietet, da meine Gegner es somit nicht sehen können.“ Green nickte verstehend.    „…Ich habe sie von meinem Vater geerbt.“ Sie schaute zu ihrem Bruder, doch die Haare wehten ihm vor sein Gesicht, so dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. „Dann zeig mir mal, was du drauf hast, Onii-chan!“, feuerte Green ihren Bruder an und weckte ihn somit aus seinen traurigen Gedanken. Grey sah sie kurz an und erwiderte dann ihr Lächeln, ehe er wieder ernst wurde. Er drehte sich wieder von ihr weg, bedachte sie mit den Worten, dass sie gut aufpassen solle und holte dann in einer wahrlich sehr geübten Manier mit seinem unsichtbaren Schwert aus, die Beschwörungsformel dabei rufend: „TOUREMENTERUM ELEVERI!“ Die Zerstörungskraft dieser Attacke war wirklich außerordentlich. An sich konnte sie die Attacke nicht sehen, aber spüren konnte sie sie dafür umso deutlicher – und die Schäden, die diese Attacke hinterließ, waren unglaublich: der aufgebrachte Wind, geführt von der unsichtbaren Klinge, hatte den schlammigen Boden förmlich zerrissen; drei tiefe Spalten klafften nun im Boden, deren Länge und Tiefe Green kaum ausmachen konnte. „Boah! Boaaaaaaah! Das ist ja heftig! Das ist wirklich eine verflucht heftige Technik, heftig, ja... wow.“ Der Wind um Grey herum erstarb und Green konnte förmlich spüren, dass das Katanakaze sich auflöste. Ihr Bruder ließ seinen Anhänger wieder unter seinem Oberteil verschwinden und antwortete ein wenig errötet: „Vielen Dank für deine lobenden Worte, Green. Ich denke, jetzt verstehst du auch, warum ich solcherlei Techniken natürlich nicht in unserem Zuhause einsetzen kann.“ Green nickte, denn es war ja logisch, dass er diesen Angriff nicht auf der Insel einsetzen konnte, außer er wollte sie vierteln. „Denn wie Regel 74B besagt: “Sei dir deinen Kräften und Fähigkeiten stehts bewusst und setze sie nur im richtigen Moment ein“...“, zitierte Grey, wurde dann aber von einer grinsenden Green unterbrochen, die ihn plötzlich feixend von der Seite angrinste: „Und du meinst, das war der richtige Moment, huh, Onii-chan?“ Grey schien nicht zu verstehen, worauf Green hinauswollte und musterte sie verwirrt: „A-Aber natürlich denke ich das. Diese Gegend hier ist menschenverlassen, den entstandenen Schaden werde ich natürlich melden und er wird sicherlich noch im Laufe der nächsten Stunden von Naturwächtern behoben werden und...“ „Und der richtige Zeitpunkt war es natürlich auch, nee?“ „Als Teil deines Unterrichts, ja.“ „Natürlich, nur ein Teil meines Unterrichts, klar.“ Ihr Grinsen wurde breiter, als sie sich zu ihm vorlehnte: „Dass du so erpicht auf diesen Spezialunterricht warst, hat nicht zufälliiiig etwas damit zu tun, dass du dich, nachdem ich Onkel Seigi gestern so in den Himmel gelobt habe, ebenfalls beweisen wolltest, weil ich ja obendrein auch noch an deinen Fähigkeiten gezweifelt habe, oooooder?“ Grey lief rot an wie eine Tomate, aber das war nicht der eindeutigste Beweis dafür, dass der sonst so wohlerzogene Grey einfach ein klein wenig hatte angeben wollen, sondern dass das Auge im Sturm sich plötzlich wieder schloss und die beiden Wächter auf einmal wieder im strömenden Regen dastanden. „Grehey!“     Auch noch nachdem die beiden Geschwister wieder im Tempel angekommen waren, entschuldigte Grey sich für sein Missgeschick, auch wenn er die Gelegenheit ebenfalls sofort dafür genutzt hatte, Green die Wichtigkeit der Konzentration nahezubringen. Aber dennoch war es ein Missgeschick gewesen, für das er sich ärgerte, obwohl er Greens Haare sofort wieder getrocknet hatte, sobald sie in der Eingangshalle des Tempels angekommen waren. „Kein Problem, Grey – als Entschädigung wählst du das nächste Mal, wenn du einen Familienausflug planst, einfach den warmen Süden!“, meinte Green, als sie sich eines Großteils ihrer nassen Kleidung ohne jede Scham entledigte und diese achtlos in Itzumis Arme warf. Green nur noch im Unterrock und Korsett zu sehen brachte seine Röte wieder zum Vorschein und mit halbbedeckten Augen reichte er Itzumi seinen nassen Umhang. „Green, du kannst dich doch nicht einfach im Gang entkleiden...“ „Wieso, hier ist doch niemand.“ „Es ziemt sich dennoch nicht.“ „Ist ja auch nicht so, als wäre ich nackt. Ich hab doch noch genug an“, erwiderte Green, Itzumi nun auch ihre Schuhe und Socken zuwerfend, da auch diese durchnässt waren – von ihrem Blick, der sie hätte töten können, nahm sie keine Notiz. Ohne weiter auf die mit Kleidung beladene Itzumi zu achten, meinte Green, dass sie, wenn Grey nichts dagegen einzuwenden hatte, ein Bad nehmen würde, um sich wieder aufzuwärmen. Nach eigener Aussage war sie durchgefroren bis auf die Knochen. „Du bist Kälte gegenüber wirklich sehr empfindlich, Green. Hat das einen besonderen Grund?“ Die Angesprochene sah ihn eine Weile tonlos an und schüttelte dann verneinend den Kopf; es war völlig ausreichend, dass Siberu und Gary es wussten. Grey brauchte es nicht wissen.   Itzumi hatte die beiden gerade verlassen, da kam Ryô auch schon schnellen Schrittes in die Eingangshalle geeilt. Trotz aller Eile verneigte er sich vor Grey; auf Greens magere Bekleidung achtete er nicht, sondern begrüßte sie einfach nur pflichtgemäß und ohne auf ihr Aussehen zu reagieren. „In Eurer Abwesenheit ist Besuch angekommen, Grey-sama. Es ist Besuch aus dem Jenseits.“ Green sah, dass Grey schlagartig die Farbe aus dem Gesicht wich. Er überlegte kurz, dann schickte er Green sofort los, damit sie sich neu einkleiden konnte; ihre Proteste, dass sie ja eigentlich baden wollte, überhörte er strikt, sie darauf hinweisend, dass sie sich bitte in weiß kleiden sollte. Überraschenderweise protestierte seine Schwester nicht und verschwand ohne Widerworte in Richtung ihres Zimmers, welches sie – jedenfalls von der Eingangshalle aus – schon ohne Hilfe finden konnte. „Grey-sama…“, begann Ryô vorsichtig, doch Grey unterbrach ihn: „Ryô, wenn wir alleine sind, weißt du doch, dass du mich ruhig mit meinem Vornamen ansprechen kannst... du weißt doch, dass mir das lieber wäre.“ Der Angesprochene sah seinen Herren kurz an ohne zu blinzeln, bis er eine verräterische Wärme auf seinen Wangen spürte, die ihn sofort dazu brachte, sich eilends zu verbeugen, ehe Grey sie entdeckte. „...Ich freue mich sehr über Euer großzügiges Angebot…. Doch ich muss es weiterhin ablehnen.“ Grey seufzte klagend und um das Thema zu wechseln, fragte er, wer der unerwartete Besucher sei. Auf Ryôs Antwort hin schlug Grey verärgert die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Und der Tag hatte so gut angefangen!“     „Hi, Blacky! Long time not see!“ „“Long time not see“? Also neben der Unkorrektheit dieser Worte ist auch die Aussage falsch, immerhin hast du uns schon gestern mit deiner Anwesenheit... beehrt. Da dachte ich, es wäre ehrenwerter Besuch und dann bist nur du das.“ Grey sah sein Gegenüber mit hochgezogenen Brauen finster an. Seigi hatte frech die Füße auf den Tisch geworfen, wackelte mit dem Stuhl und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Grey machte sich nicht einmal die Mühe, ihn auf seinen Bruch der Etikette aufmerksam zu machen, denn sein gesamtes Gebärden diente ganz offensichtlich der Provokation. „Es tut mir ja so leid, dass ich nicht ehrenwert genug bin für den erhabenen Halbhikari“, antwortete Seigi mit einem fiesen Grinsen. Greys Gesicht verfinsterte sich weiter und seine Frage, was ihn denn schon wieder in den Tempel trieb, war sehr unwirsch. „Hey hey! Der Tempel ist genauso mein Zuhause wie deines, wenn mich da manchmal das Heimweh übermannt, dann ist es jawohl mein gutes Recht, hierher zurückkehren zu dürfen. Nur weil du hier momentan wie ein Einsiedler lebst, gehört dir der Tempel nicht.“ Darauf fiel Grey nicht herein: „Dafür, dass du von Heimweh geplagt bist, warst du in den vergangenen Jahren aber sehr selten zu Besuch – und jetzt ganz plötzlich zwei Mal in Folge? Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen… Was willst du hier?“ Seigi seufzte und verdrehte die Augen, fand sein Grinsen allerdings schnell wieder. „Wurdest du etwa nicht informiert?“ „Informiert? Wegen was?“ Seigis Grinsen wurde breiter. „Verstehe… Man hat es wohl nicht für nötig gehalten, einen Kaze zu informieren…“ Grey war kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren, als Green, begleitet von Itzumi, ins Zimmer kam. Sie trug tatsächlich die neueste Kreation Greys, was ihn sofort von seiner Wut ablenkte – wie hübsch sie aussah! „Das Kleid steht dir wirklich ganz...“ Aber Seigis Stimme übertönte die von Grey mit Leichtigkeit: „Greeny! Die Hauptperson des heutigen Nachmittags! Wegen dir bin ich hier!“ Seine Stiefel rauschten wieder auf den Boden und begrüßend zwinkerte er Green zu, die sofort wieder errötet zu kichern anfing. Grey dagegen warf einen skeptischen Seitenblick zu Seigi: er war wegen Green hier? Das war kein gutes Zeichen, besonders wenn die Hikari gewählt hatten, es Grey nicht mitzuteilen. „Was macht das Training? Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die Sache mit unserem Licht gemeistert hast?“ Grey himmelte mit den Augen angesichts der Respektlosigkeit, mit der Seigi über die Elementbindung sprach, doch kommentierte es nicht. Green dagegen freute sich darüber: „Ja, das stimmt! Endlich!“ „Aber verunreinigt ist das Licht immer noch, huh?“ „Joah, aber man soll es ja auch nicht überstürzen. Es ist ja kein Meister vom Himmel gefallen!“ „“Vom Himmel gefallen“ – was für eine ulkige Redewendung!“ Beide stimmten in ein heiteres Lachen ein, dem sich Grey nicht anschließen konnte. Es war ja nicht zu glauben, wie gut sie sich verstanden! Wenn sie wüsste, was für eine Gefahr von ihm ausging, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, dass er gekommen war, um sie zu sehen... „Also, Blacky, wenn du uns entschuldigst?“, begann Seigi, sich kurz an Grey wendend, ehe er wieder Green fixierte: „Ich möchte gerne alleine mit deiner Schwester sprechen, wenn du und das Personal also bitte gehen würdet?“ Das tat Grey alles andere als gerne; sein Blick war sehr widerspenstig und ungewöhnlich finster; aber da er wusste, dass er sich nicht sträuben konnte, fügte er sich und verließ mit Itzumi und Ryô den Raum, allerdings nicht ohne Seigi mit einem skeptischen Blick zu bedenken. Green verlor keine Zeit und setzte sich sofort grinsend auf das Sofa Seigi gegenüber, ihn im gleichen Atemzug fragend, was er mit ihr besprechen wollte – die Antwort überraschte sie: „Ich wollte mit dir über deine beiden Freunde sprechen.“ Seigi sah sofort, dass Green skeptisch wurde. Zuerst sah sie ihn verwundert an, aber sie wurde schnell misstrauisch – sie hatte offensichtlich aus dem Familientreffen gelernt. „Warum willst du über sie reden?“ „Ach, weißt du… Ich würde einfach gern mehr über die beiden erfahren.“ Immer noch blieb sie argwöhnisch und Seigi fügte hinzu: „Immerhin gibt es nicht gerade viele Dämonen – oder eher Halbdämonen – die... anders sind. Eine Freundschaft mit einer Hikari zu führen ist schon ziemlich ungewöhnlich.“ Green legte den Kopf schief, weiterhin skeptisch und Seigi wartete, bis sie über seine Worte nachgedacht hatte. „Ich bezweifle, dass du deshalb gekommen bist.“ Der Angesprochene seufzte. „Da hast du Recht; hauptsächlich bin ich gekommen, um Grey ein wenig zu ärgern. Eine kleine Abwechslung von meinem öden, toten Alltag, verstehst du? Wenn wir nicht gerade Krieg haben, haben wir nicht so viel zu tun. Ich auf jeden Fall nicht.“ Er lachte unbeschwert, ehe er fortfuhr: „Es gibt ja nicht gerade viele, die so Informationen aus erster Hand haben wie du! Daten und Fakten sagen ja nicht viel über das Wesentliche aus – und wer kann schon behaupten, mit zwei Dämonen befreundet zu sein.“ „Ich dachte, das sei bei euch negativ?“ „Ich finde es jedenfalls interessant.“ Green musterte ihn weiterhin skeptisch, nicht allzu überzeugt, wie es schien. „Ich würde mir einfach gerne ein eigenes Bild von Silver und Blue machen, das ist alles.“    „Sibi und Gary.“ „Hm?“ „Ich nenne sie immer bei ihren menschlichen Decknamen. Das ist so eine Angewohnheit von mir.“ Seigi spürte, dass sie langsam ihre Skepsis fallen ließ und wagte sich ein wenig weiter vor. „Sibi ist der Kleinere, der mit den roten Haaren, und Gary der große Bruder, stimmt´s?“ Green nickte. „Haben die beiden eine gute Beziehung zueinander? Ich meine, gibt es überhaupt so etwas wie Zuneigung unter Dämonen?“ Diese Frage brachte Green zu einem heiteren Grinsen. „Die beiden streiten sich sehr viel; ohne ihre Streitereien können sie gar nicht! Manchmal sind sie auch ziemlich fies zueinander…. Am Anfang hab ich gedacht, dass sie sich hassen würden, aber mit der Zeit ist mir klar geworden, dass die beiden einander brauchen. Sie sind nicht nur ein super Team, sondern auch immer füreinander da, wenn es brenzlig wird und sie vertrauen einander. Auch wenn sie das niemals zugeben würden… Also kann ich von meinem Standpunkt aus sagen, dass es Zuneigung sehr wohl zwischen Dämonen gibt.“ Seigi antwortete nicht, denn er wollte sie nicht unterbrechen. Die junge Hikari hatte ihre Hände gefaltet, stützte ihren Kopf auf diese und schaute verträumt in den Nachmittagshimmel hinter Seigi hinaus. Sie war nicht mehr im Tempel, sondern gänzlich woanders; wie deutlich das zu sehen war! Als Seigi das erste Mal von Green und ihren Freunden gehört hatte, konnte er es nicht glauben. Nie hätte er sich vorstellen können, dass eine Hikari solch eine Bindung zu zwei Dämonen knüpfen konnte. Doch jetzt, wo er diesen Blick sah, dieses Lächeln, teilweise fröhlich, teilweise traurig, glaubte er daran. Wie konnte man nur so leichtgläubig auf die Tricks der Dämonen reinfallen? „Erzähl mir bitte mehr, Greeny“, sagte er leise, doch ein wenig fordernd. Sie horchte auf und sah ihren Verwandten aus den Augenwinkeln heraus an. „Warum?“ „Weil dein Lächeln einfach unbezahlbar ist, wenn du von den beiden sprichst.“ Sie wurde leicht rot und wieder erinnerte Seigi sie mit seinen Schmeicheleien an Siberu. „Weißt du, du ähnelst Sibi. Er ist genauso locker drauf wie du.“ „Ach wirklich?“ „Aber er hat ein wenig mehr Erfolg bei den Frauen, wenn ich an dein Flirten mit Mary denke.“ Seigi grinste leicht dümmlich: „Das ist mehr eine Angewohnheit, als dass es wirklich ernst gemeint ist.“ „Achso, du bist gar nicht in sie verliebt?“ Ein munteres Lachen drang aus Seigis Kehle, als er sofort verneinte. „Wenn ich aus dem Nähkästchen plaudern soll, dann muss ich auch dir ein paar Fragen stellen, Onkel Seigi!“, ergriff Green sofort die Chance und wartete gar nicht darauf, dass ihr Gegenüber antwortete: „Warst du denn jemals verliebt?“ Das Lachen verschwand, Seigi wurde ernster, aber lächeln tat er dennoch immer noch. „Nein.“ War das Traurigkeit, was sich da mit seinem Lächeln vermischte? „Ich bin es immer noch.“ „Immer noch? Ah, also bist du in eine andere Hikari verliebt?“ „In Lights Namen, nein und nochmals nein!“ Erfreut stellte Green fest, dass er wieder zu grinsen begonnen hatte und dass ein Lachen seine Worte begleitete; das schweigsame, traurige Lächeln passte irgendwie nicht zu ihm. „Ich bin in mein Schwert verliebt. Wir sind untrennbar miteinander verbunden.“ Greens Lächeln erfror ein wenig, als sie diese Antwort hörte und sah, wie er das Schwert, das er immer um seine Hüfte trug und das ihr erst gestern bedrohlich nahe gekommen war, hochhob, um es ihr zu zeigen. „Aaah, okay“, erwiderte Green ein wenig verwirrt; sie wusste nicht, was sie sonst zu einer solch eigenartigen Aussage sagen sollte, oder dazu, dass Seigi sein Schwert tatsächlich ungewöhnlich sanft berührte. Ein Themawechsel war wohl angebracht. „Naja, jedenfalls verstehe ich mich sehr gut mit Sibi. Er ist zwar ziemlich aufdringlich und ein kleiner, großer Spanner, aber mit seinem ständigen Aufwirbeln von Problemen sorgt er immer für Spaß.“ Green bemerkte selbst, dass es ihr Freude bereite, über ihn zu sprechen und konnte sich kaum bremsen: „Aber obwohl er immer so cool tut, ist er eigentlich total süß und ich glaube auch ziemlich schutzbedürftig – oh Gott, das habe ich nicht gesagt, das würde er nicht hören wollen... aber ich glaube schon, dass ich da Recht habe. Er will immer gerne cool tun, verstehst du?“ Seigis Englisch war eindeutig zu veraltet, um zu wissen, was sie damit meinte, aber er nickte einfach nur. „Du scheinst den Kleinen ja sehr zu mögen.“ Die Angesprochene nickte schmunzelnd. „Ja, das tue ich. Er hat mein Vertrauen zwar schon mehr als einmal auf die Probe gestellt, aber ich glaube, ich habe verstanden, wie ich ihn zu handhaben habe.“ Seigi sah deutlich, wie sich Greens Lächeln plötzlich veränderte; er sah ihr an, dass sie etwas erkannt hatte, was ihr Herz schon die ganze Zeit gespürt hatte und dass sie diese Erkenntnis freute. Ihre Stimme war sanft und voller Zuversicht, als sie ihre Erkenntnis mit ihm teilte: „Er ist mein bester Freund.“ „Und der andere? Du kannst immerhin nicht zwei beste Freunde haben.“ Ihr Lächeln verschwand; diese Frage hatte sie scheinbar nicht erwartet zu hören: „Uhm, du meinst Gary?“ Er nickte und fragte, als „was“ sie ihn sah. Doch die Hikari war überfragt. „Heißt das, du magst ihn nicht so gerne wie diesen Sibi?“ Hastig schüttelte Green den Kopf. „Nein! Ich ….mag beide gleich gern.“ „Bist du dir sicher?“ Green wich seinem Blick aus, der auf einmal unheimlich durchdringend geworden war. „Vielleicht hast du ja auch… andere Gefühle für ihn?“ „“Andere Gefühle?“ Was denn für „andere Gefühle?“ Gary ist einfach... Gary.“ „Naja, Gary siehst du vielleicht nicht als Freund, sondern als Bruder oder Lehrer, Vertrauter…. oder…“ Seigi lehnte sich über den Tisch, stützte sein Kinn mit einer Hand ab und sah Green direkt in die Augen, als er fortfuhr: „Oder ist er womöglich dein Geliebter?“ Auch wenn Green schon irgendwie auf diese Frage und die damit verbundene Wortwahl vorbereitet war, lief sie rot an, was ihren Verwandten zu einem heiteren Lachen brachte. „Onkel Seigi, hör auf zu lachen! Das ist nicht witzig! Ich bin nicht in Gary verliebt. Auf jeden Fall nicht auf diese Art - ich liebe sie beide wie meine Familie! Nicht als…“ „Jaja schon gut, Greeny! Kein Grund, gleich so in Panik auszubrechen!“ Munter klatschte er ihr auf die Schulter und meinte daraufhin, dass er deren Gespräch an diesem Punkt wohl beenden müsse; sein Zopf war kaum noch vorhanden. Immer noch grinsend richtete er sich auf, was Green ihm gleich tat, immer noch ein wenig errötet, was sie zu stören schien, denn sie schlug sich mit den flachen Handflächen auf die Wangen, als könnte sie die Röte somit vertreiben.  „Also, Greeny...“ Er öffnete die Tür und schon konnte Green ihren Bruder sehen, der scheinbar die ganze Zeit über vor der Tür gewartet hatte. Ob er gelauscht hatte? Nein, das traute sie ihm nicht zu, obendrein waren die Wände des Tempels ziemlich dick. Sie hatte es schon getestet. „... ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und Spaß beim Training! Möge das Licht auf dich herabscheinen – und so!“  „Warte noch, Onkel Seigi!“ Der Angesprochene hatte schon sein obligatorisches Blickeduell mit Grey begonnen und sah nun verwundert aus eben diesem herausgerissen über die Schulter hinweg zurück zu ihr: „Ja?“ „Das muss unter uns bleiben, versprochen?“ Seigi grinste, das gleiche Grinsen, welches Siberu so ähnelte. „Aber selbstverständlich!“        Grey geleitete Seigi zurück ins Jenseits, denn er hatte sowieso vor, mit seiner Mutter zu sprechen; er wollte ihr persönlich von Green und ihren Fortschritten erzählen, anstatt dass sie es durch die sehr kurz gehaltenen Berichte seinerseits erfahren musste. Während die beiden Streithikari das Labyrinth des Jenseits‘ bestritten, warf Grey Seigi immer wieder skeptische Blicke zu. Doch sie hatten kein einziges Wort gesprochen; Seigi wollte ihm nichts von seinem Gespräch mit Green erzählen und offensichtlich genoss er die Neugierde Greys, die nur er stillen konnte – was er genau aus diesem Grund nicht tat. Erst als Grey bemerkte, dass Seigi auf Shaginais Büro zusteuerte, sprach er ihn an: „Wieso willst du denn zu Großvater?“ „Das wirst du schon sehen, Blackylein – nicht so ungeduldig!“ Als sie das Zimmer betraten war Grey überrascht, auch seine Mutter anwesend zu sehen. White hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und stand mit dem Rücken zu ihrem Vater, der an seinem Schreibtisch saß und – zu Greys Verwunderung – erfreut aufsah, als die beiden Hikari eintraten. „Mission erfolgreich ausgeführt, Shaginai-sama!“ „Das freut mich zu hören.“ „“Mission“? Könnte womöglich jemand die Güte haben…“ Dann ging Grey ein Licht auf und er verstand, weshalb Seigi gekommen war; er hatte irgendwelche Informationen beschaffen müssen... aber warum hatte man das ihm aufgetragen und nicht Grey? Fassungslos sah Grey stumm zu, wie Seigi das kleine Gerät aus seinem Haar entfernte und es auf dem Schreibtisch ablegte. „Es diente also als ein Aufnahmegerät“, brachte Grey angesichts Seigis grinsender Unverfrorenheit über die Lippen. Auch jetzt sah er mit einem feixenden Grinsen über die Schulter: „Auch! Aber hauptsächlich misst es meine Gewaltbereitschaft, zwei in einem! Ein Wunder unserer Technik, was?“ Der Angesprochene antwortete nicht und wandte sich fast schon angewidert ab, kurz den ernsten Blick seiner Mutter streifend. Als er Greens Stimme jedoch hörte, drehte er sich wieder herum und sah jetzt auch ihr verträumtes Gesicht als Hologramm über Shaginais Schreibtisch aufflackern. Bei den liebevollen Worten, die er nun hörte, musste er unwillkürlich schlucken. White sah auch hin, ließ sich allerdings nichts von den aufkommenden Gefühlen anmerken, im Gegensatz zu Shaginai, der fast schon amüsiert über die Aufzeichnung war. „Na, da haben wir ja zwei großartige Schauspieler.“ „Und ein überaus naives Mädchen, möchte ich hinzufügen!“, kommentierte Seigi, ehe White sich einmischte: „Vater, dafür kannst du Green nicht verurteilen. Sie trifft keine Schuld.“ Shaginai drehte sich zu seiner Tochter herum und machte eine abweisende Geste mit der Hand. „Keine Sorge, White, das tue ich auch nicht. Aber ich hoffe, du stimmst mir endlich zu, dass die beiden Halbdämonen eine Gefahr ausmachen, die wir nicht unterschätzen dürfen.“ White gelang es nicht zu antworten, denn Grey platzte ins Gespräch, allerdings richtete er sich an Seigi: „Soll das heißen, du hast Green die ganze Zeit ausgefragt und ihr Vertrauen erschlichen, nur um an diese Aufzeichnung ranzukommen?! Hast du denn als Hikari überhaupt kein Gewissen?! Wie kannst du Green so gewissenlos ins Gesicht lügen, ihr sogar versprechen, dass du niemandem etwas davon erzählen wirst?! Wie kannst du es wagen…“ Doch Grey kam nicht weiter, denn Shaginai legte seine Hand auf die Schulter seines Enkels, nachdem er sich aufgerichtet hatte. „Es reicht, Grey. Seigi hat nichts getan, wofür du ihn verurteilen könntest. Er hat lediglich ein paar Informationen für unsere Familie besorgt. Ich hätte die Aufgabe auch dir übertragen können.“ Grey wich dem Blick seines Großvaters aus. „Aber ich wusste schon, warum ich es nicht getan habe. Du bist zu sehr von deinen Gefühlen verwirrt. Auch wenn deine Sinnesempfindungen nachvollziehbar sind, sollte dir endlich klar werden, wo du stehst und wo deine missratene Schwester steht. Ein Sonderregelfall wie sie hat es nicht verdient, dass du solch starke, geschwisterliche Gefühle für sie empfindest. Es ist nur eine Hinderung.“ Grey sah seinen Großvater wie gelähmt an und hatte Schwierigkeiten, sich aus seinem Griff zu befreien. Mit einem gestammelten „Entschuldigt mich“ verließ er den Raum, gefolgt von den Blicken seiner Verwandten. „Ich hatte geahnt, dass Grey zu feinfühlig ist, um sich Yogosu anzunehmen.“ Seigi lachte hohl: „Nun, Shaginai-sama, er ist eben kein Hikari.“       Nur ein paar Minuten später verließ auch Seigi Shaginais Büro, nur dass seine Laune wesentlich besser war als die von Grey; er freute sich diebisch über die Reaktion Greys und dass man scheinbar nun endlich zu verstehen begann, dass Grey eben doch kein so perfekter Hikari war – dass er, genauer gesagt, nämlich gar kein Hikari war, so wie er sein privates Wohl über das Wohl des Wächtertums stellte. Seigi wollte sich gerade selbst loben, als er plötzlich stehen blieb; hastig ging er rückwärts, verbarg sich hinter einer Ecke und spähte vorsichtig um diese. Sein Verdacht war richtig; dort stand Grey, erschöpft und erschlagen stützte er sich mit der Faust an der weißen Wand ab, den anderen Ellenbogen an sein Gesicht gehoben – weinte er etwa? Er war wirklich kein Hikari...   Seigi wollte zuerst schadenfroh grinsend auf ihn zugehen und sich über ihn lustig machen, doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder, wurde ernster, das Grinsen verschwand. „…Green, wieso ausgerechnet du…?! … Warum musst gerade du…zum Tode verdammt sein…“ Da erst überkam Seigi plötzlich unaufgefordert und ungewünscht das schlechte Gewissen und als wäre dieses Gefühl nicht schon schlimm genug, vermischten sich längst vergangene Erinnerungen mit diesem; Erinnerungen an seine eigene, längst vergangene und verblasste Lebenszeit, seine Familie, seine kleine Schwester. Es gelang ihm eigentlich gut, nicht an sie zu denken, alle Schuld von sich zu schieben, alles zu verdrängen, so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Er ignorierte ihren Tod jetzt, so wie er früher ihre Gefühle hatte übersehen wollen. Ihre Gefühle für ihn. Ein Unfall. Diese zarten Gefühle und alles, was darauf folgte – ein großer Unfall. Verkettung unglückseliger Umstände, an die Seigi nicht denken wollte, die es nicht gab. Es gab sie nicht. Es gab sie nicht. Seigi atmete tief durch; eine Angewohnheit, die man auch im Tod nicht ablegen konnte, verdrängte alles und kam dann aus seinem Versteck hervor, auf Grey zugehend. Sein Grinsen fand er allerdings dennoch nicht wieder. Als Grey aufsah, bemühte er sich nicht, seine Abneigung für ihn zurückzuhalten; hasserfüllter denn je sah er ihn an.  „Wie konntest du es nur tun…“ „Ach, Blacky, nimm es dir doch nicht so zu Herzen! Das war einfach nur ein Auftrag und wie Shaginai-sama schon sagte hättest du ihn auch übernehmen können – aber nein, du bist ja zu sehr in deine Schwester vernarrt. So sehr, dass du sogar deine Pflichten als Halbhikari nicht voll und ganz erfüllen kannst!“ „Darum geht es mir nicht! Es ist mir egal, ob du den Auftrag bekommen hast. Die Tatsache, dass du Green angelogen hast…. Ist dir nicht klar, wie gern sie dich hat?! Gerade du, der es als Hikari auch nicht immer leicht hatte, müsste sie doch verstehen! Aber nein, du sorgst lieber dafür, dass sie einen weiteren Schritt Richtung… des sicheren Todes geht…“ Diese Vorstellung erschlug Grey ein weiteres Mal und bedrückt sah er zur Seite, worauf Seigi allerdings keine Rücksicht nahm: „Deine Schwester interessiert mich nicht im Geringsten. Alle Dämonen müssen vernichtet werden, deshalb kann ich ihre Gedankengänge auch in keiner Weise nachvollziehen. Ich bin da voll und ganz auf Shaginais Seite, verstehst du? Deshalb kann ich dich auch nicht verstehen. Klar, sie ist deine Schwester, aber so lange kennst du sie noch gar nicht – müsste das Wächtertum dir nicht wichtiger sein als eine Person, die du gar nicht kennst? Obendrein scheint deine Sympathie ziemlich einseitig zu sein, wenn sie mir mehr vertraut als dir. Du hast die Aufzeichnung ja auch gehört, hast ja gehört, wie sie von den beiden schwärmt – tut sie das auch über dich? Sie sieht sie sogar als ihre Familie an, als wären sie ihre Brüder. Sie liebt die beiden mehr als dich und das obwohl du ihr leiblicher Bruder bist! Meinst du nicht auch, dass der Aufstand, den du hier machst, sich überhaupt nicht lohnt?“ Getroffen sah Grey immer noch Richtung Boden, nachdem Seigi seine kleine Rede beendet hatte, sich selbst auf die Schulter klopfend, immerhin war er eigentlich nicht der große Redner. Aber irgendwie... konnte er sich nicht so recht über den Erfolg freuen.   „… Es ist egal, wie lange ich Green schon richtig kenne.“ Grey sah auf, traf Seigis Blick und hielt ihn mit entschlossener Aufrichtigkeit in den hellblauen Augen: „... Es ist mir egal, wie unrein sie ist. Es ist mir auch egal, wie gut sie sich mit diesen Halblingen versteht. Ich verlange auch nicht von heute auf morgen, dass sie mich als ihren großen Bruder akzeptiert... ich weiß, dass ich riskiere, dass sie mich hassen wird! Aber alle Umstände haben keinen Einfluss darauf, dass sie meine Schwester ist und dass ich sie mit allen Mitteln beschützen werde, ganz egal, was ich dafür opfern muss!“ Seigi seufzte, ein wenig ironisch in sich hinein grinsend: „Ich merke schon, es bringt nichts, mit dir zu debattieren.“ Ohne es zu wissen war Greys Antwort auf diese Frage genau der richtige Angriff, um Seigis ohnehin schon wankendes Selbstbewusstsein gänzlich zu zerschlagen: „Wie solltest du mich auch verstehen? Du kannst meine Gefühle unmöglich nachvollziehen, denn du musstest bei deiner Schwester nicht tatenlos mitansehen, wie sie ihrem sicheren Tod entgegengeht!“ Nur sehr knapp gelang es Grey, Seigis Faust zu entgehen, indem er den Kopf schnell zur Seite riss. „Du hast überhaupt keine Ahnung!“ Seigi wollte es nicht aussprechen; er hatte sich geschworen, dass das alles in sein längst vergangenes Leben gehört und dass es alles jetzt keine Rolle mehr spielte; Vergangenheit war Vergangenheit! „Meine Schwester wurde ermordet, ohne, dass mir überhaupt die Gelegenheit gegeben wurde, sie beschützen zu können! Ermordet von einem verdammten Dämon, kurz bevor sie ihr Kind zur Welt bringen konnte!“ Noch mehr wütende, verzweifelte Worte drohten hervorzubrechen, aber Seigi konnte sich gerade noch zusammenreißen – er hatte schon zu viel von dem Verschlossenen gesagt. Immer noch wutentbrannt, mit neuen, unerwünschten Erinnerungen vor seinem geistigen Auge, ließ Seigi Grey an der Wand stehen, doch Grey hielt ihn davon ab, um die Ecke zu biegen: „…Das tut mir leid. Dessen war ich mir nicht bewusst.“ Seigi blieb stehen, drehte sich allerdings nicht um und anstatt seine Entschuldigung anzunehmen, konterte er: „Nein, ich war dir als Hikari wohl nicht wichtig genug, als dass du all deine Hausaufgaben gemacht hättest.“ Ohne die Antwort von Grey abzuwarten, ging Seigi mit schnellen Schritten in sein eigenes Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er riss sich seinen Umhang von den Schultern, schmiss diesen achtlos in eine Ecke des unordentlichen Raumes und ließ sich, von seiner eigenen Wut erschlagen, inmitten des Chaos von Dokumenten, Büchern – alles, was er nie gelesen hatte und nur zur Zierde sein Zimmer verwüstete –  auf dem Boden nieder. „Du könntest etwas sagen. Irgendetwas. Egal was! Einfach irgendetwas!“ Aber das Schwert, das Seigi mit seinen flehenden Augen bedachte, blieb stumm.   Kapitel 26: Das Schwert des Tausendtöters -----------------------------------------     1560 – Hikari-Regime Hikari Seijitsu Shoujiki Safiya       Der spitze Schrei eines Mädchens schallte durch die Gänge des Tempels und selbst viele Gänge weiter wussten die anwesenden Wächter somit, was der Grund für diesen Schrei war und obwohl er ziemlich entsetzt klang, setzten alle ihre Arbeit wie gewohnt fort. Denn sie wussten, es gab keinen Grund zur Beunruhigung; Seigi war von seiner Mission zurückgekehrt.   Schon damals war Seigi für sein auffälliges Grinsen bekannt, welches auch jetzt auf seinem Gesicht zu erkennen war, seine kleine Schwester Safiya aber nicht beruhigen konnte. Ganz gleich seiner guten Laune war sie absolut entsetzt von dem Auftritt ihres großen Bruders, von seiner zerrissenen Uniform, dem vielen auf ihm haftenden, sich bereits in seiner Kleidung festgesaugten Blut, und offenen Wunden, die er scheinbar komplett ignorierte. Aber Safiya konnte es nicht ignorieren; die momentane Regime-Führerin war keine Person, die irgendetwas ignorierte. Obwohl sie sich immer selbst befahl, ruhig zu bleiben, sich an die für Hikari typische Aura der Ruhe zu halten, war sie dennoch eine Person, die sehr leicht von ihren Gefühlen übermannt wurde; eine Person, die leicht zu reizen war, weshalb Seigi es umso lieber tat. Seigi hatte gerade die Eingangshalle verlassen und Safiya war ihm, froh ihren Bruder wieder zu sehen, entgegen gerannt, um ihn nach seiner Abwesenheit zu begrüßen – jetzt hatte sie sich allerdings angewidert von ihm abgewandt. Sie konnte es einfach nicht ertragen, Blut zu sehen. „Was hast du denn, Safi? Bekomme ich keine Umarmung als Begrüßung?“ „Tu nicht so unschuldig, Seigi! Ich weiß genau, warum du deine Verletzungen nicht geheilt hast, ehe du den Tempel betreten hast…?!“ Das in weiß gekleidete Mädchen schielte über die Schulter, fixierte seine Füße, die blutige Flecken auf dem weißen Marmor hinterließen: „Mit deinem Blut machst du hier alles dreckig!“     „Mit meinem Blut?“ Seigi blickte unschuldig an sich herunter: „Aber, Safi, das ist doch nicht mein Blut – das ist Dämonenblut!“ „Das ist ja noch schöner!“ Safiya unterdrückte ein aufgebrachtes Gestikulieren mit den Händen, sich an ihre gute Erziehung erinnernd; sie musste sich zusammenreißen und sich nicht von ihrem Bruder provozieren lassen – das war es doch, was er wollte. Das war genau das, was er wollte!   „Zieh dich aus, sofort!“, fuhr sie mit Nachdruck fort, immer noch versuchend, die Ruhe zu bewahren, doch Seigi wusste schon, welche Geschütze er auffahren musste, um seine kleine Schwester aus der Fassung zu bringen. Voller Vorfreude auf ihre Reaktion wurde sein Grinsen noch breiter und mit verschränkten Armen blickte er sie neckisch an: „Ich soll mich mitten auf dem Gang ausziehen? Ouuuu….Safi! Ich wusste ja schon immer, dass auch du etwas Verwegenheit in dir hast!“ Genau wie von Seigi vorausgesehen folgte ihre Reaktion sofort; sie lief so rot an, dass Seigi glaubte, dass sich sogar ihre weißen Haare rot färbten. Mit Ohren rot wie Erdbeeren rief sie aufgebracht: „Seigi, darf ich dich daran erinnern, dass ich verlobt UND schwanger bin!? Ein wenig Rücksicht und Umsicht wären angebracht!“ Immer noch grinsend antwortete ihr Bruder achselzuckend: „Wieso, dein Herr Verlobter hat doch schon längst ins Gras gebissen.“ Safiya war die Taktlosigkeit ihres Bruders bereits gewohnt, weshalb sie angesichts dieser harten Worte relativ ruhig blieb, nur die Röte verschwand langsam von ihrem Gesicht: „Du hast wirklich überhaupt kein Feingefühl, Hikari Meiyo Hikaru Seigi. Du wirst niemals wissen, wie es ist, verliebt zu sein.“ Seigi sah sie verwundert an. „Doch doch! Ich weiß, wie es ist, verliebt zu sein; das kannst du mir ruhig glauben, Safi.“ „Du sprichst wohl von dir und deinem Schwert…“, bemerkte Safiya säuerlich. „Genau! Du hast es erraten.“ Während er dies sagte, tätschelte er lobend die Haare seiner kleinen Schwester, die seine Hand allerdings hastig beiseite schlug und das Blut, das sich dabei auf ihre eigene Hand übertragen hatte, wischte sie ebenso eilends angewidert mit einem Taschentuch ab. „Hör endlich auf hier herumzualbern und zieh dich um! Mutter kommt heute zu Besuch, da kannst du doch so nicht aussehen! Und wenn du damit fertig bist, könntest du dein Zimmer mal in Ordnung bringen. Es sieht nämlich aus, als hättest du Dämonen eingeladen!“ Seigi verschränkte lässig die Hände hinter seinem Kopf und verdrehte die Augen Richtung Decke. „Wozu hab ich denn eine Tempelwächterin? Dann langweilt die sich wenigstens nicht!“ „Sie ist nicht deine Sklavin, vergiss das bitte nicht.“ „Ich weiß wirklich nicht, wo da der große Unterschied ist!“ „So wie du sie behandelst, ist da wirklich kein großer Unterschied…“ Seigi erwiderte gelangweilt von diesem Thema, dass seine Tempelwächterin dann doch wenigstens etwas zu tun hätte und entledigte sich seines Umhangs, den er sich über den angewinkelten Arm hängte. Mit einem Grinsen erklärte Seigi seiner Schwester, dass er sich erstmal waschen würde, damit sie nicht noch mehr Schreikrämpfe bekäme. Er löste sein treues Schwert aus dessen Halterung, behielt es allerdings in der Hand. „Ach, Safi…“ „Was?“ „…Ich brauche nur noch 115.“ Safiya drehte sich zu ihrem Bruder um, doch er sah nur auf die Klinge seines Schwertes und verschwand kurz darauf um die Ecke, in Richtung eines der Bäder. Safiya blieb kurz stehen und schaute ihm nachdenklich hinterher, dann wandte sie sich seufzend ab und ging in die Richtung ihres eigenen Zimmers.  Seigi brauchte also nur noch 115 – dann hatte er den Rekord gebrochen und würde in die Geschichte der Wächter eingehen… als der, der die meisten Dämonen getötet hatte. In innerhalb von nur acht Jahren war er so weit gekommen. Er war jetzt neunzehn und mit elf Jahren hatte er sich das Ziel gesetzt, dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonen zu eliminieren. Die meisten dachten, er wollte dieses Ziel erreichen, weil er es liebte zu kämpfen. Teilweise lagen sie mit dieser Annahme auch richtig; aber Safiya wusste, dass da auch andere Gründe mitmischten. Seigi hatte seit seiner Geburt keine besonders starke Lichtmagie gehabt; er war nicht einmal in der Lage, seine eigenen Verletzungen zu heilen. Deshalb hatte er sich auf die Schwertkunst spezialisiert, denn das war etwas, was er trotz seines Mangels an Lichtmagie konnte. Mehr als dies – er und sein Schwert bildeten eine unschlagbare Einheit. Er hatte es geschafft, auch ohne Lichtmagie zu einem Schrecken der Dämonen zu werden. Doch Seigi hatte schon immer eine leicht brutale Seite, die von seinen Vorfahren nicht gerade gerne gesehen wurde. Besonders wegen seines Strebens nach dem ersehnten Rekordbruch wurde er zunehmend brutaler und rücksichtsloser; die Kämpfe hinterließen ihre Spuren, genau wie das Blut. Egal, wie oft er sich seine Hände waschen würde, kein Wasser könnte diese Spuren jemals wieder rein waschen. Es war Ironie des Schicksals… Seigi hatte mit dem Ganzen nur angefangen, um sich vor seiner Familie beweisen zu können und umso mehr Dämonen er tötete, umso mehr wurde er von ihnen verachtet… Obwohl Safiya versuchte, die Ohren zu verschließen und sich so gut es ging davon abzuschotten, hatte sie schon öfter Gerüchte über ihren Bruder gehört; Gerüchte, dass er bald selbst zu einem Dämon werden würde und sogar Menschen angriff, um seine angeblich „unermessliche Blutsucht“ zu stillen, die sogar unter Dämonen ihresgleichen suche. Diese Gerüchte schmerzten Safiya. Ihr Bruder war nicht so schlecht, wie alle ihn hinstellten. Seigi war weit entfernt davon, ein Dämon zu sein…  Das unter ihrem Herzen ruhende Kind trat heftig, als ob es seine Mutter von ihren Gedanken ablenken wollte. Safiya lächelte traurig und strich sich über den runden Kinderbauch, während sie in die Sonne sah.     Seigi hielt sich nicht lange in seinem Zuhause auf; kaum eine halbe Stunde, nachdem er gewaschen und angezogen war, kam wieder eine neue Dämonenmeldung und schon war er weg; ohne an das Treffen mit seiner Mutter zu denken oder sich überhaupt für seine Abwesenheit zu entschuldigen. Safiya konnte nicht gerade behaupten, dass ihr dies gefiel und während ihre Mutter sich einfach nur besorgt zeigte, spürte sie während dem Teetrinken wieder die Wut in ihr hochkommen. Sie freute sich wirklich schon darauf, wenn er endlich seine letzten 115 Dämonen getötet hatte und hoffte, dass er es dann alles ein wenig ruhiger angehen würde – sie hoffte es, aber glauben tat sie es nicht immer. Dazu kam, dass er sich jedes Mal weigerte, einen seiner Wächter mitzunehmen, womit er immer wieder alleine loszog –  sie könnten ihm immerhin einen seiner Dämonen wegnehmen! Und das ging ja nicht, natürlich nicht.  Doch dieses Mal musste Seigi zugeben, dass er die heilende Hand seiner Schwester gut hätte gebrauchen können. Wie immer war er mit Blut besudelt, aber diesmal war es nicht nur Dämonenblut, sondern auch sein eigenes. Einer der Dämonen, welcher jetzt natürlich schon nichts mehr außer Funken war, hatte es geschafft, seine linke Schulter in Mitleidenschaft zu ziehen – er spürte seine Finger nicht mehr und es blutete stark von seiner Schulter; ob die Nerven beschädigt waren? Er hätte im Unterricht besser aufpassen sollen, als sie die Anatomie des Wächterkörpers durchgenommen hatten, aber Seigi hatte sich wie immer mehr für die Dämonen interessiert… und war der rechte Arm gebrochen? Seine linke Schulter wollte nicht aufhören zu bluten und seine verdammte Heilmagie sah mal wieder lieber dabei zu, wie er immer mehr Blut verlor, als die Wunde zu heilen. Seigi musste sich beeilen und sich schnell von Safiya heilen lassen. Aber zuvor musste er noch die erledigten Dämonen zählen! „Eins… zwei… drei… vier…“ Verdammt. Es tanzten schon schwarze Punkte vor seinen Augen, aber er musste es noch schaffen, sie zu zählen; er hatte schon welche verpasst, weil sie sich aufgelöst hatten, das passierte immer zu schnell... Mit letzter Kraft kam Seigi auf sieben. Doch das Teleportieren gelang ihm nicht mehr, nicht einmal das Schwert konnte er zurück in die Scheide schieben, bevor er das Bewusstsein verlor und rücklings in ein Flussbett fiel.     Der Tag zeigte sich in seiner altbekannten Farbe – grau in grau. Ein einziger Blick in den Himmel genügte und man wusste, dass es bald anfangen würde zu regnen; dennoch ließ ein kleines Menschenmädchen sich nicht davon abhalten, mit etwas unsicheren, nackten Füßen einen kleinen, dünnen Pfad herunter zu gehen, der sie geradewegs zum Fluss führte. Das kleine Mädchen namens Elisabeth hatte sich vorgenommen, an diesem Tag ihr einziges Kleid – und auch das einzige Kleidungsstück, welches sie besaß – im reinen Wasser des Flusses zu waschen, noch ehe der nächste Regenschauer über sie hereinbrach. Zum Glück lag der Fluss nicht weit entfernt von der kleinen Hütte, in der das Mädchen lebte. Natürlich könnte sie auch wie die anderen hier lebenden Menschen im nächstgelegenen Dorf hausen, aber sie zog es vor, alleine zu leben... sie war etwas in sich gekehrt, verträumt, in ihrer eigenen Welt lebend, wie ihre Mutter es ihr gesagt hatte. Allerdings hatte sie es dieser kleinen Macke zu verdanken, dass die Dorfbewohner sie mieden, was das Mädchen zu spüren bekam, wenn sie den Markt des Dorfes aufsuchte. Zwar hatte sie selbst einen kleinen Garten, doch einiges musste sie doch mit ihrem wenigen Geld auf dem Markt erwerben. Ihre verstorbene Mutter hatte ihr die Gartenarbeit beigebracht, mit der sie auch hatte Medizin herstellen können – ein Talent, welches ihre Tochter leider nur teilweise gelernt hatte. Sie war schon sehr stolz auf sich und auch erleichtert, dass sie es bis jetzt überlebt hatte… Die Gabe, förmlich aus Nichts etwas Essbares zu machen, war nicht das Einzige, was sie an ihrer Mutter vermisste. Vor allen Dingen vermisste sie das Lächeln ihrer Mutter, ihre lebendige, fröhliche Art, die Elisabeths Leben mit einer unvergleichlichen Wärme gefüllt hatte. Ihr Leben erschien ihr so trostlos ohne ihre Mutter… alleine zu sein war...nicht angenehm... und mit jedem verstreichenden Tag, an dem Elisabeth gemieden wurde und nach der Arbeit in ihrem Garten in eine kalte, leere Hütte zurückkehrte, in der niemand auf sie wartete, fragte sie sich, ob sie sich jemals daran gewöhnen könnte. Müde und mit knurrendem Magen stapfte das Mädchen in das kühle Wasser, bis es ihr zu den Knien ging und begann, ihr Kleid so gut es ging rein zu waschen. Doch ihre Wascharbeit wurde jäh unterbrochen, als etwas Metallenes gegen ihren Rücken stieß. Sie ließ den Stoff ihres Kleides los, drehte sich um - und staunte nicht schlecht: im Wasser treibend erblickte sie ein reich verziertes Schwert. Ohne lange zu überlegen beugte sie sich herunter und fischte das Schwert aus dem Wasser, um es gegen das Licht zu halten. Die Steine, mit denen es geschmückt war, sahen sehr wertvoll aus, sie könnte sie vielleicht gegen Münzen eintauschen und sich etwas zu essen kaufen… Doch während sie das Schwert senkte, fiel ihr etwas ganz anderes auf und sie fing an zu rennen, das Schwert an sich drückend. Dieser Tag wurde wirklich immer merkwürdiger; keine zehn Meter von ihr entfernt, am Ufer des Flusses, halb verborgen vom Schilf, lag ein junger Mann. Das Schwert wurde erst einmal zur Seite gelegt, denn sie kniete sich nieder, sobald sie zu ihm gelangt war, um ihn sich genauer zu beschauen. Seine kurzen, zotteligen Haare waren vom Wasser getränkt; Haare, die eine ungewöhnliche, silberne Farbe besaßen… wenn die Sonne kurz durch die graue Wolkendecke hervorbrach und auf den Regungslosen herunter schien, kam es ihr fast so vor, als wären die Haare… weiß. Weiß wie frisch gefallener Schnee. Eine Narbe erstreckte sich über seine rechte Wange und ebenfalls am rechten Ohr besaß er einen auffällig verzierten Ohrring. Die Kleidung, die er trug, war ebenso ungewöhnlich; zwar war sie von dunklem Blut befleckt, doch die weiße Farbe und die Art, wie seine Uniform geschneidert war, weckten bei ihr den Anschein, dass er von adeliger Abstammung war. An seiner Hüfte entdeckte sie eine leere Schwertscheide – also gehörte das Schwert ihm? Doch… war er tot? Die Wunde an seiner Schulter sah ernst aus… es erschien ihr sogar so, als würde sie immer noch bluten und sein rechter Arm stach merkwürdig ab. Langsam, mit zitternder Hand, näherte das Mädchen sich seinem Herzen, um sich zu vergewissern, dass vor ihr keine Leiche lag... und dass es in Ordnung war, das Schwert mitzunehmen, dass es kein Unding war, es gegen Essbares einzutauschen… und schrie vor Schreck fast auf, denn mit seiner gesunden Hand hatte der eigenartige Fremde hart ihr mageres Handgelenk ergriffen und packte es so fest, als wolle er es brechen. Diesen Schmerz registrierte Elisabeth in diesen Augenblick gar nicht, denn sie war von seinen Augen in den Bann gezogen; Augen, die sie feindselig fixierten. Eigentlich hätte ihr erster Impuls sein müssen sich loszureißen, aber das tat sie nicht. Im Gegenteil: Beinahe fasziniert starrte sie in seine Augen.  Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch helle und klare Augen gesehen. Zuerst dachte Elisabeth, dass sie weiß wären, doch dann sah sie, dass sie minzgrün waren. Das Mädchen bemerkte nicht einmal, dass er sich unter Schmerzen aufrichtete. Erst als der junge Mann etwas sagte, wurde sie aus ihren Gedanken geweckt. Was er gesagt hatte verstand sie allerdings nicht, denn die von ihm angewandte Sprache war ihr fremd.   Er hatte das Schwert entdeckt und mit einer hektischen Bewegung griff er danach, was sein Körper ihm nicht gerade dankte: krampfartig zuckte er zusammen. Elisabeth wollte ihm gerade helfen, doch bevor sie ihn überhaupt berühren konnte, stieß er sie unsanft von sich weg, begleitet von wüst klingenden Worten. Er brachte den Satz jedoch nicht zu Ende, denn er stürzte vorher wieder ohnmächtig zurück ins Wasser.  Elisabeth zögerte kurz, doch dann richtete sie sich auf unsicheren Füßen auf und blickte auf diesen eigenartigen Fremden herab. Wenn sie ihm nicht half, würde dieser merkwürdige Mann mit diesen klaren Augen vielleicht sterben.     Noch bevor Seigi seine Augen wieder öffnete, verfluchte er seine Lichtmagie. Ganz ohne Zweifel waren seine Verletzungen noch nicht geheilt und seinen rechten Arm konnte er noch immer nicht bewegen. Dazu stieg ihm ein recht unangenehmer Geruch nach Kräutern in die Nase, was seine Stimmung nicht gerade anregte.  Langsam und widerstrebend öffnete er die Augen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, in dem er gestrandet war. Seigi musste in einer kleinen Holzhütte oder etwas Ähnlichem sein; der Raum war nicht sonderlich groß, nur ein kleines Rechteck mit einer einzigen Tür. An die Wand gelehnt und aufgehängt entdeckte er mehrere Körbe und Krüge, gefüllt mit Kräutern und Wasser. Doch er verzichtete darauf, sich weiter umzusehen, denn nun wo seine Sinne langsam wiederkehrten bemerkte der Schwertkämpfer,  dass jemand ihn anstarrte und langsam wandte er den Kopf nach links. Trotz Schmerzen und Verletzungen war er sofort bereit, die Person anzugreifen, doch als er sich umdrehte, verflog seine Alarmbereitschaft wieder, denn diejenige, die ihn anstarrte, war nur ein junges Menschenmädchen, wohl in dem gleichen Alter wie Safiya. Sie wirkte recht armselig; man konnte sie nicht gerade als „hübsch“ bezeichnen und ihre offensichtliche Armut schmeichelte ihrem Aussehen nicht gerade. Ihre mittellangen, dunkelbraunen Haare waren zottelig und ungepflegt, ihr Körper wies mehrere Schrammen und Narben auf und das Kleid, welches sie trug, war eher ein Lumpen. Das Einzige, was noch als einigermaßen hübsch durchging, waren ihre großen, nussbraunen Augen, die ihn aber momentan nervten, da das Mädchen Seigi immer noch anstarrte, als wäre er ein Engel, der vom Himmel gefallen war. „Hör auf mich anzustarren!“, herrschte er sie mit einem verächtlichen Tonfall an, aber sie sah ihn nur verwirrt an und Seigi wurde klar, dass das vergeudete Liebesmüh war: kein Mensch verstand die heilige Sprache der Wächter. „Es tut mir Leid… Ich verstehe Eure Sprache nicht“, antwortete das Mädchen auf Englisch, was Seigi natürlich genauso wenig verstand wie umgekehrt. Seigi allerdings achtete sowieso nicht mehr darauf, denn in diesem Moment bemerkte er, dass sein Schwert nicht länger an seiner Hüfte hing; nicht einmal die Scheide war noch an ihrem Platz. Mehr oder weniger hektisch schaute Seigi sich um, ohne auf ihre fragenden Blicke oder seine Schmerzen zu achten. Als er es dennoch nicht fand, schnauzte er das Mädchen an: „Hey, Menschenpack! Wo in Lights Namen hast du mein Schwert versteckt?!“ Aus einem ihm unverständlichen Grund hellte ihr auf einmal Gesicht auf. Sie zeigte auf Seigi und schien ihn etwas zu fragen: „Light?“ Seigi schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und erntete sich wieder einen merkwürdigen Blick. „Nein! Sehe ich aus wie ein Gott?!“ Seigi zeigte auf sich selbst und sagte langsam und deutlich: „S-e-i-g-i.“ Sie ahmte seine Bewegung nach und wiederholte: „Seiji?“ Seigi sah sie mit hochgezogenen Brauen an: noch nie hatte er seinen Namen in so einer merkwürdigen Aussprache gehört – und er konnte nicht gerade behaupten, dass er fand, dass sein Name so gut klang. Im Gegenteil: es klang schrecklich.  Das Mädchen zeigte nun auf sich selbst und erklärte: „Elisabeth!“ Aber dieser Name klang in Seigis Ohren einfach nur nach fremdartigem Gestammel: „Was bitte?!“ „Elisabeth?“ Seigi versuchte, diesen eigenartigen Namen auszusprechen, doch es gelang ihm nicht im Entferntesten. Das Mädchen begann zu lachen, was Seigi zu einem genervten Erröten brachte. „So – aus Ende! Dieses Spiel spiele ich nicht länger mit!“, entfuhr es dem Hikari genervt und immer noch errötet. Er zeigte auf Elisabeth, die aufgehört hatte zu lachen, und verkündete: „Elly! Du heißt jetzt Elly!“ „Elly?“  „Elly.“ Das Mädchen lächelte. Was für ein unschuldiges Lächeln – wie das eines Kindes. Unschuldig und aufrichtig. Seigi wandte sich von diesem Anblick ab, denn aus irgendeinem Grund ertrug er es nicht, ein solches Lächeln zu sehen. Es weckte ein beklemmendes Gefühl in ihm, welches er nicht mochte.     Seigi war der merkwürdigste Mann, der Elisabeth je begegnet war. Einmal hatte sie sogar geglaubt, einen Funken… ein kleines Glitzern… über seiner Wunde gesehen zu haben, aber das musste sie sich wohl eingebildet haben. Seitdem Seigi sein Schwert wiederbekommen hatte, hatte er es nicht aus der Hand gelegt und Elisabeth hatte das merkwürdige Gefühl, dass er sie damit abstechen wollte. Ein gewisses Gefühl sagte ihr, dass er sie nicht sonderlich gut leiden konnte – und ein anderes Gefühl, dass er auch sehr wohl in der Lage dazu war, sie jederzeit zu töten, wenn er wollte. Elisabeth wusste nichts über ihn außer seinen Namen. Immer wieder versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen, denn seine Sprache klang in ihren Ohren einfach wunderschön. Noch nie hatte sie eine andere Sprache als Englisch gehört, weshalb sie keinen Vergleich zwischen anderen Sprachen aufstellen konnte – sie kannte nicht einmal die Namen der Länder auf dem Festland. Sie kannte nur das Leben, das sie hier auf diesem kleinen Fleckchen Erde führte. Ihre kleine Hütte und das Dorf – das war ihre Welt, mehr kannte sie nicht. Aber neugierig war sie dennoch und Seigi schürte ihre Neugierde ins Unermessliche. Wer war er? Wo kam er her? Was hatte ihn so verletzt? Was waren das für Fünkchen, die sie ab und zu über seinen Verletzungen sehen konnte? Seine weißen Haare, die fremdartige, unmenschliche Aura um ihn… all das erinnerte sie an die Engel, von denen sie in der Kirche hörte. Dass Seigi ein etwas anderer Engel war, das würde sie schneller herausfinden, als es ihr lieb war; nämlich gleich am ersten Tag. Der Tag neigte sich seinem Ende zu; es war dunkel in der kleinen Hütte, nur eine einzige Kerze brannte. Dennoch bestand Elisabeth darauf, sich noch einmal Seigis Verband anzuschauen. Da Seigis Lichtmagie nach wie vor kläglich versagte beim Heilen seiner großen Brustwunde und des rechten, gebrochenen Armes, ließ Seigi es über sich ergehen, dennoch kam er ihr nicht entgegen, indem er für ein bisschen mehr Licht sorgte; er wollte alle seine Magie aufsparen und auf seine Heilung konzentrieren. Elisabeth fand zwar selbst, dass sie gar nicht so schlecht darin war, sich um Wunden zu kümmern, denn sie hatte viel von ihrer Mutter gelernt, aber Seigi hielt von ihrer Arbeit natürlich nicht viel – immerhin kannte er die fabelhaften Heilkünste seiner Schwester. Im Takt des trommelnden Regens – Seigi war überrascht darüber, dass es nicht rein regnete – und dem flackernden Kerzenlicht beobachtete der Hikari skeptisch, wie Elisabeth nicht nur seinen Verband wechselte, sondern auch ein langes, flaches Stück Holz mit einband. Nachdem sie für eine kurze Weile verschwunden gewesen war, war sie mit jenem Stück Holz ganz aufgeregt zurückgekommen – wozu das Stück Holz gut war, ahnte Seigi nicht; das Einzige, was er wusste, war, dass es ihn noch mehr behinderte als sowieso schon. Und das sollte etwas bringen? Das Menschenmädchen schien auf jeden Fall dieser Auffassung zu sein. Während dem gesamten Prozedere hatte Seigi sich ruhig verhalten. Sie hatte zwar immer wieder mit ihm gequasselt, aber er hatte nicht geantwortet – warum auch, sie verstand ihn ja nicht. Als sie sich allerdings seiner Brust zuwenden wollte und dafür Seigis weiß geflügeltes Glöckchen in die Hand nehmen wollte, um es beiseite zu schieben, ergriff er umgehend ihr Handgelenk, presste es von sich weg und umschloss dann sofort das Glöckchen. Als er sich dann endlich der heillos verwirrt dreinschauenden Elisabeth widmete, war seine Stimme nicht mehr als ein Zischen: „Fass mein Glöckchen nicht an mit deinen kleinen, dreckigen…“ In diesem Moment unterbrach das Glöckchen selbst das kleine, einseitige Handgemenge: sowohl Elisabeth und Seigi staunten nicht schlecht, als das Glöckchen plötzlich aufleuchtete. Seigi wusste natürlich, was das Aufleuchten und das schrille Läuten des Glöckchens zu bedeuten hatte, das nur er hören konnte – aber Elisabeth war von dem plötzlichen Licht schier überwältigt. Sie wollte sich gerade das Kreuz auf die Brust malen, als Seigi sie mit seinem Aufspringen davon abhielt. „Haha! Sind die kleinen Biester also hier – denken wohl, ich wäre jetzt eine leichte Beute, haha!“ Elisabeth verstand natürlich nicht, was er sagte, genauso wenig verstand sie, warum er aufsprang – aber sie verstand, dass er es eigentlich nicht durfte, denn obwohl Seigis Arm und seine Wunde schon überraschend gute Fortschritte machen, so war er absolut nicht in der Lage aufzustehen und sollte das auch nicht tun… Aber Seigi hörte nicht auf sie, als sie versuchte, seinen Arm zu packen und ihn zurückzuziehen; es war vergebens. Trotz seiner Verletzung war er immer noch stärker als sie und schüttelte sie ab, und ohne sie sonderlich zu beachten, griff er sich sein Schwert und verschwand auch schon grinsend aus der Tür. Noch einen Moment lang starrte Elisabeth ihm mit geöffnetem Mund hinterher, dann fasste sie sich ein Herz und rannte hinaus in das Unwetter, um Seigi zu folgen. Sofort bereute Elisabeth diese Entscheidung und der Wunsch einfach gleich wieder umzukehren überkam sie – nicht wegen des schlechten Wetters, denn das war sie gewohnt, sondern wegen dem, was sie sah. Elisabeth hatte in letzter Zeit immer mehr und immer öfter Erzählungen von Hexen und Dämonen gehört, von Frauen, die im Pakt mit dem Teufel standen, um Unheil über ihre Mitmenschen zu bringen, viele dieserlei Erzählungen, eine schrecklicher, düsterer als die andere – aber keine dieser Geschichten konnte sich mit dem messen, was Elisabeth in diesem Moment sah. Zehn bis zwanzig monströser Wesen, mit schwarzer Haut überzogen, allesamt mit igelartigen Stacheln auf dem Rücken, scharten sich, große, gelbe Eckzähne bleckend, um eine sehr hochgewachsene Frau – fast doppelt so hoch wie Elisabeth – deren dunkelrote Augen alles andere als menschlich waren und die spöttisch und überheblich auf Seigi herabsahen. Das, was sie sah, besonders seine Verbände, schien sie sehr zu freuen – aber auch Seigi schien erheitert zu sein, etwas worauf Elisabeth allerdings nicht achtete, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, nicht in Ohnmacht zu fallen und Halt an der Hauswand zu finden. Seigi konnte sich natürlich mit den feindlichen Dämonen genauso wenig unterhalten wie er sich mit Elisabeth unterhalten konnte – aber das tat auch nicht Not. Dämonen und Wächter mussten sich nicht unterhalten. Sie kamen, um einander zu töten; und töten tat man mit Taten, nicht mit Worten. Bei seinem letzten Kampf musste ihm einer der Dämonen entflohen sein; wahrscheinlich hatte dieser gesehen, dass Seigi, der von den Dämonen gefürchtete Tausendtöter, verletzt worden war; vielleicht war der gewiefte Dämon sogar nicht sofort in seine Welt geflohen und hatte gesehen, dass Seigi nicht etwa Hilfe vom Wächtertum erhalten hatte, sondern von einem Menschenmädchen – und dass er noch nicht auf dem Damm war, weshalb es keinen besseren Zeitpunkt gab als jetzt, um ihn hoffentlich endlich loszuwerden. Seigi interessierte sich auch gar nicht sonderlich für deren Beweggründe. Er hatte in aller Eile siebzehn Dämonen gezählt und das waren siebzehn Dämonen näher an sein Ziel. Also dachte er nicht näher über irgendwelche Beweggründe oder seine Schmerzen nach – stattdessen raste er nun auf den erstbesten Dämon zu und trennte dessen Kopf sang- und klanglos von seinem Rumpf, womit Elisabeth schnell herausfand, dass, wenn Seigi ein Engel war, dann war er kein besonders zimperlicher Engel, denn dem zweiten und dritten Dämon, die ihn zusammen hatten angreifen wollen, ging es nach einem eleganten Ausweichmanöver Seigis genauso. Das Grinsen, welches sich auf seinem Gesicht ausbreitete und welches sich weder von dem Regen noch von dem spritzenden Blut unterbinden ließ, war auch alles andere als engelshaft… aber sein gebrochener Arm behinderte ihn und Elisabeths geschultes Auge sah deutlich, dass das Blut auf Seigis Brust nicht nur das der Dämonen war. Zuerst war ihre Zunge genauso gelähmt wie ihr bebender Körper, aber dann bekam sie den Mund nicht nur geöffnet, sondern brachte ihn auch dazu, etwas zu sagen: „Seiji! Dein Arm…“ Weiter kam sie allerdings nicht, denn die Anführerin der Dämonen schien ihr Einmischen nicht gutzuheißen und brachte Elisabeth mit einer gezielten Ohrfeige zum Schweigen – sie flog einige Meter in die Luft und mit blutender Wange blieb das kleine Menschenmädchen im dreckigen Matsch liegen, ohne auch nur irgendwie von Seigi bemerkt zu werden, denn dieser dachte nur an seinen Rekord. Er hätte aber wahrscheinlich auf seinen Körper hören sollen, denn dieser strafte ihn nun – er hatte gerade wieder einen Dämon in zwei Hälften geteilt, als ein so heftiger Schmerz ihn durchfuhr, dass Seigi ins Taumeln geriet; er war kurz davor zu stürzen, doch konnte sich gerade noch fassen, etwas, worauf die Dämonen natürlich keine Rücksicht nahmen und genau den Moment, in dem das Sichtfeld Seigi zu entgleiten drohte, zu nutzen gewusst hatten – Seigi wurde sein Schwert aus der schmerzenden, rechten Hand geschlagen und im hohen Bogen flog es davon. Das Grinsen verging Seigi schnell, denn auch er wusste, genau wie die Dämonen, die sich nun triumphierend lachend um ihn scharten, dass der Tausendtöter einer der wenigen Hikari war, der ohne Waffe absolut ungefährlich war. Verletzt war er scheinbar immer noch eine Gefahrenquelle, aber ohne Schwert sah das Ganze ganz anders aus… Aber sein Blick wankte dennoch nicht, auch dann nicht, als die weibliche Dämonin hervor trat. Scheinbar wollte sie die Ehre haben--- „Seiji!“ Alle wirbelten zum Ursprung der Stimme herum und sahen das Unmögliche. Es war nicht unmöglich, dass Elisabeth wieder auf den Beinen war; es war auch noch im Bereich des Möglichen, dass sie sich nicht, angesichts der Gefahr, einfach weinend irgendwo verbarg – aber es sollte eigentlich für sie als Mensch, als Nicht-Wächter, absolut unmöglich sein, das Schwert eines Wächters halten zu können. Aber sie tat es. Ziemlich plump, aber sie hielt sein Schwert mit beiden Händen am Griff fest, die Klinge Richtung Boden gesenkt. Seigi starrte sie daher genauso fassungslos an wie die Dämonen – und sein Blick wurde ziemlich dümmlich, als er bemerkte, dass sie sein Schwert zu ihm werfen wollte, sobald sie, dank eines aufzuckenden Blitzes genug sehen konnte. „Fang!“ Seigi verstand das Wort „catch“ natürlich nicht, aber genau wie die Dämonen, die nicht versuchten, das Schwert abzufangen, sondern der wirbelnden Waffe lieber aus dem Weg sprangen, verstand er sehr wohl, was sie meinte und fing das Schwert auch wie ein wahrer Meister auf – guckte sie aber noch genauso dümmlich an wie zuvor, während er das Schwert von der linken in die rechte Hand legte. „Wie in Lights Namen konntest du mein Schwert berühren?!“, rief er ihr zu, aber sie verstand ihn natürlich nicht; sie zeigte sich einfach nur verwirrt darüber, dass Seigi gerade jetzt, mitten in einem Kampf, auf die Idee kam, ein Gespräch zu führen – sah er denn nicht, dass diese eigenartigen Wesen sich von ihrem Schock erholt hatten und zum Angriff ansetzten? „Du bist doch wirklich nur ein Mensch, oder, Mädchen?! EY! Ich rede hier mit jemandem! Hinten anstellen! Ich töte euch…“ Und wieder sauste sein Schwert durch den Torso eines der Dämonen: „… noch schnell genug! Alles zu seiner Zeit!“ Ein weiterer wurde durch eine wirbelnde Attacke Seigis, fast schon beiläufig ausgeführt, unter den verblüfften Augen Elisabeths auseinandergerissen. „Hey, Mädchen – ich meine Elly, kannst du die Dämonen zählen, die ich töte?!“ Um seine Worte für sie verständlich zu machen, machte er eine zählende Bewegung mit seinen Fingern, während er einem Dämon seitlich auswich – Elisabeth schien zu verstehen, denn sie nickte. Viel Erfahrung mit dem Zählen hatte sie nicht, aber als am Schluss nur noch die Anführerin der kleinen Horde übrig war, war es nicht sonderlich schwer auszurechnen, wie viele von Seigi und seinem Schwert schier vernichtet worden waren – ohne, dass der Hikari selbst noch einen weiteren Kratzer abbekommen hatte. Dennoch war sein Atem beschleunigt, als er sich der Dämonin entgegenstellte, die trotz Seigis gelassenen geschultertem Schwert Gefahr witterte und nach hinten zurückwich. Aber Seigi hatte nicht vor, sie anzugreifen; nicht, weil sie eine Frau war, denn Geschlechter waren ihm egal; er erhoffte sich etwas. „Zu schade, dass wir uns nicht verständigen können“, seufzte Seigi, das in Blut getränkte Schwert ein wenig hin und her wippend: „Ich hoffe, du verstehst das Ganze hier dennoch deutlich genug: renn zu deinem Fürsten und schick mir entweder mehr Dämonen oder eine ordentliche Herausforderung. So wie ihr es heute versucht habt, werdet ihr mich garantiert nicht los. Und jetzt – hau ab!“ Seine Worte verstand sie nicht, aber ganz, wie Seigi es sich erhofft hatte, verstand die Dämonin, dass er sie gehen ließ; ob sie dann aber Bericht erstatten würde, war eine gänzlich andere Sache. Die Chance, dem Tausendtöter ohne eine Schramme zu entfliehen, wusste sie allerdings zu nutzen und Elisabeth traute ihren Augen nicht – sie verschwand einfach. Aber ihre Augen waren sowieso schon die ganze Zeit geweitet angesichts dieser Unglaublichkeit, der sie gerade Zeuge geworden war, als hätte sie vergessen zu blinzeln. Als Seigi vor sie trat, blinzelte sie zum ersten Mal und bemerkte dabei, wie trocken ihre Augen geworden waren. Sie rieb sie sich erst einmal, ehe sie ungläubig zu Seigi empor starrte. „Elly“, sagte er leise, sich bewusst, dass sie sowieso nichts anderes verstand. Das Schwert hatte er, nachdem er dessen Klinge an seiner Kleidung abgewischt hatte, in dessen Scheide zurückgleiten lassen, womit er nun die freie Hand ausstrecken konnte, um diese Elisabeth zu reichen. Diese starrte die Hand ein wenig ungläubig an, ergriff sie dann aber wie in Trance – sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie auf die Knie gefallen war. Aber eines bemerkte sie dafür umso deutlicher: Seigis Hand an ihrer Wange, der Wange, die die Dämonin mit ihren spitzen Fingernägeln aufgerissen hatte. Ihr feuchtes Gesicht errötete, als sie aufsah, aber das bemerkte sie selbst nicht, zu sehr war sie von dem, was Seigi tat, gefesselt – und von seiner schönen Sprache. „Ich kann zwar nicht viel Magie einsetzen, aber um diese paar Kratzer zu heilen, wird das schon genügen.“ Wieder erschienen die leuchtenden Pünktchen; nur dieses Mal wirbelten sie um ihr Gesicht herum, aufmerksam von Elisabeths weit aufgerissenen Augen verfolgt, die nun bemerkte, wie die schmerzende Wange immer wärmer wurde. Elisabeth hatte absolut keine Ahnung, was geschehen war; ihre Kleidung war bis auf die Knochen durchnässt, der Wind peitschte ihre zotteligen Haare hin und her und so viel Blut, so viel Tod hatte sie noch nie auf einem Ort versammelt gesehen – von nur einem Mann und einem Schwert verursacht. Seigi war gewiss kein Engel; das war ihr jetzt mehr als bewusst. Nicht, weil sie gesehen hatte, wie er all diese monströsen Wesen getötet hatte, sondern weil sie gesehen hatte, mit welchem Vergnügen er dies getan hatte. Sie hatte für all das keine Erklärung; die Bibel gab ihr keine, ihr eigener Menschenverstand tat es nicht – aber, wenn sie dieses Gesicht vor ihr so lächeln sah, fast… irgendwie… stolz, dann fühlte sie eine gänzlich unbekannte Geborgenheit in sich.   Wenn Elisabeth zurücksah auf diesen Moment – und das tat sie oft – dann wusste sie, dass es dieser Moment war, in welchem sie sich in ihn verliebt hatte.                 „Und? Wie viele hast du gezählt?“ Eine Frage, die sie jetzt noch nicht verstand, aber in Zukunft oft zu hören bekommen würde.                                            Kapitel 27: Brennen soll sie ----------------------------   Es hatte aufgehört zu regnen, aber die schweren, grauen Wolken am verschleierten Himmel deuteten an, dass es nicht lange trocken bleiben würde. Trotz dieser schlechten Wetteraussicht war Elisabeth guter Dinge, während sie ihrer täglichen Arbeit nachging – und das obwohl sie wieder alleine war. Seigi hatte sie an diesem Morgen verlassen, nachdem er sich von dem gestrigen Kampf erholt hatte; er war immer noch verletzt gewesen und Elisabeth hatte nicht verstanden, warum er denn jetzt unbedingt schon gehen müsse, wenn seine Verletzungen denn noch gar nicht verheilt gewesen waren. Aber die Zuversicht in Seigis klaren, minzgrünen Augen hatte ihr gesagt, dass sie sich wegen seinen Verletzungen keine Sorgen zu machen brauchte – und wenn sie ihre Hand an ihre nun verheilte Wange legte, verstand sie auch ein wenig, weshalb. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, hatte sie sich daher viel größere Gedanken um ein baldiges Wiedersehen gemacht – oder die Frage, ob sie sich überhaupt wiedersehen würden. Noch wusste Elisabeth nicht, was das Klopfen in ihrem Herzen bedeutete, wenn sie ihre Hand an die Stelle legte, wo Seigi sie berührt hatte, aber sie wusste, dass sie Seigi trotz allem, was gestern Abend geschehen war und was sie nicht hatte schlafen lassen, wiedersehen wollte. Sie wollte ihn kennenlernen, wollte seine Sprache lernen, wollte – zum ersten Mal in ihrem Leben – unbedingt mehr wissen, wollte verstehen; wollte Seigi verstehen, die mystische Aura, die ihn umgab, durchbrechen. Am gestrigen Abend, als er sie so überrascht angesehen hatte, als sie ihm das Schwert zugeworfen hatte und sein stolzes Lächeln, als er sie angesehen hatte… da hatte sie das Gefühl, dass sie die eigenartige Grenze zwischen ihnen für einen kurzen Moment durchbrochen hatte. Er war daraufhin auch viel netter, aufmerksamer gewesen; er hatte nicht wie zuvor jeden Gesprächsversuch verweigert – umso schmerzhafter war der Abschied gewesen. Elisabeth sah zur Tür, wo Seigi vor wenigen Stunden noch gestanden hatte. Als sie ihn gefragt hatte, wo er hinginge, hatte er nach oben gezeigt, Richtung Himmel… dann hatte er ihren Namen gesagt; nein, den Namen, den er für sie benutzte, „Elly“, und in seinem Tonfall hatte sie die deutliche Botschaft herausgehört: sie solle nicht weinen. Er hatte wohl ihre glasigen Augen bemerkt, den Drang, sich an ihm festzuhalten… dann war er einfach verschwunden. Er war nicht durch die Tür gegangen, an welche Elisabeth sich nun lehnte und in den wolkenverhangenen Himmel hinaufsah, er war einfach verschwunden. Hatte sich ins Nichts aufgelöst – schon wieder Magie. Seigi hatte ihr nicht gerade Hoffnung gemacht, dass sie sich wiedersehen würden. Aber dennoch… dennoch… sie spürte es irgendwie. Sie spürte, wie sich ihr Schicksal mit seinem verwoben hatte. Nicht, weil sie ihn aus dem Wasser gezogen und seine Wunden versorgt hatte, sondern wegen etwas anderem. Elisabeth seufzte und wandte sich lächelnd vom Himmel ab, um wieder in ihre Hütte zurückzukehren. Sie hatte gerade einen ihrer Lehmkrüge hochgehoben, um Wasser zu holen, als es an ihrer Tür klopfte. Verdattert senkte Elisabeth den Krug wieder, drehte sich zur Tür um und wollte sich gerade über Seigis schnelle Rückkehr freuen, als ein weiteres Mal, dieses Mal mit deutlich ansteigender Härte, an ihre Tür geklopft wurde – und Elisabeth verstand.   Unruhig lief Safiya in ihrem Zimmer auf und ab – nur  gelegentlich unterbrochen von ihrem nervösen Schauen zur Uhr oder der wiederholten Frage an ihre Tempelwächterin, ob es denn immer noch keine Nachricht von ihrem Bruder gäbe. Aber auf ihre verzweifelten Fragen folgte immer dieselbe Antwort: „Es tut mir leid, Hikari-sama…“ Die Lichtwächterin schlug die Hände entnervt über dem Kopf zusammen. „Wo steckt er denn nur?! Noch nie hat er so lange auf der Erde verweilt! Mehr als 24 Stunden sind vergangen und nicht das kleinste Lebenszeichen von ihm! Keine Nachricht; nichts! Es wird ja wohl nicht zu schwer sein, einen Hikari ausfindig zu machen?! Während wir hier Däumchen drehen, könnte Seigi TOT sein! Schwer verletzt, irgendwo im Nirgendwo und ohne jegliche Hilfe!“ „Hikari-Safiya-sama, meint Ihr nicht, dass Ihr ein wenig übertreibt?“ Die Angesprochene wirbelte herum und sah ihre Elementarwächterin des Klimas in ihrer geöffneten Zimmertür stehen. „Aurora!“ Pflichtgemäß verbeugte diese sich und ging dann auf die Lichterbin, die schon den Tränen nahe war, zu. Aurora und Safiya waren Cousinen und beste Freundinnen, auch wenn sie in der Gegenwart von anderen stets die unsichtbare Grenze zwischen einem Hikari und seinem Wächter bewahrten. Deshalb schickte Safiya ihre Tempelwächterin auch schnell fort und stürzte sich daraufhin in die Arme ihrer Freundin. „…Ich mache mir solche Sorgen um Seigi!“ Die Klimawächterin seufzte und strich ihrer Freundin beruhigend über den Rücken, denn jetzt hatte sie auch noch angefangen zu weinen. Seigi war wirklich der Einzige, der es immer wieder – sogar durch seine Abwesenheit – fertig brachte, so gewaltige Gefühlsreaktionen in Safiya zu wecken. Eigentlich war sie zu Zurückhaltung und Formgefühl erzogen worden. Nicht einmal bei dem Tode ihres Verlobten hatte sie zugelassen, dass die Gefühle Herr über sie wurden. Selbstverständlich war sie damals trotz aller Zurückhaltung am Boden zerstört gewesen, aber sie hatte Seigi an ihrer Seite gehabt. Er hatte sie getröstet und sie immer aufzuheitern gewusst; wenn Seigi wegen eines Kampfes nicht anwesend war, war es Aurora, die dafür Sorge trug, dass es Safiya gut ging. Seigi ahnte ja nicht, wie unruhig sie war, wenn er auf dem Schlachtfeld war. „Ich glaube nicht, dass du dir solche Sorgen um ihn zu machen brauchst, Safi-chan. Vergiss nicht, dass er der beste Krieger seit Jahrhunderten ist! Er wird beleidigt sein, wenn er hört, dass du ihn so unterschätzt! Außerdem… denke ich, dass wir es schon längst mitbekommen hätten, wenn Seigi tot wäre.“ Aurora legte ihre Hände auf die Schultern Safiyas und schob sie sanft von sich weg, damit die beiden jungen Frauen sich ansehen konnten.   „Also hör auf zu weinen! Das tut nicht nur dir nicht gut, sondern auch deinem Kind nicht!“ Die Hikari wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte zu lächeln, woraufhin Aurora sie freudig angrinste. Sie legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Freundin und versprach: „Ich werde ein paar Wächter zusammentrommeln und dann gehen wir ihn suchen.“ Safiya nickte und fand schnell zu ihrem eigentlichen Ich zurück: „Das ist eine gute Idee. Seigi macht uns wirklich nichts als Ärger!“ „Was soll das denn heißen?! Ich „mache euch nichts als Ärger“? Wer macht denn hier die Drecksarbeit? Ja wohl ich!“ Beide jungen Frauen wirbelten herum und erblickten Seigi, der sich an den Türrahmen gelehnt hatte. Er sah ziemlich mitgenommen aus, seine Kleidung war zerrissen und mit getrocknetem Blut befleckt – und anders als Safiya bemerkte Aurora auch sofort den in Schiene gelegten rechten Arm. Safiya war dafür aber in diesem Moment blind; nun hatte ein anderes, gewaltiges Gefühl die Oberhand ergriffen; die Wut – und als sie auf ihren Bruder zustürzte, sah es tatsächlich so aus, als würde sie ihn zusammenschlagen wollen: „Wo in Lights Namen bist du gewesen?!“ „Begrüßt man so seinen großen Bruder?! Ich bin verletzt! Siehst du das nicht?!“ „Das ist ja wohl deine eigene Schuld! Du hättest früher zurückkehren können, dann hätte ich dich geheilt!“ „Das könntest du aber jetzt gerne nachholen, Schwesterherz!“ „Tze! Ich glaube, ich lasse dich noch ein wenig schmoren…“  Aurora schüttelte ratlos den Kopf, während die beiden Geschwister sich in einem ausgiebigen Geplänkel vertieften: die beiden waren wirklich nicht gerade ehrlich mit ihren Gefühlen… Besonders Safiya nicht.     Elisabeths Mutter war unter anderem als Hebamme tätig gewesen; etwas, wofür sie nicht nur Erkenntlichkeit erhalten hatte. Viele waren ihrer Tätigkeit gegenüber skeptisch gewesen; mehr als skeptisch sogar. Feindlichkeit hatte Elisabeth schon sehr früh erfahren und ebenfalls sehr früh Bekanntschaft mit jenem Wort gemacht, das in naher, sehr naher Verbindung mit Feuer und Tod stand. Ihre Mutter war diesem Schicksal entgangen; nicht der Gnade der Dorfbewohner wegen, sondern weil sie vorher erkrankt und schnell gestorben war. Bis zu ihrem letzten Atemzug hatte sie Elisabeth gewarnt; sie solle vorsichtig sein, die Skepsis, die man ihrer Mutter entgegengebracht hatte, würde sich auf Elisabeth übertragen… sie müsse eine Arbeit finden, am besten einen Mann heiraten… aber es war alles anders gekommen. Sie hatte sich stattdessen zurückgezogen, war in der Hütte geblieben, hatte genauso viel Angst vor den Dorfbewohnern gehabt wie sie vor ihr, war aber bis jetzt nie in die Nähe des unheilschwangeren Dorfzentrums gekommen – nur von Weitem hatte sie ab und zu Rauchsäulen gesehen. Elisabeth hatte sie gemieden und umgekehrt hatten die Dorfbewohner sie gemieden. Aber etwas war geschehen – und noch bevor die Tür gewaltsam geöffnet wurde, wusste Elisabeth, was es war; jemand hatte das sehr magische Spektakel gestern Abend gesehen. Sie wusste ja selbst nicht wirklich, was das gewesen war. Auch sie hatte Erzählungen von einem sogenannten „Hexensabbat“ gehört, wo sich der Teufel selbst mit den unchristlichen Frauen traf und ein dämonisches Fest veranstaltete. Dass das, was gestern Abend geschehen war, alles andere als ein Fest gewesen war, war ihr bewusst, aber dass es unmenschlich und unchristlich war, ebenfalls…   Das kleine Mädchen wurde grob zu Boden geworfen, der Krug stürzte auf den Boden und zerbrach neben ihrem Kopf in Scherben; sie wurde an den Haaren gepackt, ihr verzweifeltes, hoffnungsloses Flehen wurde überhört – und dann hörte sie schon das Wort; das eine verwünschte Wort, das einem Todesurteil glich: Hexe.      Erst ein paar Stunden später, nachdem Seigi geheilt, gewaschen, gesättigt und neu eingekleidet war, kamen die beiden Geschwister dazu, in Ruhe ein normales Gespräch miteinander zu führen: beide hatten sich nach dem gemeinsamen Abendbrot mit ihren Wächtern in seinem Zimmer eingefunden. Safiya saß am Ende seines Bettes und war dabei, ihre langen, silbernen Haare zu flechten, während Seigi auf dem Bett lag und gemütlich Däumchen drehte. Langsam hielt Safiya die Neugierde allerdings nicht mehr aus und fragte ihn nun direkt, wo er gewesen war und wer ihn verarztet hatte – dass er das nicht selbst getan hatte war ihr genauso bewusst geworden wie Aurora, denn Seigi war nicht gerade ein Experte in Erste Hilfe, was es noch verwunderlicher machte, warum er nicht sofort zu ihr zurückgekehrt war, um sich heilen zu lassen. Seigi antwortete nicht, aber seine Schwester bemerkte, wie sich seine Stirn runzelte; statt ihr allerdings eine Antwort zu geben, stellte er eine Gegenfrage:    „Sag mal, Safi…“, begann Seigi und schwang sich schon aus seinem Himmelbett, um auf einen goldenen Globus zuzugehen. Verwundert unterbrach Safiya ihre Haararbeit und sah zu, wie er den Globus nachdenklich mit den Fingern nachfuhr, bis sein Zeigefinger auf einem Land stehen blieb. Safiya sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Das ist England. Was willst du mir damit sagen?“ „Das war doch da, wo ich gestern hingeschickt wurde, um die Dämonen auszuschalten, oder?“ „Ein wenig weiter nördlich, nahe der Grenze zu Schottland. Aber ich wiederhole mich: wieso willst du das wissen?“  „Welche Sprache spricht man da?“ „Seigi… englisch? Neuerdings jedenfalls; aber ich denke du hast wenig Interesse wie die Sprachentwicklung eines Menschenlandes…“ „Kannst du… englisch?“ „Warum wechselst du das Thema?“ „Kannst du es?“ „Ja, und du würdest die Sprache auch können, wenn du nicht so faul wärst…“ Seigi drehte sich zu ihr um und sagte langsam: „Bring sie mir bei.“ Diese Antwort brachte Safiya nun völlig aus dem Konzept: „Hä? … Was?! Du willst was lernen?! Der faulste Hikari seit neun Generationen, der seinen Schulabschluss nur mit Ach und Krach bestanden hat, will etwas lernen?! Und dann auch noch eine Menschensprache?!“ „Schrei doch nicht so! Und es waren acht! Nicht neun!“, korrigierte Seigi sie, sich daraufhin wieder zu ihr aufs Bett setzend, was Safiya nutzte, um sich zu ihm herüberzulehnen und ihn aus dieser Position heraus skeptisch anzustieren: „Was bewegt dich zu diesem plötzlichen Sinneswandel?“ „Ich will mich einfach verständigen können.“ „Du? Dich mit Menschen verständigen? Seit wann hegst du daran Interesse? Menschenkunde war eines deiner schlechtesten Fächer – und das obwohl unser Vater ein Mensch war.“ Seigi war vom Charakter her nicht der Typ, der sich über Dinge aufregte, an denen er nichts ändern konnte; dennoch sprach er nicht gerne über deren menschlichen Vater. Nicht, weil er es wie andere Wächter als einen sehr eigenartigen Zufall oder gar eine Schande ansah, dass seine Mutter sich in einen Menschen verliebt und mit ihm nicht nur eins, sondern gleich zwei Kinder gezeugt hatte, sondern weil er seinen Vater für seine eigentümliche Augenfarbe verantwortlich machte. Alle Hikari hatten eigentlich weiße Augen, doch wenn ein Wächter und ein Mensch in Liebe zusammenfanden, dann konnte es geschehen, dass selbst die festgeschriebensten Normen gebrochen wurden. Seigi selbst interessierte seine Augenfarbe nicht, aber er wusste, dass es andere interessierte – ganz vorneheran seine verstorbene, im Jenseits weilende Verwandtschaft, die seine Augenfarbe nur als ein weiteres Indiz dafür betrachtete, dass Seigi… anders war.  „Menschen sind dir doch immer egal gewesen?“, fuhr Safiya behutsamer fort, denn sie spürte irgendwie, dass Seigi das Thema nicht mochte. „…Bist du etwa bei einem Menschen untergekommen? Hat dich ein Mensch verarztet? Willst du deswegen… eine Menschensprache lernen?“ Sich plötzlich der Tragweite ihrer Fragen bewusst werdend, purzelte Safiya bereits die nächste Frage heraus, die mehr eine Erkenntnis war: „Es ist eine Frau, nicht wahr?“ Seigi blieb es leider nicht unbemerkt und auch Safiya nicht, weshalb sie sich beeilte, sich aufzurichten und irgendeine Entschuldigung zu finden, irgendeine Ausrede, um das Zimmer ihres Bruders so schnell wie möglich zu verlassen: Ihre Stimme, als sie diese letzte Frage gestellt hatte, war von Traurigkeit erfüllt gewesen.      Das Thema „Frau“ war in Seigis Leben nie relevant gewesen. Die Hikari hatten zwar schon oft versucht, ihn zu verkuppeln, und Seigi hatte sich auch immer ohne Proteste damit abgefunden, aber bis jetzt hatte er jede Frau vergrault – nicht weil er es aktiv darauf anlegte, sondern weil er einfach er selbst gewesen war. Das Wächtertum schätzte ihn zwar als großartigen Schwertkämpfer, aber als Hikari, als Mitwächter, zeigten sie sich ihm gegenüber zwar höflich, aber nahmen lieber einen großen Bogen um ihn, wenn es möglich war. Safiya war ihre Hikari. Das Gerücht, dass es nun eine andere Frau außer Safiya in Seigis Leben geben sollte, dass dieser blutrünstige Hikari sich tatsächlich verliebt haben sollte, kam schneller in Umlauf als jede Kriegserklärung. Safiya hatte ihre Befürchtungen Aurora erzählt und dieses Gespräch hatte wiederum ein Tempelwächter gehört und sofort das getan, worin die Tempelwächter sehr geübt waren; es in Umlauf gebracht. Aurora verfluchte sich selbst dafür, dass sie so unachtsam gewesen waren und bei geöffneter Tür gesprochen hatten; Safiya versuchte, das Thema zu verdrängen, während Seigi sich ganz auf seine Englischstudien konzentrierte – was es Safiya wiederum schwer machte, das Thema zu verdrängen. Denn dass Seigi sich so auf etwas anderes als das Kämpfen stürzte, war genauso unglaublich wie es eindeutig war. Da war etwas im Busch. Etwas war geschehen. Was war das nur für eine Frau? Eine Woche später traf Safiya Seigi wieder beim Lernen an: sie kam gerade in sein Zimmer, wo sie ihn dabei erwischte, wie er gerade die Aussprache übte und musste unwillkürlich ein Lachen unterdrücken, denn seine Aussprache war mehr als katastrophal. Als Seigi ihre Anwesenheit bemerkte, unterbrach er hastig sein Lernen und drehte sich von ihr weg, denn er war rot geworden. Safiya kicherte hinter vorgehaltener Hand und ließ sich in einem Sessel nieder. „Tut mir leid, Bruder, aber du hörst dich einfach komisch an.“ „Ja ja! So lange bin ich ja noch nicht dabei – nach einer Woche wird ja wohl noch niemand perfekt sein! Gibt es was Neues aus dem Reich der Alten und Grauen?“ „“Reich der Alten und Grauen“? Also, Seigi! Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf, das sind auch deine Vorfahren. Und sowieso – „alt“ und „grau“?“ „Na, in der Zeit gemessen wie lange sie schon existieren sind sie ja wohl „alt“, oder nicht?“ Das lenkte Safiya kurz von dem Bemängeln von Seigis Höflichkeit ab und ihr Gesicht zeigte sich nachdenklich – und als sie bemerkte, dass er recht hatte, musste sie kurz kichern, entdeckte aber ihr unhöfliches Vergehen sofort und räusperte sich, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren. „Es gibt in der Tat einiges „Neues“ im Jenseits: dem Reich unserer heiligen Vorfahren.“ Sie fixierte ihn tadelnd, doch Seigi grinste bloß, sich scheinbar nicht entschuldigen wollend: „Aber vielleicht solltest du dich lieber selbst dorthin begeben? Unsere Mutter…“ „Ach, was soll ich denn da? Die diskutieren immer nur hin und zurück, hin und zurück, immer über dasselbe, immer dasselbe Geleiere…“ „Eigentlich ist es momentan sehr interessant“, unterbrach Safiya ihren Bruder, ehe er ihre Vorfahren womöglich noch weiter beleidigte: „Es sieht so aus, als würde ein Dekret erlassen werden, das uns Hikari vorübergehend verbietet, das Reich der Menschen zu betreten.“ Safiya hatte sich eigentlich abgewandt, um diese Worte zu sagen, aber ihre Neugierde brachte sie wieder dazu, Seigi anzusehen; wie reagierte er darauf? Verriet er sich? Wenn er wirklich in eine menschliche Frau verliebt war, dann… „Ha? Warum denn das?“ Aber da war keine besondere Reaktion und Seigi spielte Safiya selten etwas vor – oder hatte er einfach nicht begriffen, dass das auch bedeutete, dass er sie nicht mehr sehen konnte? Oder war es ihm einfach egal, was seine Vorfahren vorschrieben? „Wegen der Hexenverfolgung. Sie nimmt zu, Seigi. Jedenfalls in Europa und in einigen Teilen der neuen Welt… es scheint so, als würde das Dekret nicht allumfassend werden, aber es wird noch besprochen.“ „Warte mal, warte mal.“ Seigi löste sich aus seiner entspannten, eher gelangweilten Haltung und Safiya bereitete sich darauf vor, einige Stiche in ihr Herz zu erhalten – aber es kam anders: „Aber die meisten Dämonen tauchen doch momentan in Europa auf?!“ „Ja, das ist richtig. Es soll auch untersucht werden, ob ein Zusammenhang zwischen der Hexenverfolgung und dem vermehrten Auftauchen von Dämonen in Europa besteht. Es gab bereits einige bestätigte Fälle von Dämonie sowohl unter denen, die richten, als auch unter denen, die gerichtet werden…“ Seigi unterbrach sie:  „Lass sie untersuchen, was sie wollen! Was ist mit dem Ausschalten? Wie in Lights Namen soll ich denn Dämonen auslöschen, wenn ich nicht dorthin darf, wo sie sind?!“ Kurz war Safiya verwirrt und auch kurzzeitig nicht in der Lage, seine Worte einzuordnen: „Aber, Seigi, darum geht es doch gar nicht… das Auslöschen werden andere Wächter übernehmen; es sind doch nur wir, die sich von Europa…“ „Na toll! Und was bringt das meinem Rekord, dass irgendwelche zweitrangigen Wächter…“ „Also, Seigi!“ „… mir meine Dämonen wegschnappen?! Wir sind ja nicht im Krieg, also darf ich nicht mal die Dämonenwelt betreten! Ich brauche nur noch 102 Dämonen und unsere verfluchten Vorfahr-“ „Also, Seigi, jetzt reicht es!“ Safiya hatte mit dem Fuß aufgestampft, aber das war es nicht, was Seigi zum murrenden Schweigen brachte, sondern ihr alles durchbohrender Blick – der einzige, dem er sich bis jetzt immer gebeugt hatte. „Denkst du auch mal ein wenig an die Menschen?! Unschuldige Menschen, die wegen eines Irrglaubens gefoltert und verbrannt werden?! Vergiss nicht, dass du zur Hälfte auch ein Mensch bist – wäre dir dein Rekord auch wichtiger gewesen, wenn es unser Vater gewesen wäre, der Opfer dieses Schreckens geworden wäre?! Es geht hier nicht nur um deinen Rekord, sondern auch um deinen Schutz. Wie ich schon sagte; die Hexenverfolgung nimmt zu – es ist einfach für uns alle zu riskant geworden, uns unbehelligt in Europa zu bewegen! Besonders wenn es darum geht, Dämonen auszulöschen – oder achtest du besonders darauf, dass dich niemand sieht? Wir könnten nicht nur selbst in Gefahr geraten, sondern auch die Verfolgung weiter anfachen. Wir Wächter fallen unter normalen Menschen auf, besonders wir Hikari. Du weißt doch, was mit Mary passiert ist… jämmerlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, bevor ein Wächter sie retten konnte.“ „Ja, ich weiß. Aber das war ein Unfall, ein Missgeschick, eine Verkettung ungünstiger Umstände – das könnte mir aber doch niemals geschehen, ich kann mich doch wehren-“ „Das ist nur eine Sicherheitsmaßnahme – und dein Rekord wird dir ja wohl nicht wichtiger sein als dein Leben? Man weiß nie, wer das Opfer einer „Verkettung ungünstiger Umstände“ sein könnte.“ Der Angesprochene antwortete nicht. Eine Weile schaute er verbissen in den Nachthimmel hinaus, ohne seiner Schwester zu verraten, was in ihm vorging. Gerade als sie ihn ansprechen wollte, fragte er: „Was meinst du damit „die Hexenverfolgung nimmt zu“?“ „Sie ist momentan sehr entflammt, besonders in den südlichen Teilen von Preußen, Spanien und Frankreich. Aber auch Schottland, England und die skandinavischen Länder sind betroffen… In Südpreußen haben wir wahre Massenprozesse konstatieren können. Die Zahlen der unschuldigen Opfer sind seit unserer letzten Zählung gestiegen und die Methoden, sie zu ihrem „Geständnis“ zu zwingen, sind immer brutaler geworden… Du kennst die Geschichten doch selbst, Seigi. Du hast von mir doch gehört, was bei den Prozessen im Jenseits besprochen wurde… Hizashi-sama beteuert, es seien Dämonen am Werk, weshalb er auch derjenige ist, der die Verantwortung für die Kommission tragen wird. Ich dachte mir, dass ich, sobald ich mein Kind zur Welt gebracht habe, mithelfen könnte, wegen unserem Vater… Ich denke, das bin ich ihm schuldig... Seigi? Wo willst du hin?!“ Seigi hatte genug gehört; abrupt war er nun plötzlich aufgestanden, schmiss seinen Umhang auf den Stuhl und schritt Richtung Tür. „Ich gehe ins Bad!“ Mit diesen Worten knallte er die Tür hinter sich zu und hinterließ seine Schwester mit einem großen Fragezeichen im Gesicht.      Seigi verstand gar nicht, wieso ihn dieses Thema so beschäftigte. Hexenverfolgung – das ging ihn eigentlich überhaupt nichts an! Sollten sich die Menschen doch gegenseitig umbringen, das konnte den Wächtern eigentlich egal sein, warum machte man so viel Aufstand… – dann hatten sie weniger zu beschützen und weniger Ärger, wenn sie sich gegenseitig umbrachten!   Seigi kam im Bad an, schlug wieder die Tür hinter sich zu und lehnte seinen Kopf an einen der großen Wandspiegel. Das kühle Glas des Spiegels und sein eigenes, grimmiges Gesicht beruhigten sein Gemüt ein wenig und nach einer kurzen Weile begann er, unzufrieden an seinen silbernen Haaren zu zupfen, dabei bemerkend, dass sie bald wieder zu lang waren. Safiya wollte, dass er sie sich lang wachsen ließ, aber er war dagegen; lange Haare würden ihn beim Kampf behindern. Wieder starrte er in seine eigenen minzgrünen Augen; hatte Safiya tatsächlich versucht, ihm mittels ihres menschlichen Vaters ein schlechtes Gewissen einzureden? Demjenigen, dem er diese Augen zu verdanken hatte? Was war er ihm denn schuldig? Nichts. Und nur weil er einen menschlichen Vater hatte, musste er jetzt Mitleid mit dessen Rasse haben? Er war es nicht, der eine Verfolgung gestartet hatte, oder?! Und jetzt blockierten diese dummen Menschen auch noch seinen Rekord, schrecklich, schrecklich – schrecklich nervig! Aber nein, seine Schwester wollte ihm lieber ein schlechtes Gewissen einreden. Safiyas Sinn für Gerechtigkeit war einfach… schrecklich immens und allumfassend. Dass sie ihren Bruder noch nicht aufgegeben hatte… Der Hikari seufzte und fing an, sich seiner Kleidung zu entledigen, wobei er sein Schwert achtsam samt Scheide auf einen kleinen Schemel nahe dem sich nun langsam füllenden Wasserbecken ablegte – doch bevor er es ablegte, wog er es noch ein wenig hin und her in seiner Hand, besah es sich nachdenklich; und er jetzt, wo er sein eigenes Spiegelbild in dem blanken Material seines Schwertes sah, dachte er an Elisabeth. Sie hatte auch auf seinen Augen herumgepocht; es war unmöglich gewesen nicht zu bemerken, wie sie ihm dauernd in die Augen gestarrt hatte. Was hatten sie nur alle mit seinen Augen? Seigi schüttelte den Kopf; er hatte keine Lust, darüber nachzudenken; er hatte allgemein keine Lust nachzudenken. Er wollte jetzt baden und dann darauf hoffen, dass die Dämonen in England seine Botschaft richtig verstanden hatten und gefälligst so schnell wie möglich mit Nachschub anrücken würden – noch war diese tolle neue Regelung ja noch nicht eingeführt, vielleicht schaffte er es ja, den Rekord zu brechen, bevor sie eingeführt werden würde--- Ein plötzlicher Schmerz zwang ihn in die Knie und fesselte ihn an den Boden – seine Brust, es war seine Brust, die von einem heftigen Schmerz erschüttert wurde und die seinen Atem dazu brachte, sich übereilig zu beschleunigen. „…W-Was in Lights Namen…?!“ Sein wirrer Blick fiel auf seine am Boden festgekrallten Hände und für einen Moment kam es ihn so vor, als wären seine Hände --- blutüberströmt. Aber das… wie war das möglich? Und so viel Blut… wie Wasser, das zwischen seinen Händen auf den Boden floss und sich auf den Fliesen ergoss. Verwirrende, verworrene Bilder eines Kampfes tauchten vor seinen Augen auf, vereinten sich mit dem Schmerz und dem Blut und dann ---- verschwand das alles. Das Blut, die Bilder, der Schmerz. Nur sein beschleunigter Atem blieb übrig.    Dennoch blieb er ein paar Sekunden auf den Knien und starrte seine Hände fassungslos an, die wieder normal und ohne Blut waren. Auch auf dem Boden war kein einziger roter Punkt zu sehen. Wurde er langsam wahnsinnig? Kämpfte er zu viel? Und wieso beunruhigte ihn dieser Anblick so sehr? Warum war sein Herz so sehr in Aufruhr? Er hatte oft, sehr oft, blutüberströmte Hände gehabt. Dieser Anblick erschreckte ihn schon lange nicht mehr. Warum diesmal?     Seigi war nicht der Einzige, der beunruhigt war. Auch Aurora hatte etwas Beunruhigendes festgestellt. Sie hatte in ihrem Arbeitszimmer gesessen, gerade noch einmal das Sicherheitssystem gewartet und sich von den Computerbildschirmen abgewandt, als ein schriller Piepton sie von ihrem Kaffee abhielt. Hastig stellte sie die Tasse auf einem ihrer Schreibtische ab und lief zum Bildschirm. Doch noch bevor ihre Hände auf die Tastatur niedersausen konnten, war der Piepton verschwunden und der Computer zeigte nur noch den Standard-Bildschirm an. „Was in Lights Namen…“ „Was in Lights Namen ist hier los?!“ Der momentane Elementarwächter der Erde, ein brauner Wuschelkopf namens Tiadrik, kam keuchend in ihr Arbeitszimmer gestürmt: er hatte seine Waffe schon kampfbereit in der Hand. „Tiadrik… Ich weiß-“ Doch weiter kam sie nicht, denn auch Safiya kam, begleitet von ihrer Tempelwächterin, ins Zimmer gerannt. „Aurora-san! In Lights Namen-“ „Lasst den armen Light doch aus dem Spiel! Der kann auch nichts dafür…“, rief Aurora leicht genervt und erntete sich von Safiya einen fragenden Blick, die weder die momentane Situation verstand noch die Reaktion ihrer Freundin. Tiadrik stemmte die Hände in die Hüfte und sagte: „Ich bitte um Erklärung! Ich scheine hier nicht der Einzige zu sein, der einen Dämon gespürt hat!“ Er drehte sich zu Safiya um und fügte hinzu: „Liege ich mit meiner Annahme richtig, Hikari-Safiya-sama?“ Die Angesprochene nickte. „Mein Sicherheitssystem hat ebenfalls einen Dämon geortet. Allerdings ist er schon wieder verschwunden“, erwiderte Aurora nachdenklich zu ihren Bildschirmen blickend. „Feigling!“, kommentierte Tiadrik in einem beleidigten Tonfall, denn seitdem Seigi mit seinem Rekord angefangen hatte, war Tiadrik, genau wie die anderen Elementarwächter, nicht oft dazu gekommen, seine Waffe in Gebrauch zu nehmen und das löste in ihm nicht gerade Gefallen aus – denn Seigi war nicht einzige, der gerne kämpfte. „Was ist mit Seigi? Vielleicht war er es ja, der den Dämon besiegt hat…“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief Safiya los. Die drei verbliebenen Wächter sahen sich kurz an und Tiadrik fragte: „War Hikari-Seigi-sama nicht gerade im Bad?“ Die Tempelwächterin nickte, was überflüssig war, denn ein schriller Schrei von Safiya war mehr als Antwort genug und kaum eine Minute später lief Safiya mit hochrotem Kopf an ihnen vorbei in Richtung ihres Zimmers. „Ich sehe eine schwere Nacht vor mir…“, seufzte die Tempelwächterin, denn das würde einiges an Beruhigungsarbeit kosten. „Soll sich mal nicht so anstellen, die werte Hikari-Safiya-sama. Die beiden Geschwister haben doch früher immer zusammen gebadet – und als ob sie nicht darauf vorbereitet gewesen wäre, ihn entkleidet zu sehen, wenn sie ins Badezimmer stürzt.“ „Ja, Tiadrik, das mag sein, aber das gemeinsame Baden liegt mittlerweile fünf Jahre zurück. Hikari-Seigi-sama ist jetzt immerhin 19…“, erklärte Aurora und wollte fast schon sagen, dass Safiya sich damals ihren Gefühlen für Seigi auch noch nicht bewusst war und dass man es daher kaum miteinander vergleichen konnte… Seigi machte sich darüber keinen Kopf. Über Safiyas Schreianfall hatte er nur gegrinst: ihm war es egal, ob sie ihn nackt sah, denn er sah es genauso wie Tiadrik. Außerdem schwirrten in seinem Kopf ganz andere Gedanken herum. Seufzend legte Seigi seine Oberarme auf den Beckenrand und legte seinen Kopf auf diese.  Das mit dem Blut ließ ihn nicht los; was war das nur gewesen? Ein Schwächeanfall? Unsinn, sein Immunsystem war ausgezeichnet. Noch nie war er krank gewesen, geschweige denn einen Schwächeanfall gehabt und er hatte auch keinerlei Verletzungen. Ob er sich an diesem einen Tag, den er auf der Erde verbracht hatte, eine Krankheit eingefangen hatte? Aber das hätte Aurora doch bemerkt… Seitdem er wieder im Tempel war, hatte er schon wieder einige Gesundheitstests hinter sich gebracht und alles war wie immer in bester Ordnung mit ihm. Alles im grünen Bereich. Vielleicht machte er sich einfach zu viele Gedanken… „Oder es liegt an Ellys widerlichem Essen“, sagte er mit einem Grinsen, doch das Grinsen verdunkelte sich schnell, als Seigi klar wurde, dass er schon wieder gegen seinen eigenen Willen an dieses Menschenmädchen gedacht hatte. Was war eigentlich los? Warum ging ihm Elisabeth nicht aus dem Kopf? Wahrscheinlich war sie auch der Grund, weshalb die ganze Sache mit der Hexenverfolgung ihm keine Ruhe gab. Es war schon so lange ein Thema für die Hikari gewesen, aber Seigi hatte es nie interessiert… er hatte es am Rande mitbekommen, ja, das war ja auch nicht zu vermeiden, so oft wie die Wächter und die Hikari darüber diskutierten. Einige wollten sich einmischen; dem ganzen ein Ende setzen, andere meinten, es wäre nicht die Aufgabe der Wächter, die Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu schützen; sie schützten sie vor Dämonen, alles andere lag außerhalb ihres Aufgabengebietes. Seigi nahm eine der Glaskaraffen, schüttete deren Inhalt auf seiner Hand aus und rieb ihn sich beiläufig in seine silbernen Haare. Normalerweise war er sogar zu faul, um seine eigenen Haare zu waschen, weshalb er das oft seine Tempelwächterin machen ließ, aber nicht heute – auf die Gesellschaft seiner Dienerin konnte er verzichten. Nachdem er sich seine Haare gewaschen hatte, lehnte er sich wieder an den Beckenrand und genoss einen Augenblick lang die warmen Dämpfe des Wassers – bis seine Gedanken ihn wieder ärgerten: …Die Zahl der unschuldigen Opfer steigt… Seigi schlug die Augen wieder auf und musste ein Fluchen unterdrücken, denn unwillkürlich musste er sich mit der Frage konfrontieren, ob Menschen gesehen hatten, wie er die Dämonen bekämpft hatte – tatsächlich hatte er wie immer nicht darauf geachtet, ob ihn jemand dabei beobachtet hatte. Ob es in Elisabeths Gegend auch Hexenverfolgungen gegeben hatte? …Die Methoden, sie zu ihrem „Geständnis“ zu zwingen, werden brutaler… Seigi wusste sehr wohl, was das für „Methoden“ waren. Folterung der abscheulichsten, kreativsten Art; sie wollten den Dämonen wohl Konkurrenz machen. Die Wächter hatten schon Abhandlungen darüber geschrieben; Seigi hatte diese nie gelesen, aber auch er wusste von den Methoden, die die Menschen anwandten, um Hexen zu einem sogenannten „Geständnis“ zu zwingen, damit sie noch weiter gefoltert werden konnten, um dann letztendlich im Feuer zu enden. Wenn irgendjemand Seigis Kampf gesehen hatte, dann war Elisabeth in Gefahr, in genau diese Teufelsspirale zu fallen und in ihr zu verbrennen. Diese Monster würden auch vor diesem zerbrechlichen Mädchen keine Scheu zeigen. Seigi wurde bei diesen Gedanken schlecht und ein glühender Hass gegen die Menschheit breitete sich in ihm aus wie Gift. Wie vom Blitz getroffen stand er auf, stürzte aus dem Becken und zog sich schnellstmöglich an. Ohne die Fliesen hinter sich zu trocknen oder das Wasser rauszulassen und mit dem Schwert in seiner rechten Hand verließ er das Bad und lief zu der Kammer seiner Tempelwächterin. Er schlug die Tür auf und ohne ein Wort der Entschuldigung keifte er: „Besorg mir einen Mantel! Und wehe, du lässt dir Zeit!“    Kapitel 28: Dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonenleben und ein Menschenleben - Teil 1 ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Seigi musste ein Fluchen zurückhalten. Denn kaum hatte er eine Minute auf dem Boden Englands verweilt, war er auch schon durchnässt bis auf die Knochen. Er hätte Aurora „Kein Regen über England!“ übermitteln sollen. Aber nein. Das hatte er natürlich in seiner Überstürztheit vergessen; wie er so vieles vergaß.   Er zog seinen braunen Mantel enger und stapfte grimmig, aber in Eile den Weg zu Elisabeths Hütte empor.   Schnell erkannte er jedoch, dass das Besteigen des Weges nicht nötig war und sofort drehte er sich um: die Tür war zerstört worden. Seigi hatte also wirklich recht gehabt. Er fing unbewusst an, schneller in die Richtung des nahe gelegenen Dorfes zu laufen. Zum Glück war er gut trainiert und durch den dichten Regenschauer sah er, wie das Dorf immer näher kam – er blieb nicht einmal stehen, als er einen Dämon spürte; warum auch, die Aura des Dämons kam aus dem Dorf. Nein – es waren zwei, wenn sich Seigis Gefühl nicht täuschte – und das tat es nie, wenn es um Dämonen ging. Die Auren waren nur schwach; ein kurzes Aufflimmern, dann verschwanden sie wieder. Zu diffus für sein Glöckchen, was nur bedeuten konnte, dass es sich nicht direkt um Dämonen handelte, sondern um Dämonie. Menschen, die von Dämonen besessen waren. Gut! Sehr gut sogar! Besser hätte es gar nicht kommen können, denn eigentlich durfte Seigi unter keinen Umständen Menschen angreifen, gar umbringen und wenn er niemanden töten durfte, war Seigi deutlich im Nachteil – er war nicht bekannt dafür, Rücksicht zu zeigen; es schränkte ihn nur zu sehr in seinem Handeln ein. Aber Dämonie änderte den Sachverhalt; von Dämonen besessene Menschen durfte man umbringen. Hehe!  Sofort, als er die ebenfalls vom Regen durchnässten Wege des Dorfes betrat, verlangsamte er seine Schritte, denn trotz des irritierenden Regens waren Menschen auf der Straße; sie hatten sich wohl notgedrungen an das Wetter gewohnt. Nicht unbedingt unauffällig sah Seigi sich um, doch sein Gefühl enttäuschte ihn; die Auren waren jetzt zwischen den Menschen nicht mehr spürbar – hoffentlich waren es nicht einfach nur irgendwelche Menschen, die von Dämonen besessen waren, sondern die, die Elisabeth gefangen genommen hatten. Es konnten nämlich genauso gut andere sein; Seigi hatte von Safiya gehört, dass die Dämonen zur Zeit scheinbar in einem wahren Dämonie-Rausch waren. Beunruhigend, hatten seine Mithikari mit nickenden Köpfen gemeint; Seigi hatte mit den Schultern gezuckt. Er war zu gleichgültig; etwas wofür ihn Safiya des Öfteren kritisierte. Seigi hatte nie versucht, den Vorwurf von sich abzuweisen, war mit sich selbst im Reinen – aber was tat er dann hier? Was trieb ihn in dieses verregnete, schmutzige, nach Tod und Krankheit stinkende Dorf? Statt sich jedoch lange mit dieser Frage zu beschäftigen, schob er sie beiseite und konzentrierte sich auf sein Vorhaben – und stand schon bald im kleinen, mickrigen Dorfzentrum; einem kleinen, nicht weniger dreckigen Platz vor einer sich in die Höhe hebenden Kirche, deren Glockenturm sich über sämtliche Häuser des Dorfes empor hob und streng auf die Bewohner des Dorfes hinab sah. Ein dunkles, bedrohlich wirkendes Gebäude. Auf dem Platz am Fuße der Kirche hatten sich mehrere Menschen versammelt; die meisten von ihnen waren Schaulustige, die sich an dem Unglück der anderen laben wollten. Seigi weigerte sich, sich zu ihnen zu gesellen; dieses Verhalten war ja widerlich, dachte er, während er sich nach einem besseren Ort umsah – und fand auch schon einen, der ganz nach seinem Geschmack war.            Elisabeth hatte Seigi genauso wenig bemerkt wie die anderen Dorfbewohner dem gänzlich fremden Individuum unter ihnen Beachtung geschenkt hatten; sie würden es bald ohne Zweifel tun, aber jetzt noch lag alle Aufmerksamkeit auf Elisabeth, deren Namen die meisten unter ihnen nicht einmal kannten; er war auch unerheblich. Sie war eine Hexe und mehr war nicht relevant, außer, dass man sich von solchen fernhielt… aber war das Mädchen nicht auch schon immer eigenartig gewesen? Hatte es wirklich jemanden überrascht, dass es sich mit dem Teufel traf?      Das junge Mädchen realisierte kaum, was um es herum geschah; die auf seine Haut hernieder prasselnden Regentropfen und die Tatsache, dass diese es fürs Erste vor dem Feuer retten würden, bemerkte es nicht, denn es war von einer vollkommenen Leblosigkeit erfüllt, die die Umstehenden allerdings nicht davon abhielt, es zu verspotten und zu beschimpfen – Worte, die allerdings keinerlei Regung in seinen leeren Augen hervorbrachten. Seine Kleidung war zerrissen, die Haare zerzaust und durcheinander; sie würden bald abgeschnitten werden, um es bis aufs Mark zu entstellen. Seine Beine und Arme zeigten Wunden der Tortur, der Hunger saß knurrend und beißend in ihm und ihm fehlten die Fingernägel. Es hatte nur noch einen; den Fingernagel seines rechten, kleinen Fingers. Es hatte gestanden, was auch immer es hatte gestehen müssen, was auch immer sie hören wollten; dass es eine Hexe war, die sich mit Dämonen traf, mit ihnen verkehrte – es hatte seine Menschenwürde weggeworfen, aber sie hatten dennoch nicht aufgehört. Elisabeth besaß den Fingernagel ihres kleinen Fingers noch, weil ihre Peiniger keine Zeit mehr gehabt hatten; nicht, weil sie Gnade gezeigt hatten. Auch jetzt zeigten sie keine Gnade. Elisabeth wurde an ihrem zerzausten Haar gepackt und ihr Kopf wurde somit in den Nacken gerissen. Mit flehenden Augen und gefesselten, brennenden Händen versuchte Elisabeth, an der Fratze des Mannes mit den gelben Zähnen vorbei zu sehen, weshalb sie das kurze, rote Aufleuchten seiner Augen nicht sah - sie wollte einfach den Himmel sehen, auch wenn er grau war, es sollte einfach vorbei sein… „Hier sind wohl zwei Dämonen besonders tief gesunken, huh!?“ Keiner der Anwesenden war in der Lage, diese Worte zu verstehen, dennoch hoben alle erstaunt den Kopf, legten ihn weit in den Nacken und erblickten dort oben, ausgerechnet auf der Giebelspitze der Kirche, die Hand lässig am Christuskreuz abstützend, einen in einen braunen Mantel gekleideten Mann, der grinsend auf alle hinabzusehen schien. Die Dämonen ahnten es bereits, aber es war Elisabeth, die ihn als erstes erkannte: „S…eiji?“ Dieser hatte zwar erkannt, dass sich zwei Dämonen unter den Menschen befanden, aber sein Instinkt sagte ihm leider nicht, welche von den Menschen von einem Dämon besessen waren, weshalb er eine Strategie gefunden hatte, auf die er sehr stolz war – davon musste er unbedingt Safiya erzählen! – denn wann geschah es schon einmal, dass er seine Schritte im Voraus plante? Nur alle Jubeljahre – und dann würde er auch noch Lichtmagie benutzen; seine Schwester würde so stolz auf ihn sein, hehe! Denn mittels seiner mickrigen Lichtmagie würde er herausfinden, in welchen Menschen die Dämonen nisteten. Menschen nahmen von Lichtmagie keinen Schaden; es blendete sie nur und machte sie unschädlich, wenn sie das Licht direkt sahen – und so wie gerade alle Augen auf ihm lagen… oh ja, er war genial! Dann würde Seigi die Dämonen erkennen und sie natürlich, wie es sich für den Tausendtöter gehörte, eilends ausschalten. „Ich zeige euch jetzt das wahre Licht, hahaha! Alle gut herschauen und – SPIRIT OF LIGHT!“ Während er diese Worte gerufen hatte, hatte er die Hand über sich erhoben, um diese mit noch größerer Schnelligkeit Richtung Boden zu jagen, womit sich der Lichtstrahl entfesselte und den Dorfplatz für einige Sekunden hell erleuchtete – und zufrieden stelle Seigi fest, dass seine Strategie aufging. Alle Menschen, bis auf zwei, lagen bewusstlos auf dem Boden. Die besagten zwei vermeintlichen Menschen bemerkten nun auch, dass sie nicht nur ertappt worden waren, sondern auch, dass sie in großer Gefahr schwebten; eine Gefahr, die weitaus größer und bedrohlicher war als der doch ziemlich schwache Lightspirit – viel Licht, aber wenig dahinter. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie sich lieber schnell aus dem Staub machen wollten, aber da machte Seigi ihnen einen Strich durch die Rechnung; gekonnt schlitterte er das Dach herunter und sprang auf den Platz; genau vor die beiden Feiglinge, womit er ihnen den Weg versperrte: „Zwei kleine, feige Dämonen erlauben sich also einen Spaß mit den Menschen…“, sprach Seigi langsam und deutlich in seiner eigenen Sprache, ganz ungeachtet ob sie ihn nun verstehen konnten oder nicht. „Ihr wollt mir doch nicht etwa den Spaß verderben? Ich meine, das wäre doch ungerecht, wo ihr doch euren hattet!“  Der größere der zwei von Dämonen besessenen Menschen antwortete irgendetwas, was Seigi genauso wenig verstand wie umgekehrt – aber er hatte seinen Namen herausgehört, begleitet von tiefer Angst. Seigi grinste fies und riss sich die Kapuze vom Kopf. „Genau! Hikari Meiyo Hikaru Seigi, alias der Tausendtöter, ist hoch erfreut, euch hier zu sehen und wird euch nun persönlich ins Höllenfeuer geleiten!“ Seigis Lichtmagie mochte noch so lächerlich schwach sein, doch umso schärfer war die Klinge seines Schwertes; keiner der beiden Dämonen sah, wie er sein Schwert zog. Der erste konnte nur tatenlos mit ansehen, wie Seigis Schwert mühelos durch seinen Partner hindurchging. Das Blut ergoss sich auf das weiße Gesicht Seigis, der sich davon nicht abhalten ließ und sich schon an den zweiten richtete, ehe die Leiche des Ersteren zu Boden gestürzt war. „Strike one!“, rief Seigi triumphierend und strahlte den anderen Dämon mit glühenden Augen an. Dieser wich einige Schritte von Seigi weg, der kurz grinsend innegehalten hatte und dann plötzlich hinter ihm auftauchte. Dem Dämon gelang es nicht einmal sich umzudrehen, ehe das Schwert des Hikari schon sein Herz durchstochen hatte und er – samt des Körpers des Wirts – starb.   „Strike two!“ Betrunken von seinem schnellen und absolut einwandfreien Sieg lachte Seigi sich selbst zu, während er das blutige Schwert an seinem Mantel abwischte und es in seine Schwertscheide zurück schob. So schnell ging das! Als er sich allerdings umsah, schwand sein Grinsen langsam und ein Seufzen entfloh ihm: „Wie einfach. Wie langweilig! Ich sehne mich nach einer echten Herausforderung…“ „Seiji…?“ Der Angesprochene drehte sich um und wusste noch, ehe er sich vollends zu ihr herum gedreht hatte, dass Elisabeths braune Augen auf dem Blut hafteten, das sich wie sonst auch auf Seigis Kleidung befand. Sie sagte allerdings nichts und Seigi sah auch keine sonderliche Reaktion auf ihrem eingefallenen, kränklich wirkenden Gesicht, als sie sich umsah und natürlich erkannte, dass die zwei Körper ihrer Peiniger nicht bewusstlos, sondern tot waren – und dass es Seigi gewesen war, der sie ermordet hatte. „Du wirst ja wohl kein Mitleid mit denen haben? Die waren es immerhin, die dich rein des Spaßes wegen gequält haben. Ich hätte sie eigentlich auch länger zappeln lassen sollen, aber wir können ja nicht alle wie Dämonen sein…“ Seigi war sich der Ironie der Worte bewusst, aber statt weiter über diese nachzudenken, kniete er sich zu Elisabeth herunter. „Das waren keine Menschen“, sagte er langsam und deutlich, so gut wie sein gebrochenes Englisch es zuließ. Elisabeth hatte zwar aufgehorcht, doch ihr Blick ruhte immer noch auf den Leichen, die sich dieses Mal nicht auflösten; immerhin waren die Körper die von Menschen gewesen und Menschen lösten sich nun einmal nicht auf.  Seigi streckte seine Hand nach Elisabeths Arm aus, aber kurz bevor er ihre zerschürfte Haut berühren konnte, zuckte sie weg – und als wäre die Hand Seigis gefährlich, zog sie sich weiter von ihm zurück, rutschte auf dem schlammigen Boden herum; sah ihn auch nicht an, sondern wich seinem verwirrten Blick mit hastig in ihren Augen herum rollenden Augäpfeln aus. „Elly, was…“ Weiter kam der Tausendtöter allerdings schon nicht mehr, denn er vernahm Stimmen um ihn herum und als er den Kopf wandte, sah er in die schreckschlagenden Augen der durchnässten Menschen, die zuerst die um die zwanzig bewusstlosen Dorfbewohner sahen, dann Elisabeth und zu guter Letzt den in Blut getauchten Seigi erblickten. Einer von ihnen rief den anderen beiden etwas zu, was Seigi im Moment nicht verstand – er wollte es auch nicht verstehen. Seigi dachte nicht sonderlich lange darüber nach; er tat es einfach. Ohne auf Elisabeths Reaktion sonderliche Rücksicht zu nehmen, packte er ihre Hand und brachte sie beide in den Tempel.        Im Tempel angekommen wurden sie von einer brodelnden Safiya in Empfang genommen, die ihren Gefühlsausbruch allerdings im Zaum hielt – nein, deren Wut sofort verrauchte, als sie die in Seigis Armen liegende, gänzlich steife und schnell atmende Elisabeth sah. Die Standpauke für ihren Bruder konnte warten. Bestürzt löste Safiya die streng gefalteten Arme von ihrer Brust und war schon zur Stelle, um das Menschenmädchen zu stützen, als Seigi sie herunter ließ – allerdings schienen Elisabeths Beine im Moment nicht dafür geeignet zu sein zu stehen, weshalb Safiya ihre Tempelwächterin auch schon beauftragte, Hilfe zu holen und das keine Sekunde zu früh, denn als Elisabeths aufgeregt umherhuschende Augen zu realisieren schienen, dass sie nicht mehr im Dorf war, dass sie an einem gänzlich anderen Ort war; an einem Ort, der im Himmel schwebte… da gaben ihre Beine auf und sie sackte ohne Bewusstsein in die sie haltenden Arme der beiden Geschwister. „Oh… das war wohl etwas viel für sie – hätte ich sie vorwarnen sollen?“ Safiya antwortete ihrem Bruder nicht, stattdessen ließ sie einen mitfühlenden, aber auch prüfenden Blick über das verletzte Mädchen schweifen, wobei sie besonders an dessen Händen hängen blieb. „Sie wurde gefoltert…“ Safiya blickte auf: „Seigi, hast du dieses Mädchen etwa vor den Flammen gerettet?“   „Was hätte ich sonst tun sollen? Du siehst ja selbst, was sie mit Elly getan haben – hätte es nicht geregnet, wäre sie jetzt Asche. War der Regen ja doch noch zu etwas gut…“ Elly? Das war also das Mädchen, in das… also, für das Seigi Englisch lernte? Das Mädchen, in das er laut Gerüchten… verliebt war? Safiya hatte den Gerüchten keinen Glauben schenken wollen, hatte nicht über sie nachdenken wollen, hatte es aber natürlich doch getan… aber in ihren sie plagenden Spinnereien hatte sie sich irgendwie nie Gedanken darüber gemacht, wer das Mädchen war, in das Seigi sich angeblich verliebt hatte oder wie es aussah – die einzige Frage, die sie sich konstant gestellt hatte, war, wie es jemandem gelungen war, ihren Klotz von einem Bruder überhaupt dazu zu bringen, so etwas wie Verliebtheit zu empfinden – wenn es denn wahr war. Safiya schüttelte den Kopf; sie wollte nicht darüber nachdenken und Seigis fragenden Blick ignorierend, richtete sie sich an den herbei eilenden Arzt und trug ihm auf, sich um Elisabeth zu kümmern; sie von oben bis unten zu durchleuchten und ihr die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen. Natürlich verweigerte er den Befehl seiner Hikari nicht, aber in seinem Blick stand doch die Verwunderung geschrieben – sie war doch ein Mensch? Was tat ein Mensch im Tempel? Genau diese Frage stellte Safiya sich eigentlich auch – ihr eigentlich so rücksichtsloser Bruder lernte nicht nur eine Sprache für eine andere Person, er rettete sie auch noch… machte sich Sorgen um sie; wie deutlich konnte Safiya das nicht in seinen Augen sehen, als der Arzt Elisabeth zusammen mit zwei Tempelwächtern auf einer schwebenden Bahre fortbrachte, um Safiyas Befehl nachzugehen? „Glaubst du, sie wird wieder?“ Safiya wandte sich von Seigi ab; der Anblick ihres besorgten Bruders schmerzte sie zu sehr: „Ihr Körper sicherlich. Was ihre Seele angeht… das hängt von vielen Faktoren ab.“ Sie atmete tief durch und zwang sich, ihr schmerzendes Herz zu ignorieren, indem sie ihre Wut wieder heraufbeschwor, aber es gelang ihr nicht gänzlich. Dennoch konnte sie sich wieder zu ihrem Bruder herumdrehen und ihn nun endlich mit den offensichtlichen Fragen konfrontieren: „Seigi, sag mir, warum du das arme Mädchen hierher gebracht hast.“ „Warum wohl? Sie wurde als Hexe verurteilt, wie ich schon sagte.“ Seine Schwester sah ihn mit hochgezogenen Brauen an: „Seit wann bist du so sozial?“ Safiyas Augenbrauen zuckten gefährlich, als sie deutlich bemerkte, dass Seigi nicht sonderlich heiß darauf war, dieses Thema zu besprechen; er schien es sogar auf eine recht billige Art wechseln zu wollen, indem er Safiya auf das an ihm klebende Blut aufmerksam zu machen versuchte, aber das funktionierte nicht; sie ignorierte sein Blut mit Müh und Not. „Willst du jetzt etwa jedes Mädchen hierher bringen, das als Hexe verurteilt ist?! Vor nur fünf Stunden habe ich dir erklärt, dass die Ratsmitglieder gerade beschlossen haben, dass wir nicht mehr in die Menschenwelt dürfen – und das erstbeste was du machst, ist in die Menschenwelt zu gehen?!“ „Diese neue Regel ist ja wohl noch nicht offiziell verkündet worden, oder?“ Safiya war kurz davor, die Arme über dem Kopf zusammen zu schlagen: „Ich glaube, dieses Argument interessiert die Ratsmitglieder weniger!“ „Mich interessieren die Ratsmitglieder und unsere Vorfahren aber nicht.“ „Du weißt genauso gut wie ich, dass das gelogen ist.“ Ganz offensichtlich wollte Seigi gerade rein aus Prinzip gegenansprechen, aber da sah er dann doch ein, dass es nichts brachte, dagegen zu argumentieren. „In diesem Fall interessiert mich deren Meinung wirklich nicht.“ „Weil du in sie verliebt bist?“ Seigi antwortete nicht, aber Safiya sah überrascht und besorgt, dass Seigi rot wurde und sich tatsächlich abwandte; aber schnell eroberte seine kleine Schwester Seigis Aufmerksamkeit und angesichts ihres plötzlichen Wutschwalls sah er sich auch gezwungen, sich ihr wieder zuzuwenden:   „Was hast du dir nur dabei gedacht? Ein Menschenmädchen! Du holst ein Menschenmädchen in unser Zuhause, in eine Welt, die nicht für die Menschen vorgesehen ist! Gut, es ist nicht verboten einen Menschen zu lieben, aber hättest du dir nicht ein Beispiel an unserer Mutter nehmen können? Sie hat Vater nie mit hierhin genommen; sie hat ihn immer nur in der Menschenwelt getroffen! Ist dir eigentlich klar, dass das arme Mädchen nie wieder in ihre Welt, in ihr Leben zurückkehren kann?! Was hast du dir bloß dabei gedacht! Ah, nein, warte, ich kenne die Antwort – du hast dir GAR NICHTS gedacht, du hast es einfach getan, weil du du bist, einfach typisch, Seigi!“ „Komm, Safi, sei kein Windwächter und hol tiiiiiiief Luft…“  „Ich will keine Luft holen! Am liebsten würde ich dich… Argh! Verdammt!“ „Oh! Oh, du hast geflucht, Safi?!“ Die Angesprochene bemerkte ihr Vergehen auch sofort und schlug sich beschämt die Hand vor den Mund:     „Ich bitte vielmals um Verzeihung…“ Seigi lachte nur grinsend: „Ach, das macht nichts! Ich bin deine Standpauken ja gewohnt!“ Finster verdunkelte sich das eigentlich vor Zorn gerötete Gesicht seiner kleinen Schwester: „Das war nicht an dich gerichtet! Ich habe mich bei unseren göttlichen Vorfahren für mein Fluchen entschuldigt!“ Dann seufzte sie tief, hob die Augen nach oben, legte den Kopf kurz in den Nacken und atmete noch einmal tief durch, ohne Seigis Grinsen sonderlich viel Beachtung zu schenken, der sich plötzlich wieder so aufführte, wie er es immer tat; als wäre dies nur eine ihrer normalen Plänkeleien – aber das war es nicht. Das… war es nicht. Sie war nur gespielt. Sie spielten es beide. Auch wenn Seigis Gesichtsausdruck es nicht vermuten ließ: von dem Moment an, das wusste Safiya, würde nichts mehr so sein wie früher.     Die Untersuchungen untermauerten das, was die beiden Hikari-Geschwister bereits geahnt hatten: Elisabeth war gefoltert worden. Neben den herausgerissenen Fingernägeln hatte sie auch mehrere Hämatome und innere Blutungen; nichts, was eine besonders große Herausforderung für die wegen der Kriege geschulten Ärzte des Wächtertums war; dennoch, so sagte man Safiya, wäre es ratsam, wenn Elisabeth erst einmal im Bett bleiben würde. Ein Ratschlag, für den Safiya zwar dankbare Erkenntlichkeit zeigte, aber eigentlich sah sie ihn als relativ unnütz an, denn natürlich war ihr klar, dass es ratsamer war, Elisabeth erst einmal im Bett zu belassen. Es war eine Sache, ihre Fingernägel zu heilen; eine andere ihr dabei zu helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Falls nötig sollten sie vielleicht psychologische Hilfe in Betracht ziehen…   Ohne von Seigi bemerkt zu werden, hatte Safiya die Tür zum Krankenzimmer geöffnet, in das Elisabeth gebracht worden war. Ein kleines, dünnes Zimmer, mit einem runden Fenster hinter dem weißen Bett und damit im Moment auch die einzige Lichtquelle, die grau wirkendes Licht in das ohnehin sehr melancholisch wirkende Zimmer warf. Vorsichtig schob Safiya die Tür mit ihrem Fuß zu, die sie anders nicht hätte schließen können, denn sie hatte zwei Gläser in der Hand - eines von diesen gab sie nun Seigi, der aufschreckte, als er seine Schwester plötzlich neben sich bemerkte. Er war zu gedankenverloren gewesen, um ihre Anwesenheit zu bemerken. Auch jetzt noch, als er sie bemerkt hatte, blickte er das Glas in ihrer Hand verwundert an, als wisse er nicht, wo es plötzlich herkäme. „Gurkensaft. Mit einem Spritzer Zitrone und zwei Löffeln Zucker. Genau wie wir es am liebsten mögen.“ Die Verwunderung legte sich und die beiden Geschwister lächelten sich in diesem ungewohnten Moment der Ruhe warm an. „Danke, Safi.“ Das Lächeln Safiyas wurde ein wenig traurig, doch Seigi bemerkte es nicht, denn er war aufgestanden, um seiner schwangeren Schwester seinen Stuhl zu geben, den sie auch dankend annahm und sich hinsetzte, während Seigi sich kurzerhand auf den Boden fallen ließ. Die beiden wählten es, schweigend ihren Saft zu trinken; beobachteten beide die ruhig schlafende Elisabeth - jedenfalls teilweise, denn nach einigen verstrichenen Minuten blickte Safiya verstohlen zu ihrem Bruder. Dieser ernste Anblick… wie ungewohnt er für ihn war. Selten hatte sie ihn so ernst, so in sich verschlossen gesehen. Verschlossen… das war eigentlich kein Wort, das sie mit ihrem Bruder in Verbindung brachte. Jedenfalls war er ihr gegenüber nie verschlossen gewesen. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, ihn nicht zu verstehen; aber jetzt… jetzt wusste sie nicht, was in seinem Kopf vorging. Es war ein sehr… eigenartiges Gefühl. Befremdlich schon. Befremdlich und lähmend. Jetzt in diesem Moment, als Seigi, nachdem er seinen Saft ausgetrunken hatte, begonnen hatte, ihr von seinen Erlebnissen in England zu erzählen, rührte sich nicht einmal ihr gefürchtetes Temperament, obwohl es dafür eigentlich Gründe genug gab. Nur bei einer Sache konnte sie nicht ruhig bleiben: „Von allen Dingen, die du in dieser Situation hättest tun können, musstest du ausgerechnet auf die Idee kommen, von einer Kirche herunter zu springen?“ „Ich hatte eigentlich gedacht, das würde dich beeindrucken!“, erwiderte Seigi schmollend, die Arme mittlerweile auf der Bettkante liegend. „Das einzige was mich „beeindruckt“ ist deine unüberlegte Tollkühnheit.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Gurkensaft: „Nicht nur, dass du Menschen mit unserem Licht blendest…“ „Ey, du musst zugeben, das war eine ziemlich geniale Idee…“ „Es ist dennoch Magieeinsatz vor Menschen - und das werden auch die Ratsmitglieder sagen. Menschen haben gesehen, wie du dich teleportiert hast - mit ihrer vermeintlichen Hexe - du bist von einem Kirchturm gesprungen… du hast wirklich ganze Arbeit geleistet. Das Dorf wird garantiert niiiie wieder an die Existenz von Magie glauben.“ Seigi warf einen schielenden Schmollblick zu seiner Schwester: „War das Ironie?“ „Ja, das triefte vor Ironie“, antwortete Safiya mit verengten Augen, ehe sie ihr Glas leerte und es seufzend auf einer niedrigen Kommode abstellte. „Ich werde es dem Rat sofort mitteilen.“ Laut stöhnend versenkte Seigi seinen Strubbelkopf in das weiße Laken. „Muss das sein?!“, ertönte seine Stimme gedämpft, aber die Beschwerde war dennoch deutlich zu hören. „Ja, das muss sein.“ Safiya erhob tadelnd den Zeigefinger: „Man muss für seine Taten Verantwortung übernehmen - und wenn nicht schnell was unternommen wird, musst du dafür geradestehen, dass ein ganzes Dorf sich selbst abgebrannt hat.“ „Als ob das ein Verlust wäre…“ Der eben noch erhobene Zeigefinger grub sich in Seigis Kopf, gefolgt von tadelnden Worten, dass er so was doch nicht sagen könne und erst recht nicht dürfe!           Weder Safiya noch Seigi waren anwesend gewesen, als Elisabeth aus ihrer Ohnmacht erwacht war, aber der Arzt hatte ihr geschildert, dass das Menschenmädchen ein sehr panisches Verhalten an den Tag gelegt hatte. Von diesem panischen Verhalten sah man im Moment jedoch nichts, wie Safiya feststellen musste, als sie sich von der Tür abwandte, wo sie eben noch mit dem Arzt gesprochen hatte und nun wieder zu dem Bett sah, in dem Elisabeth lag. Jetzt hatte sie sich beruhigt; jetzt wo Seigi neben ihr am Bett saß. Ihre Panikattacke war sofort abgeflaut, als er herein gestürzt gekommen war und ihre Hand ergriffen hatte. Seitdem hatte er sie nicht mehr losgelassen. Desorientiert in dieser fremden Umgebung, losgerissen von allem, was sie kannte und zu dem sie hatte relatieren können, war Seigi das Einzige, was ihr keine Furcht einjagte. Dennoch war in ihren Augen eine eigenartige Dumpfheit zu erkennen und obwohl sie ihn, der ihr ununterbrochen die Hand hielt, ansah, so schienen ihre Gedanken doch an einem anderen Ort zu sein und gerade als Safiya sich langsam zu ihnen gesellte, zog Elisabeth auch ihre Hand zurück, verbarg sie unter der Bettdecke und wandte ihren Blick ab. „Sei unbesorgt“, begann Safiya auf Englisch und setzte sich zu Elisabeth ans Bett: „Hier bist du in Sicherheit.“ Elisabeth blickte nun zu Safiya, dann zurück zum ernst blickenden Seigi, verhielt sich allerdings schweigend, obwohl sie sie sicherlich verstanden hatte. „Mein Name ist Safiya. Ich bin die jüngere Schwester Seigis.“ Freundlich lächelnd blickte Safiya sie an und ihr war, als würde Elisabeth das Lächeln erwidern wollen, aber etwas hinderte sie daran und ein entschuldigender Ausdruck trat in ihre Augen, als sie sich wieder abwandte. Aber Safiya hatte Geduld. „Mein Bruder nennt dich „Elly“. Ist das dein richtiger…“ Da unterbrach sie sich selbst, denn das ruckartige Zusammenzucken ihres Bruders blieb ihr nicht unbemerkt. Besorgt drehte sie sich zu ihm herum und ihre Sorge nahm zu, als sie sah, dass Seigi seine Hand über seinen Augen zusammen krampfte und dass auch sein Körper sich eigenartig krümmte. „Seigi, bist du etwa ver…“ „…Seiji?“ Beide Geschwister sahen nun plötzlich Elisabeth an, die auf einmal, angeregt von der Sorge um Seigi, ihre Stimme wiedergefunden hatte und auch ihre Augen schienen wieder in der Lage zu sein, zu fokussieren. Sofort zwang sich Seigi zu einem Grinsen und löste die bebende Hand wieder von seinem Gesicht: „Nein, nein, alles gut!“, versicherte er den beiden Mädchen in einem sehr versuchten und gebrochenen Englisch, was Elisabeth aber trotzdem zu verstehen schien, aber beruhigen konnte es sie genauso wenig wie Safiya, die bemerkte, dass Seigi ungewöhnlich blass wirkte. Aber er… war doch nicht verletzt? Er kam doch gerade von einem Gesundheitscheck, bei dem alles in Ordnung gewesen war? Gerade als die beiden Mädchen eine Erklärung haben wollten, klopfte es an der Tür und als Safiya den unangemeldeten Besucher herein bot, fluchte Seigi in Gedanken, denn der Besucher war Adir - und das bedeutete, dass es Zeit war für Standpauke Nummer zwei.     „Du schaffst es immer wieder, den Rat in Aufruhr zu versetzen, Seigi.“ Verschmitzt grinsend wich Seigi Adirs tadelndem Blick aus, der ihn die Antwort, ob er das positiv sehen sollte, verschlucken ließ. Denn es war ganz offensichtlich nicht positiv, wie er anhand von Adirs Blick erkannte; der eigentlich sonst so ruhige Hikari wirkte ziemlich angespannt, aber auch erschöpft. Es ging wohl rund im Jenseits, huh? „Soweit ich weiß, ist die Regel, dass wir Hikari die Menschenwelt nicht mehr betreten können, noch nicht niedergeschrieben“, antwortete Seigi, die Hände auf den Rücken gelegt, denn er wollte vermeiden, dass auch noch Adir seine zitternde Hand bemerkte. Auch er selbst wunderte sich über das Verhalten seiner schwertführenden Hand, aber darum konnte er sich später noch sorgen. Nur das beständige Zittern irritierte ihn sehr.   „Das ist durchaus wahr, Seigi. Aber leider hast du auch noch ein paar andere Regeln - niedergeschriebene Regeln - gebrochen. Du hast dich Menschen offenbart, du hast im Beisein von Menschen Magie angewandt; du hast sie gegen sie benutzt…“ „Nur um sie zu blenden, damit ich…“ „Irrelevant für jemanden wie Hizashi“, bemerkte Adir mit einem Hüsteln und fuhr fort: „Das waren schon drei Regelverstöße und dann hast du einen Menschen auch noch hierher gebracht.“ „Was hätte ich sonst tun sollen? Ich habe sie gerettet - ich dachte, das wäre unsere Aufgabe?“ „Ja, in der Tat. Aber nur solange die Bedrohung von Dämonen ausgeht. Geht die Bedrohung von einem Mitmenschen aus, dürfen wir uns nicht einmischen.“ „Aber die vermeintlichen Menschen waren von Dämonen besessen!“ „Darüber sind wir informiert und es war richtig von dir, die besessenen Menschen zu eliminieren - aber dann hättest du dich zurückziehen müssen.“ „Das hätte Ellys Tod aber nur hinausgezögert!“, entfuhr es Seigi wütend: „Da waren noch andere Menschen, die zu diesen Hexenverfolgern gehörten! Sobald sie wieder erwacht wären, hätten sie weitergemacht und Elly wäre zum jetzigen Zeitpunkt Asche. Safi hat mir erzählt, dass ihr gerade dabei seid, etwas dagegen zu unternehmen…“ „Das ist zwar richtig, aber hierbei handelt es sich nur um die Fälle, die von Dämonen provoziert worden sind und das sind, so wie es im Moment aussieht, nur 15%.“ Der zornige Faustschlag Seigis gerammt an eine Säule unterbrach Adir. Es war wirklich eine gute Idee von ihm gewesen, Seigi aufzusuchen, ehe er vom Rat vorgeladen wurde; Adir wollte gar nicht wissen, wie Seigi reagiert hätte, hätte er gehört, was Hizashi während der Ratsversammlung gesagt hatte… dass sie doch kein Asylheim für Menschen seien und dass die Entwicklung momentan alles andere als positiv sei - zuerst die Mutter mit einem Menschen, dann der Sohn… wo solle denn das alles noch hinführen… dachte denn niemand an das Erbmaterial? Hoffentlich war Safiyas Kind der nächste Lichterbe… „Ich wusste gar nicht, dass es die Regel gibt, dass man keine Menschen hierher bringen darf“, ertönte Seigis Knurren, als er seine Faust wieder zu sich zog, aber nicht sonderlich beruhigt schien - wie konnte er auch! Nur 15% aller Fälle waren von Dämonen verübt worden?! Was war das für eine Welt, in der Menschen - die immerhin alle zur gleichen Rasse gehörten - sich gegenseitig so etwas antaten?! Und da hieß es, Dämonen seien der Ursprung aller Boshaftigkeit… und in so eine Welt sollte er Elisabeth zurückschicken?! War der Rat denn vollkommen von Sinnen?! „Die gibt es tatsächlich auch nicht, immerhin wurden die heiligen Regeln zu einer Zeit verfasst, in der die Menschen noch nicht existierten und einzig die Sonderregeln wurden seitdem hinzugefügt. Es ist daher auch nicht richtig zu behaupten, dass es eine neue Regel sei, dass wir Hikari die Menschenwelt nicht mehr betreten können - es ist eher…“ Seigi hatte absolut nicht im Interesse, mit Adir über Definitionen zu sprechen; schon gar nicht im Zusammenhang mit Regeln.  „Gut“, lautete Seigis giftige Antwort: „Dann habe ich ja auch nichts falsch gemacht.“ Adir hob die Augenbraue; hatte er ihm zugehört? „“Im Zweifelsfalle ist die Meinung des Lichtes die, die über allem steht“. Regel B1, Seigi. Ich denke du weißt, was das bedeutet?“ „Jaha, ich weiß, was das bedeutet - das bedeutet, dass der ach so erleuchtete Rat sich einig sein muss und ich nehme an, dass ihr das nicht seid; wie immer.“ „Das stimmt“, gab Adir zu mit einem leichten Kopfneigen, ohne auf Seigis provokanten Tonfall einzugehen: „Aber es zeichnet sich eine deutliche Meinung ab.“ „Und die wäre?“ Kurz schwieg Adir, betrachtete den ziemlich wütend wirkenden Seigi, der aufgebracht seine Hand in die Hüfte gestemmt hatte und unruhig mit dem linken Fuß auf und ab stampfte. Die Antwort würde wahrscheinlich in einem weiteren Faustschlag resultieren… „Ein Mensch darf hier nur leben, wenn er mit einem Wächter liiert ist.“     Safiya bemerkte, dass Elisabeth nun langsam anfing, sie wahrzunehmen. Sie musterte sie und in ihre Augen kehrte nun langsam das Leben zurück; Neugierde kam zum Vorschein, zusammen mit der Verblüffung angesichts des Reichtums, den Safiya als Regime-Führerin trug. Ihr langes Seidenkleid, die darin eingearbeiteten Perlen und Goldfragmente; das goldene Glöckchen, ihre Ohrringe und die Perlen an ihrem Hals und Haarschmuck - und natürlich blieb ihr bei ihrer Musterung auch Safiyas runder Bauch nicht unbemerkt. Dann wurde sie rot, wohl weil sie sich dafür schämte, Safiya so angestarrt zu haben und zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch und hätte sie wohl noch höher gezogen, hätte Safiya sie nicht mit einem zurückhaltenden Lachen aufgehalten: „Möchtest du vielleicht auch so ein Kleid tragen?“          Adirs Augenbrauen hoben sich eine Spur, als er einige Meter hinter Seigi die Tür zum Krankenzimmer aufgehen sah und er, im Gegenteil zu Seigi, beobachten konnte, wie Safiya das Menschenmädchen bei der Hand haltend den Gang herunter führte. Was hatten die beiden…? „Mit anderen Worten, ich soll Elly heiraten?“ Seigis Frage sorgte dafür, dass Adir ihn wieder ansah und von dem Vorhaben der beiden Mädchen abgelenkt wurde: „Ja… das heißt es.“ Seigi zuckte mit den Schultern: „Gut, dann mach ich das.“ Jetzt hatte Seigi Adirs Aufmerksamkeit unter allen Umständen wieder: „Was?! Du willst sie heiraten? Hast du nicht noch, als es um den nächsten Lichterben ging, darauf bestanden, dass du nicht derjenige sein würdest, der heiratet?“ Seigi zuckte gleichgültig mit den Schultern, sagte allerdings nichts, weshalb Adir fortfuhr: „Bist du etwa wirklich in das Mädchen verliebt?“ Eine warme Röte breitete sich auf Seigis Gesicht aus, was nicht nur ihm nicht unbemerkt blieb, sondern auch Adir, der das, was er sah, genauso wenig glauben konnte wie Safiya. Er kannte die beiden Geschwister seit sie klein waren und nie, nie, hätte er gedacht, dass Seigi seine Aufmerksamkeit anderem zuwenden würde außer seinem Schwert und seiner Schwester. Er interessierte sich nicht einmal sonderlich für die Wächter, die sich in seiner Nähe befanden; die Elementarwächter seiner Schwester waren für ihn einfach nur Randfiguren und auch zu seiner Mutter hatte er ein… eher distanziertes Verhältnis. In seiner Welt hatte es immer nur sein Schwert und Safiya gegeben – und jetzt rettete er nicht nur ein Menschenmädchen, er warf sich auch noch in Probleme für sie? „Ich weiß nicht, ob ich das bin“, antwortete Seigi widerwillig, wie es Adir vorkam: „Ich weiß nur, dass ich nicht zulassen werde, dass Elly etwas zustößt. Und wenn ich heiraten muss, dann muss ich wohl heiraten.“               Kapitel 29: Dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonenleben und ein Menschenleben - Teil 2 --------------------------------------------------------------------------------------------------   Seigi machte sich tatsächlich weniger Gedanken über eine baldige Hochzeit als Adir annahm; für ihn war es einfach nur die einfachste Möglichkeit dafür zu sorgen, dass Elisabeth nicht in die Menschenwelt zurückkehren musste. Als Adir ihn fassungslos fragte, wann er sie denn zu heiraten gedenke, antwortete er daher, dass es ja wohl am besten sei, das so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen, um das Thema abzuhaken und damit die Ratsmitglieder Ruhe geben würden. Umgehend versicherte Adir Seigi, dass das so schnell nicht funktionieren würde; es gab da einige Komplikationen… unter anderem, dass ein Hikari ja eigentlich nicht unter dem Stand eines Offiziers heiraten durfte… dass man den Sachverhalt noch einmal genau würde prüfen müssen… sie sollten nichts überstürzen… „Dann sag Bescheid, wenn sich die ehrenwerten Ratsmitglieder entschieden haben. Bis dahin widme ich mich wieder meinen Pflichten: meinem Rekord!“ Und während Seigi vom einen Moment auf den anderen plötzlich mehr oder weniger verlobt war, leistete Safiya an einem anderen Punkt des Tempels ganze Arbeit. Zuerst wusch sie Elisabeth gründlich; entknotete ihre verfilzten Haare und brachte – natürlich mit ihrer Zustimmung – Ordnung in diese, als sie ihr zusammen mit ihrer perplexen Tempelwächterin die Haare schnitt. Dazu lieh Safiya ihr eines ihrer Kleider – zum Glück hatten sie dieselbe Größe – in welches sie sie kleidete, genau wie sie es Elisabeth versprochen hatte, die sich in dem großen Wandspiegel in Safiyas Zimmer erstaunt betrachtete. War das… wirklich sie? War das alles nicht nur ein fantastischer Traum? Dieser Ort… schwebend im Himmel… die Kleidung der hier Lebenden, das Kleid, in welches ihr Spiegelbild gekleidet war, das ihr mit großen Augen entgegenblickte. Sie… sie hatte ja zuvor noch nicht einmal einen Spiegel gesehen… was für ein eigenartiges Gefühl, sich selbst zu sehen, in diesem Gewand, platziert in diesem Zimmer; in dieser Welt... Elisabeth konnte es nicht glauben. Auch Seigi schien es nicht glauben zu können. Als Safiya zusammen mit Elisabeth den Speisesaal betrat, wo der Hikari gerade mit den Elementarwächtern seiner Schwester zu Abend aß, verlor Seigi vor Überraschung seinen Löffel. Es war dieses erstaunlichen Bild von dem Mädchen, das er kaum wiedererkennen konnte, das eben noch mit leerem Blick im Bett gelegen hatte und nun schüchtern, aber mit einem aufgeregten Flackern in den Augen, auf ihre am Saum des Kleides nestelnden Hände sah, welches Seigis goldenen Löffel, dazu brachte mit einem hellen Ton in seine Suppe zu fallen. Safiya zwang sich zu einem Grinsen und legte ihre Hände auf die Schultern Elisabeths: „Da haben wir wohl ganze Arbeit geleistet, was, Bruderherz?“     „Ein ganz klares und striktes Nein.“ Safiya zwang sich dazu, langsamer zu atmen, nein, gar nicht zu atmen; das musste sie immerhin hier im Jenseits gar nicht; es brachte nichts, so begierig nach Luft zu schnappen… Argh, sie musste sich beruhigen und sich auf Hizashis Worte konzentrieren, auf die Ratsversammlung, in der sie momentan festsaß. Ja, festsaß war das richtige Wort, denn sie wollte am liebsten sofort zurück ins Diesseits stürzen, zu Seigi, zu Seigi… und ihm eine Ohrfeige verpassen. Ja, genau das wollte sie. Wie kam er nur dazu, ihr, seiner Schwester, zu verschweigen, dass er Elisabeth heiraten wollte?! Warum musste sie das durch eine Ratsversammlung erfahren? Völlig unvorbereitet?! „Ja! Ja, ich bin mir in der Tat bewusst, dass es keine Regel gibt, die das Zusammensein und damit auch eine Heirat mit einem Menschen verbietet…“ Hizashi klang überaus genervt; genervt darüber, dass der Rat sich mit solch einem Thema beschäftigte, beschäftigen musste, obwohl es doch so viel Wichtigeres zu klären gab… Safiya hörte nur mit halbem Ohr zu. Warum hatte Seigi es ihr nicht erzählt? Warum? Warum? „… aber die Eheschließung ist eine Zeremonie, die wie jede andere Zeremonie Regeln unterschrieben ist und eine dieser Regeln besagt deutlich, dass sich ein Hikari nicht unter dem Stand eines Offiziers verheiraten darf!“ „Menschen werden in der besagten Regel 65B, wenn ich mich nicht täusche, nicht explizit ausgeschlossen.“ „Nein, Adir-san, das weiß ich auch“, zischte Hizashi förmlich, unruhig mit den Fingern auf seinen verschränkten Armen trommelnd: „Weil diese Lebensform zum Zeitpunkt der Regelschreibung nicht existierte. Aber ich denke, wir wollen nicht darüber diskutieren, dass ein Mensch wohl kaum auf dem gleichen Stand wie ein Offizier platziert werden kann, nicht wahr?“ „Nein, eine solche Diskussion wollen wir nicht führen.“ Adir versuchte, sich zu einem ruhigen Lächeln zu bringen, während er den giftigen Blickkontakt mit Hizashi aufrechthielt, der quer über den Saal hinweg ihm gegenüber saß. „Ich sehe diese Diskussion ohnehin als ein wenig… unsinnig an, wo Lili-san doch ebenfalls ein Band mit einem Menschen knüpfte.“ Zum Glück war diese nicht anwesend, sie würde wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen…  „Wenn wir vorher darüber in Kenntnis gesetzt gewesen wären, dann hätten wir es verhindern müssen. Wir sehen immerhin, zu was das geführt hat“, antwortete Hizashi, dem wohl gleichgültig war, dass Safiya neben Adir saß und ihn natürlich genauso deutlich gehört hatte wie die anderen anwesenden Hikari, von denen einige mit der Stirn runzelten. Ja, Seigi war wegen seiner nicht gerade Hikari-konformen Art unbeliebt und die Tatsache, dass er über sehr geringe Lichtmagie verfügte, zeigte wohl auch, dass das Element sich ihm entzog… aber niemand konnte wohl behaupten, dass Safiya eine schlechte Hikari war. Das Schweigen schien Hizashi auch nicht zu entfallen. Er räusperte sich und revidierte seine Aussage hüstelnd, sich daran erinnernd, wer in seinem Unterricht absolute Glanznoten geschrieben hatte: „Entschuldigt, Safiya-san, ich meinte natürlich Ihren Bruder und nicht Sie.“ Safiya rührte sich unruhig, nickte und erwiderte ansonsten nichts. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht etwas gesagt, für ihren Bruder Partei ergriffen, aber im Moment war sie einfach zu wütend auf ihn, dafür, dass er ihr verschwiegen hatte, dass er heiraten wollte.  „Aber in einem Punkt haben Sie wahrlich recht, Adir-san“, begann Hizashi von Neuem: „Diese ganze Diskussion ist tatsächlich Zeitvergeudung. Besonders in Anbetracht der steigenden Aktivität der Dämonen in Europa. Wir sollten dieses leidige Thema abhaken.“ „Das sehe ich auch so“, mischte sich nun eine andere Hikari ein: „Ich schlage vor, wir erlauben die Eheschließung Seigis mit einem Menschen. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, dass Seigis Gemüt durch ein solches Bündnis… nun ja, gereinigt werden würde. Wir haben immerhin auch schon einen Lichterben…“ Sie machte einen galanten Wink zu Safiya, die wegen ihres Schweigens gerade besorgt von Adir gemustert worden war. „Hoffen wir, dass es sich bei dem Ungeborenen tatsächlich um einen Lichterben handelt“, erwiderte Hizashi mit schneidender Stimme: „Denn der Eheschließung von Seigi und dem Menschenmädchen kann nur unter einer Bedingung zugestimmt werden, die wohl die wohl in Übereinstimmung mit allen Anwesenden ist: es darf kein Kind aus dieser Ehe hervorgehen.“          Ihres schwangeren Bauchs ungeachtet stürzte Safiya durch den Tempel; wütend, aufgebracht, traurig – und auch verzweifelt. Es war im Rat nicht direkt ausgesprochen worden, aber sie hatte es dennoch sehr deutlich verstanden. Wenn Seigi nicht erlaubt war, ein Kind zu zeugen, dann lag es einzig und allein an Safiya, die Erbfolge der Hikari weiterzuführen – und das bedeutete… wenn das Kind in ihrem Inneren nicht das Element des Lichts, sondern das Element des Vaters geerbt hatte, dann… dann musste sie noch einmal ein Kind austragen. Dann würde sie wieder verlobt werden. Wieder… wieder mit einem Mann, den sie wahrscheinlich… nie… Safiya rieb sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen. Warum entstanden die Tränen überhaupt? Das war nichts Neues. Das war immer klar gewesen. Nur die Umstände… die Umstände waren anders, das war doch… alles. Und es war doch gut, dass es Seigi erlaubt wurde, Elisabeth zu heiraten und dass Elisabeth somit im Tempel und damit in Sicherheit bleiben konnte. Das war gut. Das war gut. Safiya mochte Elisabeth. Sie war ein liebes Mädchen. Sie sollte nicht brennen. Sie und Seigi… sie und Seigi... Sie brachte es nicht übers Herz, weiter zu denken. Sie konnte nicht weiter darüber nachdenken. Sie konnte es nicht. Noch einmal wischte sie sich die Tränen aus den Augen – warum wollten sie einfach nicht aufhören, warum brannten ihre Augen so?! – und gelangte zum Säulengang, der oberhalb des Trainingsareals verlief und sie zu eben diesem führen würde, denn natürlich wusste sie, wo sie ihren Bruder zu suchen hatte. Aber vielleicht sollte sie nicht direkt zu ihm stürzen… ihre Augen… ihre Augen würden sie verraten, nicht wahr? Vielleicht sollte sie zuerst in ihr Zimmer, zu Aurora, erst  einmal mit ihr reden über diese ganze Sache … über Seigis beschlossene Hochzeit … über diese verdammten Tränen… „Miss Safiya?“ Erschrocken fuhr die angesprochene Hikari auf. Sie war es so gewohnt, dass jeder, der sich im Tempel aufhielt, eine Aura besaß, dass sie ganz vergessen hatte, dass es hier nun eine Person gab, die keine hatte. Elisabeth hatte an der Brüstung des Säulenganges gestanden – Safiya war schnurstracks an ihr vorbei gelaufen in der Blindheit, der ihre Gefühle sie aussetzten. „Ah, nenn mich doch nicht so, Elisabeth“, begann Safiya sich zu einem Lächeln zwingend, das Elisabeth aber scheinbar durchschaute, denn ihr Blick sah besorgt aus. Safiya mochte diesen Blick nicht; diese Gefühle, die sie so deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte; sie sollte sich keine Sorgen um sie machen, denn es gab keinen Grund dafür…    „Du wirst jetzt immerhin hier leben…“ Überrascht weiteten sich Elisabeths braune Augen und Safiya bekam noch mehr schlechtes Gewissen als das, was sie sowieso schon hatte. Während sie ein paar Tränen zu vergießen hatte, hing Elisabeths Leben von dem Ganzen ab… wie töricht sie doch war. Was für eine grandiose… Hikari sie war. „Ich darf hier bleiben?“, wiederholte Elisabeth verblüfft, was Safiya mit einem Nicken bejahte, während sie sich widerwillig zu Elisabeth an die Brüstung gesellte und damit auch sah, weshalb sie dort gestanden hatte. Wie jeden Morgen – oder eigentlich zu jeder freien Minute – war Seigi mit seinem morgendlichen Schwerttraining beschäftigt. Für Safiya war dieser Anblick natürlich nichts Neues; er war ein Teil ihres Alltags, aber sie konnte schon sehr gut nachvollziehen, warum Elisabeths Augen ein verträumter Schimmer innewohnte, während sie Seigis Bewegungen mit diesen verfolgte. Faszination nannte man das wohl, dachte Safiya, die diesen Eindruck gut verstehen konnte. Natürlich wusste Safiya genauso gut wie Elisabeth, dass Seigi im Kampf alles andere als ein Engel war. Seigi hatte nicht umsonst das wenig schmeichelhafte Adjektiv „dämonisch“ an sich haften, aber wenn man ihn so beobachtete bei seinen geschmeidigen, fließend ineinander übergehenden Bewegungen, da… könnte die Beschreibung „dämonisch“ nicht ferner sein. Einmal waren sie hart und zielsicher, das andere Mal elegant – und dann wieder perfekt vereint. Er und sein Schwert waren eins – ein perfektes Bündnis. Aber Elisabeth beobachtete Seigi nicht nur aus Faszination, wie Safiya schnell feststellen musste: „Ist Seiji krank?“ Die Hikari warf ihr zuerst einen verwunderten Blick zu, aber sie wurde schnell ernst; bemerkte sogar ein wenig zu spät, dass Seigi die beiden Mädchen gesichtet hatte und ihnen grüßend die Hand entgegen hob; natürlich von einem Grinsen begleitet, ehe er sich wieder dem Training zuwandte. Natürlich ließ er sich nicht von irgendwelchen Blicken abhalten. „Krank? Nein. Seigi hat eine sehr robuste Gesundheit; er ist selten krank. Warum fragst du?“ Elisabeth hüllte sich kurz in Schweigen; sie schien sich unsicher zu sein, ob sie es sagen sollte, fast so, als wüsste sie nicht, ob sie es sagen durfte. „Elisabeth – du kannst mir alles erzählen. Wenn dich etwas bedrückt, dann kannst du es mir sagen.“ „Aber… andere sprechen so mit dir, als wäre ein meilenweiter Abstand zwischen ihnen und dir… und Seiji. Ich verstehe natürlich nicht, was ihr eigentlich sprecht, aber… es wirkt so.“ Safiya musste zugeben, dass sie das überraschte. Elisabeth war augenscheinlich eine gute Beobachterin, wenn sie das bemerkt hatte, ohne, dass sie deren Sprache überhaupt verstand, denn – wenn Safiya richtig lag – dann hatte Elisabeth auch nicht gesehen, wie sich jemand vor den beiden Hikari verneigt hatte. „Das hast du gut beobachtet. Aber du kannst dennoch offen mit mir reden. Das wäre mir jedenfalls sehr lieb.“ Aber anstatt ihr eine Erklärung zu geben, warum sie so besorgt um Seigi schien, warf sie wieder einen Blick auf Seigi. „Warum tut er das? Darf ich fragen… wofür er kämpft?“ Safiya lächelte ein wenig in sich hinein und lehnte sich gegen das Steingeländer. Scheinbar hatte noch niemand Elisabeth erklärt, was sie eigentlich waren. Aber gut, Seigi war nicht der Typ, der viel erklärte und ohnehin war sein Englisch so holprig, dass er wohl kaum imstande war, viel zu erklären. „Wir sind keine Menschen, Elisabeth.“ „Ich weiß“, antwortete sie, den Blick von Seigi wieder abwendend. „Seigi, ich und die anderen, die du hier kennen gelernt hast, wir sind „Wächter“. Wir schützen euch Menschen.“ „Wie Schutzengel?“ Safiya kicherte über diese unschuldige Antwort. „So ähnlich, doch mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir euch nur vor einer Gefahr schützen, nämlich vor unseren Naturfeinden. Den Dämonen. Wir sind seit Äonen mit ihnen im Krieg.“ Elisabeth schwieg kurz, sich an diese monströsen Wesen erinnernd, die sie in England gesehen hatte… die, laut Seigi, auch Menschen in Besitz nehmen konnten… „Seiji kämpft also gegen diese Dämonen? Das ist es, wofür er so trainiert?“ Der Blick der Hikari wurde ein wenig wehmütig, aber sie hielt ihr Lächeln aufrecht. „Nein. Mein Bruder… ist weniger an unserem Kampf gegen die Dämonen interessiert. Er will sich vor unserer Familie beweisen; beweisen, dass auch er dem Titel eines „Hikari“ würdig ist. Weißt du… der Grund, weshalb mein Bruder und ich von den anderen Wächtern mit so großem Respekt behandelt werden, ist der, dass wir Hikari sind. Wie sind die Anführer der Wächter.“ „… Dann bin ich als Mensch… nicht gut genug für Seiji.“ Safiya sah auf und unwillkürlich tauchte ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht auf. „Elisabeth…“, die Angesprochene drehte sich zu ihr. „Seigi hat sich nie sonderlich für Menschen… oder seine Mitwächter interessiert. Aber bei dir… er macht sich die Mühe, für dich Englisch zu lernen, hat dich vor dem Hexentod bewahrt und dich hierher gebracht… Du bist das Mädchen, welches vielleicht als Einzige in der Lage ist, an seiner Seite zu bleiben. Vergiss nicht… er hat dich, ein Menschenmädchen, ausgesucht…“ Und nicht mich.     „Wann hättest du es mir sagen wollen?“ Safiya war zu unruhig, um einfach still stehen zu bleiben. Angespannt ging sie daher umher, während ihr Bruder trainierte; nun war es nicht mehr das Morgentraining, sondern das abendliche Training. Seigi antwortete nicht, ließ sich nicht von seiner Schwester ablenken und setzte seine Übungen trotz ihrer Anwesenheit und ihren Worten fort. Eine Routine von den beiden; ein Großteil von Seigis Tag verging mit seinem stetigen Training, wobei ihn Safiya immer unterstützt hatte; eine Unterstützung, die sie natürlich nicht mehr leisten konnte, seit sie schwanger war. Dennoch leistete sie ihm oft bei seinen Trainingsstunden Gesellschaft, wenn es ihre Pflicht als Regime-Führerin zuließ; manchmal arbeitete sie selbst nebenher oder tadelte ihn, wie jetzt, sich bewusst, dass er sein Training nicht so ohne Weiteres abbrechen würde, nur um einer ihrer Standpauken zu entgehen. Die beiden Hikari-Geschwister im Innenhof des Tempels zu sehen war daher reine Alltäglichkeit… nur das Thema war es nicht. „Warum muss ich vom Rat erfahren, dass du vorhast, zu heiraten?“ „Ich habe es vergessen.“ Es sprach einiges für Seigis Vergesslichkeit, so dass Safiya tatsächlich kurz überlegte, ob das eine Ausrede war oder nicht. Aber sie kam zum Schluss, dass das nicht die ganze Wahrheit  war – und wenn, dann war die Wahrheit ohnehin schlimm genug. Vergesslichkeit bedeutete auch Gleichgültigkeit – und ihr Bruder konnte ja wohl seiner eigenen Hochzeit nicht gleichgültig gegenüberstehen?! „Du vergisst deine eigene Hochzeit?“ Ihre weißen Augen fixierten Seigi, aber diesem gelang es dank seiner Schwertbewegungen natürlich leicht, ihrem Blick zu entfliehen. „Das glaube ich dir nicht.“ Seigis Schwert sauste in einem neunzig Grad Winkel durch die Luft; er antwortete nicht. „Hast du schon mit Elisabeth darüber gesprochen?“ „Nein.“ Warum nannte sie es „gesprochen“? Er musste einen Antrag machen; das musste er. Wusste er überhaupt, wie das ging?   „Sie könnte ja auch ablehnen.“ „So dumm ist Elly nicht.“ „So ein toller Fang bist du auch nicht, Seigi.“ „Hier ist sie in Sicherheit und muss nicht fürchten, auf irgendeinem Feuer zu landen. Das war das, was ich meinte.“ Safiya war stehen geblieben, beobachtete Seigis Bewegungen, die ein wenig aus dem Takt gekommen zu sein schienen… sie schienen…ruppiger zu sein? „Wen interessiert schon so eine alte Zeremonie? Wir tragen einfach gleich aussehende Ringe und gut ist. Dann geben die Ratsmitglieder endlich Ruhe und das Thema ist abgehakt. Am besten so schnell wie möglich.“ „Das ist sehr respektlos, was du da sagst, Seigi! Nicht jeder interessiert sich so wenig für die Ehe wie du.“ „Wieso? Bei dir war es doch auch nicht anders.“ Safiyas Herz ließ einen Schlag aus; nur um sich dann noch schneller zu beschleunigen. Wütend wirbelte sie zu ihm herum – und die Tatsache, dass er sein Training immer noch nicht unterbrach, machte sie noch wütender: „Warum bist du nur allem gegenüber so gleichgültig!? Elisabeth ist so ein liebes Mädchen, das sich solche Sorgen um dich macht – und du? Wie sprichst du eigentlich von etwas so Entscheidendem, was ihr Leben für immer verändern wird, sollte sie dem zustimmen?! Denkst du auch mal an die Gefühle von denen, die dir angeblich wichtig sind?! Elisabeths Gefühle – meine---“ Safiya hatte es nur ihrem Können und den vielen Trainingsstunden mit Seigi zu verdanken, dass sie schnell genug Seigis heransausendes Schwert mit ihrem hervorbeschworenen Stab parieren konnte. Schwert und Stab prallten gegeneinander, so wie die Augen der beiden Hikari-Geschwister. Was war das----?! Seigis Augen, sie--- aber das konnte gar nicht sein, das war… „Safi!“ Das Schwert Seigis fiel mit einem Scheppern auf den Steinboden, hallte im Hof nach, so wie das laute Atmen der beiden Geschwister, als Seigi Safiyas Schultern packte, aufgeregt fragte, ob es ihr gut ginge, sich im gleichen Atemzug entschuldigte… „Ich war unkonzentriert, ich habe dich da nicht gesehen... Entschuldige, Safi, entschuldige…“ „Schon… Schon gut. Es…“ Safiya schluckte, versuchte, ihre heftig pulsierende Unruhe beiseite zu drängen: „Es ist ja nichts passiert. Das kann schon einmal vorkommen…“ „Nein“, erwiderte Seigi, sich langsam von ihr lösend, zerknirscht und blass in eine andere Richtung sehend: „Das darf nicht passieren. Das darf mir nicht passieren.“ Kurz verdunkelte sich das Gesicht ihres Bruders, wurde förmlich in Schwärze getaucht, ehe er sich ihr wieder zuwandte und sie besorgt noch einmal fragte, ob es ihr gut ginge. Ja, es ging ihr gut – aber… ging es Seigi gut?     Safiya setzte Aurora darüber in Kenntnis und trug ihr auf, Seigi bei den regelmäßigen Gesundheitschecks besonders gründlich zu untersuchen; allerdings ohne, dass er es bemerkte. Safiya wollte ihn nicht beunruhigen. Aber Aurora konnte nichts feststellen; Seigis Werte waren alle im absolut grünen Bereich. Nichts, was irgendwie besorgniserregend war – auch ein Dämoniecheck hatte zu nichts geführt.  Es geschah auch nichts mehr, was so genannt werden konnte; jedenfalls beobachteten weder Safiya noch Elisabeth irgendetwas in diese Richtung, obwohl besonders Elisabeth jetzt sehr viel Zeit mit Seigi verbrachte. Die Hikari hatten sehr schnell das Verbot, dass kein Hikari mehr den Boden Europas betreten durfte, offiziell verhängt und nach einem kleinen, frustrierten Wutausbruch Seigis war er dazu gezwungen gewesen, sich dem unterzuordnen, womit er nun die meiste Zeit im Tempel verbrachte, da momentan nicht sonderlich viele Dämonen außerhalb Europas auftauchten. Seigi war somit dazu „verdammt“, sich nur seinem Training widmen zu können – und während Safiya sich trotz immer runder werdendem Bauch in Arbeit vergrub, begleitete Elisabeth Seigi zum Training. Manches Mal blieben sie im Tempel; andere Male suchten sie abgelegene Orte in der Menschenwelt auf – und abends nach dem Abendessen sah man ungewöhnlicherweise den sonst so faulen Hikari die Nase in die Bücher stecken, begleitet von Elisabeth, die ihm dabei half, seine Englischkenntnisse zu verbessern. Ein wenig holprig zwar, denn Elisabeth konnte weder schreiben noch lesen, aber es ging voran und hinter vorgehaltener Hand munkelte man, dass man nie gedacht hätte, Seigi jemals ohne Schwert in der Hand lächeln zu sehen. Aber dieses Menschenmädchen war ja auch seine Verlobte. So ein liebes Mädchen. Immer bemüht zu helfen, obwohl sie deren Sprache nicht verstand. … dass so jemand sich in Seigi verlieben würde…      Wann war eigentlich die Hochzeit? Das wisse niemand so genau. Angeblich hatte er noch nicht einmal um ihre Hand angehalten. Aber das war natürlich nur ein Gerücht. Safiya wusste allerdings, dass dieses Gerücht der Wahrheit entsprach. Drei Monate waren ins Land gegangen und Seigi hatte immer noch nicht um die Hand Elisabeths angehalten, was langsam für Probleme sorgte, denn von den Wächtern wurde sie bereits wie seine Verlobte behandelt und nur die Sprachblockade hatte bis jetzt dafür gesorgt, dass sie es noch nicht verstanden hatte. Aber natürlich wunderte sie sich sehr darüber, dass man sich vor ihr verneigte… in Seigis oder Safiyas Beisein war es ihr nicht aufgefallen; sie hatte einfach geglaubt, dass das Verneigen für die beiden Geschwister sei, aber dieses eigenartige Phänomen trat auch ein, wenn sie alleine durch die Gänge ging. Safiya hatte eine Ausrede gefunden – diese war allerdings alles andere als hieb- und stichfest – und auch ihren Elementarwächtern aufgetragen, nichts zu erzählen, aber lange würde das nicht mehr gut gehen. Seigi musste mit ihr reden; er hatte ja wohl nicht vor, einen Tag vor der Hochzeit zu sagen „Übrigens, morgen heiraten wir; das war schon seit drei Monaten so geplant, hoffe, du hast nichts dagegen!“?! Als Safiya  diese Vorstellung mit Aurora geteilt hatte, hatte diese gelacht und gesagt, dass sie sich das bei Seigi gut vorstellen könne… aber warum zögerte er überhaupt? Wenn ihm das ganze Thema so egal war, warum zögerte er es dann hinaus? Fürchtete er wirklich, dass sie ablehnen würde? Safiya war überzeugt davon, dass Elisabeth das nicht tun würde. Nicht, weil sie – Seigis Aussage nach – „nicht dumm war“ und verstand, dass ihre Sicherheit von einer Ehe mit Seigi abhing, sondern weil… weil sie es wollte. Weil sie das gleiche Gefühl in sich trug, wie das, welches Seigi in ruhigen Trainingsstunden zum Stillstand brachte. Das Gefühl, das Röte und ein Lächeln auf dem Gesicht des Schwertkämpfers hervorbrachte, wenn er sich umdrehte und sah, dass Elisabeth an einem Baum eingenickt war. Würde ihn in diesem Moment jemand sehen, wie er leise durch den frisch gefallenen Schnee zu ihr hin tapste, ihr seine Jacke um die Schultern legte und mit welch einem Blick er sie ansah, ehe er der lächelnd schlafenden Elisabeth einen etwas unbeholfenen Kuss auf die Haare hauchte, dann würde wohl niemand daran zweifeln, dass Seigi sich in dieses einfache Menschenmädchen verliebt hatte.      Aber bald musste Seigi es Elisabeth sagen; nicht nur, weil sie selbst bald dahinterkommen würde, dass Wächter keinen anderen Grund hatten, sich vor ihr zu verneigen, als dass sie mit Seigi liiert war, sondern auch weil die Hikari bald Druck machen würden. Im Moment war Seigis Hochzeit nicht deren Hauptanliegen; sie hatten zu sehr mit den dämonischen Aktivitäten in Europa zu tun, anstatt sich darüber zu pikieren, dass Seigi Elisabeth noch keinen Antrag gemacht hatte. Nur Adir hatte nach dem ersten verstrichenen Monat sehr sparsam aus der Wäsche geguckt, als Safiya ihm mitgeteilt hatte, dass Seigi bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Jetzt war schon der dritte Monat verstrichen; sie gingen mit großen Schritten auf den Herbst zu, wie auch auf den Stichtag Safiyas. An dem Abend, an dem es nur noch zwei Wochen waren bis zu jenem Tag, suchte Elisabeth Seigi in der Bibliothek auf; wie immer, um mit ihm zu lernen. Anders als sonst fand sie ihn allerdings nicht alleine in der Bibliothek vor, sondern mit zwei anderen Wächtern sprechend, weshalb Elisabeth an der Tür stehen blieb, um nicht zu stören. Aber Seigi hatte ihr Hereinkommen bemerkt und blickte auf, winkte ihr kurz grinsend zu und schickte die beiden Wächter fort, die sich mit einer Verbeugung von Seigi verabschiedeten, ihm aber vorher noch ein paar Dokumente reichten. Diese legte der Hikari allerdings schnell auf den Tisch, sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatten, ohne die Papiere genauer anzusehen, während die beiden Wächter „Elisabeth-sama“ im Vorbeigehen eine „Gute Nacht“ wünschten und sich verbeugten, ehe sie die Bibliothek verließen. „Warum nennen sie mich so? „Sama“ ist doch nur für dich und Safiya?“ Elisabeth sah deutlich, wie Seigi ihre Worte erst einmal in seinem Kopf übersetzen musste, dann suchte er selbst nach den richtigen Worten und antwortete dann: „Wächter greifen gerne vor.“ „Vorgreifen? Was greifen sie denn vor?“ Seigi war so damit beschäftigt gewesen, die richtigen Worte zu finden, dass er bei diesem Suchprozess völlig ignoriert hatte, dass das wahrscheinlich keine sonderlich kluge Antwort war – es war die ehrliche, wahre Antwort, aber da Elisabeth nichts von dem Ereignis wusste, was die Wächter vorgriffen, war das wohl eine sehr unüberlegte Antwort. Elisabeths verwirrte, große Augen blickten Seigi verwundert an, als sie vor ihn getreten war. Unwillkürrlich schossen ihm wieder Safiyas Worte durch den Kopf; die Worte seiner Schwester, die ihm immer wieder sagten, dass er es endlich tun solle… es könne doch nicht angehen, dass Seigi es ihr verschweige, das sei schon fast unmoralisch und das, wo er es doch eigentlich täte, um sie zu beschützen… Ja, er tat es, um sie zu beschützen… Seigi spürte einen eigenartigen Kloß im Hals, als er sich von Elisabeth abwandte… er tat es, um sie zu beschützen, ihr Sicherheit zu geben, aber… aber… warum sagte er es dann nicht einfach? An der Übersetzung haderte es nicht, denn bei der hatte Safiya ihm geholfen… Adir hatte ihm heute wieder berichtet, dass die Hikari bei der nächsten Ratsversammlung einen Termin mit ihm besprechen wollten; er solle dafür ins Jenseits kommen. Er habe Elisabeth ja wohl mittlerweile einen Antrag gemacht? Natürlich, hatte Seigi gelogen. Alles war besprochen wor- „Seiji?“ Der Angesprochene wandte sich ihr wieder zu und als er die Sorge in ihren Augen sah, da schossen ihm plötzlich mehrere Gedanken auf einmal durch den Kopf: Sie lebte gerne hier, das hatte sie ihm erzählt; sie war glücklich darüber, hier zu sein, vermisste ihr altes Leben nicht – sie würde also „ja“ sagen, für immer hier zu bleiben. Aber „ja“ sagen zu Seigi? Würde sie das, wo doch er und seine Unüberlegtheit der Grund dafür waren, dass ihre Fingernägel immer noch nicht gänzlich nachgewachsen waren... sie ihr überhaupt herausgerissen worden waren…  in einem dunklen Keller, in dem sie beinahe verhungert war… diesem Ort, von dem sie immer noch träumte. Sie hatte es ihm nicht gesagt, aber er hörte es, wenn er abends, nachdem sie sich bereits voneinander verabschiedet hatten, an ihrem Zimmer vorbeiging; vorbeiging, wieder zurückging, die Tür kurz öffnete… warum er das tat… das wusste er nicht. Er blieb dort immer nur kurz stehen, dann schloss er die Tür wieder. „Machst du mir keine Vorwürfe?“ Das war wahrscheinlich die Frage, die er nicht hatte stellen wollen und die nun zwischen ihnen hing – die Frage, die vor allen anderen gestellt werden musste. „Vorwürfe?“, wiederholte Elisabeth, als wüsste sie nicht, wovon er sprach; aber das war nicht der Fall, im Gegenteil. Sie wusste es sehr wohl, hatte sofort gewusst, was er meinte. Ihr Gesicht war blasser geworden, ihre Augen unruhig. Nicht mehr wegen ihm, sondern wegen dem Thema. „Ja, wegen dem, weshalb du immer Albträume hast“, antwortete Seigi dennoch, sich nun erhebend und langsam vor sie tretend. Die kleine Flamme der auf dem Tisch stehenden Kerze flackerte unruhig hin und her, während Elisabeth schwieg. „Das war nicht deine Schuld.“ „Sie haben das, was vor deiner Hütte passiert ist, also nicht als Anklagepunkt benutzt?“ Natürlich blickte Elisabeth Seigi nun verwirrt an, denn dies hatte er nicht ins Englische übersetzen können, weshalb er es in seiner Sprache gesagt hatte. Ihm fehlten die Vokabeln, ihm fehlten die Mittel, sich zu erklären… wie frustrierend! Wie schrecklich frustrierend und… Er versuchte, sich zu erklären, versuchte, genau die Worte zu finden, die ausdrückten, was ihm immer unbewusst durch den Kopf gehuscht war, aber… „Es ist alles gut, Seji.“ Seigis wirre Gedanken und seine hoffnungslosen Versuche, sich zu erklären, kamen abrupt zum Stillstand, als Elisabeth plötzlich seine von den vielen Kämpfen rau gewordenen Hände nahm. „Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe.“ Wie ansteckend ihr ruhiges Lächeln in diesem Moment war; ansteckend und erwärmend. Ein erwiderndes Lächeln, ebenfalls ruhig und sanft, erschien auf Seigis Gesicht, als er seine Stirn gegen die ihre legte; ihre Hand fester, aber auch sanfter drückend. „Danke.“ Beide lächelten sich noch kurz an, ehe sie beruhigt die Augen schlossen und im Licht der flackernden Kerze so verbunden stehen blieben – bis ein lautes Geräusch sie aufschreckte und dafür sorgte, dass sie auseinander sprangen. Elisabeth war hochrot angelaufen und legte erstmal ihre Hand über ihr Herz, um es zu beruhigen, während sie genau wie Seigi zur angelehnten Tür der Bibliothek sah, wo das Geräusch hergekommen war. Auch der Schwertkämpfer war rot angelaufen, vergrub seine Hand in seinen zotteligen Haaren und eilte dann auf die Tür zu, um zu sehen, was das Geräusch verursacht hatte; gefolgt von Elisabeth, die genau wie er kurz über das, was sie sahen, stutzte: in der Tür lagen fünf Bücher.   „“Der zweite Elementarkrieg“ …. Dieses Buch hat Safi heute zu Ende gelesen.“     Safiya wusste, dass sie unverantwortlich handelte. Sie wusste, dass sie sich dem Wort der Hikari widersetzte und dass sie – wenn ihre Abwesenheit bemerkt werden würde – sicherlich bestraft werden würde. Aber es war ihr egal. In diesem Moment war es ihr einfach egal. Egal. Sie hatte einfach weggemusst. Weit, weit weg. Nicht in ihrem Zimmer, nicht irgendwo auf der Insel des Tempels hatte sie Zuflucht finden können. Er war ihr plötzlich wie ein Kerker vorgekommen… ein Ort, wo sie eingesperrt war, ohne Ausweg… ohne Erlösung. Auch die anderen Inseln der Wächter waren nicht besser gewesen; überall wäre sie eingesperrt gewesen, da sie überall im Reich der Wächter wiedererkannt hätte werden können… und nein, das wollte sie nicht. Genau das wollte sie nicht. Sie wollte nicht gefragt werden, was mit ihr „los sei“, sie wollte keine Fragen über ihr Befinden beantworten, das sich doch so deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete. Sie benötigte keinen Spiegel. Sie spürte es und wusste, dass ihr Gesicht sie verriet. Nur in der Menschenwelt war sie sicher gewesen vor diesen Fragen; sicher vor sich selbst und ihren Gefühlen. Ja, es war schrecklich falsch, was sie hier tat… falsch, egoistisch und kindlich, aber sie hatte es tun müssen. Sie würde sich dafür vor dem Rat rechtfertigen müssen; ausgerechnet nach Europa, wo sie es doch gerade verboten hatten… aber ein paar wenige Stunden Egoismus… waren ihr doch erlaubt… oder? Sie mochte es, hier zu sein. Sie war früher öfter mit ihrer Mutter in dieser Stadt gewesen; Mannheim, die Stadt, in der ihre Mutter den Vater Safiyas und Seigis kennengelernt hatte und wo sie sich getroffen hatten, wenn sie sich denn hatten treffen können. Hier, an diesem abgelegenen Ort, von wo aus man einen guten Ausblick über die Stadt hatte. Wie oft hatte Lili sie nicht mit hierher genommen, um ihr die Aussicht zu zeigen, ihr von ihrem Vater zu erzählen… sie hatte immer nur gut von ihm gesprochen, sich nie beklagt, dass sie ihn nur selten hatte sehen können – sie, die er seine Fee genannt hatte. Sie war froh und zufrieden für jeden Moment gewesen, welchen sie hatten zusammen verbringen können. Jetzt konnte Safiya den Ausblick nicht genießen; ihre Augen waren zu sehr von Tränen verschmiert. Sie war an einem Baum herunter gesackt und blieb dort einfach nur sitzen – bis dann plötzlich ihre Faust herunter sauste und auf den Boden aufschlug. „W-Warum!? Warum… warum musste ich mich in meinen dummen…“ Sie schlug noch einmal--- „… gleichgültigen, ignoranten, durch und durch…“ Noch einmal und noch einmal--- „… unverbesserlichen Bruder verlieben?! Das ist nicht fair… das ist einfach nicht fair!“ Die Faust blieb in der Luft hängen, dafür kullerten immer mehr, immer mehr Tränen herunter, denn die Worte, die sie mit verzweifelter Inbrunst herausgeschrien hatte, konnten nichts daran ändern, dass sie immer noch das Bild des so ruhig und selig lächelnden Seigis vor ihrem inneren Auge hatte. So… hatte er noch nie gelächelt… so ruhig… so gelassen… so befreit… so…   …so… … verliebt.   Wie lange Safiya dort weinend sitzen blieb, wusste sie nicht. Aber irgendwann, als die Abenddämmerung hereinbrach, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und richtete sich auf. Trostsuchend hielt sie ihr Glöckchen in der Hand umklammert, ließ es aber nun auf ihre Brust fallen, als sie ihre Augen nun mit beiden Händen trocken rieb. Sie musste sich zusammennehmen. Sie hatte immer gewusst, dass Seigi ihre Gefühle nie erwidern würde. Ja, sie hatte nicht geglaubt, dass mal jemand in Seigis Leben treten würde, dem er das geben würde, was sie sich für sich erhofft hatte, aber… sie mochte Elisabeth. Sie mochte sie. Und sie würde lernen, froh für ihren Bruder zu werden. Ja. Das würde sie…   Als Safiya die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie nicht länger alleine war. Vor ihr, im Licht der untergehenden Sonne stehend, betrachtete sie eine Person – eine Person mit neugierigen, gelben Augen und einer ungeheuren Aura. Ein Dämon.     Seigi hatte nicht geschlafen, als er das Klopfen an seiner Tür vernahm und Elisabeth den Eintritt erlaubte. Genau wie sie hatte er einfach nicht schlafen können – scheinbar aus demselben Grund. „Ich mache mir Sorgen um Safiya“, begann Elisabeth, nachdem sie sich für die späte Störung entschuldigt und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Sie ist schon mehrere Stunden fort…“ Seigi nickte, antwortete aber nicht, schwang nur seine Beine unter der Bettdecke hervor, sich aufsetzend. „Sollten wir sie nicht suchen gehen?“ „Wenn Safi in die Menschenwelt geht, dann will sie auch alleine sein.“ Immerhin brach sie damit die Regeln, provozierte den Zorn der Ratsmitglieder… das waren schon eindeutige Zeichen dafür, dass sie alleine sein wollte. Jetzt war es Elisabeth, die nicht antwortete; sie rührte sich unruhig, nestelte an ihrem Nachtkleid und es war deutlich, dass sie trotz Seigis Worten auf die Suche nach ihr gehen wollte. „Aber die Menschenwelt…“, begann sie dann nach einem kurzen Schweigen: „… ist doch momentan so ein gefährlicher…“   Seigi wollte ihr ins Wort fallen mit den beruhigenden Worten, dass Safiya schon wisse, wie sie einem Dämon aus dem Weg gehen müsse, als es passierte.   Weit, weit entfernt von ihrem Bruder brach das Glöckchen seiner Schwester. Es zerbrach in viele, kleine Einzelteile und brachte die Handfläche Seigis und die der Elementarwächter zum Erglühen. Das Wappen der Hikari erschien – erschien, um ihnen zu sagen, dass eine Hikari gestorben war.       Kapitel 30: Dreizehntausendfünfhundertsiebenundachtzig Dämonenleben und ein Menschenleben - Teil 3 -------------------------------------------------------------------------------------------------- Aurora hatte Safiya gesehen, als sie aus dem Tempel geflohen war. Sie hatte ihr, genau wie Seigi, die Möglichkeit geben wollen, alleine zu sein. Nach einigen Stunden aber war die Sorge zu groß geworden und sie hatte sich dazu entschlossen, sie abholen zu gehen. Sie wusste wo sie war, denn sie konnte nur an einem Ort sein.   Aber es war zu spät gewesen.   Sie sah nur noch den Schatten des Dämons, der sich zu der Wächterin mit der nun leuchtenden Handfläche herumgedreht hatte – kurz starrten sich die ungleichen Wesen an – dann war er verschwunden. Aurora hatte somit das ungeborene Kind Safiyas retten können – aber nicht dessen Mutter. Weit aufgerissen lagen ihre toten weißen Augen da; auf dem Boden. Ohne Blut, ohne Wunde, ohne irgendein Anzeichen eines Kampfes, aber dennoch war die Todesursache trotz des immer dichteren Tränenschleiers Auroras deutlich zu erkennen. Das Glöckchen. Es war zerstört worden.   Nur noch die Spitze des lebensnotwendigen Glöckchens war an dessen Kette befestigt; der Rest des Schmuckstücks lag, in vielen kleinen Einzelteilen, über Safiyas Brust verstreut. Es war ein Sakrileg; ein tödliches Sakrileg, dem Hikari sein Glöckchen zu zerstören – aber es war auch ein sofortiger Tod. Das brachte Seigi aber im Moment wenig Trost. Nichts konnte seiner unruhigen Seele Trost spenden – der Unruhe, der Rastlosigkeit, die ihn dazu brachte, im Wartezimmer mit ebenfalls leuchtender Handfläche auf und ab zu gehen; dazu verdammt nichts tun zu können. Er konnte nur auf und ab gehen, ansonsten würde er wahnsinnig werden. Er war nicht einmal imstande dazu, die Anwesenheit der Elementarwächter zu bemerken; auch für Elisabeths Anwesenheit war er blind, die seinen Gesichtsausdruck besorgt musterte, wenn ihr dichter Tränenschleier es zuließ. Was sah sie da auf seinem Gesicht? Es war eine eigenartige, starre, verbissene Entschlossenheit – noch war es keine Trauer, noch war die Nachricht, obwohl sie so deutlich war, noch nicht zu ihm vorgedrungen. Die Nachricht, dass Safiya tot war. Seigi sah aus, als würde er sich für einen Kampf wappnen – aber es gab keinen Kampf, in dem er das Leben seiner Schwester würde retten können. Es war bereits zu spät und der Kampf, der im Moment tatsächlich ausgefochten wurde, war ein Kampf, an dem Seigi nicht teilnehmen konnte – der Kampf um das Überleben des ungeborenen Kindes. Doch dieser Kampf dauerte lange. Er erschöpfte alle Anwesenden, die alle auf eine gute Nachricht in dieser schrecklichen, traurigen Zeit hofften – er dauerte so lange, dass er sogar Seigi zum Stillstand zwang; er hatte ihm die widerspenstige, sich gegen die traurige, aber unvermeidliche Tatsache wehren wollende Energie ausgesogen, so dass Seigi nun am Ende seiner Kräfte vor der Operationstür stehen blieb. Elisabeth wusste nicht, wie lange sie in diesem sich endlos erstreckenden Moment feststeckten, ehe die Tür sich öffnete und Aurora mit einem erschöpften, müden Gesichtsausdruck heraustrat. Die Anspannung erreichte sofort ihren Höhepunkt – was würde sie sagen? Lebte das Kind? Hatten sie es retten können? „Es lebt. Der Lichterbe ist schwach, aber gesund.“ Aurora lächelte energielos: „Es ist ein Junge.“ Auch wenn Elisabeth die Worte nicht hatte verstehen können, so war es sehr deutlich, dass Aurora eine gute Nachricht überbracht hatte – nicht nur an ihrer Körpersprache konnte sie es ablesen, sondern auch an der der anderen Wächter, deren Haltung sich deutlich entspannten; einige seufzten erleichtert auf. Nur von einem Wächter war die Anspannung nicht gefallen: Seigi hatte nur kurz erleichtert über diese gute Nachricht gelächelt, dann war er, ohne um Erlaubnis zu bitten und ohne die nötigen Vorkehrungsweisen in den Operationssaal getreten. In der Mitte lag sie – seine kleine Schwester. Umringt von zwei, drei Tempelwächtern, die bereits damit begonnen hatten, ihren Körper von Blut zu säubern. Da hing auch der letzte Überrest des Glöckchens. Seigi hörte die Stimme eines Arztes nicht, die ihn wohl dazu aufforderte, zu warten; er achtete auch nicht auf die Tempelwächter, die er mechanisch zur Seite schob. Obwohl er wusste, dass das Leuchten ihrer Handflächen bedeutete, dass seine kleine Schwester gestorben war, war er dennoch zu erstarrt und zu erschrocken über den Anblick seiner geliebten Schwester, die leblos und starr auf dem Operationstisch lag. Kurz entglitt ihm… alles. Mit aufgerissenen Augen starrte Seigi in das Gesicht Safiyas, zu ihrem zersplitterten Glöckchen. „Hikari-Seigi-sama…“ Doch er hörte es nicht. Er wusste nicht einmal wer versucht hatte ihn anzusprechen, ihn zu erreichen. Sein Blick war unfähig, sich von den geschlossenen Augen, dem blassen Gesicht seiner Schwester abzuwenden. „Sie ist nicht tot… nein… das kann nicht…“ Völlig entmachtet fiel Seigi vor Safiyas Leiche auf die Knie, ihre kalte Hand nehmend, an seine Augen drückend, die Tränen, aber nicht die Trauer, zurückhalten könnend.  „…Wähl die Ewigkeit… Bitte! Lass mich nicht allein… ich brauche dich…! Safi… meine teure, kleine Schwester… Ich flehe dich an! ... Wähl die Ewigkeit!“ Sie musste die Ewigkeit wählen! Sie durfte nicht die Stille wählen; sie durfte es nicht! Keinen Augenblick zweifelte Seigi daran, dass Safiya nicht rein genug war, um ins Jenseits zu dürfen – aber sie musste es auch wählen – die Stille oder die Ewigkeit – sie musste es wählen, es war ihre Wahl… und sie würde nicht die Stille wählen, oder? Oder?! Sie durfte nicht! Er wiederholte diesen Satz oft, immer wieder, bis Aurora ihn auf die Beine zog und ihn irgendwie beschwor aufzustehen – die Wächter sollten ihre Arbeit machen, Seigi sollte sie ihre Arbeit machen lassen. Arbeit. Sie mussten tun, was Wächter in diesem Moment zu tun hatten – genau wie Seigi, der sich plötzlich aufrichtete, sich schweren, aber aufgewühlten Herzens von seiner Schwester abwandte und sein Wort an seine Wächter richtete. In seinen Augen spiegelte sich keine Trauer mehr, sondern brennende Wut und Hass. „Lasst uns diesen verfluchten Dämonen zeigen, dass wir diese Sünde nicht ungesühnt lassen!“   …   … … … … … „Du hast eigenmächtig gehandelt, Seigi! Eigenmächtig und unverantwortlich!“ Erst da erwachte Seigi – er erwachte mit einem Stoß, als hätte er geschlafen, als wäre er in Trance gewesen. Verwirrt sah er für einen kurzen Moment aus: er schien nicht zu wissen, worüber die Ratsmitglieder überhaupt sprachen… weshalb er hier war. Ahja, der Kampf. Er bekam mal wieder eine Standpauke… wegen eines Kampfes. Dem Kampf, dessen Zeugnisse noch auf seiner Kleidung und seinem Gesicht zu sehen waren. Die Schwertscheide hatte sich rötlich gefärbt; das Blut des in Rot getauchten Schwertes besudelte mit stetigen, roten Tropfen den weißen Marmor unter seinen Füßen. Angewiderte, weiße Augen – Dämonenblut im Jenseits… zum Glück verätzte es, sobald es den Boden berührte… und wie schrecklich Seigi aussah… unheimlich, bedrohlich gar. Seigis Hauptankläger ließ sich von diesem Bildnis nicht verunsichern; der Hauptankläger war allerdings dieses Mal nicht Hizashi. Hizashi verhielt sich ruhig, die Hände auf dem Tisch gefaltet, eher interessiert an den Geschehnissen, die Seigi verübt hatte, als davon wütenden Abstand zu nehmen wie die anderen Hikari. Aber Hizashi war nicht der einzige Hikari, der nicht empört war; Adir konnte sich der Ablehnung der anderen Hikari ebenfalls nicht anschließen. Er hatte Safiya gemocht und war betrübt über ihren Tod; zur gleichen Zeit machte er sich aber auch Sorgen um Seigi, dessen stumpfe, von Rot umrandete Augen verständlich, aber doch bedenklich waren. „Wir sind nicht im Krieg!“, donnerte der Hikari weiter: „Ein direkter Angriff auf die Dämonen ist daher ein Verstoß gegen die heiligen Regeln!“ Seigi reagierte nicht auf seine Worte. Er blickte nur langsam auf die große Anzeigetafel hinter dem wütenden Hikari, auf die die Ergebnisse der Schlacht geschrieben standen, die er eben noch angeführt hatte. Die Zahlen sagten ihm, dass knapp 5000 Dämonen eliminiert worden waren… 5000 Dämonen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er hatte nicht gezählt, wie viele sie getötet hatten; wie viele er getötet hatte. Er hatte… vergessen zu zählen. Er hatte… vergessen zu zählen.   „Ich habe es als Kriegserklärung gedeutet, dass sie eine Hikari getötet haben“, erwiderte Seigi mechanisch klingend. Die herniedersausende Faust klang alles andere als „mechanisch“: „Es liegt nicht an dir, irgendetwas zu deuten! Ob eine kriegsähnliche Handlung ausgeführt worden ist oder nicht, liegt im Ermessen des Rates! Nicht in deinem!“ Noch einmal kollidierte die Faust mit dem Tisch: „Du bist nicht einmal Regime-Führer! Du verfügst nicht einmal über die Erlaubnis, eines unserer Bataillone führen zu dürfen! Das ist Amtsmissbrauch!“ Dass der Hikari sich in seiner Rage gerade selbst widersprach, bemerkte der kaum zuhörende Seigi nicht. Er horchte auch nicht auf, als Hizashi sich nun mit einem strahlenden Lächeln in die ziemlich einseitige Diskussion einmischte: „Sachte, sachte, Alexandar-san. Jemanden anzuklagen obliegt dem Kriegsgericht…“ Hizashi wurde unterbrochen: „Und da wird er auch gleich…“ Er begann fiebrig zu schreiben: „… morgen hingeschickt werden!“ Jetzt war es Adir, der sich einmischte: „Morgen ist die Beisetzung und Trauerfeier Safiyas.“ „Dann eben übermorgen!“ „Wir müssen auch einen Zeitpunkt finden, wann wir Seigi der Öffentlichkeit als neuen Regime-Führer vorstellen“, bemerkte Mary, die Seigi schon die ganze Zeit nicht hatte ansehen können. „Erst einmal soll er heil aus dem Kriegsgericht herauskommen!“ „Das wird er schon“, begann Hizashi überzeugt auf die Zahlen weisend: „4830 Dämonen ausgelöscht, dagegen nur 79 tote Wächter. Das ist eine sehr gute Quote. Besonders gemessen an der Zeit, die diese Schlacht gedauert hat…“ Hizashi ließ es tatsächlich so klingen, als wäre das ein Grund zum Feiern, doch in Seigi kam kein Stolz oder Freudenstimmung auf. Das tat es auch nicht, als die Hikari sich einstimmig darüber erfreut zeigten, dass das Kind Safiyas glücklicherweise ein Erbe des Lichts sei. Wäre es kein Lichterbe gewesen, dann hätten sie sich ungeahnten Problemen gegenüber gesehen… die Freude war daher in der Stunde des Unglücks – für andere, nicht für Seigi - groß gewesen. Auch Seigi hatte sich gefreut. Jedenfalls hatte er erleichtert gelächelt. Doch man sah ihm an, dass es nur aufgesetzte Freude gewesen war. Nein, der einzig wahre Grund zur Freude wäre es gewesen, wenn Safiya die Ewigkeit gewählt hätte. Aber das hatte sie nicht. Seine Mutter war vor dieser Ratsversammlung zu ihm ins Diesseits gekommen, um es ihm zu sagen. Aber sie hatte es nicht über die Lippen bringen können, die Worte… dass ihre geliebte Tochter die Stille und nicht die Ewigkeit gewählt hatte… wenn ihr denn überhaupt die Wahl gegeben worden war. Aber daran zweifelte Seigi nicht. Safiya war eine exzellente Hikari gewesen… sie hätte die Wahl, ob sie ein Leben im Jenseits wünschte, bekommen. Aber sie hatte abgelehnt. Lili hatte ihn einfach nur angesehen und war in Tränen ausgebrochen. Seigi war stehen geblieben. Hatte ihr beim Weinen zugesehen. Wollte er sie umarmen? Er wusste es nicht. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht gekonnt. Also ließ er sie einfach weinen, ohne etwas zu sagen… ohne etwas zu tun.          Ohne wirklich an irgendetwas zu denken beobachtete Seigi, wie das Blut sich in rotes Wasser verwandelte und herunterlief. Einfach nur herunterlief und verschwand. An einigen Stellen war das Blut bereits hart geworden; das von oben herabkommende Wasser, das seine Haare durchweichte und versuchte ihn reinzuwaschen, während Seigi mit halbgeschlossenen Augen gegen die fliesenbedeckte Wand der Dusche lehnte, konnte nicht das gesamte Blut auf einmal abwaschen. Es hing fest, zwischen seinen Fingern, als wolle es seinen Körper nicht verlassen, als gehöre es schon zu ihm. Seigi tat nichts, um den Prozess zu beschleunigen. Er sah einfach nur zu. „Seiji?“ Elisabeths Stimme ertönte zusammen mit einem sachten Klopfen. Seigis Antwort folgte sofort, mechanisch erklingend: „Geh.“ Dann entschied er sich aber doch anders: „Geh… bitte. Ich will alleine sein.“ Er hörte nichts mehr; kein Klopfen, keine Stimme. Nur absolutes Schweigen, das ihn zurück in seine abschottende Gedankenlosigkeit hinabriss. Wie lange Seigi einfach nur unter dem Wasser stehen blieb, wusste er nicht. Aber irgendwann, als alles Blut bereits versiegt war und er wieder weiß war, trat er aus der Dusche und begann mit mechanischer Gleichgültigkeit, seine Haare trocken zu reiben, nicht daran denken wollend, dass Safiya immer gesagt hatte, dass er seine Haare lang wachsen lassen sollte. Das würde ihn nur beim Kämpfen stören, hatte er geantwortet… aber kämpfen war doch nicht alles… doch, war es. Seigi vergaß, die Knöpfe seiner gesäuberten Uniform zu schließen, die er sich nur achtlos überwarf. Er hatte ebenfalls vergessen, dass Elisabeth an seiner Tür geklopft hatte, weshalb er nun ziemlich überrascht aussah, als er das Menschenmädchen vor sich stehen sah. „Elly, ich hatte gesagt, ich will alleine sein.“ Seine Stimme klang nicht wirklich wie ein Vorwurf; eher… erschöpft. Aber war das… war das ein kurzes Aufflammen eines Lächelns? Ein Lächeln, weil er insgeheim gehofft hatte, dass sie doch da bleiben würde? Er sagte nichts, sah sie einfach nur mit diesem eigenartigen Gesichtsausdruck an; lange, dann schlug er die Augen nieder, schien sich abwenden zu wollen, doch genau in dem Moment streckte Elisabeth getrieben von besorgter Intuition die Arme aus – und Seigi nahm die einladenden Arme an, schlang seine um sie, ging auf die Knie und hielt Elisabeth fest umschlungen. Worte, deren Sprachen sich nun vermischten, sprudelten förmlich aus seinem Mund, dessen Inhalt Elisabeth zwar nicht verstehen konnte, aber dessen traurigen Ursprung… den verstand sie. Und genauso verstand sie auch, dass keine Antwort vonnöten war. Einfach nur halten. Das war alles, was sie in dem Moment tun konnte… und das war bereits mehr, als was er von ihr verlangte. … Später, als Seigis bebende Schultern zur Ruhe gekommen waren, saß er auf seinem Bett, das Gesicht nach oben zu einem Dachfenster gerichtet und spielte gedankenverloren mit dem rostbraunen Haar des Mädchens, welches mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen war. Kein Licht war in seinem Zimmer entzündet worden; das einzige Licht, das hier existierte, war das Licht der Sterne, nun, da die Wolken verschwunden waren und Seigi durch das Dachfenster hinaus in den klaren Sternenhimmel blicken konnte. Es war lange, lange her, dass er geweint hatte. Seine Augen brannten ein wenig, waren leicht gerötet, aber… er fühlte sich besser. Nein, „besser“ war nicht das richtige Wort. Er fühlte sich… wissender. Ja, er verstand es jetzt...   Er war der Mörder Safiyas. Nicht irgendein Dämon. Wenn Seigi Elisabeth nicht hierher gebracht hätte, hätte Safiya nie das gesehen, was sie zur Flucht getrieben hatte. Ja, Seigi wusste von den Gefühlen seiner Schwester, unter denen sie so sehr gelitten hatte – Gefühle, die sie sich selbst verboten hatte, aber dennoch waren sie Seigi nicht entfallen. Er war gleichgültig seinen Mitwächtern und seinem Umfeld gegenüber, ja. Aber Safiya… Safiya war ihm nicht gleichgültig gewesen. Er hatte ihre Gefühle für… ihn… bemerkt. Wahrscheinlich schon früher, als sie es selbst gewusst hatte. Nie hätte sie den Mut aufbringen und sie ihm gestehen können. Die Gefühle waren ihr geheimer Schatz und nie hätte sie ihn aufgeben wollen. Nicht einmal nach ihrer Verlobung. Zu dieser hatte Seigi sie sogar noch ermutigt… Er hatte immer nur das beste für sie gewollt! Doch das konnte sie nicht an der Seite ihres Bruders haben… Er konnte sie nicht so lieben, wie sie es sich erwünscht hatte. Das hatte sie, genau wie er, gewusst! Trotzdem hatte sie sich an einen dünnen Faden der Hoffnung geklammert. Aber worauf hatte sie denn gehofft? Seigi jedenfalls hatte gehofft, dass der Mann an ihrer Seite ihr hätte helfen können. Dass sie dank ihm verstehen würde, dass es nichts brachte, die Gefühle für Seigi am Leben zu erhalten. Er hatte gehofft, dass jener dünne Faden der Hoffnung einfach verschwinden würde. Stattdessen hatte er Safiya nicht nur zu Fall gebracht. Sondern erwürgt.     Die Bestattung fand am Tage darauf statt. Die einzige Gelegenheit bei der alle, sogar die Hikari, in schwarz gekleidet waren. Für Elisabeth war die ganze Beerdigung Ursache großer Verwirrung. Safiya würde nicht in einer Kiste in der Erde ewig ruhen. Bei den Wächtern war es nicht Brauch, die Verstorbenen zu beerdigen; stattdessen würden die verstorbenen Hikari  in einem Glassarg ruhen, auf einem Friedhof, der nur für die Lichterben vorgesehen war… gelegen auf einer kleinen, abseits fliegenden Insel des Tempels. Ein Friedhof, der aus großen Hallen bestand, deren Decken getragen wurden von hohen, korinthischen Säulen. Schmucklose, kahle Hallen, die nur von magisch entzündeten Lichtern in deren Kerzenhaltern leicht erhellt wurden, die zwischen den vielen Särgen aufgestellt worden waren. In diesen ruhten die Lichterben für alle Ewigkeit, in einem Zustand der Zeitlosigkeit; ihre toten Körper würden sich nie verändern, würden ewig in dem Zustand bleiben, in dem sie jetzt waren, ruhend mit ihrer treuen Waffe auf der Brust, über die sie alle ihre Hände gefaltet hatten, in einer erhabenen und edlen Manier. Wie eigenartig diese toten Körper auf Elisabeth wirkten… ihre weißen Gesichter geisterhaft im flackernden Licht der Kerzen, ruhig und ernst. Auf der einen Seite sahen sie aus, als würden sie zutiefst konzentriert schlafen, auf der anderen Seite waren sie so in sich versteinert, dass sie absolut nicht länger lebendig aussahen… tot. Daher war es umso merkwürdiger zu sehen, wie Lili neben ihrem eigenen Sarg stand und still in den Armen einer anderen Hikari weinte, während ihr eigener Körper in dem Sarg neben ihr ruhte. Ihr Körper wirkte toter als ihr Geist. Elisabeth verstand natürlich nichts von dem was gesprochen wurde; alles was sie tun konnte war sich selbst immer wieder die Tränen aus den Augen zu wischen, während sie mit ihrer anderen Hand Seigis festhielt, der darauf bestanden hatte, sie die ganze Zeit neben sich haben zu wollen. Auch noch als die Beerdigung zu Ende war, hielt er ihre Hand fest in seiner, schien sie gar nicht mehr gehen lassen zu wollen – auch nicht dann, als Seigi von seinen Mithikari angesprochen wurde, die ihm erst jetzt Beileid aussprachen, auf das Seigi allerdings kaum reagierte. Was brachte geheucheltes Beileid schon? Beileid brachte auch niemanden zurück…  „Seigi, ich hoffe, du weißt, dass du den Posten deiner Schwester übernehmen wirst?“ Natürlich wusste der Angesprochene das, weshalb er die weibliche Hikari, die ihn auf das Offensichtliche aufmerksam gemacht hatte, nur müde ansah und antwortete: „Das weiß ich.“ „Und du bist dir deiner Aufgaben bewusst? Deinen neuen Aufgaben? Sie werden nicht mehr nur daraus bestehen, das Schwert zu schwingen!“ Noch bevor Seigi antworten konnte, hielt Adir den Arm vor seine Mithikari und unterbrach das Gespräch mit einem höflichen Lächeln: „Ich mir sicher, dass Seigi weiß, was zu tun ist, sobald er zum Regime-Führer ernannt werden wird.“ Die Angesprochene wandte sich leicht beleidigt ab und antwortete nicht. „Wenn du Hilfe benötigst, Seigi…“, begann Adir seinen Gesprächspartner traurig, aber auch aufmunternd anlächelnd, wie auch Elisabeth, der er kurz zugenickt hatte: „… dann stehe ich dir gerne als Ansprechpartner zur Verfügung und werde versuchen, dir so gut es geht zu helfen.“     Diese Hilfe tat bitter Not, denn die bevorstehende Papierarbeit, die auch zu den Tätigkeiten eines Hikari gehörte, stellte sich als Seigis ärgster Widersacher heraus; besonders wenn diese elendige Papierarbeit kombiniert wurde mit Besuchen im Jenseits, die in seinen Augen nichts anderes waren als unnütz. Unnütz und absolute Zeitverschwendung, die nur dafür sorgte, dass sich Seigis Laune schwärzer färbte als jede Nacht. Seigis geliebtes Schwert hing nutzlos an seiner Hüfte, das Kämpfen übernahmen seine Wächter; jetzt auch bei Einsätzen außerhalb Europas. Das regte seine Laune nicht gerade an. Er hasste es, tatenlos irgendwo herumzusitzen und sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Er war ein Hikari, den man aktivieren musste und das nicht mit dem Unterschreiben von irgendwelchen Dokumenten, die ach so wichtig sein sollten. Er brauchte das Schwert in seiner Hand – keine Feder! Als Seigi gerade eine der Schreibfedern vor lauter frustrierter Wut an die Wand warf, kam Elisabeth in sein Arbeitszimmer, die die neben ihren Kopf an die Wand gepfefferte Feder verdattert ansah. „Wenn ich noch eine dieser Federn sehe, werde ich wahnsinnig!“ Seigi schlug entmachtet die Hände über dem Kopf zusammen, während Elisabeth sich einen Stuhl nahm und sich zu ihm an den Schreibtisch setzte. „Soll ich dir vielleicht helfen?“, fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln. Der Angesprochene schielte kurz mit einem beleidigten Schmollmund zu ihr herüber, wie ein Kind, das seine Hausaufgaben nicht machen wollte: „Das ist eine gute Idee – du kannst mir dabei helfen, diesen Haufen Müll zu verbrennen.“ Elisabeth lachte leise und brachte Seigi trotz seiner miesen Laune verborgen hinter seinen auf dem Tisch liegenden Armen zu seinem Lächeln. Als er das Zucken seiner Mundwinkel allerdings bemerkte, verschwand das sachte Schmunzeln wieder, denn ihm war wieder eingefallen… dass er es Elisabeth immer noch nicht gesagt hatte. Die Hikari übten langsam immer mehr Druck aus; heute erst hatten sie betont, wie dringend jetzt eine „Gute Nachricht“ sei, die das Wächtertum von dem Verlust Safiyas ablenken könne – und nichts war so ablenkend wie die Heirat eines Hikari. Er hatte nun wirklich lange genug gewartet! Zwei Monate waren seit dem Tod Safiyas vergangen - worauf wartete er denn? Ja, worauf wartete er eigentlich - genau diese Frage stellte er sich selbst. Seigi hatte sie sich erst heute Morgen gestellt, in einer der wenigen ruhigen Minuten, die er hatte genutzt hatte, um seinen neugeborenen Neffen zu besuchen. Er stellte sie sich eigentlich dauerhaft; nicht nur, wenn er sah, wie liebevoll Elisabeth sich über die kleinen Finger des Kindes freute.    Seigi richtete sich wieder in seinem Stuhl auf, sie entschlossen anblickend, alles Selbstbewusstsein aufbringend, um seine Röte zu verbergen. „Weißt du, Elly, ich müsste morgen nichts in Jenseits…“ Elisabeth fiel ihm mit einem strahlenden Lächeln ins Wort: „Das bedeutet dann ja, dass du endlich wieder trainieren kannst!“ „Höh?“ „Naja…“ Sie kratzte sich verlegen am Hinterkopf und fuhr fort: „Seitdem du nicht mehr trainierst, bist du so schlecht gelaunt…“ Seigi sah sie belustigt an und antwortete: „Ach, wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen… aber es ist wahr. Ich vermisse es, das Schwert zu schwingen. Das war jedoch nicht…“ Er zögerte kurz, herrschte sich selbst an, sich zusammenzureißen: „… das was ich sagen wollte, Elly. Morgen Mittag, wenn die Dämonen Ruhe geben, dann hätte ich ein wenig Luft und dann…“ Und dann?! Urgh, Seigi verfluchte sich selbst, dass er nie im Voraus plante und daher jetzt ins Stocken geriet. Was dann? Was sollte er mit diesem dann anfangen? Er konnte wohl kaum ankündigen, dass er ihr am morgigen Tag einen Antrag machen würde. Argh, warum sagte er es nicht einfach jetzt, brachte es über die Bühne…   „… dann zeige ich dir die Inseln.“ Was war denn das für eine dumme Idee?! Die Inseln zeigen?! Seine Schwester hatte Elisabeth doch schon die Inseln gezeigt! Und Elisabeth wusste, dass er es wusste, immerhin hatte sie ihm von den Inseln erzählt und wie zauberhaft sie sie fand… argh. Argh. Argh.  Seigi wollte gerade peinlicherweise noch etwas hinzufügen, aber er kam nicht so weit: „Gerne!“ Diese fröhliche Antwort und das darauffolgende, beidseitige Lächeln brachte Seigis wirre Gedanken schnell zum Stillstand. „Morgen, gleich nach dem Frühstück?“     Das Kriegsgericht hatte Seigi in allen Punkten für unschuldig befunden. Kaum eine Überraschung in Anbetracht dessen, dass sie es sich in diesem Moment nicht leisten konnten, einen Hikari in der Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen, wo dieser Hikari doch bald zum offiziellen Regime-Führer ernannt werden würde und seine Heirat das Wächtertum ablenken sollte. Darüber hinaus hatten die Dämonen die Tötung von rund 5000 ihrer Artgenossen nicht als Kriegserklärung angesehen. Während Hizashi sich in seinem Büro gerade einem ausgiebigen Bericht über dieses Thema widmete, saß Adir über einen anderen Bericht gebeugt, die Stirn in besorgte Falten gelegt. Der Bericht, dessen Inhalt sich mit der von Seigi ausgefochtenen Schlacht beschäftigte. Adir hatte schon mit Hizashi darüber gesprochen… oder eher sprechen wollen, denn Hizashi hatte seine Bedenken mit einer galanten Handbewegung beiseitegeschoben. 5000 tote Dämonen waren ein Grund zur Freude, nicht zur Besorgnis. So seine Worte. Natürlich war Adir der gleichen Meinung, dass so viele eliminierte Dämonen positiv waren, besonders wenn sie dafür keinen Gegenangriff zu planen schienen – und der wäre in der Regel bereits gekommen – und es auf ihrer Seite nur wenige Opfer zu verbuchen gegeben hatte, aber... nein, Adir konnte das dumpf in ihm pochende, schlechte Gefühl einfach nicht abschütteln, wenn er den Bericht überflog und immer wieder bei der Zahl festhing, die Seigi eigenhändig getötet hatte – 1864 Dämonen. Ja, er war ein talentierter Wächter, aber wenn man bedachte, dass Seigi diese Dämonen alle mit seinem Schwert und nicht mit flächendeckenden Lichtangriffen getötet hatte… war das nicht… besorgniserregend? Ja, es bestätigte sein Können, dass er aus so vielen Kämpfen unbeschadet hervorgegangen war, aber so viele Dämonen in so kurzer Zeit mit dem Schwert getötet zu haben, bezeugte auch noch etwas anderes.   Adir legte seine Stirn auf seine über dem Dokument gefalteten Hände und seufzte, den blutüberströmten Seigi vor sich im Ratssaal stehen sehend.       Weiß war die Farbe der Hikari.                                                                                Warum neigten dann so viele Hikari zu Rot?        Weiß war die Farbe der Hikari. Die Farbe der Unschuld, der Reinheit, der Heiligkeit. Adir fragte sich die Frage zu Recht: Wie kam es, dass gerade diese Farbe sich von der besudelnden Farbe des Blutes nicht reinwaschen konnte? Wie kam es, dass die Hikari immer darum kämpften, die Reinheit ihrer Farbe zu bewahren – nur um dann mit noch tieferem Rot befleckt zu werden?   Kein Wächter war dem heiligen Abgrund so nahe. Kein Wächter wandelte so waghalsig auf dem dünnen Pfad zwischen Sinn und Wahnsinn. Kein Wächter musste so um die Reinheit seines Herzens bangen wie ein Hikari.   Adir hatte viele Hikari begleitet; hatte viele sich erheben, aber auch viele fallen gesehen, viele Schicksalsschläge, viele Dramen sich entfalten sehen. Er musste nicht erst bei anderen suchen, er spürte sie auch in sich selbst; seine sich senkrecht übers Auge ziehende Narbe erinnerte ihn immer wieder an die Zweiteilung, die den Hikari auferlegt worden war.   Er würde noch viele Schicksalsschläge mitansehen. Einer war gerade dabei, seine Flügel zu entfalten und auszubrechen.       „Seigi ist von einem Dämon besessen.“         Kapitel 31: Dämonen alleine im Tempel -------------------------------------     Green gähnte herzhaft, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten und erntete sich von ihrem großen Bruder einen tadelnden Blick, den sie natürlich gekonnt ignorierte. Sie, Grey und das Tempelwächterzwillingspaar standen in der Eingangshalle des Tempels; Green hatte sich allerdings an eine Säule gelehnt und war mehr dabei einzuschlafen als dem Gespräch zu folgen, obwohl das Gespräch eigentlich nur sie betraf. Aber es war kurz nach Mitternacht und Green war gerade aus dem Bett geworfen worden: konnte man da wirklich erwarten, dass sie fit war? Gut, sie war extra früh ins Bett geschickt worden, aber dennoch.   „Onii-chan, was soll das hier eigentlich werden?“ Grey wandte sich von Ryô und Itzumi ab und ging hinüber zu seiner Schwester; sie natürlich erst einmal darauf hinweisend, dass sie ordentlich stehen solle, ehe er ihr antwortete: „Trainingsauftrag, Green!“ „Was? Um diese Uhrzeit? Kann das nicht bis morgen warten?“ „Warum glaubst du habe ich dich so früh ins Bett geschickt? Es geht nur jetzt. Ich will nicht, dass du bei Nacht irgendwo herumläufst.“ „Grey. Es ist Nacht.“ „Ja, aber dort, wo dich dein Trainingsauftrag hinführt, nicht.“ Green legte fragend den Kopf schief. „Ahja…? Was genau soll ich denn machen?“ Der Angesprochene verschränkte die Arme. „Tinami-san hat heute Mittag einen unserer fehlenden Wächter geortet. Den Wächter der Erde, um genau zu sein. Es liegt nun an dir, diesen Wächter ausfindig zu machen und hier herzubringen. Es ist also kein besonders schwerer Auftrag.“ „Und wie soll ich das bitte machen? Der rennt sicherlich nicht mit einem Schild rum.“ Grey legte ihr ein kleines Gerät in die Hand: ein Gerät von der Größe eines Handys, mit einem hellen, weißen Bildschirm. Fragend blickte sie ihren Bruder an: „Was ist das?“ Grey lächelte entschuldigend: „Ich muss ehrlich gesagt zugeben, dass ich dir das nicht genau erklären kann… du weißt, ich bin nicht so stark auf diesem Gebiet. Es ist eine von Tinami-sans Erfindungen… Sie hat mir erklärt, dass dieses Gerät ausschlagen wird, sobald sich Erdmagie in der Nähe befindet. Wir haben auch den Aufenthaltsort des Wächters; es sollte dir also ein Leichtes sein, ihn zu finden, denn ich bezweifle, dass er seit heute Mittag eine Weltreise gemacht hat. Das Merkwürdige an der Sache ist nur, dass die Magie sofort wieder verschwunden ist…“ Grey überlegte kurz, ging aber nicht weiter darauf ein: „Die typischen Merkmale eines Erdwächters sind braune Haare und braune Augen. Darüber hinaus sind sie für ihren angriffslustigen und sturen Charakter bekannt: es könnte also sein, dass er dir Probleme bereitet…“ Green nickte leicht, ein weiteres Gähnen unterdrückend und schob das Suchgerät in ihre Jackentasche. Aber trotz ihrer Müdigkeit kam sie nicht drum herum, über das Offensichtliche zu stutzen: „Was ist denn daran Training? Wird dieser Typ von Dämonen verfolgt oder wie?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Aber es könnte bald der Fall sein, weshalb du auf die Anwesenheit von Dämonen gefasst sein solltest. Die Tsuchi sind unsere stärkste Angriffsmacht… sollten unsere Feinde das Erwachen des Wächters gespürt haben, dann könnten sie es auf ihn abgesehen haben.“ Green nickte abermals, sich den Schlaf aus den Augen wischend, weshalb sie den Blick nicht sah, den Grey und Ryô sich zuwarfen, der auch sofort verschwand, als Green sich noch einmal an ihren Bruder richtete: „Warte mal, wenn ich mich richtig erinnere… hat Tinami mir erklärt, dass Elemente, die in Menschen leben, nur durch meine Anwesenheit geweckt werden?“ Überrascht weiteten sich Greys Augen; er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass Green das wisse: „Das stimmt in der Tat, Green! Wie erfreulich, dass du das weißt…“ Der beleidigte Blick Greens brachte Grey schnell dazu, diese Worte zu bereuen. Er hüstelte und fuhr fort: „… Es stimmt, dass sich schlafende Elemente eigentlich nur durch den Kontakt mit dem Licht aktivieren, aber es gibt auch Ausnahmen. Das Element der Erde ist sehr dominant und eigensinnig. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es von sich aus erwacht ist. Wir werden das genauer untersuchen, sobald du den Wächter hergebracht hast.“ Ebenso wie sie auch untersuchen würden, in welchem Zusammenhang der neuerwachte Wächter mit Green stand. Darüber schien sie nicht gestolpert zu sein; und es war eine Tatsache, dass ein Element immer nur einen Menschen als Wirt auswählte, der sich in der Nähe der Hikari befand. Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn das dieses Mal anders wäre – aber sie hatten auch nicht viele Vergleichsfälle, denn dass eine Rasse komplett ausgerottet wurde und das Element sich somit einen Menschen suchen musste, war nur sehr selten vorgekommen. Es war daher ein Gebiet, auf dem noch geforscht werden musste.   „Du kannst mich kontaktieren, wenn du Hilfe benötigst, Green. Ich werde natürlich nicht ins Bett gehen.“ Ein sachtes, kaum hörbares Hüsteln ertönte, welches Green nicht bemerkt hatte, Grey aber schon, denn es war das unauffällige Hüsteln seines Tempelwächters gewesen, zu welchem sich sein Herr nun auch umdrehte. „Wenn Ihr erlaubt, dass ich Euch in diesem Fall widerspreche, Grey-sama, dann würde ich Euch eigentlich dazu raten, Euch zur Ruhe zu begeben. Ihr wart lange wach und Ihr solltet an Eure Gesundheit denken…“ Grey wollte gerade die schmollende Antwort geben, dass er wohl kaum schlafen gehen konnte, wenn er nicht wusste, wie es um Greens Wohlergehen stand, als eben diese ihm zuvorkam: „Zum Glück achtest wenigstens du auf seine Gesundheit, Ryô, wenn schon Grey es nicht macht!“ Sie lachte unbeschwert, besonders als sie die sanfte Errötung auf dem Gesicht des Tempelwächters erkannte, der sich am liebsten abgewandt hätte, den Blicken der beiden Geschwister allerdings standhielt, sich nur kurz verbeugte, als hätte Green ihm ein großes Kompliment gemacht. „Ich finde, Ryô hat recht“, begann Green mit einem Grinsen: „Der Auftrag scheint doch leicht zu sein; das schaffe ich schon, ohne dass du auf deinen Schlaf verzichten musst! Du kannst ruhig ins Bett gehen.“ Wieder kam Grey nicht zum Antworten, denn Ryô pflichtete Green bei: „Ich danke Euch für Euren Beistand, Hikari-sama.“ Dann sahen seine bernsteinfarbenen Augen zu Grey: „Ich werde Euch natürlich wecken, wenn etwas passieren sollte.“ Dem musste Grey sich wohl beugen, aber dennoch; beruhigt war er nicht. „Gut, dann kontaktierst du bitte Ryô… auch wenn es mir nicht gefällt, dass ich dir somit den Schlaf raube, mein Freund.“ Der Tempelwächter versicherte ihm, dass er sich darüber keine Gedanken machen müsse und Grey fuhr fort: „Und du passt auf dich auf, Green.“ „Alles klar! Das werde ich schon schaffen. Solange du mich nicht in die Antarktis oder nach Deut-“ Doch Green wurde von Itzumi unterbrochen: „Es ist alles bereit, Grey-sama… Hikari-sama.“ Green überhörte das letzte Wort, das Itzumi recht säuerlich ausgesprochen hatte, Ryô hingegen warf Itzumi einen leicht tadelnden Blick zu, weil sie Green unterbrochen hatte. Es stand ihr nicht zu, unaufgefordert zu reden, besonders nicht in ein Gespräch mit der Lichterbin hineinzuplatzen. Von ihrem Tonfall ganz zu schweigen…   Doch Grey sagte zum Glück nichts, er nickte nur und sah zu, wie Itzumi den Kopf senkte, sich neben Green stellte und ihr die Hand reichte: „Wenn Ihr gestattet…?“ Green seufzte. Warum konnte Ryô sie nicht hinbringen? Warum war sie immer mit Itzumi bestraft? Jeder sah doch, dass Itzumi ihr die Pest an den Hals wünschte. Dennoch nahm Green leicht zögernd die Hand ihrer Tempelwächterin und es gelang ihr nur noch Grey anzulächeln, ehe sie verschwand. Grey blickte lächelnd auf den Punkt, wo sie sein Lächeln eben noch erwidert hatte. Doch Ryô sah ihm an, dass ihn etwas beschäftigte, denn das Lächeln seines Herrn war von leichter Traurigkeit erfüllt. „Wenn Ihr die Frage erlaubt, Grey-sama…“ „Grey. Ryô… wie oft denn noch…“ Ryô senkte den Kopf und sah weg, antwortete jedoch nicht, weshalb Grey das Gespräch fortführte. „Was wolltest du denn wissen?“ „Ihr seht traurig aus…“ „Du hast nicht wirklich vor, mich zu fragen, weshalb?“ Ryô schüttelte schnell den Kopf. „Nein, selbstverständlich weiß ich den Grund…“ Grey lächelte, aber sein Gesicht wirkte ein wenig verkrampft. „Hätte mich auch gewundert, wenn nicht.“ Er legte seine Hand auf die Schultern des Tempelwächters und dieser wagte es, Grey in seine himmelblauen Augen zu schauen. Der Windwächter lächelte immer noch, als er ausfuhr: „Immerhin…“ Unterdrückte Grey da ein Seufzen?“ „…bist du mein bester Freund und Vertrauter.“ Ryô wollte am liebsten den Blick senken, aber er hielt ihn aufrecht.   „Und dafür bin ich Euch mehr als dankbar…“ Grey zog seine Hand zurück und begann, in die Richtung seines Schlafzimmers zu gehen. „Also… Ryô. Was wolltest du mich denn eigentlich gerade fragen?“ Ryô schwieg kurz. Er konnte es nicht fragen. Er durfte es nicht fragen. Es war viel zu privat und ging ihn überhaupt nichts an. Zu allem Überfluss war die Frage unerhört. Ein Tempelwächter durfte so eine Frage nicht stellen; sich nicht so einmischen, nicht einmal davon ausgesehen, dass er es durfte… aber ein Freund… ein Freund durfte das. Mehr sogar; es war die Pflicht eines Freundes, es anzusprechen; es war seine Pflicht, den, den er seinen Freund nannte, zu schützen. Auch vor sich selbst. „Komm schon, Ryô. So schlimm wird es schon nicht sein“, unterbrach der Windwächter das Gedankenchaos seines Tempelwächters und zögernd brachte dieser sich zu einer Antwort: „Eure Gefühle für Hikari-sama…“ Grey blieb schlagartig stehen und Ryô brauchte seine Frage nicht auszuformulieren.   „…Sie ist meine Schwester.“ „Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr nur Geschwisterliebe für sie empfindet? Genauso wie ich meine Schwester liebe?“ „Warum fragst du überhaupt? Liegt die Antwort nicht klar auf der Hand? Selbstverständlich liebe ich Green nicht anders als du Itzumi…“ „Ihr belügt Euch selbst… warum wollt Ihr es nicht zugeben?“ Grey drehte sich zu ihm herum und... sofort bereute der Tempelwächter seine Frage; dass er das Thema überhaupt angefangen hatte, denn er sah Verzweiflung in Greys Augen. „… Wenn du die Antwort weißt… warum fragst du mich dann…?!“ „Ich bitte vielmals um Vergebung! I-Ich wollte… ich wollte Eure Gefühle nicht verletzen… Ich… mache mir Sorgen um Euch…“ Noch mehr Worte lasteten auf Ryôs Herzen, doch anstatt diese zu sagen, starrte er auf seine Füße, während Grey nicht antwortete, sondern den gesenkten Goldschopf seines Freundes nur schweigend und auch ein wenig bestürzt ansah. Es war wirklich selten, dass er Ryô so aus der Fassung erlebt hatte. „Vergebt mir…“ Grey seufzte und antwortete: „Es gibt nichts zu vergeben… Ich bin dir nicht böse, warum sollte ich auch? Du weißt, ich schätze deine Meinung… aber mach dir keine Sorgen. Ich… Es ist alles gut.“ Der Angesprochene sah auf, jedoch bedacht darauf, seinen Herren nicht direkt anzuschauen. Dennoch konnte er aus den Augenwinkeln sehen, dass Grey ihn anlächelte: genau wie er versuchte, das innere Gefühlschaos zu überspielen.     „Hier ist der automatische Anrufbeantworter der Familie Asuka. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Tonsignal…“ Voller griesgrämiger Wut und Ungeduld starrte Siberu auf den Telefonhörer, der schier bebte in seiner wütenden Hand, ehe er mit einem lauten „Verdammt!“ brutal zurück auf die Station geworfen wurde. „Wie ich höre, ist es immer noch nur der Anrufbeantworter… Silver, das bringt doch alles nichts. Du kannst nicht bei jedem Wächter Telefonterror machen. Das werden sie sich nicht mehr lange gefallen lassen, was man ihnen bei deinem Terror auch nicht verübeln könnte.“ Gary sah über sein Buch hinweg und traf den grummelnden Blick seines Bruders, als dieser sich vom Telefon abwandte und zu ihm sah: „Wie kannst du nur so ruhig bleiben und…lesen, während Green-chan wahrscheinlich in Lebensgefahr schwebt! Sie ist immerhin bei ihrem Bruder… er kommt mir einfach suspekt vor… und ist Inzest bei den Wächtern nicht normal!? Und da Green-chan sich ihm nicht freiwillig fügen wird, will er sie wahrscheinlich vergewaltigen! Oh mein Gohott!“ „Du hast eine echt lebhafte Fantasie…“ Doch Garys Worte hörte der Rotschopf nicht mehr, denn er hatte den Hörer schon wieder aufgenommen. Über die Schulter hinweg sah er zu ihm und sprach entschlossen: „Sieh zu und staune, wie ich mich für Green-chan opfere!“ Damit tippte er die Nummer ein, wartete kurz und begann dann zu sprechen, sobald die Verbindung hergestellt war: „Ja, hi Sho, hier Siberu, ist das Flachbre – ich meine, Firey da? … Öh ja ich habe das neue Einkaufszentrum gesehen? Ja… ich wollte mit deiner Schwester sprechen…. Ob ich Lust habe mitzukommen? Sho, darüber können wir später… Nein, was?! Das hört sich ja verlockend an…“ Gary senkte den Blick wieder und widmete sich seinem Buch. Es kam ihm so vor, als hätte er viele Seiten – womöglich ein ganzes Kapitel – durchgelesen, ehe der wütende Aufschrei seines Bruders ihn wieder unterbrach: „Sho! Bei aller Liebe, aber ich habe angerufen, um mit FIREY zu sprechen! ... Danke! ... Was soll das heißen „Sie ist nicht da“?! Hättest du das nicht früher sagen können?! …Ja… Was ich von Firey wollte? ... Öhm… Nein, ich stehe nicht auf Flachbretter. Dazu ist sie noch eine Furie und viel zu brutal, um überhaupt als Mädchen durchzugehen… Hallo?… Firey?! Ich dachte, du wärst nicht da! ... Doch, ich meinte das ernst, war etwa der Lautsprecher an? … Dann nimm es dir mal zu Herzen und hör auf so zu schreien, taub bin ich nämlich nicht! Ich habe ausgezeichnete Ohren! … Aber, Firey! Ich wollte dich was fra – Was?! Das hat damit gar nichts zu tun! … Öh hallo? Halloooooooooo?! … Aufgelegt! Ich fass es nicht!“ Siberu schlug wieder genervt den Hörer zurück, ihn abermals anstarrend, als wäre das Gerät an sich Schuld, dass alle seine Versuche, irgendetwas über Green in Erfahrung zu bringen, nichts brachten. Gary seufzte, legte sein Buch beiseite und stand auf. „Lass mich mal.“ „Als ob du es besser könntest. Ich habe jetzt echt schon alles versucht! Sogar diese Kaira hab ich angerufen! Aber von der kannst du dich ja auch gerne anschreien lassen. Besonders wegen den Todesdrohungen ist ein Anruf bei ihr sehr lohnenswert. Viel Spaß!“ Gary blieb von diesen Drohungen unbeeindruckt, nahm furchtlos den Hörer in die Hand und tippte eine Nummer ein, die Siberu nichts sagte, der seinen Bruder natürlich genauestens beobachtete. „… Guten Abend, Ilang-san… Ja, Gary hier, ich wollte dich etwas fragen… Ja, genau darum geht es… Ja…“ Erstaunt sah Siberu dabei zu, wie Gary das aufs Papier schrieb, was er die ganze Zeit versucht hatte zu erlangen: die Koordinaten, um sich in den Tempel teleportieren zu können. „So viel dazu, dass ich mich in Lebensgefahr bringe“, antwortete Gary, sobald er sich von Ilang verabschiedet hatte und der Telefonhörer sich wieder auf der Station befand. Angesichts von Siberus erstauntem Blick konnte er sich allerdings den Hauch eines triumphierenden Lächelns nicht verkneifen. „Das ist gemein!“, entfuhr es Siberu aufgebracht als erster Impuls: „Woher hast du überhaupt die Telefonnummer von dieser Naturfutzi?! Seit wann seid ihr denn…“ „Auf dem Weihnachtsfest haben wir ein paar interessante Gespräche geführt und auf jenem Fest bat ich Ilang-san um ihre Nummer.“ „Was!? Mein Aniki hat die Nummer eines Mädchens bekommen!? Ich bin ja sprachlos! Ich wusste ja gar nicht, dass du Interesse an der hast, aber gut, ihr passt zusammen. Ihr seid beide langweilig, soll mir recht sein; Green-chan gehört ja ohnehin mir!“ „Silver, man kann auch mit Mädchen sprechen, ohne dass man…“ „Warte, wenn du die Nummer die ganze Zeit gehabt hast, warum hast du mich dann durch die Weltgeschichte telefonieren lassen?!“ „Vielleicht weil ich verhindern wollte, dass du dir noch mehr Feinde unter den Elementarwächtern machst… ohnehin haben die Teleportationsdaten für uns keinen Nutzen.“ „Was? Wieso? Wir haben doch…“ Siberu deutete mit dem Zeigefinger auf einen alten, ziemlich in die Jahre gekommenen Gegenstand, welchen er gerade von der Kommode genommen hatte: ein kleines, viereckiges, bereits recht abgenutzt wirkendes Gerät mit einem kleinen Eingabefeld, wo die Koordinaten eingegeben werden konnten – so war es möglich, sich an Orte zu teleportieren, ohne dass man sie vorher selbst besucht hatte. Das Gerät würde einem dann als eine Art Leitfaden dienen und somit könnte man an jene Orte gelangen. „… das hier. Damit sollte das doch kein Problem sein! Einfach eingeben und fertig. Hast du wohl lange nicht mehr benutzt, was?“ Siberu nahm sich den Zettel, auf den Gary die Daten geschrieben hatte und gab sie in das Gerät ein, ohne auf den Blick seines Bruders zu achten. „Wenn es so einfach wäre, hätte ich Ilang-san doch sofort angerufen, aber so einfach ist es nicht. Glaubst du denn wirklich, dass der Tempel dann noch existiert hätte, wenn wir Dämonen uns einfach dorthin teleportieren könnten? Natürlich können wir das nicht. Der Tempel ist, genau wie alle anderen Inseln der Wächter, von einer starken Barriere umgeben, die dafür sorgt, dass alle Unwillkommenen draußen bleiben.“ „Dann machen wir die kaputt“, erwiderte Siberu unbeeindruckt von den Worten seines Bruders, immer noch dabei, die Koordinaten einzugeben und Gary daher nicht ansehend: „Kaputt? Silver, hast du mir nicht zugehört? Es ist die womöglich stärkste Barriere, die bis jetzt noch von keinem Dämon…“ „Und los!“ „Wa-“ Und schon war die Wohnung leer.     Greens Herz begann bereits zu rasen, noch ehe sie die Augen aufgeschlagen hatte. Sie wusste nicht, wo sie war, aber sie wusste, dass sie an einem Ort war, wo sie nicht sein wollte. Kälte kroch wie langsam aufsteigendes Wasser in ihr hoch; ihre Haut begann schmerzhaft zu pochen--- sie stand im Schnee, sie befand sich im Schnee, Schnee war überall um sie herum, sie spürte es, ohne die Augen zu öffnen, ohne die Augen zu--- ihr Herz, ihr Herz, es schlug zu schnell, es würde bersten, die Panik übermannte sie; sie musste ruhig bleiben, ruhig bleiben… oh nein, sie war einen Schritt rückwärtsgegangen, sie hörte das Knautschen des Schnees, spürte, wie er unter ihren Füßen nachgab – er war hoch, er war so hoch, er würde sie--- „Hikari-sama, wenn Ihr mich nicht länger braucht, kehre ich zurück.“ Green, die Itzumis Anwesenheit ganz vergessen hatte, schreckte auf und öffnete die Augen. Sie musste ruhig bleiben, ruhig bleiben – Itzumi runzelte bereits die Stirn über das Verhalten ihrer Hikari. War sie etwa schon blass geworden? Green hörte, wie sie versicherte, dass sie schon klarkommen würde und dass Itzumi natürlich wieder zurückkehren durfte – und obwohl ihr wahrscheinlich deutlich anzusehen war, dass garantiert nicht alles in Ordnung war, verneigte Itzumi sich und verschwand. Green verfluchte ihren Stolz umgehend, als sie auf den Punkt starrte, wo ihre Tempelwächterin gerade verschwunden war. Warum hatte sie ihr nicht einfach gesagt, dass sie sie wieder mit zurücknehmen sollte? Sie kannte die Antwort: wenn sie das getan hätte, dann hätte sie Grey unweigerlich von ihrem… Problem… erzählen müssen… und nein, es reichte, dass Siberu und Gary davon wussten. Das reichte. Nicht noch mehr. Aber dennoch verfluchte sie ihren trotzigen Stolz. Denn dank ihm befand sie sich jetzt an einem Ort, der aus ihren Albträumen hätte stammen können.   Schnee, Schnee – überall Schnee.     Das Erste, was Gary mit noch geschlossenen Augen auffiel, war die Luft: sie war unnormal rein und ohne jegliche Luftverschmutzung. Eine absolut reine, natürliche Luft, zusammen mit einer angenehmen Ruhe – hatte Siberu sie etwa wirklich in den Tempel gebracht? Ja, das hatte er, wie Gary feststellte, als er die Augen öffnete und sich… tatsächlich im Tempel wiederfand. Er konnte es natürlich nicht wissen, weil er noch nie im Tempel gewesen war, aber Siberu hatte ihn und seinen Bruder in den runden Hauptteleportationsraum gebracht. Einen Raum, den Gary nun anstarrte; völlig fassungslos, dass er als Dämon hier war und dass… nichts passiert war und auch nichts darauf hindeutete, dass irgendetwas im Begriff war zu geschehen. „W-Wir sind im Tempel“, brachte Gary völlig fassungslos über die Lippen, dessen Augen nun verdattert durch den runden Raum huschten, bis er aufgebracht zu seinem unschuldig grinsenden Bruder herumwirbelte: „Du hast uns mitten in das absolute Feindesland gebracht?! Ohne dass wir irgendetwas planen konnten?! Bist du denn wahnsinnig?! Weißt du, wie viele Wächter hier sein könnten?! Wächter, die uns garantiert schon gespürt haben?!“ „Naja, aber wenigstens sind wir hier, oder?“ „Das an sich ist schon unmöglich! Wie haben wir die Barriere überwunden-“ „Ist das nicht egal, Hauptsache wir sind hier?“ „- an dieser Barriere beißen sich die mächtigsten Dämonen die Zähne aus und wir sind einfach…“  „Während du dich mit diesen langweiligen Fragen aufgehalten hast, habe ich mal die Tür da gecheckt.“ Siberu zeigte auf die verschnörkelte Doppeltür an der Stirnseite des Raumes. „Versperrt. Mit irgendeinem Bannkreis. Ich kann versuchen, den zu brechen, aber das löst sicherlich einen Alarm aus.“ Gary musste sehr viel Mühe aufbringen, um sich von den offensichtlichen und sehr deutlichen Fragestellungen abzubringen, um sich den Problemen zu widmen, denen sie gerade gegenüberstanden. Konzentration.  „Da das hier die Zentrale der Wächter ist, nehme ich stark an, dass sie schon längst wissen, dass wir hier sind. Bei deren Stand der Technik…“ „Also: was tun?“  „Wir machen es auf die primitive Art.“ Siberus Augen strahlten auf. „Wir sprengen alles in die Luft?!“ „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?! Ich meinte damit, dass wir den Luftweg nehmen, du hirnloser Idiot!“ Gary zeigte auf den Nachthimmel, der zwischen den Säulen sichtbar war. Siberu maulte etwas von „langweilig“, doch folgte seinem Bruder trotzdem und die zwei Dämonen stiegen in die Nacht hinauf.  „Wow, das ist ja ein Riesenteil!“, entfuhr es dem Rotschopf, als sie weit genug in die Nacht hinaufgestiegen waren, um die gesamte Tempelanlage überblicken zu können, die sich wie ein helles Lichtermeer unter ihnen erstreckte.   „Kein Wunder. Dieses „Teil“ besitzt laut Green immerhin auch über 1200 Zimmer. Der Tempel ist nicht ohne Grund die Zentrale der Wächter.“ Er wandte sich zu Siberu herum, der sich gerade die wehenden Haare aus dem Gesicht fischte. „Warum auch immer, aber es scheint sich noch kein Sicherheitssystem aktiviert zu haben und das mit der Barriere irritiert mich immer noch…“ Gary sah nach oben in die schwarze Nacht: „Denn da oben kann ich eindeutig das Flimmern einer Barriere ausmachen.“ Der Angesprochene folgte seinem Blick, konnte aber nichts sehen. „Vielleicht machen sie Wartungsarbeiten oder so?“ Auf diese dumme Aussage wollte Gary nicht antworten, was Siberu aber weniger störte – er wollte das Thema schnell abhaken: „Komm, Aniki, lass uns irgendwo landen, wir müssen immerhin dieses ganze Teil durchkämmen und wir haben nicht die ganze Nacht, also…“ Er wollte schon ohne auf die Antwort seines Bruders zu warten heruntersteigen, als dieser ihn am Arm packte: „Oh nein! Wir werden nicht einfach kopflos in den Tempel gehen. Wir werden das Ganze jetzt systematisch besprechen.“ Jaaah, natürlich, dachte Siberu aufgebend mit himmelnden Augen. Als ob Siberu immer nur Chaos verbreitete; als ob er nie etwas richtig machte, als ob er nicht wüsste, dass deren „Rettungsaktion“ höchste Diskretion benötigte. Immerhin retteten sie Green nicht von sonstwo, sondern aus dem Tempel. Vielleicht sollte Siberu bei der Gelegenheit… einem gewissen… Bruder… einer gewissen Freundin… Der Rotschopf grinste und musste diesen Gedanken aus dem Kopf schütteln, damit er Gary antworten konnte: „Das müssen wir gar nicht besprechen, denn ich weiß schon alles! Eben genau wie immer. Ich darf nichts anfassen, nichts kaputtmachen, niemanden beleidigen, niemanden angreifen, niemanden umbringen… nicht reden, nicht atmen… Aber! Ich darf mich tot stellen!“ Gary sah seinen kleinen Bruder mit hochgezogenen Brauen an und sagte dann: „Wehe, du hältst dich nicht daran. Besonders was Grey angeht.“ Konnte er Gedanken lesen? „Was denkst du von mir?! Natürlich halte ich mich daran – es geht um Greenichanichanchens  Wohlergehen… und ihre Unschuld!“ „Du hast eine wahrlich krankhafte Fantasie. Ist das der negative Einfluss von Rui?“ „Mag sein… aber haben nicht alle Dämonen eine anrüchige Ader?“ „Du auf jeden Fall. Ich nicht“, stellte Gary trotzig fest. Siberu grinste breit und musste sich ein Kommentar verkneifen; denn natürlich würde sein Bruder an nichts anderes als an mathematische Formeln denken, wenn er Green unbekleidet sehen würde – aber als würde er das jemals! Siberu begann zu kichern und erntete sich einen genervten Blick seines Bruders. „Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht!“ Der Rotschopf spielte den Geschockten: „Aber ohne mein berühmtes Grinsen fehlt ein Teil meiner Persönlichkeit! Dann bin ich nicht mehr komplett – mein Eins A Aussehen leidet dann darunter. Willst du das verantworten? Meinen Fans antun? Du würdest zahlreichen Mädchen das Herz brechen! …Vielleicht würde dein Aussehen auch davon profitieren, wenn du…“ „Silver…! Mein Geduldsfaden ist am Reißen! Wie kommst du überhaupt darauf, so etwas hier an diesem Ort…“ „Ouuuuhu! Ich habe sooooooolche Angst! … Ja, schon klar! Du hast ja recht, lass uns Green-chan retten. Sonst muss ich dein trauriges Gesicht noch länger ertragen.“ „…“Trauriges Gesicht“?“ „Glaubst du etwa, ich hätte nicht gemerkt, dass du Green-chan heute in der Schule vermisst hast? Du hast immer wieder auf ihren Platz gesehen.“ Gary sah ihn schweigend an, fast schon verwundert, aber dann wurde er plötzlich wie auf Kommando  rot und drehte sich weg. Dass sie sich eigentlich einen Plan ausdenken wollten, hatte er plötzlich vergessen, denn mit hochrotem Kopf folgte er seinem Bruder, als dieser zur Landung auf einem Balkon ansetzte. „Du…du siehst Hirngespinste!“  „Green-chan vermisst mich eh mehr als dich“, bemerkte Siberu mit einem neckenden Grinsen, als er Garys verwunderten Blick sah, den er ihm über die Schulter hinweg zuwarf: „Ist doch so! Glaubst du etwa sie vermisst dich? Also ich würde niemanden vermissen, der mich immer nur anschnauzt, ständig mit seinem langweiligen Mathe ankommt und total unnett zu mir ist…du etwa? Naja, gut, Mathe ist für dich ja spannend.“ Zu Siberus Überraschung bekam er kein Kontra. Gary hatte das Gesicht wieder abgewandt, womit Siberu seinen Blick nicht sehen konnte. Hatte er ihn etwa… traurig gemacht? „… Obendrein siehst du nicht einmal halb so gut aus wie ich!“ Nun reagier schon, dachte Siberu. „Ich meine, mich kann man vermissen, alleine schon wegen meinem Aussehen!“ Nichts. Hallo?! Schlief der Typ im Stehen oder was? Das hatte ihn ja wohl nicht ernsthaft verletzt? „Aniki?!“   „Was?“ Gary drehte sich zu ihm herum und sah ihn keineswegs verletzt an, sondern nur genervt. Siberu blickte ihn prüfend an. „Ist was?“   „Ja, es „ist was“? Wir sind im Tempel, wenigstens einer von uns sollte vorsichtig sein?“ „Und warum bist du nicht darauf angesprungen?“ „In der Hoffnung, dass du dann endlich ruhig sein würdest. Aber nein. Du bist wirklich der nervigste Dämon – Rui ausgeschlossen – den ich kenne.“ Siberu grinste erfreut, als wäre das ein großes Kompliment und beließ es dann dabei. Das Zimmer, in das sie durch die zum Glück nicht verriegelte Tür gelangten, lag völlig im Dunklen, doch für die beiden Dämonen war das kein Problem und daher erkannten sie auch, dass sie sich in einem Arbeitszimmer befanden. Die Regale waren überfüllt mit Schriftrollen, Akten und Büchern. An der Wand hing eine alte Weltkarte aus dem 18. Jahrhundert, sicher eingerahmt hinter einem dicken Glas. Unter dem Bild auf den Schreibtischen lagen Federn verstreut und alle Computer, bis auf einer, waren ausgeschaltet.   Das war eine Goldgrube an Informationen. Während Gary abgelenkt war von der wahrlich wundervoll instand gehaltenen Karte, setzte Siberu sich grinsend vor den eingeschalteten Computer und fing an, auf der Tastatur zu tippen. Das Wappen der Wächter erschien auf dem Bildschirm und eine Frauenstimme forderte mit einer mechanischen Stimme nach einem Passwort: jedenfalls nahm Silver das an, immerhin konnte er die Sprache der Wächter nicht verstehen. Gary schreckte durch die Stimme auf und drehte sich gereizt zu seinem Bruder um. „Lass das! Willst du, dass sie uns finden?! Wir sind nicht wegen Informationen hier, sondern wegen Green…“ „Warte, warte!“, beschwor der Rotschopf flüsternd und sprach deutlich: „Hikari.“ Siberu wartete auf eine Reaktion, die auch sofort folgte: „Passwort negativ. Stimme nicht identifizierbar. System wird heruntergefahren.“ Der Bildschirm erlosch und wurde schwarz. Siberu maulte, denn er hätte zu gern gesehen, was sich so auf einem Wächtercomputer befand. „Ich hoffe für dich, dass sie uns dadurch nicht finden!“ „Mach dir nicht ins Hemd!“, antwortete Siberu, ließ sich aber protestlos von Gary emporziehen: „Außerdem scheinen hier ja nicht viele Wächter zu sein – ich kann jedenfalls nicht gerade viele Auren spüren.“ Das war Gary auch schon aufgefallen – und das war nur noch ein Grund mehr, stutzig und damit auch vorsichtig zu sein. Irgendetwas war hier doch faul. Warum befanden sich im Tempel, der doch das Zentrum des Wächtertums war, nur so wenige Auren? Hier sollten doch die meisten Wächter leben… und weiterhin keine Anzeichen darauf, dass sie entdeckt worden waren. Irgendetwas… Während Gary sich zu recht über all diese Merkwürdigkeiten den Kopf zerbrach, übernahm Siberu das Handeln: er ging an seinem Bruder vorbei zur Tür, legte sein Ohr daran und urteilte: „Die Luft ist rein… aber so was von.“ Damit öffnete er die Tür vorsichtig und Gary folgte ihm, womit sie auf einen weiß erhellten Korridor gelangten, der für deren Augen alles andere als angenehm war, nachdem sie in einem ziemlich dunklen Zimmer gewesen waren. Lange blieben sie allerdings nicht stehen, denn Siberu begann voller Tatendrang schnell geradeaus zu gehen, ohne besonders auf die Richtung oder deren Umgebung zu achten. Im Gegensatz zu seinem Bruder: dieser blieb beinahe bei jedem zweiten Gemälde oder jeder Statue stehen und betrachtete sie intensiv. Schnell wurde Siberu von diesem Verhalten genervt, denn jedes Mal musste er seinen Bruder dazu bewegen, weiterzugehen – und das, wo sein Bruder es doch eigentlich gewesen war, der Vorsicht geboten hatte! Was fand er nur an diesen eigenartigen Bildern und den komischen Statuen, die sich wohl Kunst schimpften? Wenn der Rotschopf die steinernen Statuen ansah, hatte er jedes Mal aufs Neue das Gefühl, dass deren Augen ihn finster anschauten und ihn dafür anklagten, dass er es wagte, diesen geheiligten Boden zu verunreinigen. Gary lachte auf diese Bedenken nur hinter vorgehaltener Hand und erklärte seinem Bruder, dass das sicherlich auch der Sinn war und dass die Statuen ein solches Gefühl in Siberu wecken konnten, doch nur ein Beweis dafür war, wie sehr diese Künstler ihr Handwerk beherrschten. „Aber von Steinstatuen will ich nicht angestarrt werden! Schon gar nicht von Steinstatuen, die ihre Speere auf mich richten!“, gab Siberu bockig von sich, denn ihm war das mehr als peinlich. „Keine Sorge, Silver. Ich bin doch da und beschütze dich vor den bösen, fiesen Steinfiguren!“ Der Angesprochene wurde rot vor Zorn. „Verarsch mich nicht, Blue!“ „Ich doch nicht.“ Der Rotschopf hatte schon den Mund geöffnet, um seinem Bruder eine lauthalse Antwort zu geben, da kam ihm Gary zuvor: „Sei lieber ruhig! Wenn sogar unsere Schritte an den Wänden widerhallen, wird man dein Geschreie bis ans andere Ende hören. Also spar dir das für später auf!“ Damit war das Gespräch für Gary beendet und seine Aufmerksamkeit lag wieder bei einem Acrylbild. Siberu grummelte, sich hinter die Ohren schreibend, dass das auf jeden Fall noch Folgen haben würde für seinen Bruder! Und für dieses verdammte Acrylbild – dafür war die richtige Zeit und Gelegenheit da, oder wie?! „Das ist doch kein Museum! Nun beeil dich doch endlich mal!“, fauchte der Rotschopf Gary an, der zwei Minuten später immer noch mit verschränkten Armen das Kunstwerk studierte und nicht antwortete. Er legte den Kopf schief und schien wirklich angestrengt über die Bedeutung des Bildes nachzudenken. „Silver, was siehst du auf dem Bild?“ „Eine schwarz-rote Spaghetti Bolognese.“ Gary schielte finster zu ihm herüber: „Du hast kein Auge für Kunst.“ „Und stolz drauf! Nun ko-“ „Das ist ein Krieg, du Kunstbanause. Siehst du da oben… das sind die Wächter, die mit den hellen Farben… und da…“ Siberu riss der Geduldsfaden. Kurzerhand packte er seinen neugierigen Bruder am Arm und wollte ihn von dem riesigen Gemälde wegzerren, als ihr dämonisches Gehör Schritte vernahm. Zwei Personen, die auf sie zu kamen. Siberu zeigte auf eine Flügeltür, die angelehnt und somit beinahe einladend dastand, und sie huschten in den Raum. Siberu lauschte angestrengt und hörte auch sofort Greys Stimme: „Danke für deine Hilfe, Ryô.“ „Nichts zu danken, Grey-sama. Zum Glück sind wir schnell fertig geworden. Aber Ihr solltet jetzt wirklich ruhen. Eure Gesundheit würde Euch danken.“ Grey lachte. „Du redest schon genauso wie Tinami-san! Aber ja, ich habe deine Worte und die Greens nicht vergessen. Ich werde mich zur Ruhe begeben.“ Ein Seufzen war zu vernehmen: „Ich beanspruche deine Zeit wirklich viel zu sehr. Jetzt findest du auch wegen mir und Green keinen Schlaf.“ „Ich leiste Euch gerne Gesellschaft. Tut mir einfach den Gefallen und geht ins Bett.“ „Ach, was würde ich nur ohne dich tun, Ryô. Ich werde mich deinem Wunsch beugen; ich werde nur vorher noch einmal ins Arbeitszimmer gehen, denn ich befürchte, dass ich vergessen habe, den Computer auszuschalten…“ Oh oh.   „Das werde ich gern für Euch übernehmen.“ „Ach nein, lass gut sein. Du hast heute wirklich schon genug für mich getan. Außerdem liegt das Arbeitszimmer sowieso auf meinem Weg…“ „Ihr versprecht mir, nicht weiterzuarbeiten?“ „Aber natürlich. Ich schalte nur den Computer aus. Ich verspreche es dir! Also, ich wünsche dir eine gute Nacht.“ „Ich Euch auch…“ Die beiden Wächter trennten sich voneinander und Siberu hörte, wie sie sich entfernten. „Blue, wir können wieder raus…. Blue?... Oh nein… bitte, alles nur das nicht…“     Grey hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken, als er sich vor den Computer setzte. Es hatte lange gedauert, bis er überhaupt so weit war, diese Maschine anschalten zu können, geschweige denn seine Arbeit damit zu erledigen. Zugegeben; auch jetzt war es meistens Ryô, der dies übernahm. Dieses Gebiet lag ihm besser als Grey und daher war es auch er gewesen, der es seinem Herren mit viel Geduld beigebracht hatte. Doch gerade als er den Computer ausschalten wollte, bemerkte der Windwächter, dass der Computer gar nicht eingeschaltet war.   Aber er hatte ihn doch nicht ausgemacht… Grey wurde stutzig und auch wenn das nur ein Zufall war; jetzt wollte er Gewissheit. Er schaltete den Computer wieder ein, womit sich sofort das Wappen der Wächter auf dem nun erleuchteten Bildschirm bildete. „Bitte um Passwort.“   „Hoffnung“, antwortete Grey der mechanischen Stimme, die ihm auch sofort den Computer freigab: „Passwort bestätigt. Stimme identifiziert. Guten Abend, Grey-sama.“ Das Wappen erlosch und ein roter Balken erschien mit einem Ausrufezeichen. Die Computerstimme erklärte: „Ein unbekannter Zugriff.“ Greys Augen weiteten sich überrascht; es konnte keine unbekannten Zugriffe geben, denn jeder Wächter wäre anhand der Stimme sofort erkannt worden. Das konnte nur bedeuten…  „Wann?!“ „Zugriff liegt 41 Minuten und 37 Sekunden zurück.“ Ohne den Computer wieder herunterzufahren, sprang Grey auf und nahm über eine Sprechanlage umgehend Kontakt mit Ryô auf: „Wir haben Eindringlinge!“ „Wa-?“ „Dämonen!“ „Aber, Grey-sama – das Sicherheitssystem funktioniert einbahnfrei-“ „Scheinbar nicht! Ich will, dass diese Zwei sofort gefunden werden!“ „Zwei? Ihr glaubt…“ „Ja! Wer denn sonst?! Ich mach mich jetzt auf den Weg-“ „Nein! Grey-sama, lasst mich…“ Doch die Verbindung war schon unterbrochen. Ryô brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln und um das zu verstehen, was er gerade gehört hatte. Itzumi, die alles mitgehört hatte, zog eilends ihre Uniform an, da sie sich – im Gegensatz zu Ryô, der immerhin wach bleiben wollte – bettfertig gemacht hatte. Als der Anruf Greys gekommen war, hatte sie gerade mit dem Lösen ihrer Haarringe beginnen wollen. „Ich weiß, warum das System die Eindringlinge nicht gemeldet hat – sie hat es manipuliert. Ich war dabei. Sie hat mich dazu gezwungen, das Sicherheitssystem zu manipulieren, so dass diese beiden Halbdämonen vom System nicht erfasst werden! Und siehe da – nicht mal zwei Tage später sind sie hier! Ist denn das zu glauben! Eine Hikari, die Dämonen in den Tempel schleust!“ Ryô drehte sich zu ihr herum und fragte mit schneidender Stimme: „Hat Hikari-sama dir erlaubt, mir das zu erzählen? Sie hat dir sicherlich verboten, mit überhaupt jemandem darüber zu reden. Hast du ihr geschworen, zu schweigen, Schwester?!“ Die Angesprochene sah ihn eine Weile finster an, dann sah sie zu Boden, denn seinem anklagenden Blick hielt sie nicht stand. „Sie hat sich keinen Respekt und keine Loyalität verdient gemacht…“ „Du erfüllst dein Amt als Tempelwächterin nicht. Egal wie sehr du Hikari-sama auch verabscheust, ist es deine Aufgabe, ihr treu zu dienen.“ Mit diesen Worten eilte er aus deren Zimmer und hinterließ Itzumi, die ihm verbittert hinterhersah.   Siberu hätte es wissen müssen. Doch er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Gespräch der Wächter zu belauschen, als dass er den Geruch des Raumes bemerkt hätte: der Geruch von alten, verstaubten Büchern.    Ein Paradies für jeden Bücherwurm. Und leider Gottes zählte sein Bruder dazu. Beinahe ehrfürchtig sah dieser sich in der riesigen Bibliothek um; die meterhohen Regale, über und über beladen mit fein säuberlich geordneten Büchern, deren goldene Buchrücken im Mondlicht für Buchliebhaber wohl beinahe verzaubernd wirken mussten. „Aniki! Vergiss es! Du kannst eh kein einziges Wort davon verstehen!“ „Warum nur besitzen wir nicht so ein Schlaraffenland an Büchern! Aber nein, unser Bestand an Büchern ist klein und kümmerlich; kaum wert, genannt zu werden…“ Der Rotschopf schlug sich die Hand vor die Stirn. War das eine Schmach, sich das anzuhören! So peinlich konnte doch nicht einmal Blue sein!? „Ich sag dir warum: Weil wir Dämonen nicht so langweilig sind wie die und lieber Taten sprechen lassen anstatt Bücher zu schreiben, die sowieso nur verstauben! Und wenn du jetzt nicht endlich kommst, werde ich jedem Dämon erzählen, dass du Wächterbücher beschwärmt hast!“ Gary hörte nicht auf Siberus Proteste und wollte gerade ein Buch aus dem Regal holen, einfach um es anzuschauen, als gleißendes Licht plötzlich den Raum erhellte und eine eiskalte Stimme die Luft durchschnitt: „Ich warne dich, Dämon! Wage es eines von Grey-samas Büchern anzurühren und ich reiß dir die Hand ab!“ Gary verharrte augenblicklich und sah zu Ryô, der im Portal der Bibliothek erschienen war. Etwas außer Atem tauchte auch Itzumi hinter ihrem Zwilling auf und wurde bleich, als sie die zwei Halbdämonen erblickte. Siberu sah recht desinteressiert zu den Tempelwächtern und da er die Drohung nicht gerade ernst nahm, berührte er lässig eines der Bücher. Gary gelang es nicht zu reagieren, ehe Ryô entschlossen auf beide zeigte. „Ich habe euch gewarnt! CATEHITSUI!“ Die Handgelenke der beiden Dämonen strahlten gleißend auf: ein Licht, das Form annahm, die Form von hell strahlenden Ketten, die sich um die Handgelenke der beiden Halbdämonen legten und sie jeweils zusammenbanden. Sofort versuchte Siberu, sich von den Ketten zu befreien und setzte schwarze Magie gegen diese ein, doch es brachte nichts: Seine Magie wurde von den Lichtreifen absorbiert und sofort straften sie deren Träger, indem sie sich noch enger zusammenzogen und Siberu zum wütenden Fluchen brachten. Ryô ging auf die beiden zu und seine nun wieder ausdruckslose Stimme ertönte im Raum: „Wenn du dich weiter wehrst, hast du bald keine Hände mehr.“ Um seinen Worten Ausdruck zu verleihen, ließ er die Ketten wieder enger werden und der Rotschopf musste ein Keuchen unterdrücken, aber das hinderte Siberu nicht daran, Ryô herausfordernd anzustarren: „Ich brauche meine Hände nicht, um mit einem Speichellecker wie dir fertigzuwerden!“ „Silver!“, herrschte Gary ihn an, denn seine aggressive Ader brachte in diesem Fall ja wohl absolut gar nichts und würde ihnen nur noch mehr Probleme einheimsen als ohnehin schon.   „Wir wollen nur mit Green reden, das ist alles“, versuchte Gary die Situation zu entschärfen. „Ach, das ist alles?“, ertönte eine Stimme hinter Ryô. Dieser senkte den Kopf, als Grey neben ihn trat und die Arme verschränkte, kalt auf die beiden dämonischen Besucher herabsehend. Aber auch davon ließ sich Siberu nicht beeindrucken: „Ja, genau, das ist alles, du Inzest-Typ! Du wirst Green-chan nichts Perverses antun! Das werden wir zu verhindern wissen! Sie gehört uns, kapiert?!“ Sowohl Ryô, Itzumi als auch Gary und Grey starrten den Rotschopf schockiert an – wie kam er dazu, so etwas in so einer Situation zu sagen?! Wie kam er überhaupt darauf?! Ryô war der Erste, der etwas erwidern konnte: „Du wagst es, Grey-sama solch eine ungeheuerliche Tat zu unterstellen?!“ „Das ist doch ja wohl offensichtlich!“   „Silver! Bitte sei doch endlich ruhig!“ „Was soll ich… ich versteh nicht…“ „Grey-sama! Macht Euch keine Gedanken… Wer versteht schon die wirren Gedankengänge eines Dämons…“ „Das sind logische Gedanken, du Speichellecker!“   „Silver, jetzt reicht es aber!“ Die Hände Siberus waren bereits im Begriff, sich blau zu verfärben; aber Garys Versuche, den Streit zu schlichten, hatten keinen Effekt auf den sehr hitzigen Rotschopf, der, wenn er so fortfuhr, noch dafür sorgte, dass sie Bekanntschaft mit den Kerkern des Tempels machten! „Ich verlange, sofort mit Green-chan zu sprechen!“ „Du verlangst hier gar nichts! Ryô! Schmeiß sie raus!“ „Mit dem allergrößten Vergnügen!“ Ryô packte Siberu an der Schulter, doch dieser hatte absolut nicht im Sinn, sich irgendwie herausschmeißen zu lassen; nicht, nachdem er sich so sehr um diese verdammten Teleportationsdaten bemüht hatte! Dass es im Endeffekt Garys Verdienst war, beachtete er nicht, genauso wenig wie dessen alarmierenden Blick, als Siberu seine Drohung tatsächlich wahr machte und nach Ryô trat, der ihm nur knapp ausweichen konnte. „Ich hab doch gesagt, ich brauche meine Hände nicht!“ Die Antwort auf diesen versuchten Angriff folgte umgehend: die Fesseln um Siberus Handgelenke zogen sich enger – dunkles Blut tropfte zu Boden, aber von Siberu war kein weiteres Stöhnen oder sonstige Anzeichen von Schwäche zu hören. „Du Idiot! Siehst du denn nicht, dass das nicht der richtige Weg ist?! Deine Hände sind schon ganz blau! Lass das endlich…“ „Nein! Es ist mir egal, ob du es auf die friedliche Art machen willst, aber ich gehe nicht ohne Green-chan! Mit oder ohne Gewalt! Ich lasse nicht zu, dass dieser Inzest-Typ ihr etwas antut!“ Tief atmete Grey durch, der ohne Zweifel derjenige war, gegen den Siberu seinen anklagenden Tonfall richtete – seine zornigen Augen schienen Grey nur mittels ihres Blickes töten zu wollen. Grey konnte nicht gerade behaupten, dass er umgekehrt nicht denselben Zorn verspürte, aber er befahl sich, ruhig zu bleiben. Ein Kampf in der Bibliothek war viel zu riskant; viele der Bücher waren handgeschrieben, absolute Unikate…   „Was sollte ich ihr bitteschön antun? Ich bezweifle, dass ein bisschen Schnee meine Schwester umbringen wird!“ Jetzt wurde Gary hellhörig und er wandte sich von seinem Bruder ab, der ebenfalls die Augen weitete. „Schnee?“ „Ja. Ein Auftrag. Aber das geht euch wohl kaum etwas an.“ Siberu wandte seinen Blick nun an seinen Bruder: „Der Typ weiß es nicht, Aniki… Er weiß es nicht!“ „Was weiß ich nicht?!“ „Grey-sama, hört nicht auf sie, sie wollen Euch nur verunsichern“, mischte sich Ryô ein, während Siberu sich ein kurzes, fieses und sehr triumphierendes Grinsen nicht verkneifen konnte – aber es war Gary und nicht sein hitzköpfiger Bruder, der Grey dazu brachte, zu erstarren: „Was bist du für ein Bruder, der so etwas Gravierendes nicht über seine Schwester weiß? Sollte ein älterer Bruder nicht alles über seine kleine Schwester wissen?“   „Es tut mir leid, Onii-chan. Aber das kann ich nicht: Ich habe bereits ein Zuhause, wo eine Familie auf mich wartet, mit der ich noch nicht einmal verwandt bin.“   „Sie sieht sie sogar als ihre Familie an, als wären sie ihre Brüder. Sie liebt die beiden mehr als dich und das obwohl du ihr leiblicher Bruder bist! ...“   „Ihr belügt Euch selbst…   „….Meinst du nicht auch, dass der Aufstand, den du hier machst, sich überhaupt nicht lohnt?           Deine Schwester kann dich doch überhaupt nicht leiden. Du lügst sie ja auch die ganze Zeit an. Du wirst sie immer nur anlügen. Aber das macht doch nichts!   Sie wird doch sowieso sterben.“   Itzumi stieß einen spitzen Schrei aus, als Grey auf Gary zuraste und ihn schier an das sich hinter ihnen befindende Bücherregal nagelte – und das mit einer ungeheuren Schnelligkeit, die niemand hatte kommen sehen. „Wer bist du, dass du mir Vorschriften machst, wie sich ein großer Bruder zu verhalten hat?!“, spie Grey voller Wut und Zorn, nicht länger auf seine Umgebung achtend – weder auf die schockierten Blicke der anderen Anwesenden, noch auf die Bücher, die bei dem Aufprall aus dem Regal gefallen waren und achtlos zu Boden klatschten. Doch Gary blieb sowohl angesichts von Greys Unterarm, der sich unter seinem Kinn platziert hatte, als auch seinem hasserfüllten Blick ruhig und ernst: „Ich wundere mich nur darüber, dass du es nicht weißt – und Green somit blindlinks in die Gefahr hast laufen lassen.“ Wutentbrannt löste Grey die eine Hand vom Regal und streckte sie hinter sich aus. Ryô wusste sofort, was diese Bewegung bedeutete: „Grey-sama! Die Bücher – das ist viel zu riskant!“ „Schweig, Ryô!“ Der Angesprochene zuckte zusammen als hätte man ihn geschlagen. Noch nie hatte sein Herr ihn angeschrien – noch nie hatte er ihn spüren lassen, dass er in einer Position war, in der er ihm Befehle erteilen konnte und dass Ryô diesen unter allen Umständen Folge leisten musste. Ryô unternahm daher nichts, als Greys Hand himmelblau aufleuchtete und ein plötzlicher Wirbelwind in der Bibliothek ausbrach--- „Sag mir sofort, was ihr wisst!“   Siberu hingegen sprang auf und wollte Gary zu Hilfe eilen, doch dieser sah zu ihm und ließ ihn mit einem Blick verstehen, dass er seinem Bruder nicht helfen sollte; dass er alles unter Kontrolle hatte. Sie hatten schon so viele Missionen als Team erfolgreich hinter sich gebracht, dass Siberu genau wusste, wie er diesen Blick zu deuten hatte. Auch wenn er nicht sah, wo Gary in dieser Situation die Kontrolle haben sollte, so vertraute Siberu ihm, schluckte und hielt sich dennoch in Position, um Gary so schnell wie möglich helfen zu können.    Gary sah sein Gegenüber immer noch mit einer eisernen Ruhe an und gab ihm dann die Antwort: „Green hat ein Schneetrauma.“ Greys Augen weiteten sich und er starrte den Halbdämon skeptisch an, als wäre er plötzlich nicht mehr in der Lage, Japanisch zu verstehen. „Sie wäre als Kind beinahe erfroren. Seitdem hat sie Angst vor Schnee und Kälte.“ Ehe Grey überhaupt reagieren konnte, sprang Ryô vor und legte eine Hand auf die Schulter seines Herren. Jetzt, als er den plötzlich übermannenden Schmerz und Schrecken in Greys Augen sah, war es ihm egal, ob er gegen seinen Willen handelte oder was die Etikette vorschrieb. „Das könnte genauso gut eine Lüge sein! Vertraut ihnen nicht!“ Der Angesprochene ließ den Arm sinken, der Wind flaute ab, die Haare bewegten sich nicht länger. Er schaute zu Boden und flüsterte: „Nein… Er hat recht. Mir ist schon aufgefallen, dass Green auffällig reagiert bei Kälte…“ „Dann frag ich mich, warum du sie überhaupt in die Kälte geschickt hast!“, fauchte Siberu ihn von der Seite her an. Ryô wandte sich erbost zu ihm um: „Siehst du nicht, dass ihr schon genug Schaden angerichtet habt?!“ Grey hörte das nicht. Er hatte wieder aufgeschaut und dabei Garys Blick gekreuzt. Er sah ihn kalt an, ja fast vorwurfsvoll. Der Windwächter war nicht imstande, diesem Blick standzuhalten. Er löste sich von Ryôs Griff, drehte sich weg und ging in Richtung Itzumi. Mit einer schlappen Handbewegung löste er die Ketten der beiden Halbdämonen und sagte: „Verschwindet. Sofort! Oder ich entscheide mich doch dazu, die Foltergerätschaften entrosten zu lassen.“ Siberu wollte sich gerade darüber lustig machen, doch Gary nahm ihn am Arm – bedacht darauf, nicht sein Handgelenk anzufassen – und tat das, was Grey von ihnen verlangte. Die drei Wächter schwiegen, bis Grey zitternd über die Lippen brachte: „Warum… Ryô? Warum hat Green mir das nicht erzählt…?“ Hatte Seigi womöglich recht…? Grey schüttelte den Kopf, um das Gespräch mit Seigi herauszubekommen. „Vielleicht wollte sie Euch keine Sorgen bereiten…“, versuchte Ryô Grey aufzuheitern. Dieser drehte sich zu ihm um und lächelte traurig: „Aber ich bin ihr Bruder… sie hätte es mir doch genauso erzählen können wie den beiden…“ Der Angesprochene wusste darauf keine gescheite Antwort und sagte deshalb nur, dass sie Green jetzt lieber abholen sollten: er könnte ja dann mit ihr sprechen…? Grey nickte, immer noch niedergeschlagen, doch verließ dennoch zusammen mit den beiden Tempelwächtern die Bibliothek.     Was hatte er eigentlich erwartet…? Kapitel 32: Die Winter-Odyssee ------------------------------            Kurz vor drei Uhr waren die beiden Dämonenbrüder wieder in ihrem Zuhause in Tokio angekommen. Lange hatte Siberu dort allerdings nicht bleiben wollen; er wollte sofort zu Green. Wenn sie irgendwo war, wo es kalt war, wo es schneite, dann brauchte sie deren Hilfe – sie beide wussten doch besser als alle anderen, wie sehr ihr die Kälte zu schaffen machte. Sie mussten ihr helfen! All seiner Motivation zum Trotz  war Siberu aber nicht in der Lage, irgendjemanden zu unterstützen; das jedenfalls sah Gary – sein Bruder natürlich nicht. Er beachtete seine blutenden Handgelenke gar nicht und wollte überhaupt nichts davon hören, dass sie erst einmal eine Behandlung benötigten – das seien nur Kratzer. So hatte er sie genannt. Aber Gary hatte nicht mit sich reden lassen, denn anders als sein Bruder sah er sehr wohl, dass das nicht einfach nur „Kratzer“ waren. Das waren Wunden, die von Magie herbeigeführt worden waren – damit war nicht zu spaßen und das fand der aufgeregte Rotschopf auch schnell heraus, als Gary ihn trotz Siberus Protesten ins Badezimmer schleppte und das heiße Wasser ihn dazu brachte, vor Schmerzen die Zähne zusammenzukneifen. „Du musst dir keine Sorgen machen – Grey-san hat sie sicherlich schon längst abgeholt.“ „Glaubst du das wirklich? Dieser Typ, der sich einen großen Bruder schimpft, hat immerhin auch nichts von Green-chans Schneetrauma gewusst.“ Nein, Gary konnte dafür nicht seine Hand ins Feuer legen. Aber er wollte selbst daran glauben – eigentlich gab es ja auch keinen Grund anzunehmen, dass Grey Green nicht sofort zu sich holen würde. Nein, es gab dafür wirklich keinen konkreten Anhaltspunkt, aber dennoch… Gary wollte es lieber mit eigenen Augen sehen; sehen, wie Green in Sicherheit war, und sich nicht mit den plagenden Gedanken herumschlagen, dass Green womöglich irgendwo im Schnee herumirrte… Ach, das war schwachsinnig… sie hatte eine Aura, sie konnte gespürt werden, es würde ganz schnell gehen und schon war sie wieder im Warmen und in Sicherheit; in Sicherheit vor ihren eigenen Albträumen. „Ich muss meine Worte wohl zurücknehmen.“ Gary horchte auf, als Siberu das sagte. Während Gary die Handgelenke seines Bruders mit einer schmerzlindernden – und hoffentlich vorbeugenden – Creme einschmierte, war das Gesicht des Rotschopfes blasser geworden. Es war sehr deutlich, dass er große Schmerzen hatte und dass die Creme zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls keine Wirkung zeigte. Aber leider wunderte Gary das nicht; Siberu hatte den Bogen eindeutig überspannt… es konnte sein, dass er Narben davontragen würde. Komisch, dass Gary noch kein Wort davon hörte. „Was meinst du?“ Trotz dem Schweiß auf seinem Gesicht grinste Siberu, während Gary sich nun daran machte, seine Handgelenke zu verbinden: „Naja, das was ich vorhin über dich und Green-chan gesagt habe.“ Gary konzentrierte sich auf das Verbinden und versuchte, nicht rot zu werden: „Ich weiß nicht, auf was du anspielst…“ „Ach, komm schon, Aniki, natürlich weißt du das“, antwortete Siberu mit einem Seufzen: „Ich meine als ich sagte, dass Green-chan dich nicht vermissen würde.“ „Ach das…“ Gary versuchte gleichgültig zu klingen, aber Siberu konnte er natürlich nicht hereinlegen. Dennoch schwieg er kurz, wartete ein wenig, wie Gary es vorkam, und sagte dann lachend: „Du bist in der Bibliothek ja ganz schön an die Decke gegangen. Ungewöhnlich und das von dir!“ Jetzt sah Gary auf, aber nur kurz, dann wandte er sich wieder Siberus linker Hand zu: „Ich fand eigentlich, dass ich verhältnismäßig ruhig geblieben bin.“ „“Verhältnismäßig“, pah! Wer dich kennt, hat das Brodeln hinter deiner ruhigen Fassade doch bemerkt. Gut, viele kennen dich nicht– aber ich habe es auf jeden Fall bemerkt…“ Gary schmunzelte ein wenig; sein Bruder klang fast stolz. Aber worauf? Stolz, das sagen zu können oder stolz darauf, dass Gary in der Bibliothek seine Worte nicht hatte beherrschen können? „… und Green-chan hätte es sicherlich auch bemerkt.“ Siberu hatte kurz weggesehen, aber dennoch hatte er bemerkt, dass Garys Hände kurz zum Stillstand gekommen waren. Als er sich jedoch wieder herumdrehte, sah er, dass seinem Bruder kurz ein ruhiges Lächeln über das Gesicht huschte. „… vielleicht.“         Alles war weiß. Eine große, weiße Hölle erstreckte sich vor Green. Eine Hölle, die… verdächtig bekannt war. Aber… nein, das bildete sie sich ein. Ihre Angst spielte ihr einen Streich. Sie war nicht da, wo sie zu sein glaubte… sie bildete es sich ein, sie bildete es sich ein. Schneebehangene Tannen gab es überall und Wälder….Wälder… wenn sie in das Weiß des stetig fallenden Schnees gehüllt waren, die… die sahen doch immer gleich aus… Es gab keine konkreten Anzeichen darauf, dass sie… da… war… da. Da. An diesem Ort. Dem Ort ihrer so bekannten Albträume…   Green schüttelte den Kopf. Wenigstens war es nicht Nacht; es war nicht einmal abends, es war taghell. Sie musste sich zusammennehmen und anfangen, sich zu bewegen - sie wusste doch, dass ihr nur noch kälter werden würde, wenn sie stehen blieb. Die Kleidung, in die Grey sie gekleidet hatte, war wenigstens schön warm. Argh, sie hätte bereits bei der Kleidung stutzig werden müssen, aber da sie sich immer warm anzog, war ihr nicht ins Auge gestochen, dass der weiße Mantel gut gefüttert war, genau wie die Stiefel – nein, dachte Green und fluchte über sich selbst – sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu gähnen.   Wieder kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht einfach Grey anrufen sollte, um das alles hinter sich zu bringen, aber… nein, sie würde das schon aushalten. Noch war es ja Tag. Wie spät es wohl war? Green warf einen unsicheren Blick in den grauen Himmel, doch senkte die Augen schnell wieder, um keinen Blick auf die fallenden Schneeflocken zu erhaschen – nur um dafür mit dem schneebedeckten Boden konfrontiert zu werden… sie wollte weg… sie wollte nichts davon sehen, genauso wenig wie sie das Knartschen unter ihren Füßen hören wollte, als sie den Fuß mühsam aus den Schneemassen heraushob und ihn – so weit wie möglich von ihr entfernt – wieder in den Schnee hinabgleiten ließ – hinabgleiten lassen musste – wie Wasser, wie eiskaltes, sie verschlingendes---- „Jetzt… jetzt reicht es aber!“, zischte Green sich selbst zu und nahm entschlossen noch einen Schritt. „Es ist… nur Schnee. Nur Schnee, Green. Du bist…“ Noch ein Schritt. „… warm genug angezogen…“ Ein weiterer. „… und du wirst dir sicherlich keine Erkältung holen…“ Als ob eine Erkältung ihr Problem war. „Hör auf zu flennen!“ Als wären die vielleicht knapp sechs Meter, die sie zurückgelegt hatte, ein Test für sie selbst gewesen und als hätte sie diesen nun bestanden, zog sie nach erfolgreichem Abschließen nun das Suchgerät hervor – doch der Bildschirm zeigte nichts als…weiß. „Weiß, weiß, weiß. Immer nur… weiß.“ Grummelnd schob Green die wollige Kapuze ihres Mantels hoch, fluchte noch einmal – und begann dann weiter durch den Schnee zu stapfen, nun zielstrebig tiefer in den Wald hineingehend. Diese Zielstrebigkeit musste die ganze Zeit hart erkämpft werden, denn jeder Schritt brachte sie immer wieder ins Wanken, jeder Schritt konnte sie zu Fall bringen, genau wie die Schneeflocken es tun konnten, die stetig vom Himmel herunterfielen – jede Flocke, jeder Schritt konnte das „Aus“ bedeuten. Das „Aus“ für ihre Zielstrebigkeit, das „Aus“ für ihren eisernen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen… sie wollte das nicht, sie wollte nicht einknicken--- sie wollte nicht, aber Green spürte, dass es immer schwerer wurde, umso länger und umso weiter sie ging… warum zeigte das verdammte Gerät denn nichts an? Wie lange sie schon gegangen war, wusste Green nicht, als sie an einem hohen Vorsprung ankam; sie wusste nur, dass sie stolz auf sich war, mächtig… stolz. Stolz, dass sie es bis hierher geschafft hatte, weshalb sie auch gar nicht so genau wissen wollte, wie lange sie schon unterwegs war. War sie schon lange gegangen? Hatte sie überhaupt einen Grund dazu, stolz auf sich zu sein? Green wollte keine Pause einlegen. Sie war ohnehin dank des Schnees schon sehr langsam und wollte die Mission so schnell wie möglich hinter sich bringen… also musste sie weiter, weswegen Green nur kurz durchatmete. Sie wollte sich gerade herumdrehen, als sie stehen blieb - etwas ruckartig, etwas erstarrt. Dieser Ort… den sie für eine schneeverhangene Lichtung gehalten hatte… das konnte nicht sein, so einen Zufall… so einen verdammten, so einen hassenswerten Zufall, konnte, durfte es nicht geben… Green wollte sich irren, aber sie tat es nicht – das unter ihr war keine weiße Lichtung, es war ein zugefrorener, kleiner See... als sie noch klein gewesen war… war er für sie ein… großer See gewesen, er war ihr endlos vorgekommen… Im Sommer und im Frühjahr nichtssagend, einfach nur da, ohne Bedrohung, ohne ihr Angst einzujagen… einfach nur da, einfach nur Gewässer, ein einfaches, harmloses Gewässer – aber im Herbst begann es schon. Im Herbst begann das Warten. Das Lauern. Der verstohlene Blick auf das Thermometer.   Würde es bald so weit sein? Würde es bald so weit sein?                                                 War bald Winter?   Der Winter war da, sobald der See zugefroren war – und jetzt war der See oder Weiher oder was auch immer zugefroren. Er war zugefroren – er lag vereist vor ihr, dieser Ort, der immer den wahren Beginn dieser schrecklichen Jahreszeit eingeläutet hatte. Im Rest des Jahres konnte Green die Stimmen der anderen ausgrenzen. Es war kein Problem. Es prallte an ihr ab. Kein Problem. Kein Problem! Aber im Winter kam die Schwäche. Ihre Schwäche. Im Winter war sie… angreif---- Green musste sich zusammennehmen. Sie war nicht mehr angreifbar. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen von damals, der Temperatur ausgeliefert; der Temperatur, die des Gelächters bester Partner war. Sie war es nicht. Und das hier war auch einfach nur irgendein See. Irgendein zugefrorener See, mit dem sie nichts zu tun hatte, der einfach nur zugefroren war, weil es die Temperatur und die Natur so bestimmte. Dennoch war Green wie angewurzelt vor der zugefrorenen Oberfläche stehen geblieben, nun als sie sich endlich nach unten getraut hatte. In ihrer behandschuhten Hand hielt sie das Suchgerät; ihre großen, dunklen Augen starrten darauf… aber eigentlich sah sie daran vorbei – sah auf das, was hinter dem Gerät lag. Aber was war da schon? Da war nichts –nur weiß. Weiß. Weiß. Es gab keinen Grund, ihr Glöckchen an sich zu drücken. Nein, gar keinen. Sie musste sich zusammennehmen – es war doch eigentlich alles so ruhig… so friedlich… alles in absolute, weiße Todesstille gehüllt. Über sich selbst fluchend wollte Green gerade ihr Glöckchen wieder unter ihrem Rollkragenpullover verbergen, als sie ein ihr eindeutig zu deutliches Déjà-vu erlebte: genau wie bei ihrer bis jetzt schlimmsten Klassenreise hatte sie dämonischen Besuch bekommen.     Es war Gary gelungen, Siberu davon zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen um Green machen musste; dass Grey sie sicherlich schon abgeholt hatte und dass sie jetzt mit einem warmen Kakao im Tempel saß; anders hätte Gary seinen Bruder auch nicht ins Bett bewegen können – und das, obwohl er eindeutig mehr als erschlagen gewesen war. Er musste sehr erschöpft sein. Die Verletzungen hatten wahrscheinlich auch mehr an seinen Energieressourcen gezehrt, als er zugeben wollte, denn als Gary kurz darauf in seinem Pyjama und mit der Zahnbürste im Mund an Siberus Zimmertür vorbeiging, sah er seinen Bruder bereits tief und ruhig schlafen – es waren wahrscheinlich nicht einmal zehn Minuten vergangen. Aber auch wenn Gary Siberu beruhigt hatte – sich selbst hatte er nicht beruhigen können. Er wollte gerne eine Absicherung… wissen, dass es Green gut ging – nicht nur irgendeine Vermutung oder Schlussfolgerung. Aber Gary würde keine bekommen, dachte er, als er seine Zahnbürste zurück ins Glas stellte – und damit musste er sich…   Die Türklingel schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch, ließ ihn regelrecht auffahren und erschrocken auf die Uhr starren: wer erwartete schon Besuch um… halb vier in der Früh?! Aber noch ehe Gary sich mit der Frage beschäftigen konnte, wer um diese Uhrzeit an der Tür klingelte, beantwortete sein Gespür ihm diese nicht ausgesprochene Frage: es war Pink, deren Aura er vor der Haustür spürte. Wer hätte es auch sonst sein können; niemand anderes würde auf den Gedanken kommen, zu solch einer Uhrzeit zu klingeln - und das auch noch drei Mal hintereinander. Gary hätte auch so die Tür für sie geöffnet… und Siberu musste wirklich sehr erschöpft sein, denn als Gary an der Tür seines Bruders vorbeiging, sah er, dass der sich nicht einmal von Pinks penetrantem Sturmklingeln wecken ließ. „Ich brauche deine Hilfe!“, schrie Pink, sobald Gary die Tür geöffnet hatte und dabei natürlich absolut keine Rücksicht auf die Uhrzeit nehmend: sie schob sich einfach flugs hinein in die Wohnung, woraufhin Gary kurz mit den Augen himmelte – er winkte seinen Nerven nämlich schon hinterher – und leise die Tür schloss. „Nein, das habe ich nicht ganz richtig gesagt – Green-chan braucht deine Hilfe!“ Gary musste sich selbst eingestehen, dass das die Lage sofort änderte. Pink gab einem zwar regelmäßig sehr viele Gründe, um besorgt zu sein, aber als er diese Bitte nun hörte, steigerte sich nicht nur seine Sorge, sondern auch sein Empfinden, was den Ernst der Lage betraf: Pink machte nämlich auch öfter Radau um Nichts. Aber Greens Namen nun zu hören, nun, wo er sich ohnehin Sorgen um sie gemacht hatte, war, als würde er diese Sorgen bestätigt bekommen. „Was ist mit ihr?“ „I-Ich kann spüren, dass sie sich in Gefahr befindet! Wir müssen zu ihr! Schnell!“ Um die Dringlichkeit ihrer Worte zu unterstreichen, packte sie nun auch Garys Arm, zog und zerrte an ihm – aber Gary wäre nicht Gary, wenn er nicht erst einmal Informationen verlangen würde. Siberu wäre wahrscheinlich sofort aufgebrochen, aber er war nicht sein Bruder. „Du kannst es spüren? Wo kannst du es spüren – und vor allen Dingen was kannst du spüren?“ Gary konnte nämlich mal wieder nichts spüren: keine feindliche Aura, keine Anzeichen auf eine akute Gefahr. Nur eine unbestimmte Sorge um Green, die aber auf nichts Konkretem basierte, sondern einfach… sich selbst heraufbeschwor. „Eine Aura! In Green-chans Nähe ist eine gefährliche Aura!“ Es war doch wirklich nicht zu fassen, wie gut Pinks Gespür für Auren war: nicht nur, dass Gary keinerlei Anzeichen einer dämonischen Aura verspürte, Green war sicherlich auch nicht in Japan, sondern irgendwo anders auf der Welt - und Pink war dennoch in der Lage, es zu spüren? Das war wirklich… unglaublich. „Du kannst eine starke Aura spüren? Wo, Pink? Kannst du es irgendwie eingrenzen?“ „Nein, ich weiß nicht, wo es ist… ich weiß nur… ich spüre nur…“ Sie presste ihre kleinen Hände zu Fäusten und drückte sie aneinander: „… dass Green-chan weit weg ist! Am anderen Ende der Welt!“ Am anderen Ende der Welt? Okay, entweder Pink übertrieb oder sie konnte die Entfernung nicht einschätzen - oder ihre Fähigkeiten waren schlichtweg unglaublich. „Wir müssen uns beeilen!“ Pink griff nach Garys Händen: „Ich kann uns hinteleportieren!“ Ganz im Gegensatz zu Pinks Entschlossenheit legte Gary Zögern an den Tag: war es intelligent, so absolut ins Blaue aufzubrechen? Er hatte kaum Informationen und würde sicherlich auch nicht mehr aus dem aufgeregten Mädchen herausbekommen, das eifrig an seiner Hand zerrte - aber war das nicht egal? Wenn Green wirklich in Gefahr war, dann musste Gary mit dem arbeiten, was er hatte.     Green war auch dazu gezwungen, mit dem zu arbeiten, was sie hatte - und das war eine sehr schlechte Ausgangsposition. Nicht nur, dass die Kampfbedingungen für sie alles andere als optimal waren… so stand sie auch noch einem Gegner gegenüber, mit dem sie absolut keine Erfahrung hatte, denn dieser Dämon war anders als die anderen, die sie zuvor bekämpft hatte. Unweigerlich musste Green sich eingestehen, dass sie in Schwierigkeiten steckte - in großen. Am anderen Ende des Weihers stand nämlich ein Dämon vor ihr, der kein monströses Äußeres besaß. Er war ein Dämon mit kurzen, zotteligen roten Haaren, dessen linkes Auge ebenfalls rot war, während das andere, welches fast gänzlich von Haaren verdeckt wurde, schwarz war. Doch nicht nur in puncto Farbe unterschieden sich die beiden Augen, sondern auch in Größe und Form: das schwarze Auge war klein, während das rote groß und starrend war; die kleine Pupille war direkt auf sie gerichtet, womit sein Gesicht eindeutig nicht menschlich aussah - dafür aber sein Körper, bis auf die beträchtliche Körpergröße von rund zwei Metern. Damit war dieser Dämon Greens erster Dämon, von dem sie behaupten konnte, dass er ein menschliches Äußeres hatte – mit Ausnahme von Siberu und Gary natürlich. Und das war kein gutes Zeichen, wie ihr Grey erklärt hatte: Dämonen, die wie „Monster“ aussahen - wie die, die Green bereits bekämpft hatte - waren laut Grey Massenprodukte; Wesen, die von den Dämonen selbst geschaffen worden waren und meistens nur über geringe Intelligenz verfügten, damit sie steuerbar waren. Sie waren vergleichbar mit sehr monströs aussehenden Tieren; gefährlich zwar, aber noch gefährlicher waren jene, die diese „Tiere“ kontrollieren konnten - Dämonen wie der, der vor Green stand. Und daher befürchtete sie auch, dass sie kein leichtes Spiel haben würde. Green drückte ihr Glöckchen fester an sich, machte sich aber gleichzeitig auch bereit dafür auszuweichen, falls der Dämon sie als erstes angriff; noch aber wartete sie gespannt ab, die Zähne zusammen gepresst, denn der Dämon schien im Moment nicht im Sinn zu haben, sie anzugreifen. Sein rotes Auge starrte Green an, musterte sie auffällig, blieb an ihrem Glöckchen hängen, wie Green mit einem Knurren bemerkte – er musterte sie eindeutig etwas zu ausgiebig für Greens Geschmack. „Du bist also das Gör, das momentan die Hikari ist“, sprach er in einem klaren, aber sehr akzentbelasteten… Deutsch. Deutsch. Warum musste es Deutsch sein! Es war natürlich positiv, dass sie ihn verstehen konnte - obwohl, war es? - aber Green wollte kein Deutsch sprechen! Diese verdammte Sprache passte einfach zu gut zur momentanen Situation, zu dieser Umgebung, die nicht noch schrecklicher gemacht werden sollte… Aber auch wenn alles in Green sich dagegen sträubte, diese von ihr so verhasste Sprache zu benutzen, so antwortete sie dennoch: „Ja, ach ne. Hätte ich jetzt aber fast vergessen! Hast du es auf den Wächter der Erde abgesehen oder warum bist du hier?“ Green fluchte über sich selbst. In so einer Situation sollte sie vielleicht lieber gar nichts sagen, immerhin hatte sie keine Erfahrung mit richtigen Dämonen. Aber Informationsbeschaffung war doch… wahrscheinlich… das richtige? Immerhin war es doch komisch, dass so ein Dämon hier auftauchte - das würde Gary sicherlich auch sagen! „Hmpf, du bist ganz schön vorlaut - und naiv, wenn du glaubst, ich würde dir irgendetwas von meiner Mission erzählen“, antwortete der eigenartige Dämon mit einem verwunderten Stirnrunzeln, während er langsam vorwärts ging, als würde er die Spannung anheizen wollen. Green fand, dass es schon spannend genug war; sie spürte Schweiß auf ihrer Stirn, ganz gleich wie vorlaut sie war. Noch ging er zwar langsam über das Eis des Wassers, aber er konnte jeden Moment angreifen - war Green stark genug? Hatte sie schon genug gelernt? Eigentlich hatte sie doch nie alleine gekämpft… oh doch, einmal, auch während dieser verdammten Klassenfahrt. Aber das war gegen ein Dämon, der genauso dumm wie groß gewesen war - das konnte man wohl kaum vergleichen. Würde er gleich angreifen? Und die wichtigere Frage: war Green in der Lage, dem Angriff zu entgehen? „Aber ganz egal weshalb ich hier bin…“ Er grinste breit mit gelben, teilweise rötlichen Zähnen, die Green nicht gerade beruhigten: „… eine Hikari ist immer ein Jackpot!“ Und da war der Moment - der Moment, in dem Green beweisen musste, dass sie etwas gelernt hatte. Sie musste ihm ausweichen - ein Angriff war wahrscheinlich keine gute Idee --- ausweichen und dann so schnell wie möglich Grey anrufen --- vielleicht sollte sie den Dämon blenden, das würde ihr Zeit geben, sie hatte auf den Videoaufnahmen der anderen Hikari gesehen, dass es möglich war, dass es eigentlich ein Leichtes sein müsste--- aber konnte sie das? Sie, die doch schon froh darüber gewesen war, dass sie ein paar Funken erschaffen konnte---?! Seitlich ausweichen, seitlich ausweichen, nicht darüber nachdenken, einfach tun--- --- Der Dämon hätte sie unweigerlich getroffen, denn Green war nicht schnell genug gewesen. Aber er hielt inne. Kurz vor ihr, mitten im Flug - so kurz, dass Green seine ekeligen Augen von Nahem sehen konnte. Eine Übertragung, ein… Anruf schien ihn zum Innehalten gebracht zu haben, aber Green sah keinen Kommunikationsgegenstand - ah, da war ein Stöpsel in seinem großen Ohr. Egal! Was auch immer das für ein Telefonat war, was auch immer gesagt wurde, was auch immer den Dämon dazu brachte, verdrießlich das Gesicht zu ziehen, es war egal, denn diese Situationen musste Green ausnutzen für einen Angriff - ja, sie hatte vorgehabt nur auszuweichen, aber diese Chance durfte sie doch nicht verstreichen lassen - und das tat sie auch nicht! Aber gerade als sie ihren Stab beschwören wollte, geschah noch etwas gänzlich Unerwartetes - ein Schwert rauschte heran; ein Schwert, aus Wind geschmiedet, das nicht nur Greens Haare aufwirbelte, sondern auch den Dämon rücklings in den Himmel hinauf beförderte. Und dann landete ihr Bruder vor der verblüfft dreinsehenden Green; gekleidet in eine winterliche Uniform, das Schwert vor sich ausgestreckt, welches er plötzlich um sich schwang, einen Kreis zu malen schien, wodurch eine Kuppel aus wirbelndem Wind um sie herum entstand - um Grey und Green - und um Ryô herum, den sie eben hinter sich entdeckte. Bevor Green allerdings ihrer Verwunderung Luft machen konnte, drehte Grey sich auch schon zu ihr herum, die Hände auf ihre Schultern legend. In seinen blauen Augen lag etwas Verzweifeltes… Sorge und Reue. „Es tut mir so Leid, was ich dir ungewollt angetan habe, Green“, begann Grey ohne Umschweife, nicht auf Greens verwirrten Blick achtend: „Wenn ich es gewusst hätte, Green, ich schwöre dir, dann hätte ich dich niemals hierhin geschickt.“ Ein eigenartiges, widerwilliges Gefühl kam in Green hoch; verstand sie ihn gerade richtig? Sie erhielt nicht die Möglichkeit, ihn zu fragen, denn Grey schob sie schon zu Ryô: „Ryô, bringe Green bitte sofort in den Tempel zurück - ich übernehme das hier.“ Natürlich wollte Green nur zu gerne Ryôs warme Hand annehmen und in den Tempel zurückkehren, eine Tasse Tee und ein warmes Bad entgegennehmen, aber sie entschied sich dagegen - vehement. „Nein, ich werde hier bleiben, Grey!“ „Nein, Green, der Schnee…“ Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung; Grey wusste es. Aber woher? Sie wollte nicht, dass er es wusste; dass Siberu und Gary es wussten war doch schon genug - das hatte ihr gereicht. Sie wollte nicht, dass er sie so besorgt ansah; so mitfühlend, als wäre sie… irgendeine Patientin, die schnell Heilung benötigte. Sie war keine Patientin. Sie benötigte keine Heilung. Sie lebte damit - also, irgendwie. „Lass uns zusammen kämpfen! Das ist doch auch genau das richtige Training für mich - oder nicht?“ Green sah deutlich in Greys Gesicht, dass er von dieser Trainingsmaßnahme alles andere als überzeugt war - aber er wurde nicht gefragt, denn genau in dem Moment, als Grey Green seine Bedenken mitteilen wollte, wurde der Boden und die Luft um sie herum von einem heftigen Beben erschüttert und kurz war die Kuppel aus Wind, die sie bis zu diesem Zeitpunkt beschützt hatte, in schwarz getaucht - ehe sie verpuffte und deutlich zeigte, dass der Dämon offensichtlich keine Lust hatte zu warten, denn als die beschützende Barriere verschwunden war, sahen die drei Wächter den rothaarigen Dämon, der nach wie vor seine schwarz pulsierende Hand zum Angriff erhoben hatte - und offensichtlich sofort weitermachen wollte. Grey hatte sein treues Schwert wieder gezückt, Ryô schob Green zurück, obwohl diese im Begriff war, ihr Glöckchen umzuwandeln, um genau wie sie es heraufbeschworen hatte an Greys Seite zu kämpfen - aber so weit kam es nicht. Denn der Angriff, den der Dämon - offensichtlich guter Laune angesichts des bevorstehenden Kampfes - just in diesem Moment entfesselte, verfehlte sein Ziel, ohne dass Grey etwas hatte tun müssen--- „Green-chan!“ Kurz war Green zu verwirrt, um zu verstehen was geschah, denn es geschah zu viel auf einmal: Sie wurde umarmt - von Pink, wie sie verwirrt feststellte; die Attacke des Dämons zerhackstückelte den Wald, wie sie deutlich hören konnte - Grey beschwerte sich oder fluchte gar und---- und---- „Gary!“ Green konnte es nicht fassen; sie konnte es nicht fassen, obwohl sie die Umarmung Pinks nicht deutlicher hätte spüren können, denn ihre erfreute Cousine erdrückte sie förmlich - dennoch, auch wenn Pink eindeutig hier war, glaubte sie ihren Augen kurz nicht zu trauen, als sie Gary sah. Gary, der immer noch in der Luft hing, wo er scheinbar gerade mit einem zielsicheren Tritt dafür gesorgt hatte, dass der Strahl des Dämons in den Wald gefeuert wurde, anstatt die Wächter zu treffen. Pink ließ Green genau im richtigen Moment gehen und Gary landete genau im richtigen Augenblick - und ohnehin hätte nichts Green davon abhalten können, sich von der kleinen Gruppe Wächter zu lösen, zu Gary zu rennen und sich dem Halbdämon, der sich gerade verdattert, weil Green in einer Gefahrensituation so etwas Unüberlegtes tat, zu ihr herum gewandt hatte, schwungvoll um den Hals zu werfen. Ihre Umgebung hatte sie gänzlich vergessen, zu sehr freute sie sich darüber, Gary wiederzusehen, ganz egal unter welchen Umständen - und der erstaunte, aber sofort finster werdende Blick ihres Bruders hätte ihr nicht egaler sein können.    „Gary!“, rief Green noch einmal, ihre Arme um seinen Hals schlingend: „Ich hab dich so vermisst!“ Es war gar nicht so lange her, dass sie Gary das letzte Mal gesehen hatte, aber es kam ihr dennoch wie eine enorm lange Zeit vor - und ganz egal wie lange es her war, sie spürte wie Tränen in ihren Augen aufstiegen, als sie ihr Gesicht in die Schulter Garys vergrub. Knallrot war Gary angelaufen und vergaß genau wie sie für einen kurzen Moment, dass sie sich in einer prekären Gefahrensituation befanden - allerdings vergaß er auch zu atmen, vergaß, dass er seine Hände für etwas anderes benutzen konnte, als sie nur starr in die Luft zu halten. Was war das, was er da in sich spürte und das ihn dazu brachte, seine Umgebung und seine Vernunft für einen kurzen Moment gänzlich zu vergessen? War das… war das Freude? Freude, weil Green ihn--- „Wo ist denn Sibi? Wo hast du Sibi gelassen?“ Gary blinzelte verwirrt – Silver? „Er ist nicht… hier. Er ist…“ Ja, glaubst du denn, sie würde so einen Langweiler wie dich vermissen? Gary schüttelte den Kopf, verwirrt über diesen plötzlichen Gedanken, von dem er nicht wusste, wo er überhaupt herkam… „G-Green, wir sollten vielleicht…“ Er stotterte, er musste sogar schlucken, fand seine Stimme nicht - aber dafür fand ein anderer Dämon seine Stimme wieder. „Hey, dich kenn ich doch“, begann er auf einer Sprache, die nur für Gary zu verstehen war, weshalb Green Gary nun auch fragend anblickte, während sie sich von ihm löste. Greens Blick war neugierig, als wartete sie auf eine Übersetzung; Greys Blick dagegen war skeptisch und misstrauisch beobachtete er nicht nur das Gespräch, sondern verfolgte es auch, denn anders als Green war er mit einem schwarzen Headset ausgerüstet, welches eine Übersetzungsfunktion besaß - etwas, was Gary nicht unbemerkt blieb, als er kurz zu Grey, Ryô und Pink herüber sah und natürlich sofort von den finsteren Augen des Windwächters durchbohrt wurde, der aber nichts zu tun wollen schien, um in den offensichtlich momentan pausierten Kampf einzugreifen. Gary konnte sich den Grund vorstellen; es ging Grey wohl darum, ob er irgendwelche nützlichen Informationen herausfiltern konnte, denn der andere Halbdämon schien tatsächlich nicht vorzuhaben, weiter anzugreifen - jedenfalls vorerst nicht: „Deine merkwürdigen Haare hab ich schon einmal gesehen… Black oder so?“ Greens Blick wurde immer verwirrter und immer deutlicher verlangte sie nach einer Übersetzung, aber anstatt ihr diese zu geben, antwortete Gary in seiner Landessprache: „Nein, Blue und du bist Relez, wenn ich mich nicht irre?“   „Knuddelst du öfter mit der Hikari?“ Gary wurde abermals rot. Halt doch die Klappe, dachte er und musste nun tatsächlich Greens Blick ausweichen. „…Das geht dich nichts an.“ Nun fühlte Green sich ernsthaft ausgeschlossen, denn natürlich wollte sie wissen, worüber die beiden sprachen - erst recht, wenn das, was sie sagten, dafür sorgte, dass Gary so rot wurde! Und wenn er ihrem Blick auswich, bedeutete das nicht… wieder folgte eine Antwort von dem anderen Dämon und immer mehr fühlte Green sich ausgeschlossen - besonders als ihr auffiel, dass Grey und Gary doch tatsächlich gleichzeitig rot wurden! Konnte Grey dieses Dämonisch, oder wie auch immer die Sprache genannt wurde, etwa verstehen, anders als sie? Was zur Hölle hatte dieser Dämon mit einem nun verschmitzten Grinsen gesagt, was sie beide zum Erröten gebracht hatte? Argh! Greens Neugierde wurde immer größer und dann war Garys Antwort auch noch ein empörter Aufruf! Was ging denn hier vor?!  „Gary! Ich will wissen, worüber ihr redet! Sofort!“   „Das ist unwichtig! Unwichtige, u-unwahre Dinge.“ Scheinbar fand Grey das nicht; offensichtlich fand er das absolut gar nicht, denn noch bevor Gary seine geschriene Antwort in die kalte Luft gespien hatte, hatte Grey es ihm gleichgetan, indem er Ryô aufgetragen hatte, auf Pink Acht zu geben - und schon fegte sein Schwert durch die Luft. Ein Schwert, das mit Eleganz und Präzision geführt wurde und das auch sein Ziel fand: den Hals des Dämons. In der Regel zielten Wächter immer auf den Hals oder den Kopf eines Dämons; dazu waren sie trainiert: so war ein sicherer und schneller Tod sicher. Doch der Dämon konnte gerade noch rücklinks ausweichen, womit Grey nur seinen Kragen traf - nein, noch mehr, denn ein dünner Streifen Blut schoss in die Luft, begleitet von einem erbosten Fluchen des Dämons, als er mit der Hand seinen Hals berührte und eine gerade Schnittwunde feststellen musste. „Green, ich möchte, dass du den Kampfort verlässt!“, rief Grey Green zu, die sich nun ernsthaft fragte, warum Grey so außer sich klang - es konnte doch nicht nur wegen dem Kampf sein, oder doch? „Und ich will wissen, was gesagt wurde!“ Weiter kam Green nicht mit ihrer Beschwerde, denn ein feuriger Strahl zwang die drei Kämpfer dazu, auseinander zu springen; scheinbar hatte der Dämon die Lust am Reden verloren. „Ich werde auf Green aufpassen!“, rief Gary Grey zu, doch der Blick des Windwächters zeigte deutlich, dass er mit dieser Aufgabenverteilung alles andere als zufrieden war - ihm blieb jedoch keine andere Wahl, denn Relez hatte es nun auf Grey abgesehen. „Erst einmal wirst du mir sagen, was ihr besprochen habt!“ „Green, ist das nicht wirklich der falsche Mome---“ „Jetzt!“ Der Boden unter ihren Füßen bebte, als eine Attacke vorbeifegte, dicht gefolgt von einer Greys; Greens Haare wirbelten abermals um sie herum, doch auch wenn Erde und Luft in Aufruhr waren - die Augen, in die Gary entgeistert starrte, waren es nicht. Dunkelblaue, inständige und entschlossene Augen, die den herumwirbelnden Schnee gar nicht mehr bemerkten. Augen, deren Wunsch er sich beugte. „Relez hielt uns für ein Paar.“ Beide wurden im selben Moment rot, aber noch war Gary nicht fertig, immerhin war es seine geschriene Antwort, die Green unbedingt wissen wollte. Ihr Herz klopfte schneller, aber die Hikari spürte es kaum - sie war gespannt, so gespannt. „Ich habe ihn aufgeklärt, dass wir nichts in diese Richtung sind, sondern Freunde - und dass ich deswegen nicht zulassen werde, dass er dir oder deiner Familie etwas antut.“ Green konnte nicht drum herum, ihn fassungslos anzustarren: hatte Gary gerade… vor einem seiner Artgenossen zugegeben, dass sie… Freunde waren? Sie, eine Hikari und er, ein Dämon?! Und das, wo er es vor knapp zwei Wochen nicht einmal ihr gegenüber zugeben wollte?! Green blinzelte noch einmal, immer noch völlig fassungslos - aber dann begannen ihre Augen plötzlich zu strahlen und sie sprang förmlich empor, den Schnee von sich schüttelnd, als wäre er nichts. „Ich zeig dir jetzt, was ich gelernt habe, Gary!“ Der Angesprochene kam gar nicht schnell genug hinterher; voller Tatendrang wich Green einer vorbeisausenden Attacke seitlich aus, dicht gefolgt von Gary, der der Attacke ebenfalls ausgewichen war und rannte zu Grey, der gerade mit seinen Füßen auf dem weißen Rasen gelandet war - seine Attacken und die von Relez hatten große Teile des Schnees davongefegt. „Du solltest auf Green aufpassen und dafür sorgen, dass sie nicht direkt in den Kampfaustausch hineinrennt, Halbling!“, fauchte Grey, der zwar aus der Puste, aber nicht verletzt war. „Wozu zur Hölle lässt du mich trainieren, wenn ich nicht kämpfen darf?!“, antwortete Green beleidigt an Garys statt, der eigentlich eine vernünftigere Antwort hatte wählen wollen; dass Relez eigentlich nur einer jener Halbdämonen war, der für Botengänge genutzt wurde und gar nicht so stark war und dass Green doch eigentlich nicht so schutzbedürftig war, wie Grey es hier gerade klingen ließ. Aber genau das bewies Green schon selbst, als sie vom einen Moment auf den anderen das Kommando übernahm: „Du sorgst dafür, dass er in die Mitte kommt und ich mache den Rest - okay? Gut!“ Für Grey war absolut gar nichts gut, aber da musste er einer weiteren Strahlenattacke ausweichen, was er auch schwungvoll tat, nachdem Green Gary schon am Arm gepackt hatte und wegzerrte, womit sie sich nun in der Nähe von Ryô und Pink befanden. „Green, was hast du vor?!“, rief Gary nun wieder, da der magische Schlagabtausch der beiden Kontrahenten den Ort mit lautem Zischen und Getöse völlig aushüllte, als würde man sich in einem schwarzen Wirbelsturm befinden. Kurz war Green vom diesem magischen Spektakel abgelenkt - sie hatte ihren Bruder offenbar unterschätzt. Er war nicht nur ihr strenger, kränkelnder Bruder; er war auch ein gut trainierter und talentierter Wächter. Den Attacken Relez‘ wich er gekonnt aus, noch kein einziger Angriff schien getroffen zu haben und das obwohl Grey schnell atmete. Aber er ließ sich nicht von seiner Gesundheit unterkriegen; genau wie Green sich gegen ihr Trauma wehrte, wehrte Grey sich gegen seine natürliche Schwäche und… tat das auch wirklich gut. Aber er zeigte sich nicht nur im Kampf sehr gekonnt; wenn Green sich nicht irrte - und sie glaubte nicht, dass sie das tat - dann sorgte Grey auch noch während des Kampfes dafür, dass keine der Attacken in die Richtung von Ryô und Pink ging, um sie absolut nicht in Gefahr zu bringen. War das… ein Exempel für die Worte, die Grey ihr so oft versucht hatte einzutrichtern? Dass „ein Wächter zu sein“ nicht nur bedeutete in der Lage zu sein, eine Waffe zu schwingen, töten zu können - sondern vor allen Dingen beschützen zu können? Es musste eine Harmonie geben; ja, das hatte Grey gesagt--- und das zeigte er hier auch. Genau wie Ryô es ebenfalls tat, denn er war nicht nur ein unbeteiligter Zuschauer - sie hatte sich offensichtlich in beiden geirrt! - denn als es Grey ein einziges Mal doch nicht möglich war, eine Attacke des Dämons so zu blocken, dass sie nicht in die Nähe der beiden anderen Wächter schoss, bewies Ryô, dass er nicht nur ein Tempelwächter war, der für das leibliche Wohl seines Herren zuständig war, sondern mehr konnte als das. Die Attacke blockte er nämlich gekonnt mit einem goldenen, vibrierenden Schild, einer Magie ähnlich der Itzumis, doch irgendwie… wärmer, wie es Green vorkam. Hatte Ryô nicht auch erwähnt, dass er oft mit Grey zusammen trainierte, dass er sein Trainingspartner war…? Jedenfalls hatte er Pink beschützt; sie war keine Sekunde lang in Gefahr gewesen. Grey konnte sich wirklich auf Ryô verlassen; wie deutlich das nicht auch ihr kurzer Blickaustausch beteuerte. „Dasselbe, was wir schon einmal getan haben!“, antwortete Green grinsend, sich die Haare aus dem Gesicht wischend.    „Zeigst du uns jetzt, was du alles gelernt hast, Green-chan!?“, ertönte Pinks begeistertes Rufen und Green warf ihr ein freudiges Grinsen zu: „Darauf kannst du dich verlassen!“ Gary wollte gerade anmerken, dass es doch in so wenigen Tagen gar nicht so viel sein konnte, was sie gelernt hatte und dass sie dann vielleicht ihren Stab beschwören sollte? – als Green schon seine Hand nahm und mit ihm zusammen losrannte, dabei zu den beiden Kämpfern blickend, die aber gerade über den Tannen kämpften und daher keine Gefahr für Gary und Green darstellten. Was war es für ein unverschämtes Glück, dass Grey fliegen konnte! Eine Fähigkeit, auf die Green wirklich eifersüchtig war, aber sie hatte nun einmal nicht das Element des Windes geerbt – und, zugeben, sie würde zu ihrem jetzigen Trainingsstand auch nicht so eine gute Figur abgeben im direkten Nahkampf… Kurz spürte Green, wie ihre Entschlossenheit bröckelte, als ihre Füße nun das Eis berührten – sie spürte die glatte, rutschige Oberfläche, eine kalte Oberfläche, die sie kannte, die sie schon so oft zu Fall gebracht hatte, die schon so oft für… Lachen gesorgt hatte. Aber nicht dieses Mal. Nur kurz war sie ins Stocken geraten; nur kurz hatte Green die Augen zusammengepresst, aber Gary hatte es bemerkt, obwohl er nur ihren Rücken sah – und diese kleine Entdeckung brachte ihn zum sofortigen Handeln. Er hob sie auf seine Arme. „Ich denke, du planst einen Luftangriff, Green?“ Perplex blinzelte Green ihn an, wartete darauf, dass Gary irgendetwas sagen würde; ihr Verhalten, ihre Schwäche irgendwie kommentieren würde, aber das tat er nicht – und es freute Green. Sie grinste, eine angenehme Wärme auf ihren Wangen spürend. Er war wirklich ihr Schutzengel – oder Schutzdämon, oder was auch immer! „Ja! Genau das habe ich vor – genau wie letztens in Tokio.“ „Aber Silver ist nicht hier, um dich wieder auffangen zu können“, erwiderte Gary einen ernsten Blick über die Schulter werfend, wo Grey immer noch in einen Nahkampf mit Relez verstrickt war: „Und auch wenn dein Bruder fliegen kann, so bezweifle ich, dass er…“ Gary kam nicht weiter mit seinen Bedenken, denn Green unterbrach ihn: „Ich habe auch etwas ganz anderes vor! Dafür müssen wir aber die Position ein wenig ändern; nämlich so, dass du deine Hände an meine Hüfte legst und mich so festhältst. Wir brauchen eine beträchtliche Höhe…“ Um ihre Worte zu untermauern, zeigte sie nach oben: „… Wir müssen in genau dem richtigen Moment aufsteigen und die richtige Höhe erreichen – ich muss über ihm sein.“ „Dann teleportiere ich uns lieber – das ist sicherer. Aber wenn du es so machen willst wie in Tokio – wer soll dich dann fangen?“ „Niemand.“ Green grinste den verdatterten Dämon an und antwortete lächelnd: „Dieses Mal musst du mir vertrauen!“     Green war schon immer ein Befürworter der praktischen Lernweisen; Theorie war für sie nichts. Sie neigte zur Vergesslichkeit, oder eher: sie neigte dazu, das auszusortieren, was sie nicht als interessant empfand, etwas, wo ihr Siberu absolut zustimmte, während Gary aufgebend mit den Augen rollte. Aber bei diesem Kampf stellte sich heraus, dass Green tatsächlich etwas dazugelernt hatte und dass sie dank diesem Kampf endlich in der Lage war, Theorie, schöne Reden und die praktische Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Denn dass das Element eine Stimme hatte und dass es auf ihren Herzenswunsch antworten würde… das hatte Green – obwohl sie es für einen kurzen Moment selbst gespürt hatte – nur als schöne Worte empfunden; schöne Worte, die allerdings nichts mit der Wirklichkeit gemein hatten. Jetzt fand sie heraus, dass dies nicht nur schöne Worte waren. Jetzt spürte sie, dass ihr Bruder recht gehabt hatte – und jetzt wusste sie auch, wie sie diese Verbindung nutzen konnte, um das zu tun, was ein Wächter laut Grey zu tun hatte: nicht nur töten, sondern auch beschützen. Er zeigte es ihr in diesem Kampf so deutlich, dass Green den „Klick“-Moment in ihrem Kopf förmlich hören konnte und genauso deutlich wie dieses Empfinden war, genauso deutlich spürte sie auch… dass es ihr gelingen würde. Sie würde es schaffen. Auch wenn das selbstbewusste Lächeln auf Greens Gesicht bestehen blieb, obwohl es nur noch Sekunden sein konnten, bis Grey dafür sorgen würde, dass Relez sich in der Mitte der Lichtung befinden würde, so war Gary dennoch nervös. Er musste ihr vertrauen, aber er sah zu viele Gefahren, zu viele Risiken, für die es zu wenig Absicherung gab – viel zu viele Unsicherheiten! Warum nur ließ sich Green überhaupt auf diesen Kampf ein, wenn ihr Bruder Relez doch ohne Probleme alleine ausschalten könnte? Warum musste sie nur mal wieder kopfüber in die Gefahr springen; und warum machte er da auch noch mit!?   Vertrauen; er musste Vertrauen haben, aber er spürte Nervosität in sich – und das wo er nicht einmal wusste, dass Green bis jetzt nur kleine Fünkchen entstehen lassen konnte. Da Green ihren Stab nicht umgewandelt hatte, ging er davon aus, dass sie eine neue Attacke gelernt hatte – wenn er wüsste, dass Green noch gar nicht so weit war, irgendetwas eine Attacke zu nenne--- „Jetzt!“ Gary war sich im Nachhinein sicher, dass er in diesem Moment geflucht hatte. Aber jedes Fluchen brachte nichts; der Moment kam, in dem er sich zusammen mit Green über den Kopf  von Relez teleportierte, Relez somit gut acht Meter unter ihnen in der Luft war – und Gary dabei, sein Vertrauen in Greens Fähigkeiten zu testen. Bedachte man, dass Green bis zu diesem Moment noch keine richtige Attacke entfesselt hatte, so war Garys Nervosität wahrscheinlich absolut legitim – genau wie Greys schockiertes Gesicht, als er sehen musste, dass Green ihren Stab nicht hervorgerufen hatte, denn er wusste natürlich, dass Green noch nicht in der Lage war, Licht zu einer Attacke zu formen und er war garantiert kein Befürworter davon, Dinge direkt im Kampf, in einer Gefahrensituation zu erlernen, auch wenn man solchen Situationen bekanntlich nachsagte, dass sie einen zu mancherlei Dinge beflügelten und man sagte auch, dass das Element in einem Kampf am ehesten dazu gewillt war, zuzuhören – aber dennoch!? Niemals hätte er Green dazu geraten, es in einem Kampf darauf ankommen zu lassen, dass sie eine Attacke einsetzen konnte ---- und dennoch versuchte sie es?! Hätte sie nicht einen Light Spirit einsetzen können--- das hätte doch gereicht--- Aber Greys – der sich eben noch teleportieren wollte, um Green zur Hilfe zu eilen – und Garys Bedenken stellten sich als unbegründet heraus: Gary brauchte sich nicht einmal um das freigesetzte Licht Gedanken machen, das just in diesem Moment auf Greens ausgestreckten Handflächen erschien – denn das Licht…es… es schadete ihm nicht!? Greens Lächeln wurde breiter, erfreuter, ihre Augen strahlten im hellen Licht ihrer Handflächen --- die Augen Relez wurden nun beide klein --- Grey riss ebenfalls die Augen auf, genau wie Ryô und Pink, die ebenfalls zu strahlen angefangen hatte --- und Gary… Gary konnte es einfach nicht fassen, was da gerade geschah---- „HOTARU ATARASHII!“ --- das Licht dieser tausenden kleinen Funken, es sollte Gary schaden, genau wie es Relez deutlich schadete, als Green die zu einer Kugel geformten Funken gegen den Brustkorb des Dämons schmetterte und dieser unter dem brennenden Licht der Attacke auseinandergerissen wurde – aber es schadete ihm nicht; er spürte keine Schmerzen, auch wenn die gesamte Lichtung für einen kurzen Augenblick in gleißendes Licht gehüllt war. Es war nur… warm. Angenehm… warm. Da Gary immer noch Green an sich drückte, spürte er, dass sie schwer atmete, als sie ihre ausgestreckte Hand zurückzog; aber als sie sich herumwandte, grinste sie Gary an: „Hab ich… hab ich dich verletzt?“ Gary schüttelte nur den Kopf; zu erstaunt, um mit Worten zu antworten. Stattdessen brachte er sie auf die vereiste Oberfläche, ließ Green vorsichtig herunter, womit sie nun in einer sanft leuchtenden Lichtsäule standen – den Nachwirkungen der Attacke. „Wie hast du das gemacht, Green?“ Green lächelte, ein leuchtendes Lächeln, erleuchtet von dem Licht um sie herum, das sich auf dem vereisten Glas spiegelte – aber das Strahlen ihres Lächelns stammte nicht nur von dem Licht um sie herum, sondern auch… von einer Quelle in ihr. Eine Quelle, die nun auch irgendwie Gary zu einem Lächeln brachte. „Ich wollte dir nicht schaden. Also habe ich es auch nicht getan.“ Beide lächelten sie sich nun an – dort auf dem vereisten Glas des Sees, wo sie einst die Kälte der Welt gespürt hatte.     Ganz eindeutig war Green natürlich der Meinung gewesen, dass das eine Glanzleistung gewesen sei und dass sie nun alles Lob der Welt verdient hätte – der aufgeregt angerannt kommende Grey war allerdings alles andere als dieser Meinung und als er sofort mit einer Standpauke begann, pflichtete Gary ihm obendrein auch noch bei, als er nun hörte, dass Green vorher noch gar nicht in der Lage gewesen war, eine Attacke zu beschwören und dass diese Attacke ihre erste gewesen war… Ryô versuchte erfolglos, Grey zu beruhigen, der nur noch wütender zu werden schien, als Gary ihm recht gegeben hatte und Pink – Pink hatte nur gelacht und war natürlich die einzige, die Green absolut genial gefunden hatte. Und die letzte Person, die Person, die alles beobachtet hatte und nun langsam ihre behandschuhte Hand vom Baum heruntergleiten ließ, konnte nicht fassen, was da gerade geschehen war – aber noch weniger konnte sie fassen, dass… Green hier war. Sie wollte schon zu ihr rennen, aber genau in dem Moment, als sie diesen Entschluss gefällt hatte, war Green zusammen mit den anderen Personen verschwunden, als wäre sie nie dort gewesen. Sie blieb im Schnee stehen; mit großen, schockierten grünen Augen, gänzlich außerstande, das Gesehene zu verstehen – und drei Meter neben ihr, vergraben im Schnee, schlug unbemerkt ein kleines, weißes Gerät aus.     Kapitel 33: Vertrauen ---------------------     Grey hatte gerade seinen wöchentlichen Gesundheitscheck hinter sich gelassen und war just in diesem Moment im Begriff, sich von Tinami genau wie immer anhören zu müssen, dass er besser auf seine Gesundheit achten musste… mehr essen, mehr schlafen… als Ryô in das Sanitätszimmer hereinkam. Er verneigte sich sofort vor den beiden Elementarwächtern und entschuldigte sich für die Störung, obwohl weder Tinami noch Grey sein Eintreten als Störung empfunden hatten – als Ryô Grey allerdings um ein Gespräch unter vier Augen bat, blinzelten die beiden Elementarwächter doch verwundert. Grey allerdings nicht sonderlich lange; er witterte leider schon, um was es sich handelte und obwohl Ryô keine sonderlichen Anzeichen darauf machte, bemerkte der Windwächter sofort, dass es wohl eher schlechte Nachrichten waren, die er ihm unter vier Augen zu berichten hatte – und ganz richtig. Es hing mit Green zusammen, wie Ryô Grey erzählte, sobald sie alleine und in einem anderen Zimmer waren. „Ihr habt mich ja um eine Analyse der Attacke Hikari-samas gebeten…“ Grey nickte und begann, nervös mit seinen Händen zu spielen. Sie schien wirklich kein gutes Resultat erbracht zu haben, wenn Ryô es ihm nicht sofort berichtete – oh, warum zögerte er es denn hinaus!? Grey spürte, wie er sich bereits selbst Panik machte: das war immerhin Greens erste eigene Technik, ihre erste freigesetzte Lichtmagie, die sie zu einer Attacke geformt hatte. Die 46% „nicht-definierbare-Magie“, die Tinami in Greens „Spirit of Light“ festgestellt hatte, waren schon schlimm genug gewesen, aber diese Anteile sollten nun eigentlich getilgt sein… jetzt, wo Green ihr Element direkt genutzt hatte, ohne Magie von irgendwelchen Dämonen aufgenommen und konvertiert zu haben… „Grey-sama…“ Ryô sah seinen Herren so mitleidig an, als überbringe er ihm eine Todesnachricht – und wahrscheinlich war es das auch. „… es sind 47%...“ Ryô schluckte, Greys Augen schienen zu vibrieren. „…nicht-definierbare Magie.“ Grey war absolut erstarrt. „47%... nicht-definierbare Magie? Jeder Zweifel… ausgeschlossen?“ Bedrückt nickte der Tempelwächter. „Bei einer Attacke, für die Green direkt auf das Lichtelement zugegriffen hat?“ Grey ließ sich völlig erschlagen von dieser Nachricht auf den nächstbesten Sessel fallen. „Das bedeutet, dass… Green irgendetwas mit dem… Element selbst macht?!“ Als hätte Grey soeben ein großes Sakrileg ausgesprochen, schlug er sich erschrocken die Hand vor den Mund. Wenn die Hikari das erfuhren… und sie würden es erfahren, Grey konnte sie nicht anlügen und er hatte bereits angekündigt, dass Green eine neue Attacke gelernt hatte – er sollte sie morgen vorstellen, war sogar stolz gewesen, dass Green Fortschritte zeigte… er hatte natürlich ausgelassen, dass sie es irgendwie geschafft hatte, eine Lichttechnik in der Nähe eines Dämons freizusetzen, ohne diesen dabei zu verletzen… Oh, er hätte komplett schweigen müssen!  „Aber, Grey-sama, der Name der Technik… „Glühwürmchen Sturm“ – ist das nicht etwas, mit dieser Verbindung zu Eurem Element, was Euch freut?“ Grey, der sein Gesicht kurz in den Händen vergraben hatte, lächelte schwach, als er wieder aufsah und zu seinem Freund blickte. Es rührte ihn, wie verzweifelt Ryô versuchte, ihn aufzuheitern – obwohl diese Nachricht schwärzer als schwarz war. „Danke, Ryô… aber ich befürchte, das interessiert meine Familie nicht.“ Das wusste Ryô natürlich, aber bevor er antworten konnte, kam Grey ihm mit einer überraschenden Frage zuvor: „Was ist eigentlich… deine Meinung über Green?“ Der Angesprochene blinzelte überrascht: „M-Meine Meinung über Hikari-sama?“ „Ja…“ Grey seufzte, immer noch traurig klingend, die Stirn auf seine gefalteten Hände legend: „Ich frage, weil ich genau weiß, was die Ratsmitglieder sagen werden… sie werden die nicht-definierbare Magie Greens Unreinheit zuordnen – ein sichtbarer, messbarer Beweis ihrer Unreinheit, ihrer Schlechtigkeit… und dass sich diese auch noch auf das Element überträgt – und ich muss zugeben, dass ich es mir auch nicht anders erklären kann… und das würde bedeuten, dass Green das Licht selbst verunreinigt…“ Grey hob den Kopf wieder, sah hinaus in den Himmel und fuhr leise, fast ein wenig vorsichtig fort: „Daher frage ich mich… ob Green wirklich so schlecht ist. Ob sie… wirklich eine Bedrohung für uns… für uns alle ist.“     Ob man wohl selbst verstauben konnte, wenn man zu viele alte Bücher las? Das war die Frage, mit der sich Green gerade plagte. Natürlich, es sollte eine andere Frage in ihrem Kopf geben, die wichtiger war, als sich solch irrsinnigen Hirngespinsten hinzugeben, denn natürlich konnte man nicht verstauben, nur weil man alte Bücher las und von ihnen umringt war… aber so wie diese Wälzer sich ihr aufdrängten und gemessen an der Energie, die Green angesichts dieses Bergs an Büchern in sich aufkommen spürte… glaubte Green es fast. Denn die Energie war kaum nennenswert. Grey fand, dass Green mehr Hintergrundwissen über die Geschichte der Wächter benötigte und dass die Frage, wer Schuld an dem dritten oder vierten… oder gar sechsten Elementarkrieg hatte, eine sehr wichtige Frage war. Fand Green nicht – sie fand jede andere Frage interessanter. Green seufzte in die Hand hinein, die sie an ihre Wange gelegt hatte und die ihren Kopf davor bewahrte, gelangweilt abzurutschen. Sie fand ganz eindeutig nicht, dass das spannende Fragen waren. Sie fand das ganze Thema nicht besonders anregend. Krieg! Was sollte sie mit Krieg! Herrschte nicht Frieden? Sie interessierte sich nicht für irgendwelche Kriege - weder für die Weltkriege noch für die Elementarkriege. Geschichte im Allgemeinen war nicht gerade ihr Thema; nie gewesen, außer es gab vielleicht mal den leisen Anflug einer dramatischen Liebesgeschichte. Ja, dafür war sie eigentlich immer zu haben, aber Grey schien irgendwie nicht zu finden, dass es so wichtig für Greens Ausbildung war, dass Green Tagebücher von längst vergangenen Hikari las! Dabei war er am Anfang so begeistert gewesen, als Green sich über eine Sammlung Tagebücher gestürzt hatte, die für die Öffentlichkeit zugänglich waren, bis er dann bemerkt hatte, dass Green die Tagebücher nach tragischen Liebesgeschichten filterte und dem Politischen absolut keine Beachtung schenkte - ganz zu schweigen von ihrem geschichtlichen Wert. Ja, Green musste zugeben, sie hatte die Tagebücher eher wie Romane gelesen… oder überflogen, aber das musste sie Grey ja nicht beichten, ehem. Daher hatte er sie wahrscheinlich an diese leidige Aufgabe gesetzt, während er im Jenseits war. Sie müsse wissen, was ein Elementarkrieg bedeutete – und nein, es genügte garantiert nicht, nur zu wissen, dass es sieben gab!? Sie musste die Hintergründe kennen, die Bedeutung, die Konsequenzen… versuchen, sich darin hineinzuversetzen, was es bedeutete, nicht nur einen Krieg zu führen, sondern auch während der Kriegszeit leben zu müssen. Grey hatte sehr ernst geklungen; für Green waren die Worte eher theatralisch gewesen – und noch einmal: es gab keinen Krieg, also warum das Ganze…? Aber sie hatte zugestimmt und sich artig in einen Lesesaal begeben; es hatte auch gar keinen Weg daran vorbei gegeben, denn Grey hatte wirklich sehr aufgebracht darauf bestanden, dass sie diese Bücher lesen sollte – und heute Morgen? Beim Frühstück? Da hätte Green schwören können, dass er ihrem Blick ausgewichen war… und als er ins Jenseits aufgebrochen war, wirkte er nervös. Was da nur mal wieder vor sich ging?  Müde blätterte Green durch den Wälzer, nachdem sie zwei Seiten weitergekommen war – aber schon wieder das eben Gelesene vergessen hatte – und trank ihren Tee. Siberu würde sie verstehen. Er würde verstehen, dass es unnütz war, Green dazu zu zwingen, so trockene Lektüre zu lesen! Wozu sollte sie es überhaupt lesen, wenn da die Hikari im Jenseits waren, die sie doch einfach fragen könnte – wäre das nicht eine viel einfachere Lernmethode, oder würden die weißen Herren und Damen sich nicht erbarmen, mit ihr zu sprechen, huh?! Ja, Siberu würde sie verstehen, würde verstehen, wie langweilig das Ganze war – Gary dagegen würde ihr wahrscheinlich das Buch unter die Nase halten mit der Aufforderung, endlich weiterzulesen; es gab immerhin noch 645 Seiten in diesem Buch und dann folgte auch schon das nächste Buch. Green musste umgehend lächeln, als sie an die beiden dachte, obwohl sie auch mit Gary keine Lust auf diese Bücher gehabt hätte. Nein, wirklich nicht. Aber es wäre schon angenehmer, wenn die beiden bei ihr wären oder wenn Green wenigstens mit ihnen würde reden dürfen, aber nein, Grey war ein zu guter Wachhund. Wenigstens war Pink jetzt wieder bei ihr; Green hätte nie gedacht, dass sie das Beisammensein mit ihrer kindlichen Cousine vermissen würde, aber als sie nun auch in den Tempel „eingezogen“ war, hatte Green schnell bemerkt, dass sie die quirlige Art ihrer Cousine wirklich vermisst hatte. Sie brachte Leben in jeden Raum; sogar der stets leere Tempel kam Green dank Pink lebendiger vor. Auch jetzt war Pink bei ihr; sie allerdings tat das, was Green am liebsten auch tun würde, nämlich schlafen. Sie lag neben ihr auf einem blau dekorierten Flügelsofa, ihr Hello!Kitty-Plüschtier fest in die Arme geschlossen. Dabei war es nicht einmal so spät… obwohl… Green warf einen Blick auf eine kleine, goldene Standuhr und runzelte sofort die Stirn. Eigentlich war es schon ziemlich spät. Wo Grey wohl blieb? Er war gleich nach dem Abendessen gegangen – es gab immer um 18 Uhr Abendessen – und war immer noch nicht zurückgekehrt, obwohl es schon fast zehn Uhr abends war. Eigenartig. Die Hikari warf einen verstohlenen Blick auf ihre Bücher, dann zu Pink – und schon war sie aufgestanden und aus dem Zimmer verschwunden, allerdings nicht ohne Pink eine Decke übergelegt zu haben. Sie wollte mit Ryô reden; ihn rein aus Neugierde fragen, ob er wisse, was Grey so lange im Jenseits trieb und ob das normal war? Und – zugegeben – sie wollte sich auch die Beine vertreten, etwas anderes sehen als diese dicken Wälzer und nutzte daher ihre Neugierde als kleine Ausrede, um aufzustehen und das Arbeitszimmer hinter sich zu lassen.   Der Tempel war nicht gerade zu einem von Greens Lieblingsorten geworden. Zu Beginn hatte sie diesen Ort, die gesamte schwebende Inselformation, als etwas Faszinierendes angesehen - aber nun, nachdem sie schon ein wenig mehr als eine Woche hier drinnen eingesperrt war, hatte der Tempel seinen Zauber verloren. Man konnte wohl sagen, dass Green dem Tempel aus Trotz seinen Zauber aberkannt hatte. Er war ihr Gefängnis; die Mauern, die sie davon abhielten, zurück nach Tokio zu kommen. Grey ermüdete nicht daran, ihr die schönen Seiten des Tempels zu zeigen und versuchte stets, ihr das Gefühl zu geben, dass sie sich hier Zuhause fühlen sollte. Aber nein, das konnte sie nicht. Und nebenbei sah sie einige Dinge am Tempel einfach wie Siberu: so schön er auch war, er hatte seine unheimlichen Seiten und genau wie Siberu mochte auch sie einige Steinstatuen nicht. Ganz besonders die nicht, die mit irgendwelchen Gesten drohend auf das Regelbuch zeigten. Es schien auch ziemlich viele davon zu geben – wozu?! Laut Grey hielten sich doch alle Wächter außer Green an die Regeln, also warum musste gefühlt jede zweite Statue einem das Regelbuch unter die Nase halten? Nun ja, vielleicht gerade deshalb, dachte Green mit einem ironischen Lächeln, als sie gerade an einer vorbeigegangen war, die im klaren Mondlicht weiß erleuchtet gewesen war. Hmm, die Kammer der beiden Tempelwächter war leer, fand Green heraus, als sie gut fünf Minuten Gehweg hinter sich gelassen hatte – was machten sie denn um diese Uhrzeit woanders als in ihrem Zimmer? Arbeiteten sie noch? Ryô hatte Grey nicht ins Jenseits begleitet und Green hatte Itzumis Hilfe beim Lesen abgelehnt – wozu brauchte sie da auch ihre Hilfe?! – also mussten sie ja irgendwo im Tempel sein. Aber der Tempel hatte so viele Zimmer, so viele Orte, an denen sie arbeiten könnten… ah, irgendwo musste Green ja anfangen, also schlug sie den Weg zur Küche ein. Um in die Küche zu gelangen, musste Green einige Stockwerke tiefer. Ein riesiges Teil von einer Küche war das! Um sich bei Grey einzuschmeicheln und ihn zu überreden, dass sie wenigstens so viel wie einen Brief an die beiden Dämonenbrüder schreiben durfte, hatte Green die riesige, wahrlich perfekt ausgerüstete Küche des Tempels missbraucht; sie hatte ihm etwas gekocht, aber obwohl Grey ganz aus dem Häuschen gewesen war – er hielt Kochen für eine magische Kunst, da er sich nicht einmal selbst Tee kochen konnte – hatte sie ihn nicht kleingekriegt. Nicht einmal zwei Zeilen hatte sie schreiben dürfen! Er übertrieb es wirklich mit seinem „Konzentrier dich auf dein Training“… „… -Blamage! Es ist schrecklich, zu was wir hier gezwungen sind! Nur weil du mal wieder nicht „nein“ sagen konntest!“ Ah, da war ja schon die liebliche Stimme ihrer Tempelwächterin. Die Zwillinge waren also wirklich in der Küche, stellte Green fest, nachdem sie den niedrigen Säulengang durchquert hatte, der um die große, rechteckige Küche herum gebaut war. Eine der großen Türen stand nur angelehnt und Green blieb natürlich so stehen, dass sie nicht bemerkt wurde – dafür aber hören konnte, was innen gesagt wurde. Mit gespitzten Ohren vernahm sie nun Ryôs Stimme, die irgendwie… gebeutelt klang. „Wie ich bereits gesagt habe… es tut mir Leid, Itzumi.“ „Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten als Kartoffeln zu schälen! Was bin ich!? Eine Küchenmagd?!“ Oh Gott, Green tat Ryô leid – seine Schwester klang wirklich sehr wütend… „Aber Itzumi, wir haben nichts „Besseres zu tun“ und auf Sanctu Ele’Saces haben sie das schon… Es sind nur 300 Kartoffeln.“ 300 Kartoffeln? Wer sollte die denn alle essen? „Ich hasse Kartoffelschälen! Seit meiner Ausbildungszeit musste ich das nicht mehr tun! Es war Fail, nicht wahr, der dich dazu überredet hat?!“ Von Ryô folgte keine Antwort, aber Itzumi benötigte keine Antwort, sie donnerte weiter: „Oh, ich kann es in deinem Gesicht sehen. Ist dieser Idiot sogar zu einfältig für die Küchenarbeit?! Pah, ich habe es immer gemacht, obwohl ich es gehasst habe und gleichzeitig Glanzleistungen in meiner Ausbildung liefern musste – und Fail gelingt es nicht einmal, ein paar dumme Kartoffeln für eine Hochzeit zu schälen. Die Chefin sollte ihn mal durch die Mangel nehmen!“ Hochzeit? Wer heiratete denn? Ah, warte. Etwas klingelte in ihrem Kopf… der Wächter, den sie zusammen mit Siberu in Tokio getroffen hatte… er hatte etwas von einer Hochzeit erzählt? Green hatte das ganz vergessen. Sie hatte Grey fragen wollen, aber es war ihr entfallen in der ganzen Aufregung, die danach gefolgt war. Aber hätte Grey ihr nicht von sich aus etwas darüber erzählen müssen? Hätte sie nicht, als Hikari, eingeladen werden sollen? Warte mal. War sie nicht sogar eingeladen worden? Und „Sanctu Ele’Saces“… der Name sagte ihr etwas; nicht weil Grey ihn erwähnt hatte, sondern weil sie den Namen beim Lesen entdeckt hatte. Wenn sie nicht alles täuschte – was gut sein konnte – dann gehörte dieser Name zu einer Insel; einer anderen Insel, die wie der Tempel im Himmel existierte. Grey hatte ihr davon nichts erzählt und auch in den Büchern, die er ihr zum Lesen gegeben hatte, war dieser Name nicht aufgetaucht – aber in den Tagebüchern, die Green sich selbst geschnappt hatte, schon. Hatte Grey ihr da irgendetwas verheimlicht? Warum hatte er ihr nicht von der Hochzeit erzählt, warum war noch nie der Name einer anderen Insel gefallen – es gab doch sogar noch mehr? Gary hatte wirklich recht gehabt, als er nahegelegt hatte, dass sie Augen und Ohren offen halten sollte. Er war nur einmal im Tempel gewesen und schon hatte er bemerkt, dass irgendetwas faul war – und, ja, das war es auch, dachte Green. Es war das letzte Gespräch gewesen, das Green mit Gary geführt hatte. In diesem Gespräch hatte er ihr gesagt, dass sie skeptisch sein sollte – das letzte Gespräch, das eigentlich genauso verboten gewesen war wie jedes andere Wort, das Green mit Gary oder Siberu wechseln wollte, aber dieses Mal war es Green trotz allem gelungen, ein Gespräch zu führen: ein Gespräch, an das sie nun zurückdachte, während Itzumis laute, sich beschwerende Stimme langsam in den Hintergrund geschoben wurde.        Obwohl es Grey nicht gefallen hatte, war Gary mit ihnen zusammen zum Tempel zurückgekehrt; natürlich nicht, weil er selbst darauf bestanden hatte – er schien jedem Streit mit Grey aus dem Weg gehen zu wollen – sondern weil Green vehement darauf bestanden hatte. Sie hatte es absolut so gewollt und Grey hatte sich den widerspenstigen Augen seiner Schwester dieses eine Mal gebeugt. Danach musste Gary wieder gehen; es durfte nicht zugelassen werden, dass ein Dämon glaubte, er dürfte sich wann auch immer und solange er wollte im Tempel aufhalten – und dieser Dämon war definitiv lange genug im Tempel gewesen, wie deutlich das nicht in dem Blick gelegen hatte, den Grey Gary angewidert zugeworfen hatte. „Grey, es ist nur ein kleines, verdammtes Gespräch – das kann ja wohl nicht so schlimm sein?!“ „Green, du fluchst schon wieder.“ „Ja, das hier ist ja auch zum Fluchen, zum Kotzen um genau zu sein – was soll so schlimm an einem kleinen Gespräch sein?!“ „Wollen wir nicht erst einmal deine neue Attacke genauer untersuchen?“ „Das können wir ja wohl danach machen?! Nur eine halbe Stunde, Grey, bitte.“ Gary kannte den Blick, den Green da gerade anwandte, nur allzu deutlich: es war der Blick, mit dem sie auch immer versuchte, Siberu kleinzukriegen. Meistens gelang es ihr und auch in diesem Fall lockerte Greys Blick widerwillig auf: „… 15 Minuten.“ „Nein, 30. Ich werde Gary ja dank dir jetzt sicherlich länger nicht mehr sprechen, da werden 30 Minuten ja wohl drin sein?! Du kriegst dafür auch was – ich werde beim Training extra aufmerksam und extra fleißig sein, okay?“ „Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du dich um deiner selbst willen dem Training widmest?“ Da dieser Punkt an Grey ging, wich Green dieser Frage aus: „Also – Gary und ich gehen dann mal.“ Schon hatte Green Garys Arm gepackt und zerrte den gänzlich Unparteiischen weg von der kleinen Gruppe Wächter. „Von einem Gespräch unter vier Augen war aber nie die Rede gewesen, Green!“ „Mein Gott, Onii-chan!“, rief Green ihm über die Schulter hinweg zu: „Als ob Gary mich vom Inselrand herunterwerfen würde?!“ Fluchend – sicherlich mit Absicht, nur um Grey weiter zu ärgern – drehte Green sich wieder herum, Garys Arm nun loslassend, aber immer mal wieder einen skeptischen Blick zu Grey werfend, als befürchtete sie, er würde ihnen geheim folgen. Etwas beleidigt stemmte Grey seine Hände in die Hüfte und sah Green und Gary nicht weniger skeptisch hinterher als wie Green ihn musterte – bis sein Blick Ryôs traf, der ihn mit einer leichten Andeutung einer erhobenen Augenbraue ansah und schuldbewusst sah der Windwächter in eine andere Richtung, die Arme über der Brust verschränkend. „Die beiden sehen fast aus wie ein Liebespaar!“ Diese unbedachten Worte Pinks sorgten nicht gerade dafür, dass Greys Haltung auflockerte. Dieses Wort hatte er heute eindeutig zu oft im Bezug auf die beiden gehört!     Green dachte nicht an dieses Wort: sie dachte nur daran, in kürzester Zeit so weit weg wie möglich von den neugierigen und immer misstrauischen Ohren ihres Bruders zu kommen – und zum Glück wusste sie auch, wie sie das am besten bewerkstelligte! „Geheimgänge sind wirklich das beste am ganzen Tempel! Es gibt hier überall welche. Ryô hat mir den hier gezeigt, Grey kennt gar keine, hihihi!“ Erst da verstand Gary, weshalb Green sie beide an den Rand der Insel geführt hatte, denn als er über diesen sah, erblickte er kleine Steinstufen, die herunter führten. Zugegeben: obwohl er fliegen konnte, war ihm ein wenig mulmig zumute, als er herunter sah… und nichts außer einem endlosen Wolkenmeer unter den Stufen entdeckte; Stufen, die zwar sicher aussahen, aber dennoch nicht gerade… einladend. Waghalsig wie Green war nahm sie den ersten Schritt und sprang auf die erste Stufe. Dass diese nur knapp 30 Zentimeter breit war und darunter nichts außer Wolken, schien Green nicht zu interessieren; nur mit einer Hand hielt sie sich an der Steinwand fest, sobald sie ein paar Stufen hinter sich gebracht hatte, während Gary ihr folgte - um einiges weniger sicher, immer wieder nervöse Blicke nach unten sendend, dann wieder zu Green zurück: angespannt und bereit vorzuspringen, um sie zu fangen, falls sie doch wanken und stolpern sollte. Aber zum Glück waren diese Vorsichtsmaßnahmen unnötig; gänzlich unbeschadet und ohne ins Gefahr zu geraten kamen die beiden nach gut hundert Stufen unten in einer kleinen Höhle an, die in die Insel selbst hineingehauen war. Tief genug, damit sich dort mehrere Personen aufhalten konnten, mit einem ebenen Boden und einer Wand, die mit ebenmäßigen, hellgrauen Steinen gepflastert war. Ansonsten war hier nicht sonderlich viel zu sehen. Kaum dass Gary einen Schritt hineingetan hatte, verschwanden die Stufen hinter ihnen wieder. Etwas staunend blickte Gary sich um und seine offensichtlichen Fragen blieben nicht lange unbeantwortet, denn Green schoss nicht alles in den Wind, was sie lernte. Sie war daher imstande, Gary dasselbe zu erklären, was Ryô ihr über diese Höhle erzählt hatte und tat dies auch, sobald sie sich an den Rand gesetzt hatte – so wie Green nun einmal war mit nach unten baumelnden Füßen. Wenn der Tempel angegriffen wurde, war das hier eines der Verstecke, wo die Wehrlosen hingebracht werden konnten, um sie vor dem Kampf zu schützen; eine Schutzkammer sozusagen. Die Stufen konnte man nur erscheinen lassen, wenn man ein Wächter war; von außen war das Versteck nicht zu sehen.    Nach dieser Erklärung blickte Green kurz schweigend über das langsam immer heller werdende Wolkenmeer, das sich unter und überall um sie herum erstreckte und im Begriff war, die Farbe zu ändern: von einem dunklen Blau zu einem hellen Gelb. Dort, wo die Sonnenstrahlen die Wolken berührten, begannen die Wolken golden zu glitzern – ein angenehmer, ruhespendender Anblick, der Green allerdings nicht lange in den Bann zog. Mit einem Ruck drehte sie sich zu Gary herum und blickte mit entschlossenen Augen zu dem immer noch stehenden Halbdämon empor. „Gary, ich will nachhause! Bitte, nimm mich mit!“ Kurz sahen sich die beiden an, bis Gary ihrem entschlossenen Blick nicht mehr standhalten konnte und sich seufzend abwandte: „Du weißt, dass das nicht geht. Es würde so aussehen als hätte ich dich entführt.“ „Na und? Grey hat mich auch entführt!“ Green fand, dass das ein absolut annehmbares Argument war, aber Gary war offensichtlich anderer Meinung: „Und dann? Dann kommt Grey wieder und dieses Mal wahrscheinlich mit mehr als nur zwei Tempelwächtern.“ „Was, es gibt noch andere Wächter?“, antwortete Green ironisch und lachte ein wenig, aber sie wusste schon, dass er recht hatte. Wahrscheinlich würde noch Seigi vor der Tür stehen… und ihn wollte sie nicht gerne vor der Tür haben, wenn Siberu und Gary hinter ihr waren. Nein, das war wahrscheinlich nicht unbedingt die klügste Entscheidung. Dennoch wollte sie fort; überhörte sogar Garys Bedenken, dass er es auch wahrlich eigenartig fand, dass sich im Tempel so wenige Wächter aufhielten… Der Tempel wirkte eigenartig auf ihn… irgendetwas stimmte da doch nicht…   „…Ich will nicht länger hierbleiben… Ich will wieder zu euch!“, unterbrach Green Garys laut ausgesprochene Gedanken.   „Du solltest dich hier wohlfühlen, Green. Immerhin ist das dein richtiges Zuhause.“ Mit einem finsteren Blick hob Green den Kopf und durchbohrte Gary, der sie ernst ansah. „Du müsstest mich doch schon gut genug kennen, um zu wissen, dass ich mich in Tokio am wohlsten fühle! Und nicht in diesem… goldenen Käfig, ganz egal wie schön er ist.“ Gary wusste kurz nicht, was er antworten sollte und Green fuhr fort, nun aber weniger aufgebracht: „Ich fühle mich hier so allein…“ „…Du hast deinen Bruder“, erwiderte Gary im Versuch, aufmunternd zu klingen; es schien allerdings nicht so zu funktionieren, wie er es gehofft hatte, denn ein trauriges Lächeln breitete sich auf Greens Gesicht aus, während sie sich aufrichtete.    „Ich weiß… aber manchmal kommt er mir so fremd vor. Ich verstehe Grey nicht… und ich weiß, ich spüre, dass er mir etwas verheimlicht. Er weicht mir aus… Wenn ich ihn zum Beispiel Dinge über das Jenseits frage… und seit der Sache mit dem Familientreffen…“ Green sah wieder ihre Mutter vor sich, wie sie sich krampfhaft an Green geklammert, verzweifelt geweint hatte… ihr ständiges „Es tut mir Leid“… Green sah wieder zu Gary und in ihrer Stimme wie auch in ihren Augen schwang ein leiser Anflug von Verzweiflung mit: „…seitdem… denke ich, dass sowohl Mutter als auch Grey…. ohne mich besser dran gewesen wären…“ Green hatte die Hände zu Fäusten geballt und konnte Gary nicht länger in die Augen sehen, sah stattdessen auf ihre Füße. Eigentlich hatte sie das nicht sagen wollen; es war ihr einfach so herausgerutscht. Sie hatte diese Gefühle vorher nicht einmal zu Gedanken geformt gehabt – und jetzt purzelten diese zu Form gewordenen Gefühle ungebändigt aus ihr heraus. Und schon wieder – und schon wieder war es Gary, dem sie diese Gefühle anvertraute. „Ich kann mir kein Urteil über deine Mutter erlauben, da ich sie nie getroffen habe…“ Und Gary musste sich selbst eingestehen, dass das auch gerne so bleiben konnte: „Dein Bruder allerdings… In seinem Falle finde ich es ganz deutlich, dass du für ihn sehr wichtig bist und dass er froh ist, dass du in sein Leben gekommen bist.“ Green sah aus dem Augenwinkel zögerlich zu ihm und fragte leise: „Woher willst du das wissen?“ Gary antwortete in einem belustigten Tonfall: „Ich finde es ziemlich offensichtlich. Wärst du ihm nicht so wichtig, dann würde er doch nicht so um dich und dein Wohl besorgt sein – und ich denke, du willst mich jetzt nicht fragen, woher ich weiß, dass er sich um dich Sorgen macht: dafür gibt es eindeutig genug Beweise und das, wo ich ihn nur ein paar Mal gesehen habe. Vorhin hätte er mich wegen dir fast umgebracht. Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du überhaupt Zweifel hast, Green.“ Verdutzt über diese ausführliche Antwort blinzelte Green ein paar Mal, Gary verwirrt von der Seite her ansehend – aber schon spürte sie, dass eine kleine Stimme in ihr sagte „Er hat recht!“ und wie diese kleine Stimme Green zu einem erleichterten Lächeln brachte. Gary hatte wirklich recht… dass Green überhaupt – warte, vorhin?  „Wie „vorhin“?“ Ertappt fuhr Gary zusammen: „Ah… Naja, ein gewisser Rotschopf hatte den genialen Plan, wir könnten ja eine Rettungsaktion durchführen… Ich denke, das genügt als Erklärung und ich muss nicht weiter auf eine Reihe … kleinerer Komplikationen eingehen…“ Noch einmal blinzelte Green verwundert, aber dann lachte sie: „Oh mein Gott, ich wäre zu gerne dabei gewesen! Verdammt! Warum musste ich gerade heute wegen dem verdammten Auftrag weg sein!? Du musst mir alles erzählen! Und warte, Grey wollte euch umbringen? Ha, warum wundert mich das irgendwie nicht; das hätte ich vielleicht bedenken sollen, als ich…“ Green geriet plötzlich ins Stocken, sich selbst dabei ertappend, wie sie etwas preisgab, was sie eigentlich gar nicht hatte erzählen wollen. Gary war wahrscheinlich nicht die beste Person, um von einem ihrer vielen Regelverstöße zu erzählen: er war immerhin ein Moralprediger und für ihren Geschmack hatte sie heute schon eindeutig genug Standpauken bekommen - aber natürlich blieb Gary Greens ertappte Röte nicht unbemerkt, die sich auf ihren Wangen ausgebreitet hatte, als die Hikari mit einem verschmitzten, leicht peinlichen Lächeln ihren Fehltritt bemerkt hatte. „Als du was?“ Green hätte am liebsten „nichts“ geantwortet, aber anhand seiner schneidenden Stimme erkannte sie schon, dass Gary ihr das nicht glauben würde. „Du hast nicht zufällig etwas damit zu tun, dass weder der Bannkreis noch das Sicherheitssystem des Tempels auf uns reagiert haben, oder?“ „… vielleicht.“ Oh, wie deutlich nicht die nahende Standpauke in Garys Augen abzulesen war - er und Grey konnten sich wirklich die Hand reichen. Umso komischer war, dass Grey Gary gegenüber so eine deutliche Antisympathie verbreitete: sah er denn nicht, wie ähnlich sie sich waren? Sie könnten sich zusammen der Aufgabe annehmen, Greens Gewissen auf Regeln und Moral zu trimmen - ob Green das mit sich machen lassen würde, war natürlich eine andere Frage. „Green, du kannst doch nicht einfach das Sicherheitssystem des Tempels manipulieren...“ Das Ganze war schon ziemlich abstrus; sprach ein Dämon etwa gerade dafür, das Sicherheitssystem der feindlichen Basis nicht anzurühren, obwohl es ein Vorteil für ihn war? Siberu würde dem wohl mit den gleichen hochgezogenen Augenbrauen gegenüberstehen wie Green. Diese unterbrach Gary nun auch, ehe er wirklich in Fahrt kommen konnte: „Im Ernst, Gary, es ist nicht so, dass ich das gesamte Sicherheitssystem lahmgelegt habe! Ich habe nur dafür gesorgt, dass du und Sibi kleine Ausnahmen seid und dass das System euch damit nicht erfasst.“ „Hast du das alleine geschafft?“ „Nö, ich habe Itzumi nett gefragt.“ „… gefragt.“ „Ja – mehr oder weniger. Ist doch egal! War es nicht gut, dass ich das gemacht habe? Grey verbietet mir jeden Kontakt mit euch! Ich meine, mein eigener Bruder hat mich entführt! Ja, es ist toll, dass ich mal ein wenig trainieren kann...“ Gary zögerte kurz, schien zuerst nicht antworten zu wollen, sich nicht von seiner Standpauke abbringen lassen zu wollen – aber dann antwortete er doch: „Das ist es auch wirklich. Unter Gleichgesinnten kannst du Techniken lernen, die du niemals mit uns lernen könntest. Ich mache mir nur Sorgen um deine schulische Ausbildung.“ „Oh ja, ich auch...“ Ein kleines Lächeln huschte über Garys Gesicht, als er Green ansah: „Ich war ziemlich stolz auf dich, als du das als Grund nanntest - an dem Tag, als Grey dich mitnahm. Ein wenig Verantwortungsbewusstsein scheint ja doch in dir vorhanden zu sein.“ „Ehehe, du scheinst abzufärben!“ Kurz lächelten der Halbdämon und die Hikari sich an; Green immer noch ein wenig kichernd, Gary mit einem Lächeln, bei dem er nicht wusste, ob es ein aufgebendes oder ein zufriedenes Lächeln war. Greens leises Kichern verglomm nach einem kleinen Moment und einige Sekunden schwiegen sie; Green wieder hinausschauend über die Wolken, bis sie die Stille aufhob: „Ich wollte einfach die Möglichkeit offenhalten, falls ihr kommet würdet... damit ich euch sehe. Ich habe ein wenig darauf gehofft, um ehrlich zu sein… Schade, dass ich Sibi nicht sehen konnte... ich vermisse ihn.“ Was war das für ein leichter Stich, den Gary da in sich spürte und von dem er meinte, dass er ihn schon einmal gespürt hatte? „Warum ist er eigentlich nicht mit nach Deutschland gekommen?“ Gary schwieg, überlegte kurz, ob und wie viel er ihr erzählen sollte – tat es dann aber und gab in groben Zügen wieder, was geschehen war. Greens Lächeln verschwand schnell und sobald Gary ihr erzählte, was mit Siberu geschehen und weswegen er nicht mitgekommen war, schlug sich Green die Hand vor den Mund. „Es geht ihm gut“, beeilte Gary sich zu versichern: „Er wird wahrscheinlich Narben davontragen, aber so schnell kriegt man Silver nicht klein. Ein wenig Ruhe… das ist alles, was er jetzt braucht.“ Langsam löste Green die Hand wieder von ihrem Mund: „… Ich war so dumm, das habe ich nicht gewollt. Oh, warum war ich denn nicht da, ich hätte Grey aufhalten können!“  „Ja, vielleicht, aber Silver war selbst Schuld; er hat es provoziert und es eigentlich herausgefordert.“ Gary versuchte, Green aufmunternd anzulächeln: „Er war eben sehr erpicht darauf, dich zu retten. Dich trifft da keine direkte Schuld. Wenn Wächter und Dämonen aufeinandertreffen, gibt es eben meistens Probleme – besonders wenn einer von den Dämonen Silver heißt.“ „Das stimmt doch gar nicht.“ Green fand nun wieder zu ihrem Lächeln zurück: „Wir drei haben doch keine Probleme.“ Plötzlich fiel Gary das Lächeln auch einfacherer, aber es verschwand schnell, als er sich abwandte. Irgendwie konnte er sie nicht lange ansehen…   „Ich merke richtig, dass ich ohne Sibi nicht so eine gute Laune habe wie sonst. Er fehlt mir. Ich hoffe, es geht ihm bald besser!“ „…Ja, kaum verwunderlich. Ihr beide seid ja auch ein perfektes Duo.“ „Hmm?“ Green sah ihn nun wieder an, nachdem sie kurz in den Himmel geblickt hatte, aber Gary wich ihrem Blick aus - jetzt war es er, der irgendwie beschämt wirkte.  „Er liebt dich… und ihr seid ein perfekt zusammenpassendes Gespann, zwei Chaoten.“ Da Gary immer noch wegsah, bemerkte er nicht, wie Green sich aufplusterte und entschlossen die Hände in die Hüfte stemmte - das merkte er erst, als sie sich in sein Sichtfeld schob. „Ist da etwa jemand eifersüchtiiiig?“ Gary spürte, wie sich auf seinen vorher etwas blass wirkenden Wangen die Röte ausbreitete und sofort wollte er verneinen; so etwas Kindisches, warum sollte er - Eifersucht, so etwas kannte er nicht, dafür war sein Bruder zuständig, nicht er - aber Green ließ ihm keine Gelegenheit, dies zu antworten: „Sibi und ich sind uns wirklich sehr ähnlich und ich liebe ihn von ganzem Herzen, aber ich muss hier offensichtlich mal klarstellen, dass ich ihn nicht so liebe!“ Green zwinkerte, ein wenig errötet, aber im Gegensatz zu Gary sehr erfreut wirkend und fügte mit Nachdruck hinzu: „Denk bloß nicht, dass ich einen von euch beiden irgendwie lieber mögen würde als den anderen, nur weil ich mich auf den ersten Blick besser mit Sibi verstehe. Ihr seid mir beide unheimlich wichtig! Sibi ist mein bester Freund und du…“  Plötzlich geriet Green ins Stocken, denn ihr fiel wieder das Gespräch mit Seigi ein:   „Vielleicht hast du ja auch… andere Gefühle für ihn?“ „“Andere Gefühle?“ Was denn für „andere Gefühle?“ Gary ist einfach... Gary.“ „Naja, Gary siehst du vielleicht nicht als Freund, sondern als Bruder oder Lehrer, Vertrauten…. oder…“ Seigi lehnte sich über den Tisch, stützte sein Kinn mit einer Hand ab und sah Green direkt in die Augen, als er fortfuhr: „Oder ist er womöglich dein Geliebter?“   Ja… was war er denn nun? Vor drei Tagen war sie sich ihrer Gefühle so sicher gewesen und jetzt? Jetzt wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Die beiden Dämonenbrüder waren ihr gleich wichtig, jeder auf eine andere Art… aber wenn Siberu „ihr bester Freund“ war, was war Gary dann? Nur der Zweitbeste? Nein. Waren sie beide ihre besten Freunde? So würde sie es auch wiederum nicht nennen... aber da, als sie Seigis Antwortmöglichkeiten noch einmal durch den Kopf gehen ließ und dabei gar nicht bemerkte, wie Gary irgendwie nervös zu werden schien, hatte sie die Antwort plötzlich klar auf der Hand. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Es war doch so offensichtlich! „Gary!“ Er wagte es kaum sie anzuschauen, denn ihre etwas längere Pause hatte in ihm wahrlich kein gutes Gefühl geweckt - aber er wusste nicht warum. Woher stammte diese innere Unruhe? Der Unwille dem Thema gegenüber, der Wunsch, das Thema am liebsten zu wechseln, ganz weit wegzuschieben, obwohl da dennoch der deutliche Drang in ihm war, eine Antwort zu hören? „Du bist immer da, wenn ich dich brauche, egal ob es nun um das Kämpfen geht oder ob es nur der normale Schulalltag ist… Ich kann dir alles erzählen, sogar meine tiefsten Geheimnisse würde ich dir beichten… du hörst mir immer zu und hast für meine Probleme immer ein offenes Ohr, auch wenn sie mit dir direkt gar nichts zu tun haben. Weißt du… dieses Gefühl des Verlasses ist für mich sehr wichtig, da ich früher nie jemanden hatte, mit dem ich so offen reden konnte wie mit dir.“ Green atmete kurz durch und sah ihm dann lächelnd in die perplexen Augen: „Du bist mein Vertrauter - derjenige, dem ich am allermeisten vertraue!“  Gary spürte, wie Röte in ihm aufstieg, förmlich emporschoss; jedes weitere Wort hatte seine Röte weiter angefacht. Sein Kopf musste aussehen wie eine Tomate und es wurde nur noch schlimmer dadurch, dass er keine Antwort kannte. Er wollte etwas sagen, aber--- was!? Wahrscheinlich würde er in diesem Augenblick nur Gestammel zustandebringen. Er war einfach völlig überrumpelt von diesen Worten und dem Strahlen in ihren Augen - sie... meinte es wirklich genau so, wie sie es gesagt hatte. Natürlich, es war ja auch Green... sie meinte immer alles so, wie sie es sagte... Wie war es möglich, dass er für sie in einer so verhältnismäßig kurzen Zeit so wichtig geworden war, wo sie sich doch die längste Zeit gar nicht hatten riechen können? Und jetzt… jetzt das… wie sollte er darauf reagieren? Was sollte er ihr antworten? Sollte er ihr sagen... wie froh er über ihre Worte war…? Doch Green erwartete gar keine Antwort; es reichte, wenn er wusste, wie wichtig er für sie war und dass so etwas wie Eifersucht in ihrem kleinen Team unnötig war. Sie konnte seine Gedanken schon nachvollziehen – sie fand ja selbst, dass sie und Siberu unzertrennlich waren – daher war es für sie umso wichtiger, ihn davon überzeugt zu haben, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte; dass sowohl Siberu als auch Gary ihr wichtig waren.  „Du brauchst nicht antworten - es reicht, wenn du es weißt! Also, du brauchst absolut nicht eifersüchtig sein!“ „Ich war nicht… eifersüchtig.“ „Jaaaa, genau, Gary, versuch‘s ruhig, aber ich sehe es dir an, hehe! Willst du es nicht zugeben, huuuh?“, neckte Green ihn und benutzte dafür sogar grinsend ihren Ellenbogen, um ihn neckend in die Seite zu stubsen, bis ihr einfiel, dass sie womöglich schon dabei waren, den Bogen der Zeit zu überspannen. Sie mussten sich verabschieden, ansonsten würde Grey wahrscheinlich noch bei ihnen aufkreuzen, ganz egal, wie versteckt dieser Ort war – Green war davon überzeugt, dass er sie überall finden würde. „Ihr seid doch da, wenn ich wiederkomme, oder?“ „Natürlich sind wir das.“ „Versprichst du es?“ Gary versprach es sofort, aber obwohl die Antwort so schnell gefolgt war, sah Green ein wenig zweifelnd aus; sie studierte ihn förmlich – und dann flitzte ihre Hand plötzlich auf ihn zu, an seinen Hals und ergriff das Lederband seiner Kette, an dessen Ende sein grün-gelber Anhänger hing. Verunsichert blickte Gary Green an, die seinen Blick mit einem entschlossenen Grinsen erwiderte, das Lederband fest umschließend. „Darf ich die haben? Als Glücksbringer für mein kommendes Training, was garantiert nicht so einfach sein wird? Natürlich nur geliehen, ich kenne doch die Geschichte hinter dem Anhänger… also, leihst du ihn mir?“ Gary konnte gar nicht anders, als ihr zuzustimmen und mit einem triumphierenden Lächeln, als hätte sie soeben einen schwierigen Kampf gewonnen, nahm Green den Anhänger entgegen: „Jetzt habe ich schon zwei Schmuckstücke von dir, hehe!“ Gary würde den Anhänger nicht gerade ein Schmuckstück nennen – er war an sich nichts wert; nur die Erinnerungen, die damit verbunden waren, waren es… und was meinte Green mit zwei---? Ah, da sah Gary es; er hatte zuvor nicht darauf geachtet, aber jetzt, als die Sonne aufging und Greens Gesicht erhellte und ihre Haare sich mit einer leichten Brise erhoben, bemerkte er das sanfte Aufstrahlen der Ohrringe, die Gary ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. „Warum guckst du mich so verwundert an? Dachtest du, ich würde sie nicht tragen? Sie stehen mir doch so gut, es wäre eine Schande, sie nicht zu tragen!“ Gary wollte gerade antworten, als sie beide Greys Stimme über ihnen hörten, der nach Green rief – und eindeutig nicht gerade erheitert klang. Green verdrehte mit einem Seufzen die Augen: „Da ist mein Wachhund. Ich denke, es ist Zeit, sich zu verabschieden.“ „Eine Sache wäre da noch, Green.“ Angesichts von Garys plötzlich ernst gewordenem Tonfall verschwand auch Greens Lächeln – und irrte sie sich, oder hatte er auch leiser gesprochen? „Sei wachsam.“ Eigentlich hatte er etwas anderes sagen wollen, nämlich „sei vorsichtig“. Das waren die Worte gewesen, die sich ihm aufgedrängt hatten, aber er verstand nicht wirklich, warum – warum sagte ihm eine Stimme, dass Green vorsichtig sein sollte? Sie würde zu ihrem Bruder zurückkehren, sie war im Tempel; dem Ort, der für eine Hikari, wie sie es war, der absolut sicherste Ort der Welt war – sie war die Person, deren Leben alle Wächter schützen mussten. Sie war absolut von jeder Gefahr befreit, woher also…? „Versuch, auf Unstimmigkeiten zu achten. Wie ich bereits gesagt habe: irgendetwas kommt mir am Tempel eigenartig vor.“ Green nickte, von der gleichen Ernsthaftigkeit ergriffen wie Gary: „Ich weiß, was du meinst. Ich werde Acht geben.“ Dann schlich sich jedoch noch einmal ein Lächeln zurück auf ihr Gesicht: „Danke nochmal für deine Hilfe vorhin und dass ihr beide versucht habt, mich von hier zu befreien.“ „Das ist doch selbstverständlich…“ Nein, das war es nicht und das wussten beide. Immerhin sollten sie Feinde sein. Sie sollten sich hassen.  Green hob die Hand. „Grüß Sibi… und vergiss nicht, ihm zu sagen, dass ich ihn lieb hab und ihn vermisse, ja?“     Seitdem hatte sie weder Siberu noch Gary wiedergesehen. In der letzten Woche hatte sie viel trainiert und war, genau wie Gary es ihr aufgetragen hatte, achtsam gewesen – und diese Achtsamkeit bewies sie auch jetzt. Obwohl ihr trotziger Dickkopf Grey sofort hatte konfrontieren wollen mit einer Hochzeit, bei der sie nicht eingeladen war, hielt sie sich zurück, schrieb nur alles in ihrem kleinen Notizbuch auf, das sie extra für Gary schrieb und nachts unter ihrem Kissen verbarg. Dort standen schon eine ganze Menge kleiner Dinge, die ihr komisch vorgekommen waren. Auf der ersten Seite, rot eingekreist neben einem Teefleck, standen die zwei obersten Punkte der Skepsis: „Der unbekannte Fremde“ und „Die geheime Hochzeit“. Zu dem „unbekannten Fremden“ hatte sie leider noch nicht viel. Er war ihr letzten Mittwoch aufgefallen. Ein Wächter im mittleren Alter, mit violettem Haar und blauen Augen, so hatte sie ihn in ihren Notizen beschrieben – er hatte sich mit Grey getroffen, geheim. Grund zur Skepsis: weil das Treffen geheim war. Grey hatte behauptet, dass er sich krank im Bett befunden hatte. In Wahrheit aber hatte er sich heimlich mit jenem Wächter getroffen. Green hatte das Treffen zufällig beobachtet; tatsächlich war es nur dank Pink möglich, die sich verlaufen und sie so förmlich zu den beiden Wächtern geführt hatte. Viel hatte Green nur leider nicht vom Gespräch erhaschen können, aber dass Grey ihr das Treffen hatte verheimlichen wollen, war schon genug, um sich einen roten Kreis in ihrem Notizblock verdient zu machen. Und die „geheime Hochzeit“? Der nahm sie sich jetzt an, indem sie abwartete und beobachtete. Heute Morgen, am Tag der geheimen Hochzeit, wirkte Grey etwas ruhiger; er lächelte wieder… und ja, Green musste zugeben, dass sie sich darüber freute… natürlich wollte sie nicht, dass Grey so besorgt aussah… Aber es gefiel ihr dennoch nicht, dass er kein Wort über die Hochzeit fallen ließ! Warum so viele Geheimnisse?! Dann musste Grey angeblich wieder ins Jenseits. Pah! Sie wusste genau, dass er nicht ins Jenseits reiste! Zwar war er so voraussehend, dass er sich nicht einer Hochzeit angemessen gekleidet hatte, damit Green keinen Verdacht schöpfte, aber da Green das Gespräch der beiden Zwillinge in der Küche gehört hatte, wusste sie ganz genau, dass er sich nicht ins Jenseits aufmachte – dass er ihr mitteilte, dass er sicherlich länger weg sein würde, untermauerte ihren Verdacht nur. Aber obwohl es ihr absolut nicht passte, ihn nicht sofort damit zu konfrontieren und eigentlich direkt ins Gesicht belogen zu werden – von jemandem, der dauernd die Regeln hochhielt! – tat sie gut gelaunt, als sie Grey verabschiedete. Sie tat auch überrascht, als sie bemerkte, dass Ryô nicht anwesend war; angeblich Besorgungen in der Menschenwelt. Pah, als ob! Aber wie klug von ihnen, dass Grey und Ryô zeitversetzt den Tempel verlassen hatten – nur zu dumm, dass Green sie dennoch durchschaute, huh? Was war an einer Hochzeit so schlimm, dass Green nicht daran teilnehmen durfte und man so einen Aufstand machen musste, um sie vor Green zu verheimlichen?! Gary hatte sowas von recht! Etwas war ganz eindeutig faul im Staate Dänemark – nein, im Tempel! Und sie würde Grey überführen; auf frischer Tat ertappen würde sie ihn! So etwas ließ Green nicht mit sich machen!     Völlig ahnungslos kehrten Grey und Ryô gegen null Uhr zurück in den Tempel. Beide mit einer offensichtlich guten Laune, die sie vom Fest mitgebracht hatten und die Grey immer noch zum Lächeln brachte, auch wenn er Anzeichen der Erschöpfung zeigte. „Ah, was für eine schöne Feier! Mary-san hat sich wahrlich mal wieder selbst übertroffen. Der Kirschblütenregen war eine wunderschöne Idee und so passend zu dem Element der Braut!“ Ryô stimmte dem zu; wie könnte er auch nicht, denn es war wahrlich ein wunderschöner Anblick gewesen, als die Kirschblüten plötzlich mit der Hilfe einiger Naturwächter vom Himmel regneten, nachdem das Brautpaar sich das Ja-Wort gegeben hatte. Ryô hatte zwar noch Stunden später Kirschblüten aus Greys Haaren zupfen müssen, aber das war wohl das kleinste Übel… „Aber ich muss eingestehen, dass ich am Ende bin. Danke, dass du dafür gesorgt hast, dass wir früher gehen konnten. Hätte ich noch einmal mit Tinami-san tanzen müssen, ich glaube, ich wäre tot umgefallen…“ „Nichts zu danken, Grey-sama. Aber ja, Ihr habt Recht, Tinami-sama war wahrlich ein wenig wild - im Gegensatz zu Ilang-sama.“ „Ja, mit ihr hätte ich lieber ein zweites Mal getanzt“, stöhnte Grey, während die beiden Wächter nun die Treppen hinaufstiegen, um die Eingangshalle zu verlassen. „Aber es war wirklich unterhaltsam! Und täusche ich mich, Ryô, oder hat eine Dame auch dich um einen Tanz gebeten?“ Sofort blieb Ryô stehen, errötet bis unter die goldenen Haarspitzen, aber sofort weitergehend, noch röter werdend, als Grey verhalten lachte. „Also hatte ich recht! Warum hast du denn nicht angenommen? Du kannst doch tanzen!“ „…Ich kann doch nicht von Eurer Seite weichen: ich bin Euer Tempelwächter, kein regulärer Gast.“ „Du lässt es immer so klingen, als stünde dir kein Spaß zu, Ryô! Wer war die Dame? Von den Haaren her zu urteilen würde ich ebenfalls eine Tempelwächterin schätzen… kennst du sie?“ „… eh ja, ich kenne sie… sie ist…“ Ryôs leichtes Stammeln verleitete Grey zu einem leichten Grinsen – ein Grinsen, das sehr schnell dahinschmolz, als sie beide Green am Ende des Ganges entdeckten, den sie gerade betreten hatten. „Ich dachte, wir Wächter dürften nicht lügen, Onii-chan?“  Kapitel 34: Lügende Engel -------------------------                               Grey war sieben, als seine kleine Schwester für tot erklärt wurde. Das gesamte Wächtertum war versammelt, als seine Mutter, mit ihm an der Hand, diese traurige Botschaft verkündete. Mehr als 15.000 Wächter standen unter ihnen, füllten den Platz unter dem Balkon, auf dem Grey zusammen mit White stand. Es war eine kalte Hand, die seine hielt, denn seine Mutter war tot. Eine kalte Hand, die Greys Finger aber fest hielt. Es war so ungewohnt; vor zwei Tagen noch war diese Hand warm gewesen. Aber zu dem heutigen Tag passte diese Kälte irgendwie – Grey erinnerte sich noch deutlich daran; an die Kälte des Tages, obwohl es Anfang Juni war. Der Himmel hatte sich zugezogen, zeigte nur eine graue, trostlose Masse. Sie sah aus wie die Wächtermasse unter ihnen; ihre bunten Farben, die ihre Elemente widerspiegelten, wirkten ausgewaschen, fand Grey; die vielen Gesichter ausgehärtet und fahl. Es war wegen dem Krieg, wusste Grey, obwohl er ihn nicht selbst kennengelernt hatte; er wusste es, wie die anderen Wächterkinder, die bei ihren Eltern standen und noch unwissend waren – sie wussten, was Krieg bedeutete und gleichzeitig wussten sie es nicht. Aber es herrschte kein Krieg mehr; er war vor zwei Tagen beendet worden. Es war alles wieder gut. Der Frieden war zurückgekehrt. Doch es war ein Frieden, der Opfer gekostet hatte: große Teile des Tempels waren zerstört, das Elementarwächterteam komplett ausgelöscht, White tot und nun verkündete sie, dass die Lichterbin ebenfalls zu den letzten Opfern des Krieges zählte. Ja, das Wächtertum hatte gefeiert, als das Ende des Krieges von einem Mund zum anderen gerufen wurde; dass White ihn beendet hatte und dass die Wächter, dank des Bannkreises, so schnell keinen neuen mehr fürchten mussten… aber der Krieg hatte zu viele Opfer gekostet, um die Feierstimmung lange aufrechterhalten zu können. Die schreckliche Neuigkeit, dass Green genau wie ihre Mutter gestorben war, hatte sich schon vor dieser offiziellen Stellungnahme verbreitet - zusammen mit großer Unsicherheit, die die Freude verdunkelt hatte. Das war noch nie geschehen. Noch nie hatte es keinen Lichterben gegeben. Was sollten sie nun tun? Was würde nun geschehen? Grey wünschte so sehr, dass dieser Tag nicht existiert hätte; er mochte es nicht, dort oben an der Seite seiner Mutter zu stehen und zum ersten Mal in seinem noch jungen Leben waren ihm die weißen Augen seiner Vorfahren, die er im Nacken spüren konnte, eine Bedrohung. Warum musste das geschehen? „… unter diesen traurigen Umständen muss ich verkünden, dass das Wächtertum zum ersten Mal seit seiner Entstehung regimeführerlos ist.“ Grey verstand das alles nicht. Warum sagte seine Mutter das? Es stimmte doch nicht, es war doch nicht wahr! Green lebte doch. Sie war in der Menschenwelt. In Sicherheit. So hatte seine Mutter es formuliert. In Sicherheit. Aber wovor in Sicherheit? Es gab doch nichts, was sie bedrohte? Der Krieg war vorbei. „Bangt nicht, meine Mitwächter…“ Aber Grey hatte Angst. Er hatte große Angst. Aber der Krieg war doch vorbei! Wovor hatte er Angst? Vor den Lügen? Vor den Worten seiner Mutter, die doch Lügen waren; er wusste doch, dass es welche waren, aber lügen durfte man doch nicht! Aber sie tat es; seine Mutter tat es, log sie alle an. Die Wächter, deren Familie. Alle. Nur ihn nicht, er war eingeweiht, er wusste, dass Green am Leben war. Er wollte zu ihr. Er wollte, dass sie wieder abgeholt wurde. Sie gehörte doch zu ihm, zu Mutter – sie gehörte doch hierhin… warum war sie nicht hier? Warum musste seine Mutter sagen, dass Green tot war? Warum durfte Grey nur mit White über die Wahrheit sprechen, warum ganz besonders nicht mit deren Familie, warum ganz ganz besonders nicht mit seinem Großvater? „… das Licht wird uns einen neuen Weg zeigen; es wird uns geleiten und uns beistehen. Das Element bleibt bei uns, beschützt uns und wird uns ein neuen Erben zeigen, sobald die Zeit reif ist. Bis dahin…“ White löste ihre Hand aus dem Griff ihres Sohnes und legte eben diese Hand auf seinen Rücken. „… wird Grey den Posten seiner Schwester stellvertretend einnehmen. Ja, meine Mitwächter, ich weiß, es ist eine sehr schwere und ungewohnte Zeit für uns alle, aber der Frieden ist in unsere Welt zurückgekehrt – lasst uns darauf vertrauen, dass auch das Licht wieder Einzug hält in unser Leben! Vertrauen wir auf das Licht, so wie das Licht uns vertraut in dieser schwierigen Situation!“ Grey erinnerte sich an die vielen besorgten, nun aber gerührten Gesichter. Er erinnerte sich daran, wie er in den darauffolgenden Tagen immer wieder gehört hatte, wie tapfer White war, wie stark sie war, dass sie ihren Mitwächtern noch Stärke und Zuversicht hatte übertragen können, obwohl es doch so schwer für sie sein musste, all das zu ertragen… Es war ja ihre Tochter, die gestorben war. Es war so grausam… nicht einmal ihren Hikari-Namen hatte sie erhalten… Laut der öffentlichen Erklärung war Green einem Dämon zum Opfer gefallen. Ein geplantes, hinterhältiges Attentat mit einem unbekannten Dämon als Mörder.   Grey mochte diese Lügen nicht. Er mochte sie nicht. Er hielt sie nicht aus. Seine Schwester war nicht tot. Sie war nicht tot! „Mutter, ich… ich…“ White war vor ihrem kleinen Sohn in die Hocke gegangen; dem kleinen Jungen, dessen Schmerz so deutlich erkennbar war; in seinen Augen, in seiner Haltung, seinen hochgezogenen, bebenden Schultern. „… ich kann das nicht… Green… sie ist doch nicht tot, aber ich muss sagen… dass sie das ist… warum, ich verstehe das nicht! Ich will zu Green, ich will, dass sie wieder hier ist! Sie ist schon eine Woche – e-eine Woche alleine!“ Er gab nach, die blauen Augen des kleinen Greys gaben nach, begannen zu weinen; Tränen, die von Whites weißem Stoff verschluckt wurden, als sie ihren Sohn an sich drückte. „…W-Was ist, wenn sie weint, Mutter?“ Die kleinen Hände Greys klammerten sich an White. „… dann hören wir es doch nicht! Wir hören es nicht und wir… wir können nicht bei ihr sein… Green, ich will zu ihr… ich will da sein, wenn sie weint!“ Aber stattdessen musste er so tun, als wäre seine kleine Schwester gestorben. White wusste, dass sie ihrem Sohn, seinem reinen, unschuldigen Herzen, eine schwere Last aufgebürdet hatte und dass sie auch nicht in der Lage war, diese Last wieder von ihm zu nehmen. Lügen hatte sie ihm aufgebürdet – aber noch schlimmer: sie hatte ihm die Schwester weggenommen, auf die er so lange gewartet, sich so lange gefreut hatte. Es hatte keinen anderen Weg gegeben als diesen, nur den Weg der Lügen; heute wusste Grey das auch. So schmerzhaft diese Zeit auch gewesen war, er wusste, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte. Eine Zeit des ständigen Hoffens und gleichzeitig auch eine Zeit der Hoffnungslosigkeit. Auf der einen Seite hatte er Green vermisst, hatte darauf gehofft, dass eines Tages der Tag kommen würde, an dem er sie wiedersehen konnte, wenn auch nur für einen kurzen Moment – manchmal hatte er auch geglaubt, sich vorgestellt, dass sie zurückkehren würde. Dass die Unreinheit, die ein Teil ihres Namens war, ein Fehler, ein Missverständnis war; dass die Welt, der gemeine Lauf des Schicksals, die Hikari, nicht zulassen würden, dass Green ewig von ihren Wurzeln getrennt wurde; von ihrer Familie, von ihm, von White. Sie sehnten sich doch so sehr nach ihr – und sie sich doch sicherlich auch nach ihnen! Ihr Herz musste doch spüren, dass sie gerufen wurde, dass kein Tag verging, an dem White und er nicht an sie dachten. Aber auf der anderen Seite war da die Traurigkeit, die er verspürte, als wäre Green wirklich gestorben. Vielleicht hatte sich dieses Gefühl auf ihn übertragen, weil die anderen Wächter davon überzeugt waren; vielleicht war es ein Schutzmechanismus, weil er mit dem Heranwachsen lernen musste, seine Hoffnung, jemals ein Leben zu leben, in dem es Green gab, aufzugeben. White und Grey würden Green beim Erreichen ihres 17. Lebensjahres aufsuchen und das ohnehin versiegelte Element von ihr befreien – das war ihr geheimer Plan. Es würde sich dann, so lautete jedenfalls der Plan, einen neuen Wirt suchen, vielleicht auch auf Grey übergehen. Er würde sie nur noch einmal sehen; es gab keinen Grund, zu hoffen. Sie war tot. Seine Schwester war tot. Sie war für immer von ihm gegangen. Aber dann kam Pink. Pink, das kleine Puzzleteil, das niemand erwartet hatte. Pink, die Green das Glöckchen brachte, das einst für sie vorbestimmt war – Pink, die das Element entsiegelte und Green als Hikari erweckt hatte. Green lebte wieder. Sie war zurückgekehrt. Und wieder hing das Fallbeil kurz über ihrem Nacken.      Aber dieses Mal…     „Auf frischer Tat ertappt, Onii-chan!“ Einen kurzen Moment sah Grey geschockt aus, als Green hinter einer Säule hervorkam und sich Ryô und ihm mitten in den Weg stellte, die Arme in die Hüfte gestemmt - mit finsterem, aber entschlossenen Gesichtsausdruck. Er war wohl zu freudetrunken gewesen, um ihre Aura zu bemerken; trotz aller Vorsicht nicht vorsichtig genug – auch seine Kleidung verriet ihn nun, denn er hatte sich nicht wieder umgezogen, trug noch seine offizielle, vornehme und golden verzierte Uniform, die er zu öffentlichen Gegebenheiten als vertretender Regimeführer zu tragen pflegte und der sogar Green ansah, dass sie nicht zu seiner Alltagsgarderobe gehörte. „Du hast dich aber sehr schick gemacht dafür, dass du nur ins Jenseits wolltest – und lange weggeblieben bist du auch!“ Grey spürte, wie Ryô ihm einen nervösen Blick zuwarf; ob er sich wohl fragte, wie Grey sich aus der Affäre ziehen würde? Ob er über eine Ausrede nachdachte? Und wenn ja, welche – welche war gut genug, um Green zu überzeugen, die die beiden wahrlich auf frischer Tat ertappt hatte? „Ich weeeeiß ja nicht, irgendwie finde ich, dass dieses Outfit besser auf eine… ach, keine Ahnung – Hochzeit passt?!“ Ryôs besorgter Blick nahm nur noch weiter zu – nahm allerdings einen geschockten Ausdruck an, als Grey antwortete: „Es stimmt, Ryô und ich kommen von einer Hochzeit.“ Ryô war absolut geschockt angesichts der ehrlichen Antwort, doch auch Greens Augen weiteten sich – ihr Bruder hatte es… zugegeben? Einfach so? Das… warf sie ein wenig aus dem Konzept. „Und warum bin ich nicht dabei gewesen? So als Hikari? Ich dachte, ich hätte einen hohen, politischen Posten?“ Jetzt könnte Grey so etwas sagen wie dass es keine Hochzeit von wichtigen Wächtern gewesen war; ein Freund womöglich… „Das stimmt, du bist eine wichtige Persönlichkeit.“ … was tat er denn nur?! „Und ich glaube sogar, dass ich eingeladen war! Ist der Wächter, der heute geheiratet hat, zufällig ein Wächter mit hellblauen Haaren? Etwa im selben Alter wie du? Er nannte Tinamis Namen, also… vielleicht ein Klimawächter?“ „Oh, du kennst Shitaya-san?“, antwortete Grey und nicht nur Green war überrascht über diese ruhige Antwort, auch Ryô konnte seine Überraschung kaum zurückhalten. Was tat sein Herr denn?! „Ja, ich… ehm, ich habe ihn in Tokyo getroffen, kurz bevor du mich entführt hast.“ „Das hat er mir gar nicht erzählt.“ „Er hat mich da auch zu seiner Hochzeit eingeladen.“ „Das hat er mir ebenfalls nicht erzählt.“ „Ich wäre eigentlich gerne dabei gewesen.“ Jetzt wunderte Green sich selbst über ihre ruhige Antwort; sie schüttelte den Kopf und befahl sich, sich darauf zu besinnen, was sie eigentlich vorgehabt hatte – ihren Bruder zur Rede zu stellen! Sie war doch wütend und sie hatte allen Grund dazu! „Ich wäre eigentlich wirklich gerne dabei gewesen, Grey! Warum war ich es nicht, wenn ich ach-so-wichtig bin?! Sowieso!“ Sie zeigte anklagend auf den immer noch recht ruhig und ernst wirkenden Grey: „Du verheimlichst mir etwas!“ Jetzt wurde es brenzlig und Ryô verstand einfach nicht, warum Grey nichts tat, um das Eskalieren zu verhindern. Die Hikari hatten doch ausdrücklich befohlen, dass Green nicht mit anderen Wächtern in Kontakt kommen sollte – wie war sie nur in Kontakt mit Shitaya gekommen?! – und daher war es doch nur ratsam, dass Green nicht zu viel über die anderen Wächter erfuhr, also sollte Grey doch versuchen, es ihr auszureden; ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken? Gut, unter den Hikari hatte es auch bei diesem Thema einige widersprüchliche Meinungen gegeben: Green war immerhin bei Grey, weil sie mit ihrem Wächterdasein vertraut gemacht werden sollte und daher war es doch nur positiv, wenn sie andere Wächter kennenlernte, Bande knüpfte… aber die Hikari, die Green absolut und vehement als Gefahr für das Wächtertum ansahen – eine Position, die sich verhärtet und deren Anhänger sich vergrößert hatten nach den Messungen von Greens Attacke – wollten das Wächtertum vor Green und ihrem womöglich negativen Einfluss schützen. Es war alles sehr verworren und sehr kompliziert momentan, aber der aktuelle Stand war doch, dass Green von den Dämonen abgeschirmt werden sollte in der Hoffnung, dass ihre Unreinheit verschwand, also warum…?! „Und ich verlange zu wissen, was es ist! Wo sind die anderen Wächter!? Warum sehe ich hier nie jemanden?! Warum hast du mir nie die anderen Inseln gezeigt!? Ich weiß, dass sie existieren!“ „Ich kann sie dir zeigen.“ Greens ausgestreckter Zeigefinger fiel herunter, genau wie ihre Kinnlade und Ryôs ebenfalls. Was--- „Ist es dein Wunsch, dass ich sie dir zeige? Morgen habe ich ohnehin einen Termin auf Sanctu Ele’Saces.“ Kurz schüttelte Green sich verwirrt, denn das hatte sie wohl nicht erwartet zu hören, genauso wenig wie Ryô. „Ehm… ja, klar, warum nicht!“     Greys Verhalten würde Ryô auch am nächsten Morgen noch als außerordentlich mysteriös bezeichnen und es wunderte den Tempelwächter sehr und beunruhigte ihn auch, dass Grey ihm nichts erzählte. Das war sehr untypisch für ihn: er verbarg eigentlich nie irgendetwas vor ihm. Ryô hatte nicht mehr als einmal nachgefragt, obwohl er es zu gerne getan hätte, aber Grey hatte ihn darum gebeten, geduldig zu sein; hatte gesagt, dass er natürlich genau wisse, woher Ryôs Verwunderung stamme, aber dass er ihm jetzt noch nichts erzählen könne. Noch ein wenig müsse er warten und das, obwohl Ryô seinem Herren genau angesehen hatte, dass dieser die Nacht über nicht viel geschlafen hatte – was auch immer er vorhatte, es hatte ihn wachgehalten und geplagt. Es war also ein spontaner Einfall gewesen, der hinter dieser doch sehr eindeutigen Missetat steckte. Er verweigerte einen Befehl der Hikari! Grey!    „Warum hast du mich gestern nicht mitgenommen? Ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich gerne dabei gewesen wäre! Es hätte mich wirklich total interessiert, wie eine Hochzeit bei den Wächtern aussieht… und Ilang und Tinami waren ja auch da!“, beschwerte Green sich, während sie ihre Pfannkuchen in kleine, runde Stückchen schnitt – zu Beginn hatte sie ihre Pfannkuchen mit Pflaumenmus mit den Fingern essen wollen, aber das hatte Grey ihr ausgeredet. Nur Dämonen aßen mit den Fingern! „Ich muss zugeben, dass ich nicht angenommen hatte, dass du daran Interesse hättest. Eine so große Hochzeit ist eine wichtige, politische Begebenheit und du hast schon sehr oft sehr deutlich verlautbart, dass die Politik dich von den vielen anderen Dingen, die du zu lernen hast, am wenigsten interessiert.“ „Du hättest mich fragen können“, antwortete Green mit einem kleinen Schmollmund. Am liebsten hätte sie verneint, aber sowohl Grey als auch sie wussten, dass das gelogen wäre: Politik interessierte sie wirklich nicht. „Das ist wahr und dafür entschuldige ich mich. Aber ohnehin hätte ich dich nicht mitnehmen können, immerhin konzentrieren sich unsere Lehrstunden allein auf dein kämpferisches Können und nicht auf deine politischen Fertigkeiten.“ „Um eine Hochzeit zu besuchen, muss man Lehrstunden absolvieren?“ „Aber natürlich. Ich hielt eine Hochzeit daher für etwas sehr viel für den Anfang, besonders im Anbetracht dessen, dass du noch so gut wie keine Wächter kennst und sie dich nicht! Stell dir das doch nur einmal vor, Green – du hättest die ganze Aufmerksamkeit an dich gerissen, sobald du durch die Tür gegangen wärst. Wäre das dem Brautpaar gegenüber fair gewesen?“ Ganz zu schweigen davon, dass Green die Hochzeit wahrscheinlich ruiniert hätte, schoss es Itzumi durch den Kopf, als sie sah, dass Green mal wieder die falsche Gabel benutzte und wieder einmal mehr Teller dreckig gemacht hatte, als es Not getan hätte. Aber gut, immer noch weniger als Pink – sie hatte nicht nur die Teller und ihr Gesicht mit Schokolade beschmutzt, sondern auch die Tischdecke. Schon wieder! 14 Jahre alt und nicht in der Lage, anständig zu essen; hatte Green sie denn gar nicht irgendwie erzogen?! „Wie viele Wächter werde ich heute denn eigentlich sehen?“ „Hm, um die 10.000 würde ich schätzen.“ 10.000 Wächter, die Green gar nicht sehen durften, dachte Ryô und bemerkte beim Nachschenken des Saftes, dass er schweißnasse Hände hatte – wusste Grey wirklich, was er tat? Grey hatte ihm doch gestern noch erzählt, wie angespannt die Stimmung im Jenseits war und sie hatte sich sicherlich nicht nur wegen einer Hochzeit entspannt… Die Anspannungen waren sicherlich für die Festlichkeiten nur pausiert gewesen. Grey selbst hatte angemerkt, dass er Mary ansehen konnte, dass sie nur so tat, als würde sie Spaß am Fest haben – und was war mit Grey selbst gewesen? Zu Beginn der Hochzeit war er ebenfalls noch angespannt gewesen und Ryô war nicht unbemerkt geblieben, dass seine Gedanken immer wieder von der Sorge um Green vernebelt wurden. Es hatte lange gedauert und viele von Ryôs beruhigenden Worte gebraucht, bis Grey sich einigermaßen hatte fallen lassen können. Grey hatte Ryô erzählt, wie nahe Green gerade einer Hinrichtung stand. Wie viele Hikari sie nun lieber so schnell wie möglich tot sehen wollten, weil sich doch gar keine Besserung abzeichnete… Die 47% nicht-definierbare Magie war genauso gedeutet worden wie von Grey befürchtet, also warum… „Boah, das sind ganz schön viele!“ … war es… gerade deshalb? „Wir sind ja auch ein ganzes Volk - oder dachtest du, das Wächtertum bestände nur aus den Wächtern, die du hier gesehen hast?“ Grey lachte ein wenig in sich hinein, während Ryô versuchte, seine Unruhe zu verbergen: „Wir kommen zwar nicht an die Dämonenanzahl heran, aber nach dem letzten Krieg zählt unsere Bevölkerung gut 25.000…“ „Was?! Wieso zum Teufel weiß ich davon nichts?! Gut, ich habe mir gedacht, dass wir schon mehr sind, aber so viele… und warum hab ich noch nie, also, mehr davon getroffen?!“ Grey lächelte; scheinbar gefiel es ihm, dass Green diese Fragen stellte und damit Neugierde an den Tag legte – Neugierde, die Grey gerne stillte, in ausgiebiger Form, die Green nicht überraschte, aber Ryô.   „Der siebte Elementarkrieg mündete in einer Evakuierung des Tempels; etwa 2000 Wächter lebten vor diesem Zeitpunkt hier im Tempel, die daraufhin nach Sanctu Ele’Saces evakuiert wurden; einige wenige allerdings auch in die Menschenwelt. Sanctu ist mittlerweile der größte unserer vier Stützpunkte, gefolgt von dem vormals größten Stützpunkt Espiritou del Aire – der siebte Elementarkrieg wurde mit der Auslöschung dieser Insel eingeleitet.“ „Ich habe eigentlich immer geglaubt, dass der Tempel das Zentrum ist.“ „Das ist er auch. Er ist das kulturelle und politische Zentrum – jedenfalls war er das bis vor 16 Jahren. Aber der Tempel war nie die größte Insel, sondern nur die älteste. An sich ist der Tempel nicht dafür ausgelegt, als Wohnsitz für viele Wächter zu dienen. Geringfügig wurde der Tempel zwar während dem Verlauf seiner Geschichte ausgebaut, damit hier mehr Wächter leben konnten, doch man wünschte, die Natürlichkeit und Heiligkeit des Tempels nicht zu schädigen, weshalb hier nur eine begrenzte Anzahl Wächter leben dürfen - nämlich nur die Hikari-Familie und die wichtigsten, hochrangigsten Wächter. Seit jeher ist es nur erlaubt hier im Tempel zu leben, wenn man entweder hier geboren worden ist oder einen Antrag gestellt hat. Der Tempel ist ein Heiligtum, das nicht beschmutzt werden darf. Das war auch der Ursprung der Tempelwächter: eigentlich…“ Grey blickte lächelnd zu Ryô, als bräuchte er seine Bestätigung – in Wahrheit aber hatte er die Unruhe seines Tempelwächters bemerkt und wollte ihn irgendwie aufheitern, ablenken: „… waren die Tempelwächter nämlich die Behüter des Tempels, bis sich ihr Aufgabengebiet über die Zeit hinweg veränderte.“ Ryô nickte und spürte da auch wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aufkommen, eine kleine Beruhigung seines besorgten Herzens… „Der Tempel ist ein Heiligtum? Warum leben wir dann hier?“ „Weil wir Mitglieder der Hikari-Familie sind. Die Hikari leben immer im Tempel.“ „Weil wir heilig sind?“, fragte Green mit einer hochgezogenen Augenbraue, die Grey wählte zu ignorieren. „Exakt. Wir sind dem Kern unserer Gesellschaft am nahesten; praktisch gesehen sind wir der Kern.“ Green könnte dazu einiges sagen und ihre Augenbrauen noch weiter anheben, aber das war wohl kein Gesprächsthema, bei dem Grey von seinem Standpunkt abweichen würde, weshalb Green das Thema wechselte: „Und die 2000 evakuierten Wächter? Was ist mit denen? Warum sind die nicht zurückgekehrt?“ „Der Tempel wurde von jenem Kampf sehr stark beschädigt; besonders die Wohnflügel. Es war nicht möglich, 2000 Wächter wieder aufzunehmen. Auch ich musste einige Monate auf Sanctu Ele’Saces verbringen, ehe ich hierher zurückkehren konnte.“ Green pikste lachend in die letzte Erdbeere, die noch auf ihrem Teller lag: „Die Wächter scheinen nicht so schnell zu bauen, huh? Ich meine, es ist mehr als zehn Jahre her seit diesem Kampf und immer noch ist hier einiges kaputt, hihi!“ Ryô unterdrückte den Drang, Grey einen vielsagenden Blick zuzuwerfen: war es wirklich so klug, darüber zu reden? „Wie gesagt, Green, der Tempel ist ein Heiligtum, also muss die Restauration mit besonderer Umsicht vonstattengehen.“ Eine notdürftige Lüge, aber scheinbar glaubte Green sie – oder interessierte sich nicht genug für das Thema, um darüber zu stolpern, dass diese Worte nun einmal nichts anderes als eine Lüge waren.   Der Tempel war zwar ein Heiligtum und die Restauration war mit viel Vorsicht gehandhabt worden, aber sie war nach dem Krieg die oberste Priorität gewesen und hatte nicht mehr als fünf Jahre in Anspruch genommen…    „Und, Green? Noch Fragen? Wir müssten sonst nämlich langsam los.“ Wie um deren Eile zu unterstreichen, legte Grey auch schon sein Besteck von sich – Green schien es dann plötzlich sehr eilig zu haben, denn kaum, dass Greys Besteck auf dem Teller lag, war sie auch schon aufgesprungen und war zusammen mit Pink schon im Begriff, um den Tisch zu sprinten, obwohl ihr Bruder noch seine Medizin austrinken musste, ehe sie aufbrechen konnten. „Ja, ich habe wirklich noch eine Frage – du hast vorhin die Anzahl der Wächter erwähnt! Wie viele Dämonen gibt es denn?“ Angesichts der bitteren Medizin hatte sich Greys Gesicht ohnehin wie jeden Morgen bereits verdunkelt, aber bei dieser Frage wurde es nur noch dunkler, als würden sie plötzlich über den Untergang der Welt sprechen. „Zu viele.“ Green stemmte grinsend die Hände in ihre Hüften: „Bekomme ich auch eine Zahl?“ „Sie ändert sich ständig, da sie sich auch gegenseitig umbringen und gegeneinander Krieg führen. Die letzte Hochrechnung ist eine Weile her, aber da waren es 50.000.“ „Boah, die sind aber fleißig! Das sind ja doppelt so viele wie wir!“ Grey gab Ryô das geleerte Glas Medizin zurück, schluckte noch eine Tablette und antwortete düster: „Vermehren sich wie die Ratten, diese Mistviecher.“ „Grey-chan ist schon wieder ein Rassist!“, verkündete nicht Green mit einer quietschenden Stimme, sondern Pink, die allerdings trotz ihrer harten Wortwahl einfach weiterhin auf und ab hoppelte, sich dabei die Schokolade von den Mundwinkeln leckend. „Besser hätte ich es gar nicht sagen können!“, pflichtete Green Pink bei, ehe Grey etwas erwidern konnte; stattdessen sah er mit hochgezogenen Augenbrauen dabei zu, wie Pink und Green einen Handschlag austauschten. „Ich glaube wirklich, dass wir aufbrechen sollten, Green.“ Aber bevor Green dem zustimmen konnte, mischte Pink sich ein: „Darf ich auch miiiiit?“ Grey musste sich selbst eingestehen, dass er am liebsten ablehnen würde, aber die großen, strahlenden Augen seiner Cousine waren eindeutig ein zu effektives Mittel… „Also…“ „Mir wäre es lieber, wenn du hierbleiben würdest, Pink.“ Die Angesprochene sah Green sofort bestürzt an – sie hatte schon Tränen in den Augen – aber auch Grey sah seine Schwester verwirrt an. Die Verwirrung hielt jedoch nicht lange, denn die Freude kam zu schnell und zu überrumpelnd: „Ich möchte gerne ein wenig Zeit alleine mit meinem Bruder verbringen. So ein Geschwister-Ausflug eben.“ Grey hätte Green wahrscheinlich am liebsten in diesem Moment stürmisch umarmt, während Pink einfach nur weinerlich und schmollend aussah, aber nachgab – Itzumi himmelte verärgert mit den Augen, Ryô betrachtete das ganze nervös, beinahe den absoluten Anfängerfehler machend, als er beinahe ein Glas fallen gelassen hätte. Eine Nervosität, die Ryô doch noch einmal dazu brachte, sich an Grey zu wenden, sobald Pink und Green den Speisesaal verlassen hatten, damit Green sich umziehen konnte. Grey strahlte immer noch bis über beide Ohren, kehrte aber in die Wirklichkeit zurück, als er den Blick seines Tempelwächters sah. „Oh, Ryô, wie besorgt du aussiehst! Das musst du wirklich nicht sein…“ „Ich weiß, ich darf eine solche Frage nicht stellen, aber, Grey-sama, Ihr… wisst wirklich, was Ihr tut? Ihr seid Euch darüber im Klaren? Eure Sicherheit… die Konsequenzen, die es für Euch bedeuten könnte?“ Grey hätte allen Grund gehabt, um wegen diesen Fragen verärgert zu sein, aber stattdessen legte er seine Hand aufmunternd auf die Ryôs, die bis jetzt auf dem Tisch gelegen hatte und blickte ihn mit einem aufheiternden Lächeln an: „Ich danke dir für deine Fürsorge, mein Freund, aber ich weiß genau, was ich tue.“     „WOAH! Die Wächter müssen in Geld schwimmen!“ Dieser Ausdruck der Überraschung, nein, der Überwältigung, war das erste, was Green herausbrachte, nachdem sie ein paar Sekunden geschockt war von dem, was sich ihr bot: die beiden Geschwister waren zusammen mit Ryô auf einem Hügel gelandet, von wo aus Greens strahlende Augen einen wunderschönen Ausblick hatten über eine wahrlich gigantische, ebenso wie der Tempel schwebende Insel in einem Meer aus Wolken. Aber diese Insel war um einiges größer und wurde auch nicht von einem einzigen Gebäudekomplex ausgefüllt, sondern von einer ganzen Stadt. Eine weiße Stadt, die sich unter Green erstreckte, gelegen an einem großen See, der die gesamte westliche Hälfte der Insel einnahm und dessen blaues Wasser wie kristallisiert in der hellen und warmen Sonne strahlte. Von Winter nichts zu spüren; der Wind war angenehm warm und trug eine frische Luft zu ihnen empor, die nach Blumen roch – haha, kein Wunder: der gesamte Hügel, auf dem sich die runde Teleportationsplattform befand, war fast ausnahmslos bedeckt mit weißen, gelben und blauen Blumen, deren Namen Green fremd waren. Über ihrem Kopf war eine gläserne Kuppel in denselben Farben, die dank der strahlenden Sonne farbiges Licht auf den Boden warf – ein wahrlich schöner Anblick und Green hatte fast schon kindischen Spaß daran, die farbigen Reflektierungen auf ihrer Haut zu beobachten, bis sie unter der Kuppel hervorkamen und die Spitze einer sich nach unten in die Stadt schlängelnden Treppe betraten, die ebenfalls in Weiß gehalten war. Wie schön die Stadt war! Während sie näher herankamen, entdeckte Green, dass diese Wächterstadt sie an Fotos von Venedig erinnerte, denn diese Stadt besaß keine breiten Straßen, sondern viele kleine, von weißen Gehwegen gesäumten Kanäle, deren helles Wasser wohl aus dem See stammte, der, im Vergleich zur Stadt und der Insel, mehr wie ein Meer aussah. Auch wenn die Kanäle um einiges flacher waren als in Venedig, konnte man die Stadt mit seinen verschnörkelten Brücken fast mit ihr verwechseln – wären da nicht die eindeutigen Anzeichen darauf, dass diese Stadt magisch war; am östlichen Rand der Insel entdeckten Greens überraschte Augen tatsächlich ein schwebendes Gebäude gleich neben der eigentlichen Hauptinsel! Von Weitem glaubte Green zu sehen, dass eine lange Treppe zu diesem eigenartigen, fliegenden Gebäude führte. Was das wohl war? Das Gebäude verschwand nach einigen Treppenstufen allerdings hinter der Stadt und schnell wurde Greens Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen: wie niedlich die Häuser aussahen! Green war nicht gerade ein Experte für Architektur, aber sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen, nicht einmal das Material, aus dem die Häuser gemacht worden waren, konnte sie bestimmen. War es Stein? Aber warum wirke es dann im Licht der Sonne leicht blau und golden? Hoch waren diese hübschen Häuser nicht gebaut worden; keins war höher als zwei Stockwerke und obwohl sie alle aus demselben Stein waren, so waren sie alle unterschiedlich gebaut. Balkone mit Blumen und Kräutern streckten sich Green entgegen, von den hohen Säulen hingen blaue Glaslampions und gefüllte Blumenkörbe herunter… und dann… und dann… Green schwirrte der Kopf; es war zu viel, sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte! Und dann waren da natürlich die Wächter. Ihresgleichen, obwohl Green gar nicht wusste, ob sie sie so nennen konnte, sie fühlte sich nämlich gerade nicht wie eine von ihnen, sondern wie ein Mensch, der in eine Märchenwelt geworfen worden war. So viele Wächter! Ab und an hatte Green ja schon welche im Tempel gesehen und sie hatte die Anzahl der Wächter auch von Grey gehört, aber dennoch verschlug ihr der Anblick von so vielen Wächtern auf einmal die Sprache. Vor Sprachlosigkeit war Green stehengeblieben und starrte die Wächter nun ganz unverhohlen an; sie konnte gar nicht anders. Wie zufrieden sie alle aussahen! Kaum einer von ihnen ging alleine oder sah irgendwie missmutig aus; alle schienen ausgelassen und gut gelaunt zu sein, ob sie nun zusammen schlenderten, im Schatten der hellgrünen Bäume saßen und sich in kleinen Gruppierungen   gegenseitig etwas vorlasen oder einfach nur dastanden, um miteinander zu reden, sich auszutauschen. Tempelwächter schlängelten sich hier und dort im eiligen Treiben durch die anderen Wächter; Wächterfamilien, die Hand in Hand gingen, das Kind zwischen ihnen oder auf ihren Schultern. Alle sahen irgendwo glücklich und zufrieden aus, niemand war ausgeschlossen oder ging alleine…und sofort fiel Green auf, dass nicht nur die Hikari in Farbübereinstimmung lebten: die anderen Wächter taten es auch. Deutlich konnte man anhand der Kleiderfarbe erkennen, wer welches Element besaß. Auch die kleinen Wächter waren klar zuzuordnen. Sie trugen zwar alle eine weiße Uniform, aber diese war versehen mit einer Schleppe, die in der jeweiligen Elementfarbe gehalten wurde; hier und dort leuchteten trotz der ohnehin schon sehr deutlichen Elementerkennung die Wappen der Elemente auf. Na, jetzt verstand Green, warum ihr Bruder so erpicht darauf gewesen war, dass Green eines seiner weißen Kleider hatte tragen müssen… Zu Beginn war die Hikari zu erstaunt gewesen, um sich dem wachsenden Getuschel und den erstaunten Augen bewusst zu werden, die langsam anfingen, sich der fremden jungen Frau an Greys Seite zu widmen. Vielleicht hätte sie diese Aufmerksamkeit aber auch so nicht sich selbst zugeordnet, zu sehr unterschätzte sie noch, was für eine Wirkung eine Hikari auf die anderen Wächter hatte – wahrscheinlich war es nicht einmal eine Unterschätzung, sondern einfach nur pures Unwissen, denn das Lesen der Tagebücher war Green wie das Lesen von Romanen vorgekommen; kaum etwas von dem Gelesenen hatte sie der Wirklichkeit zugeordnet, obwohl sie jetzt herausfand, dass das alles sehr wohl der Wirklichkeit entsprang – und dass sie der Mittelpunkt der Wirklichkeit der Wächter war.  Immer aufgeregteres Getuschel breitete sich um Grey, Green und Ryô herum aus; Green wurde mulmig zumute. Sie fürchtete sich nicht davor, angesehen zu werden – sie pflegte immer selbstbewusst zu sagen, dass sie ja hübsch war und wenn man sie anstarren wollte, dann sollte man doch – aber an diesem Selbstbewusstsein mangelte es ihr nun. Die erschrockenen Gesichter, die Verwirrung über ihr Auftreten machte sie nervös; Kinder zeigten auf sie, wurden von ihren Eltern ermahnt – nein, sie zeigten nicht auf sie, sie zeigten auf ihr deutlich auf der Brust liegendes Glöckchen… und da war sie wieder, die gleiche gerunzelte Stirn, die sie auch schon im Jenseits gesehen hatte und obwohl die Wächter leise miteinander sprachen, konnte sie förmlich spüren, wie Green die Wächter wegen ihres Aussehens verwirrte. Braune Haare? Und waren das nicht recht dunkle Augen für eine Hikari…? War sie es wirklich? War sie wirklich eine Hikari; ihre Hikari? Grey war zusammen mit Green und Ryô stehengeblieben, als ein Wächter auf sie zukam: ein Wächter, gekleidet in einer eleganten, vornehmen, blauen Uniform, so außerordentlich hübsch, dass Green ihn kurz für eine Frau gehalten hatte, mit seinem wasserstoffblonden Haar und einem gepflegten, absolut makellosen Gesicht.   „Ich grüße Euch, Grey-sama.“ Er verneigte sich vor ihrem Bruder, was Green ein wenig verwirrte; der Wächter sah aus, als wäre er selbst nicht gerade von niedrigem Rang – warum verneigte er sich vor Grey? „Ich grüße Euch ebenfalls, Pelagius-san.“ Grey lächelte zwar, aber dennoch… irrte Green sich oder war er nervös? Wegen dem Getuschel? Wegen der Aufmerksamkeit? „Bitte verzeiht meine womöglich unverschämte Frage, Grey-sama…“ Mein Gott, was für eine Höflichkeit! „… aber ist die sich in Eurer Begleitung befindende Wächterin…“ Jetzt schienen alle Wächter, inklusive Grey, die Luft anzuhalten. „… die Erbin des Lichts?“ Grey atmete wieder ein, nahm sogar einen tiefen Atemzug, ehe er Green kurz einen Blick zuwarf. „Ja, es ist Kurai Yogosu Hikari Green. Tochter Whites, meine Schwester – und die Trägerin des Elements des Lichts. Sie ist wieder zu uns zurückgekehrt.“       Kapitel 35: Rettender Engel ---------------------------                     Als Grey und Green wie immer angefangen hatten sich zu streiten, sobald Grey sie darum bat, ein weißes Kleid anzuziehen, da hatte alles noch nach einem ganz normalen Tag ausgesehen. Green protestierte, weil sie ein weißes Kleid tragen sollte und genauso normal war es auch, dass Grey nicht nachgeben wollte. Seine Reden, dass Green als Hikari nun einmal an diese Farbe gebunden war und dass sie diese Farbe doch auch sehr gut kleidete, waren mittlerweile fest mit Greens Antwort verknüpft, dass sie sich doch gerne „blamieren“ wollte, wenn man sich darüber aufregen musste, dass sie ein schwarzes Kleid trug. Ungewöhnlich war es allerdings gewesen, wie vehement Grey auf ein weißes Kleid bestanden hatte. Er hatte sie darauf hingewiesen, dass er sie nicht mitnehmen würde, wenn sie nicht eines der Kleider anziehen würde, die er für sie geschneidert hatte. Green hatte nur über den felsenfesten Willen ihres Bruders gestutzt, denn eigentlich gab er meistens nach – im Gegensatz zu Ryô, der wusste, was hinter dem Gebären seines Herren lag und auch die Hand, die Grey auf Ryôs gelegt hatte, hatte seine Sorge um das Vorhaben seines Freundes nicht legen können. Grey hatte gewollt, dass Green erkannt wurde. Ohne Probleme hätte er sie tarnen können; wenn ihr Glöckchen unter ihrem Kleid verborgen lag, dann erkannte sie niemand als Hikari – und ihre Aura war noch zu schwach, um eindeutig dem Element des Lichtes zugeordnet werden zu können. Die Bewohner von Sanctu Ele’Saces hätten sich wahrscheinlich nur darüber gewundert, wer sich da in der Begleitung Greys befand, wären aber niemals selbst zu dem Schluss gekommen, dass dieses Mädchen ihre Hikari war. Die Hikari, von der sie alle geglaubt hatten, dass sie tot war. Die Hikari, die eigentlich weiterhin „angeblich tot“ hätte bleiben sollen. Grey brach einen so direkten Befehl der Hikari, dass Ryô sich wunderte, dass nicht sofort ein Blitz eingeschlagen war, als Grey allen Wächtern seine Schwester vorstellte. Aber kein Blitz war eingeschlagen. Die Sonne strahlte immer noch vom blauen Himmel herab und es war sogar kurz ganz still geworden. Fast gespenstisch still und Ryô sah Green an, dass sie nervös wurde. Auch Grey sah Ryô es an, aber der unterdrückte seine Nervosität gekonnt. Im Gegensatz zu Green hatte er nämlich schon politischen Unterricht erhalten. Er wusste, wann und wie er Worte richtig einsetzen musste. Er hatte ein natürliches Gespür dafür – aber hatte er wirklich das richtige getan, als er Green den Wächtern vorgestellt hatte? Diese Nachricht… dass ihre Hikari von den Toten auferstanden ward… würde sich wie ein Lauffeuer ausbreiten. Die Hikari würden es nicht verhindern können – es war bereits zu spät: Ryô bemerkte aus den Augenwinkeln, wie ein Kollege von ihm sich unauffällig, wie die Tempelwächter es nun einmal von Natur aus sein mussten, von der Menge löste. Die Ausbreitung war bereits im Gange. Wie sagte man so schön im Wächtertum? Wusste es erst einmal die Küche – wo nämlich die meisten Tempelwächter auf einem Haufen versammelt waren – dann wussten es danach alle. Die erste Reaktion auf Greys Worte waren aufgerissene Augen: Schock, Überraschung, verwirrte Augenpaare, die alle vom ernsten Grey zur ebenfalls verwirrten, aber auch angespannten Green huschten – und dann richteten sich die verschieden gefärbten Augenpaare Richtung Boden, als sie sich verneigten. Einer nach dem anderen, bis sie alle ihren Kopf gesenkt hielten; sogar der hübsche, hochrangige Wächter, der vor Grey und Green gestanden hatte, verneigte sich nun ehrfürchtig – vor Green. „Willkommen, Hikari-sama!“ Green hatte das Gefühl, dass sie nahe einem nervlichen Kollaps war; in ihrem Kopf schwirrte alles – hätte Grey sie nicht warnen können?! Sie wusste überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte?! „Grey, was soll ich machen?!“, flüsterte sie auf Japanisch, in der Hoffnung, dass nicht allzu viele sie verstanden, während es sogar noch mehr Wächter wurden. Sogar Kinder verneigten sich vor ihr! Oh Gott, sie mochte das nicht, sie mochte das ganz und gar nicht--- „Mama, warum hat Hikari-sama denn keine weißen Haare?“ Diese kleine Stimme eines Kindes, das diese unschuldige, aber leider zutreffende Frage gestellt hatte, erreichte trotz ihrer geringen Lautstärke nicht nur Greys und Greens Ohren – sie hatte alle erreicht, die Frage, die wahrscheinlich alle hatten stellen wollen. Aber niemand hätte gewagt, es zu tun und die Mutter des kleinen blauhaarigen Mädchens schien sehr beschämt zu sein, dass ausgerechnet ihre Tochter diese unerhörte Frage gestellt hatte, denn hastig warf sie ihrem Kind die Hand vor den Mund.  Grey, der ahnte, was Green vorhatte, wollte sie gerade an der Hand nehmen, doch schon war es zu spät. Sie hatte sich von ihm gelöst, war an dem hübschen Wächter vorbeigegangen – der sich wie die anderen Wächter wieder aufgerichtet hatte und dem ganzen Spektakel überaus neugierig folgte –  und bückte sich nun, um mit dem Mädchen auf gleicher Höhe zu sein. „Wie heißt du?“ „Hi-Hikari-sama… Ich bitte im Namen meiner Tochter vielmals um Verzeihung…“, antwortete ihre Mutter auf Greens Frage, was die Hikari zuerst zu einem verwunderten Blick brachte, dann jedoch grinste sie: „Ich hatte Ihre Tochter eigentlich nach dem Namen gefragt, aber sie kann schlecht antworten, wenn Sie Ihre Hand vor ihren Mund halten.“ Umgehend, als wäre es ein Befehl gewesen, löste die Frau ihre Hand von ihrer Tochter und das Mädchen antwortete ein wenig eingeschüchtert auf Greens Frage: „I-Iria…“ „Okay, Iria. Du fragst dich also, warum ich keine weißen Haare habe? Die Antwort ist ganz einfach: weil die Farbe Weiß mich ebenso wenig mag wie ich sie!“ Das Mädchen sah sie mit großen Augen sprachlos an und Green fügte grinsend hinzu, eine Strähne ihrer Haare hochhaltend: „Außerdem mag ich meine Haare und bin froh, dass sie nicht weiß sind! So sieht man mich wenigstens immer unter den ganzen weißen Schafen!“ Dann stand sie auf und richtete das Wort an die Mutter des Mädchens: „Eine süße Tochter haben Sie da. Passen Sie gut auf sie auf! Einen schönen Tag noch!“ Mit diesen Worten und einem großen, zufriedenen Lächeln drehte sie sich zu Grey um, der aussah, als hätte er einen Geist gesehen. So viel zu politischer Professionalität. Green dagegen schien sich richtig befreit zu haben; sie hielt ihre Hände auf dem Rücken zusammen und tänzelte an Greys Seite weiter, ohne auf den Blick zu achten, den Grey und Ryô sich zuwarfen – ein Blickaustausch, bei dem Ryô bewusst wurde, dass das von Greys Seite aus nicht geplant gewesen war.  Nun, wenn Grey gewollt hatte, dass Green für Aufmerksamkeit sorgte, dann war ihm das auf jeden Fall gelungen: Pelagius war nicht der einzige Wächter, der sich sofort dazu aufmachte, die Nachricht zu verbreiten. Die Hikari war zurückgekehrt! Und was für eine Hikari! „Green, was hast du dir denn dabei gedacht?“ „Was denn? Ich habe nur meine Meinung gesagt.“ „Ja, und wie...!“ „Ich habe eigentlich gedacht, du würdest mich loben! Ich meine, habe ich es nicht ganz diplomatisch geklärt, wie ich ihr da noch einen „Schönen Tag“ gewünscht habe? Ich fühle mich wie eine richtige Prinzessin, haha!“ Grey wollte sich schon aufmachen und zu einer Standpauke ansetzen, als Green ihm zuvorkam: „Es gibt da etwas, was ich dich fragen muss…“, begann sie und Grey und Ryô sahen ihr an, dass ihr Thema nichts mit irgendwelchen Prinzessinnen zu tun hatte; sie war ernst geworden – und beide konnten sich denken, weshalb. Ihr Blick, der auf die spielenden Kinder auf einem Feld rechts von ihnen gerichtet war, war zu eindeutig. „Was ist es, Green?“ Wollte Grey die Antwort wirklich hören? Er musste zugeben: er fürchtete sich ein wenig davor. „Du hast mir, als wir uns kennengelernt haben, erzählt, dass mein Element versiegelt wurde und ich in das verdammte Waisenhaus kam, weil die Dämonen mich umbringen wollten. Also dass das Ganze zu meiner Sicherheit gemacht wurde. Aber ich verstehe etwas nicht…“ Sie ließ ihren Blick über das blanke Wasser des Sees gleiten, der sich unter ihnen erstreckte, denn sie gingen gerade über eine breite Brücke – links und rechts von ihnen war nun, nachdem sie die Felder hinter sich gelassen hatten, das blaue Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte. Wenn man hier stand und den Wind in den Haaren spürte, konnte man kaum glauben, dass man sich im Himmel befand. „… warum hat man mich nicht wieder abgeholt?“ Greens Hand auf dem steinernen Geländer der Brücke verkrampfte sich; der Schmerz war so deutlich zu erkennen, obwohl Green Grey den Rücken zugekehrt hatte. Den Schmerz, den er auch selbst in sich spürte, immer gespürt hatte, wenn er hatte sagen, lügen müssen, dass seine Schwester tot war. Der Schmerz, der ihn immer übermannt hatte, wenn er sich hatte einreden wollen, dass seine Schwester wirklich tot war, damit die Lügengeschichte leichter zu ertragen war; nein, das Getrennt-sein von Green. „Warum hat man mich im Waisenhaus gelassen, wenn es doch einen Bannkreis gibt, der die Dämonen in ihrer Welt einsperrt und wenn es hier auch kraftvolle Bannkreise gibt?“ Green wandte sich nun herum, Grey ernst in die Augen blickend: „Warum, Grey? Du hast mir selbst erzählt, dass es keinen sichereren Ort gibt als den Tempel! Warum also war ich nicht hier? Bei dir? Bei Mutter? Warum war ich alleine?!“ Voller Verzweiflung, die Grey nur zu gut nachempfinden konnte, nahm sie seine Hand und zwang ihn dazu, seine Schwester anzuschauen, obwohl er versuchte, ihrem Blick auszuweichen. „Grey! Sag mir den Grund!“ Es war zwar nicht so, dass sie es bereute als „Mensch“ aufgewachsen zu sein, aber die Jahre im Waisenhaus gehörten gewiss nicht zu ihren Schönsten. Und was hatte das für einen Grund? Sie war immerhin die Hikari, damit ranghöchste Wächterin. Stand es ihr etwa nicht zu, in diesem Paradies aufzuwachsen? Sicherlich gab es unzählige Wächterkinder, die ihre Eltern dank des Krieges verloren hatten und von anderen aufgezogen worden waren – warum nicht Green?! „Grey… Onii-chan… Bitte!“ Noch inständiger als zuvor sah sie ihn an und diesmal wich er ihrem Blick nicht aus. Er sah unheimlich elendig aus; Green sah ihm an, dass er darunter litt, was auch immer es war. Dennoch holte er tief Luft, achtete nicht auf Ryôs alarmierten Blick und…: „…Das hängt alles mit der Vorhe-“ Greens Augen hatten sich schon geweitet – würde sie nun endlich die Antwort auf alle Mysterien finden? Würde sie es endlich erfahren? Den wahren Grund? – als sich auch schon herausstellte, dass die Mysterien noch eine Weile verschwiegen bleiben würden, denn Grey kam nicht weit. Eine junge Frau war so stürmisch an Green vorbeigerannt, dass diese sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, aber ihr Bruder war da, um sie aufzufangen, ehe sie die Balance gänzlich verlor.  „SHITAYAAA!“ Empört drehte Green sich nach der Übeltäterin herum und sah, wie die Wächterin einem blauhaarigen Wächter in die einladenden Arme lief. Ah, das war ja dieser Shitaya, der eben erst geheiratet hatte! Also war die Wächterin, die er jetzt mit Leichtigkeit auf seine Arme hob und ein paar Mal im Kreis herumdrehte, die Frau, die er gestern geheiratet hatte? „Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht, Shiya-chan! Du warst so lange weg und das nur mit halber Mannschaft! Ich dachte, dir wäre etwas zugestoßen!“ Ganz offensichtlich war sie seine Ehefrau, ansonsten würde er ihr wohl kaum einen Kuss auf jede Wange hauchen. Die beiden schwebten in einem so weit entfernten Himmel, dass sie absolut gar keine Augen für Green und Grey – oder überhaupt für ihre Umgebung - hatten. „Und das auch noch in unserer Hochzeitsnacht! Unserer Hochzeitsnacht! Die vermaledeiten Dämonen haben uns unserer Hochzeitsnacht beraubt!“ „Keine Sorge, Säil, ich habe sie dafür extra hart durch die Mangel genommen“, erwiderte Shitaya, dabei sehr stolz aussehend. „Na, das hoffe ich ja wohl - etwas anderes erwarte ich auch nicht von meinem Mann!“ Kurz blickten sich die beiden mit überaus strahlenden Augen an, bis sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht des Jeweiligen ausbreitete und Shitaya seine Frau noch einmal empor schwang: „Wir sind verheiratet!“ „Mann und Frau!“ „Endlich!“ „Ah, ich sollte nicht so stürmisch sein - unser Kind!“ „Dummkopf, ich bin doch erst im vierten Monat - unsere Tochter kann das ab!“ Mit einem unsicheren Lächeln wandte Green sich von diesem glücklichen Pärchen ab, ehe sie noch eifersüchtig wurde. Die Luft um sie herum schien ja rosarot zu werden, so verliebt waren sie! „Hattest du nicht gesagt, du wolltest mit Shitaya-san sprechen wegen der Hochzeit?“, fragte Grey, der die beiden genau wie Green beobachtet hatte und sich nun auch zusammen mit Green abwandte. „Ah, nein, ich glaube, ich lass es - die beiden Turteltauben sind ganz offensichtlich in ihrer eigenen Welt.“ Auf Greens Gesicht war ein Lächeln zu sehen, aber deutlich war erkennbar, dass es mehr gezwungen war als alles andere. Sie war wirklich ein wenig eifersüchtig, anders als Grey, der bei diesen offensichtlichen Liebesbekundungen der Frischvermählten eher errötete, obwohl er das Paar erst gestern auf dem Höhepunkt seiner Liebe erlebt hatte. Gefolgt von dem seufzenden Ryô hatten die beiden Geschwister nun die Brücke überquert, wodurch sie auf einem kleinen Platz angekommen waren, in dessen Mitte ein hohes Straßenschild stand, das in zwölf Richtungen zeigte - zwölf Richtungen, die alle eine andere Farbe hatten, wie Green auffiel, und auch ohne Grey zu fragen verstand sie, was die Farben bedeuteten: jede Straße war nach einem Element benannt und die jeweiligen Schilder waren in den Farben des Elements gehalten. Die Straße, auf der sie momentan entlanggingen und scheinbar auch die ganze Zeit gegangen waren, war die Straße des Lichtes gewesen, die auch weiter geradeaus ging, mit dem Vermerk, dass diese Straße zur Zentrale Sanctu Ele’Saces führte. Unter den anderen Schildern standen auf kleinen herunterhängenden Schildern Orte geschrieben wie „Sanctuarian“, „Ruhestätte“, „Kriegsgericht“, „Stadium“… „Was ist denn „Sanctuarian“?“    „Das ist unser Hospital. Das größte unseres Reiches. Alle Inseln besitzen zwar kleine, medizinische Abteilungen, aber das Sanctuarian ist die Zentrale der Medizin. Es ist auch das älteste der hier stehenden Gebäude.“ Green nickte und sah in die Richtung, in die das hellblaue Schild zeigte. Ah, lag in dieser Himmelsrichtung nicht das fliegende Gebäude? War das das Sanctuarian? „Und wo wollen wir hin?“ Grey sah ebenfalls auf das Straßenschild und obwohl Green sich ziemlich sicher war, dass sie nicht dorthin wollten, wo Grey hinsah, sprach sie ihn dennoch an, denn sein ernster, etwas dunkler Blick, mit dem er das Schild „Ruhestätte“ bedachte, blieb ihr nicht unbemerkt. „Liegt dort dein Vater?“ „Hast du vielleicht etwas dagegen… wenn wir…? Wir hätten noch ein wenig Zeit…“ Ohne zu antworten, ging Green in die Richtung des Friedhofes. Grey blieb kurz stehen, wechselte einen Blick mit Ryô, dann aber breitete sich ein ruhiges, leicht trauriges Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er wusste, warum ihm seine Schwester so viel bedeutete… und warum er nicht wollte, dass sie starb.     Greys Vater war einer der Wenigen, die auf menschliche Art beerdigt waren. Wenn man es genau nahm: der Einzige. Der graue Grabstein stand unter einer hohen Eiche und von dort aus konnte man auch den Rand der Insel sehen, gelegen neben einem hohen, gigantischen Kuppelgebäude, welches wohl der eigentliche Friedhof war - die Grabstätte von Greys Vater lag etwas abgesondert von diesem Gebäude und kaum ein Laut der Stadt drang herüber. Im Schatten der Eiche war es kühl und der Himmel, der nur wenige Meter von dem Grab entfernt abrupt begann, gab einem das Gefühl, am Rand eines ruhigen Meeres zu stehen. Auf dem grauen Grabstein saßen Vögel aus Stein, bemalt mit blauer Farbe, die auf einen Text heruntersahen, der auf Englisch geschrieben war, wie Green mit einem Stirnrunzeln bemerkte: es hätte ebenso gut ein Menschengrab sein können, wenn nicht das Wappen der Windwächter, der Kaze, eingraviert gewesen wäre. Warum er wohl auf menschliche Art… in der Erde zur Ruhe gebettet worden war? Fernab von den anderen Wächtern? Doch Greens volle Aufmerksamkeit gehörte den hellblauen Blumen, die mit einer weißen Schleife zusammengebunden vor dem Grab lagen und sich sachte im Wind wogen. Obwohl Grey gedankenverloren auf den Grabstein blickte, hatte er Greens Blick bemerkt und erklärte: „Mutter kommt jeden Tag. Offensichtlich war sie heute auch schon hier…“ „Sie muss ihn sehr geliebt haben.“ „Ja. Sie hat mir immer sehr liebevoll und lebendig von ihm erzählt. Ich wünschte, ich hätte Vater…“ Ein Windhauch wehte Grey die Haare vor die Augen, so dass Green seinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte. „…ebenfalls kennengelernt.“ Grey hatte die Worte gerade ausgesprochen, als Green ihre Finger um seine kalte Hand herumlegte und sich an den nun etwas verwundert dreinsehenden Grey lehnte, so dass ihr Kopf auf seiner Schulter lag. „Ich auch.“ Grey antwortete nicht, doch Green spürte, dass er ihre Hand ein wenig fester drückte, während die Anspannung seines Körpers von ihm fiel. Ohne etwas zu sagen, lehnte er seinen Kopf gegen den ihren und ein paar Meter hinter ihnen stehend seufzte Ryô ungehört; ein Hauch von sachter Traurigkeit, aber auch von Berührung war in diesem kaum hörbaren Laut zu vernehmen. Ob Green wusste, wie viel Grey dies bedeutete? Ihre Worte, dieser Moment – ihre Anwesenheit an seiner Seite? Nein, wahrscheinlich wusste sie es nicht; ihre Augen waren gedankenverloren auf die Jahreszahlen gerichtet, die von Kanoris Geburt und seinem Tod erzählten. Der Arme war gerade einmal zwanzig geworden, jünger als Grey jetzt. „Der Dämon, der die beiden getrennt hat, muss ein richtiges Arschloch gewesen sein“, zischte Green säuerlich - und zum ersten Mal korrigierte Grey sie nicht wegen ihrem Gebrauch eines Schimpfwortes. „Er war schlimmer.“   Wieder einmal befand sich eine gläserne Kuppel aus buntem Glas über den beiden Geschwistern, als die beiden die runde Eingangshalle der Sanctu Ele’Saces‘ Zentrale betraten und wieder kam Green nicht aus dem Staunen heraus. Schon der Platz vor der Zentrale hatte sie in Staunen versetzt: ein riesiger, runder Platz hatte vor der Zentrale gelegen, von wo aus alle 12 Hauptstraßen ab- und hinführten, mit der Straße des Lichts als der längsten. Ehe sie die Zentrale betreten hatten, hatten sie einen großen Springbrunnen umrunden müssen und waren dann einer Passage gefolgt, die gesäumt wurde von steinernen Statuen von Wächtern, die in Lebensgröße ihre Waffen wie ein Dach über ihnen hielten. Wahrscheinlich hätte Green die steinernen Gesichter erkennen müssen, aber sie hatte sie nur erstaunt angestarrt, wie sie jetzt auch die marmorne Eingangshalle anstarrte, die dank des Deckenfensters erfüllt wurde mit warmem Licht. Auch in der Mitte der großen Eingangshalle befand sich ein Springbrunnen, geformt aus Statuen, die Wächter zeigten, die sich vor der großen Statue in der Mitte verneigten - eine Hikari, wie deutlich an dem Glöckchen zu sehen war und dem Regelbuch, das sie in der Hand hielt. Vor dem Springbrunnen waren die Wappen der Wächter in den Boden eingraviert worden, mit dem Schriftzug:    „Vereint im Wunsch zu behüten“   Vor dem Springbrunnen versammelte sich eine kleine Gruppe von jungen Wächtern – sie konnten nicht älter als acht sein. Ein älterer Wächter zeigte auf eine der sich verneigenden Statuen und fragte, ob eines der Kinder ihm sagen könnte, wer diese Person sei. Sofort sprang ein kleiner Junge auf die Füße: „Shizen-kami-sama! Meine Vorfahrin!“ Der Lehrer lobte ihn für die richtige Antwort und die Gruppe ging weiter, genau wie Green und Grey es taten, jedoch in eine andere Richtung. Der Gang, den sie jetzt betraten, war ebenfalls aus Marmor und war genau wie die Halle vom Sonnenlicht erfüllt; das Licht war angenehm, aber es herrschte eine bedrückende Stille, obwohl auch hier Wächter unterwegs waren. Nur im Flüsterton sprachen sie miteinander; sogar die Kinder rannten nicht, waren nicht laut. „Onii-chan?“ Grey horchte auf und sah Green mit einem fragenden Blick an. „Ja?“ „Was war das gerade? Also…“ „Da wurde gerade „Geschichte und Kulturlehre“ unterrichtet. Ich denke, das war der erste Jahrgang.“ Jetzt wo Green und Grey langsam gingen und die Hikari nicht damit beschäftigt war, alles anzustarren, fiel ihr wieder auf, dass die Wächter, die Grey sahen, sich stets im Gehen ehrfürchtig vor ihm verneigten - und ihr blieb auch nicht unbemerkt, dass einige stutzten, als sie Green sahen. „Das habe ich mir irgendwie gedacht! Grey, was gibt es denn so für Fächer in der Wächterschule? Und wie lange geht man zur Schule?“ „Die Wächterschule dauert drei Jahre, die man von seinem achten bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr belegt. Es gibt folgende Fächer: „Geschichte und Kulturlehre“, „Elementarkenntnis“, „Elementare Philosophie“, „Dämonologie“ und dazu mindestens noch eine Menschensprache, die ganztags unterrichtet werden. Die meisten wählen Latein oder Hebräisch, weil diese unserer Sprache noch am ähnlichsten sind.“ „Das ist doch unschlau. Diese Sprachen werden doch sowieso nicht mehr gesprochen. Oder Moment, Hebräisch vielleicht? Ehm… das weiß ich gerade gar nicht…“ Grey deutete ein leichtes Achselzucken an. „Das Interesse an den Menschen und der Menschenwelt ist bei den meisten Wächtern eher oberflächlich bestimmt. Tempelwächter müssen allerdings mehr Sprachen können – waren es zwei oder drei, Ryô?“ „Drei, Grey-sama.“ Green sah über die Schulter zu Ryô: „Also kannst du Latein und Hebräisch?!“ Der Angesprochene lachte verhalten: „Nein, wir Tempelwächter sind dazu verpflichtet, praktischere Sprachen zu lernen. Wir lernen alle Englisch und viele Französisch. Die Sprachen, die ich beherrsche, sind ebenfalls Englisch, Französisch, Deutsch und Japanisch.“ „Meine Güte, dann beherrscht du aber ganz schön viele Sprachen, Ryô!“, entfuhr es Green überrascht, woraufhin Ryô ein wenig errötete und erklärte, dass er sie nicht alle fließend könnte; sie mussten sich nur verständigen können… „Ryô und ich haben zusammen Japanisch gelernt - die Schriftzeichen waren allerdings eine wahre Herausforderung.“ Green konnte nicht drum herum, Grey zuzustimmen, wurde allerdings von dem Thema „Sprachen“ abgelenkt, als sie über einen Hof gingen, wo sie dabei zusehen konnte, wie ein Naturwächter Jüngeren beibrachte, Pflanzen wachsen zu lassen, während Grey ihr erklärte, dass man dann später, im Alter von 15 Jahren, noch andere Fächer belegen konnte, um seine Qualitäten auszubauen: Fächer wie Kriegslehre und Kriegsstrategie oder natürlich medizinische Fächer, oder Organisation und Kommunikation…  Als die beiden Geschwister wieder ins Gebäude eintraten, konnte man links und rechts durch breite Fenster direkt in die Klassenzimmer hineinsehen, die alle gut gefüllt waren von jungen Wächtern, die dem Lehrer zur Aufmerksamkeit verpflichtet zuhörten. Neugierig blieb Green  stehen und sah in ein Klassenzimmer, von dem sie glaubte, dass dort gerade Dämonologie unterrichtet wurde. Auch hier saßen um die zehn kleine Wächter still an ihren hellbraunen Tischen zusammen mit dicken, aufgeschlagenen Büchern, die Green als die Dämonen-Enzyklopädie wiedererkannte - Gott, die mussten diese armen Kinder schon in so einem frühen Alter lesen? Sie hatten Greens Mitleid, auch wenn es so wirkte, als wären einige von ihnen sehr erpicht darauf, etwas zu lernen, denn eifrig machten sie sich Notizen, während sie--- Green traute ihren Augen nicht, denn der Lehrer, dem sie zuhörten, den erkannte sie sofort wieder - es war der Autor der Dämonen-Enzyklopädie selbst, Hizashi! Also befand er sich in einem Eciencé-Körper, doch seiner war, im Gegensatz zu Seigis, fest und auf den ersten Blick wirkte es wahrlich so, als wäre Hizashi noch am Leben. Genau wie damals bei ihrem ersten und einzigen Treffen im Jenseits hatte der Hikari des Wissens auch jetzt ein sonnenstrahliges Lächeln auf dem Gesicht, während er seine gesamte Aufmerksamkeit den Kindern widmete. Sein Lächeln sah richtig ausgelassen aus; man sah ihm an, dass er seinem Lehramt mit großer Freude nachging. „Was macht Hizashi denn hier?“ Grey gesellte sich zu ihr und antwortete: „Nun, Green, wie du siehst, ist Hizashi-san der Lehrer für dieses Fach. Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Dämonenlehre; er selbst hat dieses Fach geschaffen und definiert, immerhin hat er die Dämonen-Enzyklopädie verfasst. Er ist eine Spezialist auf diesem Gebiet und gibt sein Wissen seit Jahrhunderten an die nächste Generation weiter.“ Die Angesprochene konnte nicht drum herum zu grummeln, was Grey nicht entging. „Du kennst dich nicht besser aus als er.“ „Aber ich weiß Dinge, die er in seinen verfluchten Büchern netterweise ausgelassen hat.“ Und dann geschah es. Grey hatte es für einen Moment vergessen; hatte sich verleiten lassen von den angenehmen Augenblicken, die er mit seiner Schwester verbracht hatte, hatte vergessen, dass diese Momente unter einem schlechten Stern standen, dass eben nicht alles normal war - dass Green hier eigentlich absolut nichts zu suchen hatte, obwohl es sich für Grey so natürlich anfühlte, sie an seiner Seite zu haben, Zeit mit ihr zu verbringen. Ryô hatte versucht, seinen Herren mit eindeutigen Blicken dazu aufzufordern weiterzugehen, ehe Hizashi sie sah, aber Grey hatte es nicht bemerkt, war zu sehr von seinen Träumereien verführt worden, um von der Wirklichkeit erreicht zu werden. Aber dann war das Unvermeidliche schon geschehen - Hizashi hatte sie bemerkt. Er hatte Green bemerkt. Green, die hier gar nicht sein sollte – er selbst war ein Befürworter davon gewesen, dass Green den Tempel nicht verlassen durfte. Sah Grey es auch, schoss es Ryô durch den Kopf - wie Hizashi nicht nur das strahlende Lächeln entglitt, sondern auch wie deutlich das Todesurteil förmlich in seinem Gesicht geschrieben stand?! Das Todesurteil, das sich nicht nur gegen Green, sondern auch gegen Grey richtete, der klare Befehle erhalten hatte und gerade offensichtlich gegen sie handelte?! Es war Befehlsverweigerung! Und auf Befehlsverweigerung stand der Tod!  Kurz befürchtete Ryô, dass Hizashi - ganz egal ob er im Unterricht war oder nicht - auf sie zukommen und sie sofort ins Jenseits schleppen würde. Es schien auch so, als würde Hizashi genau das wollen, aber dann rettete die Unschuld eines der vordersten Kinder zum Glück die brenzlige Situation: „Hizashi-sensei? Geht es Euch nicht gut?“ Als hätte die Stimme des Mädchens ihn aus einer anderen Welt wieder zurückgezogen, verschwand alle geschockte Empörung aus Hizashis Gesicht, als er sich dem Mädchen zuwandte. Kurz blinzelte er, schien ein wenig verwirrt zu sein, aber dann fand er zu seinem Lächeln zurück: „Ah, nein, Marnie, lasst uns mit dem Unterricht fortfahren.“ Dieser kleine Zwischenfall schien auch Grey alarmiert zu haben, denn er hatte diese paar Sekunden erfolgreich genutzt, um Green vom Fenster wegzuzerren - im richtigen Moment, um nicht Hizashis Blick zu sehen, der ihm deutlich gesagt hätte, dass das Konsequenzen nach sich ziehen würde. „Grey-sama, sollten wir nicht zurückkehren in den Tempel?!“, flüsterte Ryô Grey nervös zu, ohne dass die ebenfalls verwirrte Green es bemerkte - sie war immer noch damit beschäftigt, sich einen Reim daraus zu machen, warum Hizashi plötzlich so finster ausgesehen hatte. „Nein, noch nicht…“ „Aber, Grey-sama…“ „Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, ehe Hizashi-sensei ins Jenseits zurückkehrt; sein Unterricht geht noch bis 14 Uhr…“ „Aber…“ „Warst du der schlechteste Schüler des Jahrhunderts oder warum hat Onkel Hizashi dich so angesehen?“ Grey schreckte auf und Ryô entfernte sich sofort von ihm, damit Green keinen Verdacht schöpfte und mit ihren Worten lenkte sie auch Grey von der eigentlich sehr ernsten Situation ab: „Warum ist jetzt sogar Hizashi-sensei ein „Onkel“?“ „Ich weiß auch, dass er eigentlich mein sonst was Urgroßvater ist, aber keiner der Hikari sieht alt genug aus, um als Großvater oder Großmutter durchzugehen.“ „Unser Großvater sieht auch nicht gerade alt aus, Green?“ „Nein, aber er ist griesgrämig genug für den Titel!“ Green lachte unbeschwert und sofort erwischte sich Grey dabei, wie er fast ebenfalls lachen wollte - aber dann wurde ihm wieder bewusst, dass sie über Shaginai sprachen; Shaginai, der oberste, erste Befürworter für Greens Hinrichtung. Der in wenigen Stunden… erfahren würde… was Grey…      „Also, Grey, erzähl! Oder lass mich raaaten: Dämonologie war dein schlechtestes Fach! Stimmt’s, Onii-chan?“, begann Green, als sie wieder zu Grey aufgeschlossen hatte. Ryô nahm wieder seinen Platz hinter ihnen ein, Grey einen besorgten Blick zuwerfend, den er versuchte mit einem Lächeln zu erwidern, ehe sie nun weiter gingen. Ryô würde lieber laufen. Fliehen. Irgendwohin – aber wohin?! „Ja…“ Grey schluckte und beeilte sich, seine Stimme wieder zu festigen, nicht an die Hikari zu denken: „…da hast du allerdings recht. Das war das einzige Fach, in dem ich nur einen Rang Zwei belegte.“ Er musste sich auf Green konzentrieren. Sie durfte keinen Verdacht schöpfen… „Zum Abschluss der drei Jahre wird die Leistung bewertet, indem die Ränge verteilt werden: Rang Eins, Rang Zwei und Drei. Eins ist der beste Rang.“ „Also genauso wie wir Wächter eingestuft werden“, erwiderte Green mit einem Lächeln, das zeigte, dass sie stolz darauf war, beweisen zu können, dass sie etwas gelernt hatte. „Genau. Auch das kann vom Abschluss beeinflusst werden.“ „Was passiert denn mit denen, die es nicht schaffen? Kriegen die einfach keinen Rang?“ Grey lachte und das Gespräch begann sich langsam auch für Grey wieder normal anzufühlen: „Nun, die wenigen - und das sind wirklich wenige, Disziplin liegt uns Wächtern im Blut - die es nicht schaffen, bleiben Unterwächter und haben nur noch eine Chance aufzusteigen: wenn sie besondere Taten vorweisen können. Im Krieg teilnehmen dürfen sie allerdings schon, genießen jedoch keinen Status und haben keine Privilegien. Ein Unterwächter dürfte dich zum Beispiel nicht einmal ansehen, geschweige denn ansprechen.“ „Ach du Sch… Wie viele Wächterstufen gibt es denn?“ „Von unten angefangen wären das zuerst die Tempelwächter, dann die Unterwächter. Dann folgen die normalen Wächter und danach die zwölf Offiziere, die uns Elementarwächtern unterstellt sind - zuletzt, an der Spitze…“ „Der Lichtwächter beziehungsweise die Lichtwächterin“, beendete Green Greys Erklärung und er nickte ihr zustimmend zu. Green seufzte und dachte wieder an den Springbrunnen in der Eingangshalle - wie sich alle vor der Hikari verneigt hatten … genau wie vor ihr. „Das heißt, dass ich ganz oben stehe…? Über allen?“ Sie wusste es natürlich. Grey hatte es ihr oft genug klargemacht, alle Gemälde im Tempel schienen es ihr klarmachen zu wollen - aber irgendwie hatte sie erst jetzt das Gefühl, dass es ihr wirklich bewusst wurde. Dass sie es fühlte. „Über allen. Ja. Aber erst nach deinem 17. Geburtstag, nachdem du die Weihe vollzogen hast, die dich offiziell zur Regime-Führerin des Wächtertums macht.“ Grey bekam bei diesem Gedanken ein flaues Gefühl. Was, wenn Green niemals so alt werden würde…? „Was für eine Weihe?“ Grey versuchte, wieder munter zu klingen: „Oh, das! Hatte ich das nicht bereits erwähnt? Alle Hikari vollziehen an ihrem 17. Geburtstag die Weihe, die heiligste unserer Traditionen, die den Erben des Lichts vollkommen mit ihrem Element vereint und somit zum Oberhaupt aller lebenden Wächter salbt.“ Jetzt war es Green, die ein flaues Gefühl im Magen hatte, jedoch aus einem völlig anderen Grund als Grey. „Ich glaube, ich will nicht siebzehn werden…“ Grey schwieg kurz, dann lächelte er plötzlich leicht errötet. „…Also ich freue mich schon lange darauf… Weißt du, vor meinem siebten Lebensjahr konnte ich gar nicht besonders gut schneidern. Erst als ich erfuhr, dass ich eine kleine Schwester bekommen würde… habe ich ernsthaft angefangen, mich damit auseinanderzusetzen. Weil… es seitdem mein Traum ist, dir für diesen Tag ein Kleid zu machen, das deiner würdig ist. Denn ich bin mir sicher, dass du trotz allem eine gute Hikari sein wirst.“ Green sah nur verwundert drein. Anders als Ryô und Grey wusste sie nicht, wie traurig diese Worte eigentlich waren – sie wusste nicht, wie schwarz der Stern war, unter dem sie sich gerade befand. Sie spürte nicht, wie schwer das Herz Greys in diesem Moment wurde und wie deutlich Ryô den Drang hatte, sich nach ihm auszustrecken, eine Hand auf seine Schulter zu legen – ihm einfach zu sagen, dass es schon irgendwie alles gut werden würde, obwohl er doch wusste, dass eben dieses „irgendwie“… womöglich niemals…  Green bemerkte davon nichts; sie fragte sich nur wie Grey darauf kam, dass sie eine gute Hikari sein sollte. Wenn sie jetzt schon keine gute war, wie sollte sie es dann sein? Sie war nicht dafür geboren, für so viele Wächter – für so viele Leben die Verantwortung zu übernehmen. Das konnte sie einfach nicht und das wollte sie auch nicht. Doch sie wagte es nicht, Grey zu widersprechen - sie wollte seinen Traum nicht ins Wanken bringen. Denn obwohl sie seine Worte nicht ganz nachvollziehen konnte, fand sie es dennoch unheimlich süß von ihm und mit einem Lächeln antwortete Green: „Ich verspreche dir, Grey, dass ich das Kleid anziehen werde, ohne mich zu sträuben, auch wenn es weiß ist!“ Ihr Bruder schlug kurz die Augen nieder, dann legte er lächelnd die Hand auf Greens Kopf und flüsterte: „…Womit habe ich dich nur verdient.“ Seine Schwester sah ihn ein wenig ratlos an; sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also wechselte sie das Thema, indem sie die Gedanken laut aussprach, die sie seit dem Thema Dämonologie im Kopf hatte: „Aber Regime-Führerin kann ich gar nicht werden, denn ich habe mich gerade dazu entschieden, Lehrerin für Dämonologie zu werden!“ Grey klappte der Mund auf und noch während er seine Hand fallen ließ, brachte er ein heiseres „Was?!“ heraus. „Naja, ganz einfach: Dann bringe ich unserer nächsten Generation bei, dass nicht alle Dämonen böse sind. Auf diese Art kämpfe ich gegen diese bekloppten Vorurteile!“ Grey musste nach kurzer Schockstarre schmunzeln. Als ob Green jemals die Erlaubnis dafür bekommen würde.   Ukario war wohl zu sehr in seine Arbeit vertieft, zu abgeschottet in seinem Büro, um bemerkt zu haben, welche Nachricht sich gerade wie ein Lauffeuer auf der Insel verbreitete, denn als Grey und Green zusammen mit Ryô sein Büro betraten, sahen Ryô und Grey deutlich, wie das Lächeln auf seinem Gesicht steif wurde, als er Green erblickte – wie er sie fast versteinert anstarren wollte---- aber ein Blick an Grey, ein kurzer Blickaustausch genügte und der Kommandeur verstand. Alles verstand er zwar genauso wenig wie Ryô, aber er verstand genug, um der Situation angemessen zu handeln. „Hikari-sama! Es ehrt mich sehr, Euch auf Sanctu Ele’Saces begrüßen zu dürfen – und dass Ihr endlich nach so vielen Jahren zu uns zurückgekehrt seid.“ Weder Grey noch Ryô hatten bemerkt, dass auch Green erstarrt war, als sie Ukario erblickte – das war er! Der Wächter, der in ihrem „Der fremde Wächter“-Fall die Hauptrolle spielte! Er war der Wächter, mit dem Grey sich getroffen hatte! Und--- und er war der Wächter, der hier auf Sanctu Ele’Saces das Sagen hatte? Ahaaaa? Unbedingt aufschreiben! Und jetzt professionell tun! „Die Freude ist ganz meinerseits“, antwortete Green lächelnd und sah dann auch schon nach Bestätigung suchend zu Grey, doch dass sein Lächeln ein wenig steif war, entfiel ihr nicht – er sah auch ein wenig… blass aus. „Ukario Gensou Katar, Hikari-sama.“ Es folgte wieder die übliche Verbeugung und die Hand auf dem Herzen: „Oberster Kommandeur Eurer Bataillonen und Verwalter Sanctu Ele‘Saces, Rang eins.“ Wie geschwollen das mal wieder klang – als würde morgen schon ein Krieg beginnen. Nein, als wäre ein Krieg schon längst im Gange. „Eure Bataillonen“ alleine schon! „Dass Ihr gesund seid, sind wahrlich außerordentlich gute Neuigkeiten…“ Green bemerkte es nicht, aber Grey: als Ukario diese Worte sprach, warf er einen fragenden Blick an Grey. „… das Licht ist also endlich in unser Leben zurückgekehrt.“ „Scheint so?“, antwortete Green, denn sie wusste nicht genau, was sie darauf sonst hätte erwidern sollen. Aber sie konnte in Greys Gesicht keine Ärgernis ablesen, als er sich zu ihr herum wandte und lächelnd erklärte: „Ukario-sama hat bereits unserer Mutter gedient. Er ist einer unserer besten Wächter.“ Ukario verneigte seinen Kopf noch einmal: „Ihr ehrt mich, Grey-sama.“ Green lächelte weiterhin, obwohl das einzige, was ihr gerade durch den Kopf schoss, keine Komplimente waren, sondern dass Ukario auch wirklich danach aussah, als wäre er in die Jahre gekommen. Seine Uniform strahlte zwar förmlich vor Eleganz, aber er sah irgendwie… mitgenommen aus. Wie ein richtiger Kriegsveteran eben. Seine dunkelblauen Augen waren ein wenig stumpf und er hatte einen stechenden Blick, der ihr erst jetzt auffiel, als sie ihn von Nahem sah. Naja, vielleicht musste man so einen Blick haben als oberster Heerführer… „Green, wenn du uns kurz entschuldigen würdest…?“ Grey sah zu seiner Schwester und zu Ryô: „Ich denke, das Gespräch, das ich mit Ukario zu führen habe, ist für dich nicht sonderlich interessant. Du kannst dich ja mit Ryô zusammen ein wenig in der Parkanlage umschauen? Sie ist wirklich wunderschön angelegt.“ Der Angesprochenen war es aber vollkommen egal, wie schön der Park angelegt war – sie wollte mehr von Ukario erfahren und was so besonders an ihm war, dass Grey sich heimlich mit ihm traf… aber als sie Ryôs Hand auf ihrer Schulter spürte, fügte sie sich ohne einen Ton des Widerwillens. Kurz schwiegen Ukario und Grey und der Windwächter erwartete fast schon, dass Ukario seufzen oder irgendwie aufstöhnen würde; irgendeine Reaktion, irgendein Wort – aber dafür war der Illusionswächter zu professionell. „Dann lasst uns über unseren neuen Elementarwächter der Illusionen sprechen, Grey-sama.“      „Saiyon!“, rief Shitaya winkend, als er seinen jüngeren Bruder unter einem Baum erspähte. Doch obwohl die Stimme Shitayas laut und überaus deutlich zu hören gewesen war, beachtete Saiyon ihn nicht - auch nicht, als Shitaya direkt vor ihm stehen blieb. Nach wie vor hatte der blauhaarige Wächter den Blick in sein Buch gerichtet. „Ich bin wieder da, Saiyon! Die Mission lief erfolgreich.“ „Das ist nicht zu überhören, Aniki“, antwortete der leicht fahl aussehende Saiyon dann nun doch, als er sein Buch mit einem Klappen zusammenschlug und den Ankommenden ansah - zwei Brüder, die sich von außen her mit ihrem ultramarinen Haar und den gleichen dunkelgrünen Augen sehr ähnlich waren. Sogar ihre Frisur ähnelte sich, nur dass Shitayas zu einem Zopf zusammengebundene Haare länger waren als die seines Bruders. Doch ihre unterschiedliche Kleidung verriet, dass ihnen unterschiedliche Rängen innewohnten, denn während Shitaya in eine prachtvolle Uniform gekleidet war, trug Saiyon nur ein simples weißes Oberteil, wo das einzig auffällige war, dass sein rechter Arm bis auf die Hand komplett verbunden war und somit war kein einziges Fitzelchen Haut zu sehen. Aber obwohl ihr Äußeres einander glich, so hätte ihr Innerstes nicht unterschiedlicher sein können.    „Ich soll dir ausrichten, dass Säil-chan heute unser Lieblingsessen macht, Brüderchen!“ „Ich werde zum Essen nicht da sein.“ Shitaya sah etwas geknickt aus, doch so schnell gab er nicht auf: „Und warum nicht?“ „Glaubst du im Ernst ich schaue zu, wie ihr beide in euren Schwärmereien untergeht? Nein, ich möchte gerne darauf verzichten. Ich werde stattdessen…“ „… ziellos und sinnlos umherstreifen und später die Reste von Rie warm machen lassen?“ Saiyon errötete ein wenig, worauf Shitaya nicht achtete, als er sich behutsam ins Gras hockte, ohne dabei mit den Knien das Gras an sich zu berühren – er wollte wohl seine Uniform nicht unnötig dreckig machen. „Ist das etwa deine Vorstellung einer gelungenen Abendgestaltung, Saiyon?“ „Nach der gestrigen Feier könnte ich einfach ein wenig Ruhe gebrauchen.“ „Ich finde, du warst ohnehin sehr ruhig…“ „Entschuldige, dass nicht jeder so ein blühendes Leben ist wie du.“ Beleidigt und schmollend wie ein Kind zog Shitaya die Unterlippe hoch, wechselte aber das Thema - anscheinend wollte er es mit einer anderen Taktik versuchen: „Hast du dir denn um deinen großen Bruder gar keine Sorgen gemacht? Deinen einzigen Verwandten? Nicht einmal ein kleines, kleines bisschen?“ Ein wenig Wirkung zeigte es; Saiyon zog sich abwehrend ein Stück weg:   „Jetzt komm mir nicht mit dieser Tour. Ich habe mir keine Sorgen gemacht. Warum sollte ich auch? Du bist doch perfekt. Du verlierst nie.“ „Danke für das Kompliment! Aber ich würde mich dennoch freuen, wenn du auch mal mitkommen würdest; so wie ich gehört habe, hast du dich nach meinem Aufbruch sowieso aus dem Staub gemacht.“ „Shitaya, ich bin ein Unterwächter. Kein Offizier so wie du. Warum sollte ich mitkommen…“ „Aber du könntest, wenn du es wirk-“ „Hast du du nicht etwas vergessen?“, unterbrach Saiyon ihn und nickte zu seinem rechten Arm, was Shitaya besorgt zu machen schien: „Ist es schlimmer geworden?“ „Nein. Unveränderlich wie immer.“ „Dann ändere etwas! Aores hat selbst gesagt, dass nur du allein dieses Dämonensiegel brechen kannst!“ Saiyon stand auf und schob seinen Bruder beiseite – was interessierte es ihn, was der Oberarzt gesagt hatte… „Dieses Siegel wird nie verschwinden und das weißt du genauso gut wie ich es weiß!“ Shitaya wollte sich nicht streiten, aber dennoch spürte er, wie er langsam wütend wurde: „Es wird auch nie verschwinden, wenn du nicht den Willen aufweist, endlich etwas dagegen zu tun! Deine Magie wird so lange versiegelt bleiben, wie du hier faul rumhängst und anderen die Schuld dafür gibst! Es ist nicht deine Schuld, dass du mit dem Siegel bestraft und nicht länger mit deinem Element verbunden bist…“ Shitaya sah Saiyon deutlich an, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, aber er gab nicht nach: „… aber dass du nichts daran änderst – das ist deine Schuld!“ Saiyon drehte sich zu Shitaya um und sein Bruder erkannte deutlich, dass er nicht der einzige war, der Wut in sich verspürte. Ah, er wusste schon, warum er sich nicht gerne stritt - erst recht nicht über dieses leidige Thema, das sie schon viel zu lange begleitete: „Ich bin nun einmal nicht so ein perfekter Wächter wie du!“ Mit diesen Worten ging er davon, doch sein Bruder folgte ihm. „Und weißt du, was der Grund ist? Du hast keine Ziele und keine Motivation! Du hast aufgegeben, als deine Magie versiegelt worden ist.“ „Ach, und du hättest natürlich weitergemacht!“ „Ja, das hätte ich! Weil ich, im Gegensatz zu dir, ein Ziel besitze! Ich will meine Familie beschützen.“ Er packte Saiyon am gesunden Arm, drehte ihn zu sich herum und sah ihm ernst ins Gesicht: „Und zu meiner Familie gehörst auch du, vergiss das nicht immer.“ Offensichtlich wollte Saiyon davon nichts hören, denn er riss sich von seinem Bruder los und ging einfach weiter ohne zu antworten; auch auf eine Gruppe Wächterinnen, die den beiden Brüdern freundlich zuwinkten, achtete er nicht. Aber auf den plötzlichen Einfall seines Bruders achtete er: „Eine Wächterin würde dir sicherlich guttun. Liebe ist ein Wunderheilmittel!“ Saiyon seufzte und während sein Blick über die Gruppe glitt, verlor er sich mal wieder in seinen Gedanken: „Du kennst meine Meinung zu diesem Thema, Aniki. Wenn ich mich jemals verlieben sollte, dann muss es „Klick“ machen, wenn ich das Mädchen sehe. Sobald ich sie nur ansehe, muss ich wissen, dass sie die Richtige und Einzige ist – Liebe auf den ersten Blick eben... Und das war mir noch nicht vergönnt. Das wird es auch nicht. Denn alle Wächterinnen, die hier leben, ähneln sich. Sie sind eintönig in ihrer Gleichheit…Es ist niemand dabei, in den ich mich so bedingungslos verlieben könnte wie du in Säil.“ Shitaya sah seinen Bruder kurz nachdenklich an, klopfte dann mit der flachen Hand auf seinen Rücken und konnte nichts anderes tun, als ihm recht zu geben: „Du stellst zu hohe Ansprüche, Brüderchen! So eine Frau wie Säil bekommst du nicht, denn die gibt es nur einmal!“ „Ich will eben jemand Besonderen, jemand Außergewöhnlichen!“ „Jaja, man merkt: wir sind doch verwandt!“ Der Angesprochene lächelte schlapp und antwortete darauf nicht, was auch nicht benötigt wurde, denn ein Wächter war auf Shitaya zugegangen, der nun seine Aufmerksamkeit raubte, denn es war einer der anderen Offiziere, einer von Shitayas Kampfgefährten: Pelagius. Er wirkte ziemlich aufgebracht, ja, fast schon… ach egal. Saiyon interessierte sich nicht dafür, was Pelagius nun so dringend mit Shitaya zu besprechen hatte. Er ließ die beiden daher alleine und schlenderte langsam über die nächste Brücke, ohne zu bemerken, dass Pelagius genau in die Richtung gezeigt hatte, in die er jetzt ging. „… und wenn ich es dir doch sage, Shitaya! Sie ist es! Grey-sama hat es selbst bestätigt!“ „Pelagius, bist du dir wirklich sicher?! Willst du mir wirklich sagen, dass das unsere…“ „Aber ja, siehst du denn nicht das Glöckchen?!“ Saiyon hörte keines dieser Worte und selbst wenn er sie gehört hätte, dann hätte er ihnen keine Beachtung geschenkt, denn er war mit seinen Gedanken bereits bei etwas anderem; bei dem Buch, was er vorhin gelesen hatte, bei dem kurzen, müden Zucken seines Armes… und dann stürzte er.  Noch im Flug verfluchte er seinen Arm und sein ihm nicht zugängliches Element - ein Windwächter, der stolperte und den Sturz nicht abfangen konnte! Was war er doch für eine Schande--- „Hey, hast du dir etwas getan?“ Saiyon hob ein wenig in sich hinein fluchend den Kopf; dank des Aufpralls schmerzte sein Körper, aber sämtliche Schmerzen waren vergessen, als er aufsah und direkt in die dunkelblauen Augen einer ihm fremden Wächterin starrte. Wie Shitaya und Pelagius von weitem bereits entdeckt hatten, war es Green, vor dessen Füße Saiyon gerade gefallen war - aber Saiyon wusste nicht, dass er als Unterwächter gerade gegen jegliche Höflichkeitsregel der Hikari direkt ins Gesicht starrte. Er öffnete den Mund, um etwas auf das grinsende Lächeln vor ihm zu erwidern, doch das einzige, was er konnte, war sie mit offenem Mund anzustarren. „Saiyon!“ Er hörte die Stimme seines Bruders nicht. Immer noch starrte er sie an, die ihn jetzt langsam leicht besorgt musterte. Der Wind spielte mit ihren hellbraunen Haaren, die sie sich mit einer beiläufigen Geste wieder hinter ihr Ohr strich. Saiyon hatte selten einen so magischen Moment erlebt - ein magischer Moment, der schnell vorbei war, als Shitaya angerannt, förmlich angestürzt kam und den Kopf seines Bruders packte, um diesen samt seinem eigenen nach unten zu pressen. „Ich bitte vielmals um Vergebung für meinen kleinen Bruder, Hikari-sama! Er hat es nicht gewollt! Er ist nicht immer so unhöflich… Bitte verzeiht ihm!“ „Ähm, schon… gut?“ Green wusste wirklich nicht, was das sollte und auch nicht so recht, was sie sagen sollte - erst recht verwirrte Shitaya sie, als er sich wieder aufrichtete und sich atemlos vorstellte; sie kannten sich doch?! „Offizier des Klimas, erster Rang und zweiter Kommandeur der Offiziere, Kikou Docere Shitaya - erfreut und geehrt, Eure Bekanntschaft zu machen, Hikari-sama!“ Green war einfach nur verwirrt: was ging hier vor, warum stellte er sich vor? Es war doch eigentlich nicht lange her, dass sie sich in Tokyo getroffen hatten, oder hatte er das vergessen, oder war das hier irgendeine komische Wächter-Masche, von der sie keine Ahnung hatte? Egal, sagte sich Green, einfach lächeln. Shitaya richtete sich wieder auf, dabei einen Blick auf Saiyon werfend, um ihn dazu aufzufordern, sich ebenfalls vorzustellen - aber Saiyon starrte Green immer noch nur an, weshalb Shitaya einen Rückzug für die beste Taktik hielt – erst da bekam Saiyon den Mund auf:  „Auf Wiedersehen, Hikari-sama… Auf ein baldiges Wiedersehen.“ Noch eine leichte Verbeugung, dann packte er seinen Bruder am Arm und schleifte ihn über die Brücke. Mit einem gespielten Lächeln erhob Green die Hand zu einem Abschiedsgruß, die Saiyon leicht ungeschickt erwiderte, ehe er von seinem Bruder hart herumgedreht wurde. Green blieb eine kurze Weile perplex stehen – dann sah sie fragend zu Ryô, der aber ebenfalls die Schultern zuckte. Was zur Hölle war das denn gewesen?     „In Lights Namen…“ „In Lights Namen, JA! Saiyon! Das war deine peinlichste Aktion seit langem! Nein! Überhaupt! Was hast du dir nur dabei gedacht?! Bist du von Dämonen besessen?!“, donnerte Shitaya los, als die beiden Brüder sich in sicherer Entfernung befanden und zum Stillstand gekommen waren - und Pelagius natürlich gegangen war. Der angeschriene kleine Bruder reagierte nicht. Er hatte seine Hand auf sein Herz gelegt und sah Green immer noch nach. Erst jetzt war er rot angelaufen. „Wer war das…?“ „Wer das war?!“ Shitaya nahm ihn am Kragen und schüttelte Saiyon kurz: „Saiyon, hast du denn keine Ohren?! Hast du nicht gehört, was ich sagte, ich habe es extra betont - und keine Augen?! Hast du nicht das Glöckchen auf ihrer Brust gesehen?! Das war unsere Hikari! Das war Hikari-sama! Kurai Yogosu Hikari Green! Und du hast sie einfach angestarrt! Unhöflich und unmanierlich direkt ins Gesicht, als hätten unsere Eltern dir überhaupt keine Höflichkeit in die Wiege gelegt! Nicht einmal vorgestellt hast du dich!“ Ganz offensichtlich hörte Saiyon ihm gar nicht zu: auch den Griff seines Bruders bemerkte er nicht, aus dem er sich befreit hatte - um tatsächlich, Shitaya glaubte es kaum, zurückzugehen. „Green ist also ihr Name…“ Shitaya war fassungslos. „Nein, ihr Name ist Hikari-sama, also, warte, nein, ihr Name ist Green, aber wir haben sie nicht so zu… Hast du mir überhaupt zugehört, Saiyon?!“ Da sein Bruder aber wieder nicht reagierte, packte Shitaya ihn wieder am Kragen, um ihn am Weitergehen zu hindern: „Was hast du denn vor, Saiyon?!“ Jetzt endlich drehte der Angesprochene sich herum und Shitaya ließ ihn vor Überraschung sofort gehen: so aufgewühlt, so viele Gefühle auf einmal hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr in Saiyons Gesicht, in seinen Augen gesehen. Oh nein… oh nein, oooooh nein. „Aniki! Es hat „Klick“ gemacht!“ „Nein.“ „Ich habe mich in diesen Engel verliebt. Sie ist genau die Wächterin, auf die ich so lange gewartet habe! Wie deutlich das Anderssein in der Tiefe ihrer meeresblauen Augen doch zu sehen ist! Sie ist keine typische Wächterin… Green… Green ist etwas ganz besonderes… Ein mich rettender Engel…“ Wahrscheinlich sollte Shitaya sich darüber freuen, dass er endlich, nach so langer Zeit, wieder so viele positive Gefühle auf einmal in seinem Gesicht ablesen konnte, wo Shitaya sich doch immer schon darüber hatte freuen müssen, überhaupt ein Lächeln auf Saiyons Gesicht zu sehen – und ja, er freute sich auch, aber gleichzeitig breitete sich auch große Sorge in ihm aus. Saiyon war komplett außer Stande, sich der Wirklichkeit entsprechend zu verhalten oder zu denken: er schien bei der Hikari nur an einen rettenden Engel zu denken und gar nicht darüber, dass eben die Hikari, Whites nicht so ganz tote Tochter, vor ihnen aufgetaucht war. Was das für Konsequenzen hatte! Was das für eine Bedeutung hatte! Und das einen Tag nach seiner Hochzeit! Hätte er gewusst, dass sie lebte, er hätte sie natürlich eingeladen… oh Gott, was dachte sie wohl darüber, dass sie nicht eingeladen gewesen war? Vielleicht wusste sie aber auch nichts davon – hoffentlich… „Ich glaube, nein, Aniki, ich bin mir sicher… ich habe mich in Green verliebt!“ Shitaya seufzte: „Saiyon, bist du wirklich von Dämonen besessen?! Hätte es nicht jemand anderes sein können, der dich rettet?“ „Nein, es ist Green.“ „Hikari-sama, Saiyon, Hikari-sama”, antwortete Shitaya ein wenig weinerlich klingend. Hörte Saiyon sich eigentlich selbst reden? Hatte er nicht verstanden, wer sie war? Und hatte er vergessen, was er war? „Saiyon, es tut mir wirklich leid, dass ich dein Traumschloss zerstören muss, aber…“ Er nahm wieder einmal Saiyons Arm, um ihn dazu zu bringen, ihn anzusehen. „Was bist du?“ „Ein… Wächter?“ „Ja, ein Unterwächter und sie?“ „Eine Hikari?“ „Genau.“ Shitaya seufzte und sah geknickt drein: „Du weißt genauso gut wie ich, dass Hikari nur die Besten der Besten heiraten dürfen. Wächter vom höchsten Rang und Titel. Du als Unterwächter darfst sie nicht einmal privat ansprechen, geschweige denn, nun, andere Dinge.“ Saiyon senkte den Kopf, so dass seine Haare ihm vor das Gesicht fielen und Shitaya ließ ihn los. War das zu hart gewesen…? „Es tut mir leid…“ „Aniki…“ Saiyon sah auf und zu Shitayas Überraschung und Freude sah er auf seinem Gesicht ein Lächeln, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte; ein selbstbewusstes Lächeln, von dem er schon gar nicht mehr geglaubt hatte, dass es überhaupt noch existierte oder dass er es jemals wieder zu Gesicht bekommen würde. „Das heißt also, ich muss ein Offizier werden, richtig?“    Kapitel 36: Der Zweck heiligt die Mittel ----------------------------------------                 Adir hatte es kommen sehen. Genau deswegen hatte er all das nicht gewollt; genau deswegen hatte er nicht an den Ratsversammlungen teilnehmen wollen, die irgendwie etwas mit Green zu tun gehabt hatten. Dass das nicht die richtige oder die verantwortungsvollste Entscheidung war, das wusste er und jetzt spürte er auch deutlicher denn je, dass er nicht vor den Ratsversammlungen fliehen konnte und niemals hätte fliehen dürfen. Er musste dabei sein. Anwesend sein bei diesem… Trauerspiel. Diesem furchtbaren, beschämenden Trauerspiel. Streit war verpönt unter den Wächtern, aber das bedeutete nicht, dass es solche Dinge nicht auch im Wächtertum gab - die Hikari taten zwar gerne so, als wären sie solchen Dingen erhaben, aber sie waren es nicht. Natürlich waren sie es nicht, denn trotz ihrer gleichen Farbe waren sie doch alle unterschiedlich; mit unterschiedlichen Meinungen und Herangehensweisen. Alleine der Fakt, dass sie aus so vielen verschiedenen Epochen stammten, konnte so manches Mal Grundbaustein legen für Dispute. Es hatte schon öfter offene Streitereien gegeben, es hatte nicht umgangen werden können, dafür saßen auch zu viele Hikari in den Ratsversammlungen, die alle ihre eigenen Kriegserfahrungen gemacht hatten und diese gerne geltend machen wollten auf diese oder jene Weise. In der Regel waren diese Dispute allerdings nur zwischen einigen; eher selten allumfassend und eigentlich hatten die Ratsmitglieder auch immer bewiesen, dass sie ihre eigenen Dispute beiseiteschieben konnten, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Streitereien hatten nie lange angedauert, die Vernunft hatte meistens gesiegt – immerhin waren sie im Jenseits, um gemeinsam das Wächtertum zu lenken und es erfolgreich durch den Krieg zu führen. Ihre Feinde waren immerhin die Dämonen.   Eigentlich. Aber dieses Problem - das „Yogosu-Problem“ - traf sie in ihrer Mitte. Es bohrte sich in ihren Kern und die von Adir bereits gefürchtete Teilung hatte schon längst stattgefunden. Eine Teilung war es auch nicht mehr länger - es war eine Zersplitterung. Eine Zersplitterung, die jetzt nur noch größer geworden war, nachdem Grey förmlich eine Bombe in ihre Mitte geworfen hatte. Adir hatte gehofft, dass das Yogosu-Problem eigentlich fürs Erste abgehakt sein würde, nun wo sie bei ihrem Bruder war und dass die Hikari sich, während sie abwarteten und auf Besserung hofften - jedenfalls tat Adir das - wichtigeren Dingen zuwenden konnten, sich wieder auf das besinnen konnten, was ihre wahre Aufgabe war. Adirs Hoffnung hatte sich eigentlich auch bewahrheitet, denn Green war lange kein direktes Thema mehr gewesen… gut, sie war ab und zu erwähnt worden, gut, man hatte unterschwellige Andeutungen gespürt, aber… Argh, wem machte Adir eigentlich etwas vor - sich selbst? Wollte er dieses Chaos, das eine einzelne Hikari auslöste, einfach nicht wahrhaben? In den Ratsversammlungen war sie vielleicht nicht das oberste Thema gewesen, aber in den Gängen des Jenseits hatte er es immer wieder gehört, hatte gesehen, wie Shaginai und Hizashi miteinander sprachen, wo das Thema eindeutig Shaginais Enkelin gewesen war, auch wenn es sofort verstummte, als Adir sich näherte… und hatte Shaginai ihm nicht erst gestern beim Schachspielen vorgehalten, dass Zeitschinden keine Früchte tragen würde und dass man nur das Unvermeidliche hinauszögere? Adir hatte gewählt, diese Worte nicht auf Green zu beziehen sondern auf das Spiel, aber die finstere Miene Shaginais hatte eigentlich keinen Zweifel offengelassen. Und der Anblick der Ratsmitglieder ließ auch keinen Zweifel offen, dass die Zersplitterung der Hikari bereits mehr als im Gange war! Es war unmöglich schönzureden, so gerne er es auch wollte… Adir kam es so vor, als wäre er auf einem Schlachtfeld! „… vielleicht sollten wir erstmal klären, wer die Schuld an unserem Schlamassel hat! Ich meine, Bla--...Grey hat eindeutig unsere Befehle missachtet. Er ist für dieses Chaos zuständig, nicht wahr? Sollte er nicht bestraft werden?“ Adir massierte sich die Schläfen, während Seigi natürlich die Situation ausnutzte, um Grey anzukreiden - es schrie ja auch danach. Die Frage, was Grey sich nur dabei gedacht hatte, plagte auch Adir - aber konnte man nicht zuerst andere Dinge klären?! „Seigi, hättest du nicht damals versagt, säßen wir gar nicht hier.“ Eine wütende Ader begann an Seigis Hals zu pochen, als Shaginai dies mit kaltem Unterton antwortete und mit schneidender Stimme erwiderte der Tausendtöter: „Der Grund, weshalb wir aber heute hier sitzen, ist eindeutig, weil Ihr Enkel Mist gebaut hat.“ Adir verspürte nicht die geringste Lust, seine Augen zu öffnen; er sah Shaginais wütendes Gesicht auch so vor seinem inneren Auge. „Fühlt es sich gut an, einen wohlerzogenen und talentierten Wächter zu beflecken, Seigi?“ Jetzt wurden sie schon beleidigend - warum musste das nur passieren… „Wohlerzogen?! Wie oft haben wir klargemacht, dass Yogosu nicht mit anderen Wächtern in Kontakt kommen darf - und der ach so wohlerzogene Halbhikari tut es dennoch?! Bin ich hier etwa der einzige, der seine Objektivität anzweifelt?! Das ist mehr als Befehlsverweigerung! Das ist Hochverrat!“ „Ja, Seigi, Grey hat sich unseren Befehlen widersetzt und es ist legitim, seine Objektivität anzuzweifeln, denn in der Tat, er hat ein etwas zu mitfühlendes Herz, aber im Endeffekt ist er immer noch mehr Hikari als du es je sein wirst.“ „Wie bitte?!“ Das Massieren seiner Schläfen intensivierte Adir nun, als könnte er damit die Stimmen ausfiltern. Er hoffte, dass Shaginai darauf nicht antworten würde, denn dann würde es definitiv eskalieren – in Lights Namen, warum musste Adir sich gerade glücklich schätzen, dass die beiden weit weg voneinander saßen! Als müsste er Handgreiflichkeiten befürchten – in Lights Namen, in Lights Namen, wer waren sie denn…   „Seigi hat aber nun einmal recht – Grey-san hat unseren Befehlen zuwidergehandelt und uns in ungeahnte, katastrophale Probleme hineingeworfen!“ Adir hatte ja gehofft, dass es nicht Shaginai sein würde, der antwortete, aber Hizashi war auch nicht besser… und obwohl Shaginais Stimme relativ ruhig blieb, als er antwortete, konnte Adir deutlich seine ungeduldige Wut heraushören:  „So lange Grey keine Aussage zu Protokoll gegeben hat, ist es reine Zeitverschwendung darüber zu diskutieren!“ Shaginais Ruhe war nur eine Fassade, dessen war Adir sich sicher. Eine unnütze Fassade, denn Adir glaubte, dass absolut niemand in diesem Saal im Moment als ruhig beschrieben werden konnte. Shaginai am allerwenigsten, denn er war, wie auch Adir und White, anwesend gewesen, als Hizashi aufgeregt und fahrig ins Jenseits gestürzt war. Adir glaubte, dass er Shaginais Gesicht, als Hizashi berichtete, was Grey offensichtlich getan hatte, nie vergessen würde – eine Mischung aus Schock, Wut und Widerwille das Gehörte zu glauben hatte sich auf seinem Gesicht vereint. Kurz hatten Adir und White – beide ebenfalls schockiert – befürchtet, dass Shaginai schnurstracks ins Diesseits stürmen wollte, um von Grey eine Erklärung zu verlangen. Stattdessen hatte er aber seine Wut heruntergeschluckt und die Ratsmitglieder zusammengetrommelt. Ob er Grey vertraute? Ja, er hing sehr an Grey – aber dennoch war Adir überrascht über Shaginais Reaktion, denn er hätte nicht gedacht, dass Shaginai wählte Grey zu vertrauen in… so einer Situation. Vielleicht vertraute er ihm auch nicht – vielleicht wartete er ab. „Wann ist er denn vorgeladen?!“ Eine aufgeregte Antwort Marys folgte auf Hizashis zornigen Ausruf: „Um 15 Uhr 15 - oh, nein, wartet, 16 Uhr 15…“ Sie wühlte in ihrem Stapel von Dokumenten, sie, die mit diesen neuen Ereignissen wohl die meiste Arbeit hatte, da sie immerhin für die Kommunikation zwischen den Hikari und den Wächtern zuständig war; jede öffentliche Veranstaltung, jede Rede, jede Verkündung fiel in ihr Arbeitsgebiet, es war daher nur allzu verständlich - eigentlich - dass sie nun mehr als durch den Wind war. Aber Verständnis schien momentan rar zu sein, wenn Adir Hizashis Antwort hörte: „Wenn wir nicht einmal Uhrzeiten richtig aufschreiben können, dann sehe ich sehr schwarz für die Zukunft.“ Papier donnerte auf den Tisch, als Mary sich wütend auftürmte und Adir leise in sich hinein stöhnte: „Möchtest du einen roten Strich daruntersetzen, Hizashi-Sensei, so wie früher?! Ach, nein, warte - ich hatte ja gar keine roten Striche, weil ich einen Rang Eins belegt habe!“ „Ich sehe nicht, wie das mit irgendetwas im Zusammenhang steht.“ „V-Vielleicht sollten wir erst einmal auf Grey-sans Bericht warten, um… um uns ein besseres Bild…“ Es glich einem Wunder, dass Lilis brüchige Stimme in diesem wütenden Strudel überhaupt vernommen wurde, aber weil Hizashi neben ihr saß, hatte er sie dennoch gehört und sprang sofort darauf an mit einer weitaus kräftigeren Stimme als die ihre: „Wir können uns bereits jetzt ein Bild davon machen, in was für einer unvorteilhaften Lage wir uns befinden! Dafür müssen wir nicht auf einen Bericht waren! Schon bevor ich den Unterricht abschließen konnte - schon nach der ersten Pause! - fragten mich die ersten Kinder, ob es gelogen wäre, dass Yogosu damals gestorben sei und ob ihre Eltern ihnen etwas Falsches erzählt hätten!“ Hizashis eigentlich immer sehr ernste Stimme knickte ein und wieder einmal fragte Adir sich, wie es nur sein konnte, dass ein Hikari, den er eigentlich als sehr kaltherzig einstufte, so ein großes Herz für Kinder haben konnte: „E-Es war schrecklich!“ Er klang bei diesem Ausruf nämlich wahrlich sehr leidend. Genau wie Mary, deren Feder manisch über ihre Notizen rauschte. „Wir brauchen so schnell wie möglich eine öffentliche Stellungnahme…!“ „Aber was sollen wir den Wächtern mitteilen? Dass es ein Fehler war?“ „Unter den Tisch fallen lassen wäre wohl…“ Mary fiel da ins Wort, während ihre Feder wieder wütend über das Papier fegte und dabei mehrere schwarze Kleckser ihren Tisch befleckten: „Unter den Tisch fallen lassen?! Dafür ist es zu spät! Grey-kun hat ganze Arbeit geleistet… Propaganda vom Feinsten! Mittlerweile weiß das ganze Wächtertum davon und mit jeder Minute, die wir hier verbringen mit nichts, sinkt unsere Glaubwürdigkeit!“ „Ist die Rede denn wenigstens angefangen worden?“ „Willst du sie schreiben, Hizashi?!“ „Wir hätten sie einfach hinrichten sollen, als sie das letzte Mal im Jenseits war…“ „Absolut! Dem stimme ich ganz zu.“ „Vater, wir waren uns einig, dass meiner Tochter die Möglichkeit gegeben wird, sich mit ihren Wächterwurzeln auseinanderzusetzen.“ „Ich bezweifle, dass eine solche Einigkeit ein zweites Mal errungen werden kann, White“, erwiderte Shaginai schneidend, aber ob seine Worte nun der Wahrheit entsprachen oder nicht, konnte man in diesem Moment nicht herausfinden, denn dafür hörten viel zu wenig Hikari zu, da viel zu viele wiederum damit beschäftigt waren… sich zu streiten, untereinander. So laut und unkontrolliert hatte Adir den Ratssaal noch nie erlebt und wieder huschte ihm ein Stöhnen über die Lippen, während er sich zurücklehnte und einen Seitenblick an die ebenfalls bedrückt aussehende White warf, die neben ihm saß. Es reichte - es war definitiv genug, Adir konnte sich dieses Trauerspiel nicht länger ansehen und als Mary tatsächlich gerade wütend und Hizashi giftig anfahrend den Saal verlassen wollte, richtete Adir sich mit einem Ruck in seinem Stuhl auf, die verwunderten Blicke Shaginais und Whites nicht beachtend. Zuerst wurde auch Adir von den anderen nicht beachtet, die zu aufgeregt waren, um Adirs Aufstehen zu bemerken, aber als seine Stimme ertönte, kamen die tosenden, wütenden Wellen des Ratssaals langsam zum Stillstand: „Wenn wir so weitermachen, wird die drohende Prophezeiung noch selbsterfüllend! Wir haben andere Krisen im Zusammenhalt überstanden, wir überstehen auch diese – zusammen! Also sänftigt eure Gemüter, meine Mithikari!“ Sofort wusste Shaginai diese ruhige Sekunde, in der alle weißen Augen zu Adir sahen, zu nutzen: „Adir hat vollkommen recht. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Situation, so ungünstig sie auch sein mag, uns zu Kopf steigt! Ansonsten wird die Prophezeiung, genau wie von Adir beschworen, sich wahrlich noch selbst erfüllen! Die Unreinheit Yogosus darf nicht auf uns übergehen!“ Zwar war es gut, dass sich die Gemüter augenscheinlich erst mal wieder beruhigt hatten - Mary setzte sich schon wieder - aber dennoch verzog Adir bei den Worten Shaginais ein klein wenig das Gesicht. So hatte er das nicht gemeint.              Es war erstaunlich, wie ruhig Grey war in Anbetracht der Lage, in der er sich befand. Ryô konnte gewiss nicht behaupten, dass er das Gemüt seines Herren und Freundes teilte; er versuchte es, aber es gelang ihm nicht - zu sehr fürchtete er die Wut der Hikari, die sich ohne Zweifel gegen Grey richten würde. Hizashi alleine war schon schlimm genug gewesen, als er Grey noch auf Sanctu Ele'Saces abgefangen hatte! Von seinem eigentlich so sonnigen Lächeln war nichts zu sehen gewesen... er war außer sich; durch den Wind hatte man wahrlich sagen können, wie er Grey überhaupt nicht zu Wort hatte kommen lassen... ihm war sogar unbemerkt herausgerutscht, dass er es gewesen war, der eine solche Situation bereits einmal verhindert hatte, indem er die Erinnerungen zweier Offiziere gelöscht hatte, als sie „zu neugierig“ waren und „zu viele Fragen“ gestellt hätten. Ryô musste sich eingestehen, dass er sich in diesem Moment richtig vor Hizashi gefürchtet hatte; immerhin hatte er gerade nebenbei zugegeben, dass er die Erinnerungen zweier hochrangiger Wächter mithilfe der Verbotenen Techniken gelöscht hatte, ohne dafür irgendwie beschämt zu klingen. Techniken, die auch für die Hikari verboten waren, für die auch sie eine Genehmigung brauchten und irgendetwas sagte Ryô, dass Hizashi keine Genehmigung eingeholt hatte, dass er das ganz selbst entschieden hatte... ob er seine Handlungen mit den Sonderregeln begründet hatte? Aber legitimierten die denn alles? Aber Grey war ruhig und respektvoll geblieben; war nur ein wenig blasser als normal geworden, als Hizashi drohend verkündet hatte, dass er sich vor dem Rat verteidigen müsse, da Hizashi schlecht jeden Wächter finden konnte, um deren Erinnerungen zu löschen! Ob er es getan hätte, wenn das nicht vollkommen unmöglich wäre? Eine kleine Stimme in Ryô sagte ihm, dass er Hizashi lieber alles zutrauen sollte... wie er da vor ihnen gestanden hatte, mit stechenden, wütenden Augen, seine Hand fahrig an seinem Hals…   „Ich wünsche Euch viel Glück, Grey-sama...“ Grey bedankte sich lächelnd dafür, während er den Schlüssel für das Jenseits hervorholte. „Wo ist Green im Moment?“ „Hikari-sama hat sich ins Bad begeben. Ich hörte sie noch mit Pink-sama darüber sprechen, dass ihr der Tag sehr gefallen hat.“ „Das freut mich zu hören. Er hat mir auch sehr gefallen.“ „Ich hoffe nur, der Preis dafür ist nicht zu hoch...“ „Kein Preis ist zu hoch, um Green zu retten.“ Warum hatte Ryô gewusst, dass Grey dies sagen würde?     Beinahe ertappte Grey sich dabei, wie er genervt mit den Augen himmelte, als er die Person entdeckte, die ihn in der Eingangshalle des Jenseits „Willkommen“ hieß. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass seine Mutter ihn zum Ratssaal geleiten würde, hatte sich auch darauf gefreut, sie wiederzusehen, vorher noch ein wenig Kraft zu tanken… aber stattdessen begrüßte ihn Seigi. Ein kleiner Teil von Grey, der nicht auf Ernsthaftigkeit versiert war, dachte voller bitterer Ironie, ob seine Bestrafung bereits angefangen hatte – ihm Seigi als Geleitperson zu stellen war für ihn jedenfalls eine Bestrafung. „Da kommt ja unser kleiner Regelbrecher schon – hat dich deine verseuchte Schwester angesteckt, was das Nichtbefolgen von Befehlen angeht, Blacky?“ Seigi grinste fahl, Greys Gesicht verfinsterte sich. „Dir gegenüber habe ich keine Rechenschaft abzulegen, sondern dem Rat.“ „Wovon ich ein Teil bin.“ Immer wieder stellte Grey sich die Frage, wie das eigentlich angehen konnte und noch nie hatte er darauf eine wirkliche Antwort erhalten, auch nicht von anderen Ratsmitgliedern. Von Shaginai hatte er immer nur Beschwerden über Seigi gehört; seine Mutter hielt sich eher bedeckt, da sie nichts Schlechtes über die Ratsmitglieder verbreiten wollte, aber Seigi sonderlich positiv gegenüber gestimmt war sie auch nicht. Was brachte seine Anwesenheit im Rat schon Konstruktives mit sich? Er hatte kein politisches Geschick und obwohl er schon drei Kriege sich hatte entfalten sehen, mangelte ihm auch das strategische Denkvermögen. Was tat er eigentlich im Rat außer den Einsatz von Gewalt zu verherrlichen? Auch jetzt lag Seigis Hand auf dem geflügelten Griff seines Schwertes, locker, wie Grey meinte, ruhend – aber auch bereit zu agieren, wenn es sein musste. Grey spürte, wie die Nervosität, die er die ganze Zeit versucht hatte von Ryô zu nehmen, langsam in ihm hochkam.    „Ja. Ein Teil. Und nun lass uns gehen, ich möchte nicht zu spät kommen.“ Grey ging an Seigi vorbei auf die zwei Tempelwächter zu, die ihre Miene absolut nicht verändert hatten. Grey schoss Greens Frage durch den Kopf, ob die beiden Tempelwächter überhaupt in der Lage waren, anders zu gucken – wenn er sie so ansah, während er seinen Namen und seinen Rang nannte, musste er unwillkürlich daran denken, dass er sie tatsächlich nie mit einem anderen Gesichtsausdruck gesehen hatte. „Hast du vor dem Rat vorzuheulen, dass Greeny dich gezwungen hat?“ Grey spürte, wie seine Augenbrauen zuckten, aber er unterdrückte jegliche andere Reaktion. Wenn es schon Seigi sein musste, der ihn zum Rat führte, konnte er dann nicht wenigstens ruhig sein? „Irgendeine Ausrede solltest du jedenfalls parat haben, Blacky.“ Seigi stand nun genau neben ihm und die Art, wie Seigi sich zu ihm herüberlehnte, kam Grey ziemlich bedrohlich vor – tatsächlich fast… wie die Eröffnung eines Kampfes. „Der Rat ist nämlich ziemlich außer sich und das alles nur wegen dir und deinem verseuchten Schwesterherzchen.“ Oft genug hatte Grey sich schon die Frage gestellt, was eigentlich Seigis Problem mit ihm war, warum er immer auf Provokation aus war – und obwohl er eigentlich zu dem Schluss gekommen war, dass Seigi einfach eine Hikari-untypische, provokative und aggressive Ader hatte, die sich irgendwie – wer wusste schon, warum – gegen ihn richtete, schoss ihm diese Frage wieder einmal durch den Kopf, als er ein gefährliches Leuchten in Seigis Augen sah. Hatte die Hand, die auf Seigis Schwertgriff lag, sich verkrampft? War sie nun bereiter als zuvor? Grey wusste es nicht, denn er wollte sich nicht die Blöße geben und den Blick senken, um Seigis stechenden Augen auszuweichen. „Bist du der richtige, um dieses Wort zu gebrauchen, Seigi?“ Ein hohles Lachen entfloh Seigi: „Meine Lichtmagie ist zwar mickrig, aber 100% Licht - anders als das Licht deiner Schwester.“ „Nun, das scheint ja nicht viel auszusagen, wenn man in den Geschichtsbüchern unter deinem Namen aufschlägt.“ Der Windwächter musste zugeben, dass er sich kurz darüber freute, dass das selbstbewusste Lächeln von Seigis Gesicht verschwand – es kehrte jedoch schnell wieder zurück, wenn auch eine Spur finsterer: „Ich würde aufpassen, wenn ich du wäre. Unter den momentanen Umständen könnte sich immerhin herausstellen, dass du eine Bedrohung für das Wächtertum bist… und – wer weiß! – vielleicht ist deine Schwester…“ Das, was Grey da zu hören glaubte, war nicht gerade ein Schwert, das aus seiner Scheide gezogen wurde – oder doch? „…nicht die einzige, die hingerichtet werden muss?“ „Seigi!“ Sofort als diese hohe Stimme ertönte, veränderte sich Seigis Gesichtsausdruck – er stürzte förmlich von seinem Gesicht herunter und er nahm eilends wieder Abstand zu Grey und tatsächlich, Grey sah es für einen kurzen Moment, Seigis Hand hatte sich um den Griff seines Schwertes gelegt und… es hatte sich wirklich ein Stück aus seiner verzierten Scheide gelöst. Und er sprach davon, dass Green eine Gefahr für das Wächtertum war?! Grey sollte sich lieber mit der Frage beschäftigen, wie Seigi es ins Jenseits geschafft hatte, anstatt sich darüber Gedanken zu machen, was er im Rat zu suchen hatte! „Mutter!“, entfuhr es Seigi tatsächlich ein wenig beschämt, als er die kleine Lili zwischen den beiden Tempelwächtern entdeckte, die wahrlich zur Abwechslung mal ernst aussah; aber ihre Entschlossenheit kam schnell ins Wanken, obwohl niemand irgendetwas gesagt hatte, um sie einzuschüchtern. „Muss ich mich etwa… wieder einmal für dich schämen?“ Seigi antwortete nicht und wäre Grey nicht damit beschäftigt, sich höflich vor Lili zu verbeugen und sie zu begrüßen, wäre ihm aufgefallen, dass Seigi zerknirscht dabei zusah, wie Grey Lili zu einem Lächeln brachte und dazu, sich zu freuen – ehe Seigi sich mit noch größerer Abneigung abwandte. „Warum bist du überhaupt hier, Seigi? Solltest du nicht bereits… im Ratssaal sein?“ Der Schwertkämpfer zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte Grey nur warnen.“ Sowohl Grey als auch Lili war natürlich bewusst, dass das gelogen war. „Du sollst doch nicht lügen, Seigi… Werden momentan nicht schon genug Regeln gebrochen?“ Das Lächeln ihres Sohnes wurde nur noch steifer. „Ja“, begann er und warf einen schneidenden Seitenblick an Grey: „Finde ich auch.“ Wieder einmal war es Grey, dem Lili ein aufmunterndes Lächeln zuwarf: „Oh, ich denke, dass du dir gar keine Sorgen zu machen brauchst, Grey-san!“ Das Lächeln auf Seigis Gesicht war sofort dahin. „Es ist doch ganz eindeutig, dass die Hexe dich überredet hat, so ein Unding zu tun… Ansonsten würdest du doch niemals… dein Herz ist doch viel zu rein…“ Sofort, ohne das Zutun von Seigi oder Grey, warf Lili sich die flache Hand vor den Mund und entschuldigte sich für das Wort; es handele sich immerhin um seine Schwester… aber Grey entgegnete nichts; er bemühte sich weiter zu lächeln, sich in Gedanken fragend, ob das die Art war, wie Green im Jenseits umsprochen wurde. „Hexe“ und „verseucht“… das hatte er selbst nicht erlebt, aber er nahm auch nur an einigen wenigen Ratsversammlungen teil und wusste nicht, wie man im Jenseits außerhalb des Ratsaales über Green sprach. Scheinbar nicht allzu positiv… „Mutter, ich finde wirklich nicht, dass „Hexe“ das richtige Wort für sie ist.“ „Nein, nein, natürlich nicht, ich habe mich ja auch entschuldigt… Mein Sohn, warum bist du denn so aufgebracht?“ Grey war nervös, das spürte er nun auch – doch wie deutlich Lilis unbedachte Worte nicht zeigten, dass er das richtige getan hatte. Dennoch, als er zusammen mit Lili und Seigi an der hohen Doppeltür des Ratssaals angekommen war und das von filigranen, steinernen Händen gehaltene Regelbuch sah, das auf der Tür eingraviert worden war, wurde ihm mulmig zumute. Mehr als das: ihm jagte ein Angstschauer über den Rücken, er fühlte sich durchbohrt von den Augen des geflügelten Geschöpfes, das so glorreich das Regelbuch emporhielt und dessen Augen auf all jene gerichtet waren, die durch dieses Portal gingen. Grey schloss die Augen, wählte weder auf Lili noch auf Seigi zu achten und sammelte sich kurz, aber dann--- „Grey!“ „M-Mutte--“ Grey kam nicht weit, ehe er schon sämtliche Ernsthaftigkeit verlor; sie ging förmlich in Auflösung in der Umarmung seiner Mutter. Sie selbst schien sich nicht dafür zu interessieren, ob sie irgendwie gesehen wurden oder was andere dachten – in diesem Moment war sie einfach nur eine Mutter, die sich zutiefst Sorgen machte um ihren Sohn. Sie küsste jede seiner Wangen, seine Stirn – achtete gar nicht darauf, dass er versuchte, sie zu beruhigen – und schloss ihn dann noch einmal in die Arme. „M-Mutter“, versuchte Grey es noch einmal, völlig perplex, aber plötzlich auch völlig aufgelöst, als wäre er wieder ein Kind: „Ich… ich wollte dir… keine Sorgen machen…“ „Oh Grey, oh mein Sohn – mach dir doch um mein Befinden keine Gedanken…“ „Entschuldige, Mutter… e-entschuldige… Großvater und dir, ich…“ Da verstummte Grey aber auch schon, denn genau in diesem Moment, als White sich von ihm löste, die Hände an sein Gesicht gelegt hatte – kam Shaginai an ihnen vorbeigerauscht. Er sagte nichts, aber als er mit einem Ruck die Tür öffnete und Grey einen Blick zuwarf, teilte dieser auch schon genug mit:   „Wage es nicht, mich auch noch zu enttäuschen!“      Gespannt wurde Grey bereits von Ryô erwartet. Die Ratsversammlung hatte drei Stunden gedauert und genauso deutlich wie auf Ryôs Gesicht die Frage danach zu sehen war, was sich ereignet hatte, so sah Ryô auch deutlich, dass Grey ausgezehrt war. Er sah schrecklich aus; schrecklich mitgenommen und am Boden zerstört. „Grey-sama…“, begann Ryô voller Sorge auf seinen Herren zugehend, bis er die Teleportationshalle durchquert hatte und direkt vor ihm stand. Er musste seine an diesem Ort indiskrete Frage nicht ausformulieren; Grey wusste natürlich, was er wissen wollte. Sie stand ohnehin zu deutlich in Ryôs Bernsteinaugen geschrieben, in seiner gesamten Körpersprache, die er entgegen jeglicher Professionalität nicht unterdrücken, nicht zur Monotonie zwingen konnte. Grey hätte es auch nicht gewünscht, obwohl es ihn natürlich nicht freute, seinen Freund so besorgt zu sehen. Doch auch wenn er ihn so gerne aufgeheitert hätte, war er zu erschöpft dafür; zu erschöpft, um sich zu einem Lächeln zu bringen. Stattdessen machte er eine etwas ruckartige Geste mit der rechten Hand, womit er Ryô auf eine längliche Schatulle aufmerksam machte, auf der mittig das Wappen der Hikari funkelte. „Es ist alles wie gehabt, Ryô. Die Lügen gehen weiter.“     Wieder stand Grey dort an der Brüstung, unter sich die neugierigen, nach Wissen und Aufklärung verlangenden Augen der Wächter. Wieder war er dort, dieses Mal jedoch alleine, doch wieder da, um zu lügen.   Er war nicht nervös; öffentliche Kundgebungen waren etwas Normales für ihn, ganz egal wie viele Augen auf ihm lagen – er war nur traurig darüber, es wieder auf diese Art tun zu müssen. Das Lügen. Die Lügen breiteten sich aus, wurden immer allumfassender… wo sollte das nur enden? Ah, nein, er durfte so nicht denken, ansonsten würde es ihm schwerfallen zu lächeln; ansonsten würde man ihm ansehen können, dass das Lächeln kein echtes war. Aber es musste eines sein, immerhin hatte er freudige Botschaften zu verkünden – dass Green lebte. Sie lebte nun wieder offiziell, das war doch positiv. Das war doch das, was er sich erwünscht hatte von dem Ganzen. Alle Wächter wussten dank ihm, dank diesem Tag nun, dass Green am Leben war und auch wenn das für Hizashi und die anderen Hikari, die seiner Meinung waren, keinen Unterschied machte, was eine mögliche Hinrichtung Greens anging, so war sich Grey sicher, dass er Green damit mehr - um einiges mehr - Zeit verschafft hatte, sich zu beweisen. Zu beweisen, dass sie… nicht das war, was die Hikari von ihr glaubten… dass sie keine verseuchte, von Unheil und Unreinheit besessene Hexe war. An Green war nichts falsch. Sie hatte seinen Schmerz gespürt, ihn an der Hand genommen. In ihren strahlenden Augen lag keine Boshaftigkeit. Keine drohende Zerstörung für das Wächtertum war in dem Lächeln verbogen, das sie Grey heute geschenkt hatte...   „…Grey, dir muss bewusst sein, was für eine Gefahr von Yogosu ausgeht. Nicht nur die Prophezeiung zementiert dies, sondern auch die neuesten Werte.“ „… wir glaubten, dass das Element des Lichtes ewig gleichbleibend strahlen würde.“ „… aber die Daten, sie zeigen etwas anderes. Sie zeigen… Unreinheit im Licht.“ „… sie verseucht unser Element mit ihrer Unreinheit.“  „… es ist ein ernstes Anliegen, ernster als wir zu Beginn angenommen hatten.“ „… wir hätten sie gleich hinrichten sollen. Shaginai hatte ganz recht!“     Das Lächeln vor Greys innerem Auge wollte trotz dieser Worte nicht verschwinden.   Als Grey Ryô gefragt hatte, was er von Green hielt, hatte nicht einmal er Grey die Antwort geben können, die er sich so erhofft hatte. „Sie ist… Eure Schwester.“ Deutlich hatte Grey Ryô angesehen, dass diesem das Thema unangenehm gewesen war. Er wollte nicht über Green reden, da er nicht zugeben wollte, dass er dieselbe Meinung von ihr hatte wie die anderen. Sie verunreinigte das Element, das war nicht schönzureden… sie war ungehobelt, unhöflich und egoistisch und hatte mehr als einmal auf Greys Gefühlen herumgetrampelt, ihm die kalte Schulter gezeigt. Ryô hatte all das natürlich nicht gesagt, hatte sich zu einem Lächeln bemüht und von „deutlichen Besserungen“ gesprochen, aber Grey wusste es selbst.    Dennoch… Grey spürte noch, wie ihre Finger seine umschlossen…   „… es ist jetzt von größter Wichtigkeit, dass wir eine klare Linie weiterfahren. Mit Transparenz müssen wir den Schatten verbergen, den Yogosu auf uns, auf das Wächtertum wirft.“     Und deswegen musste Grey sich nun an dem erfreuen, was auch erfreulich war. Er musste lächeln und lächelnd weiter lügen. Für seine Schwester. Denn es gab etwas Wichtigeres als Regeln.     Mit donnernder Wut sauste die Faust Seigis auf seinen von ihm ohnehin verhassten Schreibtisch. „Das kann ja wohl nicht angehen?! Schon wieder! Schon wieder ist dieser verfluchte Halbling mit heiler Haut und unbefleckt davongekommen!“ Ein weiteres Mal sauste Seigis Faust hernieder--- „Und ich?! ICH musste mich vorm Kriegsgericht verteidigen, weil ich eine Schlacht geführt habe – die obendrein auch noch erfolgreich verlief?!“ Seigi war viel zu wütend, um irgendeinen Sinn oder irgendeine Gerechtigkeit in dieser schieren Ungerechtigkeit zu erkennen – für ihn war es nichts anderes als mit zweierlei Maß zu messen. Als er den Tod seiner Schwester gerächt hatte und es den Dämonen heimgezahlt hatte, hatte man ihn vor das Kriegsgericht gezerrt, obwohl er so viele Dämonen getötet hatte – einfach nur deshalb, weil er nicht um Erlaubnis gefragt hatte, pah! Und Grey?! Grey wurde mal wieder mit Samthandschuhen angefasst, der arme Grey, pah! Er war sogar gelobt worden! Er hätte ja gar keine andere Wahl gehabt, der arme Grey. Der arme, arme Grey. In was für einer verqueren Lage er war, in der er so schwere Entscheidungen treffen musste – oh ja, Seigi kamen die Tränen. „Ich bin mir bewusst, dass ich gegen den Willen des Rates gehandelt habe und ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die mein Vergehen nach sich ziehen wird, besonders bei Mary-san.“ Wie schlau von Grey, in diesem Moment zu Mary zu sehen: „Es war nicht meine Absicht, Ihnen nach der doch sehr arbeitsintensiven Hochzeit noch mehr Arbeit aufzubürden.“ War das nicht sogar eine leichte Verbeugung gewesen, dieser Schleimer?! „Doch waren meine Taten leider unvermeidlich. Green entwickelte durch ihre Bibliotheksaufenthalte eigenständig…“ War den anderen Hikari nicht aufgefallen, dass er seine Schwester vor ihnen beim Namen nannte und dass das doch eindeutig zeigte, dass er alles andere als objektiv war?! „… eine Neugierde für die anderen Teile unserer Reiche und bat mich darum, sie ihr zu zeigen. Hätte ich ihr diesen Wunsch verweigert, so wäre ihre Skepsis erregt worden.“ Seigi war da nicht still geblieben: „Du hättest ihre Erinnerungen löschen können.“ „Dem muss ich widersprechen, denn für eine Erinnerungslöschung und den damit verbundenen Einsatz der Verbotenen Techniken hätte ich eine Genehmigung benötigt, den Sonderregeln zum Trotz.“ Was für eine intelligente Antwort, die auch sofort Anklang fand. Besonders Shaginai schien trotz der ernsten Situation sehr zufrieden mit seinem Enkel zu sein. Wenn Seigi nicht alles täuschte, wirkte er sogar… stolz. Wie konnte man nur auf ihn stolz sein, auf dieses Gör - dieses Gör, das sogar von seiner Mutter erst einmal umarmt werden musste, ehe er… „Grey hat nach bestem Gutdünken gehandelt und ja, eine Erinnerungslöschung mag temporär eine Lösung sein, aber es gibt im Tempel sehr viel, das ein Interesse für die anderen Stützpunkte stimulieren kann – eine Schwärzung all jener Erwähnungen kann wohl kaum in unserem Interesse sein. Ich schlage vor, dass für Grey der Einsatz der verbotenen Techniken legitimiert wird…“ War es denn zu fassen, mit was für einer heilen Haut Grey nochmal davongekommen war?! Hätte Seigi das getan, oh, er wäre wahrscheinlich aus dem Jenseits hinausgeworfen worden, wenn das möglich wäre! Und seine Mutter – sogar seine Mutter war auf Greys Seite! Die Wut übermannte Seigi ein weiteres Mal - dieses Mal richtete sie sich jedoch gegen das, was auf dem Schreibtisch lag: mit einem Schwung seines Armes wurde all jenes zu Boden geschleudert und als hätte Seigi einen schweren Gegner erlegt, wurde sein treues Schwert aus der Scheide gezogen und direkt in das nächste Buch gebohrt, womit es nun senkrecht vor ihm in die Höhe ragte, denn der Schwertkämpfer hatte sich, immer noch wütend, aber viel mehr frustriert, auf den nun sehr chaotisch wirkenden Boden fallen lassen.   … im Endeffekt ist er immer noch mehr Hikari als du es je sein wirst…   „Es ist alles nicht fair, Elly.“ Mit der Hand in seinem Pony vergraben blickte Seigi auf und traf mit einem flehenden Blick sein eigenes Spiegelbild, das er in der glänzenden Klinge seines Schwertes erblicken konnte – dann wandte er sich seufzend ab. „Ich werde noch wahnsinnig.“     „… die Hikari bitten daher um Verständnis in dieser für uns alle schwierigen Situation – besonders Kurai Yogosu Hikari Green gegenüber bitten wir um Verständnis und Rücksichtnahme. Wir vertrauen natürlich darauf, dass das Licht sie eilends zurück zu ihren Wächterwurzeln führt, doch wird dies wohl ein Prozess sein, der ein wenig Zeit und harte Arbeit mit sich führen wird. Wir befinden uns alle in einer ungewöhnlichen und neuartigen Situation, doch gemeinsam werden wir den Weg zurück zur Normalität finden. Für jetzt lasst uns darüber erfreut sein, dass unsere Hikari zu uns zurückgefunden hat.“ Grey legte die Hand auf sein Herz, wie es nicht nur die Wächter unter ihm alle sahen, sondern auch die Hikari, die es per Videoübertragung auch im Jenseits verfolgten. Mary lächelte stolz darüber, wie tadellos Grey die Rede vortrug und wie gekonnt er jetzt eine Pause einlegte – die Hand auf die Brust zu legen war ein guter Einfall, wie sehr seine Körpersprache nicht die Herzen der Wächter berührte! Es hatte ein paar Stimmen gegeben, die der Meinung gewesen waren, man hätte Grey bestrafen müssen – aber waren die denn dumm? Ganz zu schweigen davon, was für ein enormer Verlust Grey gewesen wäre – so ein tadelloser Wächter! – so wäre eine Bestrafung Greys wohl das Dümmste gewesen, was sie hätten tun können, ganz egal wie sehr Seigi und auch Hizashi fluchten. Hizashi wusste natürlich auch, dass nichts so verdächtig und unprofessionell gewesen wäre wie eine Bestrafung von Grey. Das hätte absolut nicht zu dem Bild gepasst, das die Hikari jetzt von sich malen wollten. Nein, das wäre sehr dumm gewesen, dachte Mary, während Grey den letzten Teil ihrer Rede vortrug: „Ich jedenfalls bin überglücklich, meine kleine Schwester wieder in die Arme schließen zu können.“     Shitaya grummelte, als er sich neben seiner Frau an eine Säule lehnte. Er wirkte unzufrieden, obwohl er eigentlich höchst erfreut sein sollte – aber Säil konnte sich schon denken, weshalb Shitaya so ein Gesicht zog. „Gefiel dir die Rede Grey-samas nicht?“ Der Angesprochene verschränkte die Arme: „Ich weiß nicht, irgendetwas stört mich.“ „Ist es etwa die neue Hikari? Ich habe schon viele Beschwerden über ihr „ungewöhnliches“ Aussehen gehört – und über ihr Benehmen. Und über ihren Namen.“ „Ob sie nun braune oder rote Haare hat könnte mir nicht egaler sein. Äußerlichkeiten sind zweitranging; wichtig ist, ob sie sich als Hikari geltend machen kann.“ Säil legte lächelnd die Arme auf den Rücken. „Na, dann bist du wohl einfach darüber pikiert, dass Hikari-sama nicht zu unserer Hochzeit erschienen ist, obwohl die Hikari sicherlich auch gestern schon davon wussten, dass sie lebt und sich in der Menschenwelt aufhält.“ Shitaya grinste ertappt, sagte aber nichts: „Sie hat ganz schönes Glück gehabt, dass sie 16 Jahre lang in der Menschenwelt überlebt hat, besonders wenn man die ganzen Unruhen nach dem Ende des 7. Elementarkrieges bedenkt… und nur weil wir einen Bannkreis haben, bedeutet das ja nun einmal auch nicht, dass keine Dämonen sich in die Menschenwelt verirren können.“ Shitaya warf seiner Frau ein leichtes Grinsen zu, was sie erwiderte: „Also doch nicht ganz von dieser dramatischen Geschichte überzeugt?“ „Sagen wir meine journalistischen Sinne haben reagiert.“ Ihr Grinsen wurde noch breiter: „Ich werde mal ein wenig herumstochern, mal sehen, was sich finden lässt.“ Etwas anderes hatte Shitaya auch eigentlich gar nicht von seiner Frau erwartet; sie, die immerhin die am besten informierte Wächterin des Wächtertums war. Aber jetzt wandten sie sich wieder anderen Dingen zu: dem Grund, weshalb sie überhaupt dort waren, im Stadion von Sanctu Ele’Saces. Die Sonne war bereits fast hinter der Tribüne untergegangen und der Platz des großen Stadions lag dunkel vor ihnen. Sie waren die einzigen, die zu dieser Stunde dort anwesend waren. „Glaubst du, Saiyon-kun schafft das?“ „Entweder jetzt oder er wird es nie schaffen“, antwortete Shitaya seiner Frau, um die er nun einen Arm legte, während sein Blick sich verfinsterte, als Saiyon den Verband ablegte und sein großer Bruder zum ersten Mal seit vielen Jahren das sah, was sich darunter befand: ein lila Mal, das von seiner Schulter bis fast zu seinem Handgelenk ging. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es sich noch nicht so weit ausgebreitet... es sah schmerzhaft aus. Shitaya hoffe inständig, dass der Arzt recht behielt und es wirklich ganz allein an Saiyon lag und dass er das Mal wirklich selbst überwinden konnte. Denn was würde passieren, wenn das Zeichen sich über seinen gesamten Körper ausbreitete? Shitaya biss die Zähne zusammen, diese Frage wollte er gar nicht beantwortet haben. „Du schaffst das, Brüderchen…!“ Saiyon hörte diese erbauenden Worte nicht, denn dafür stand er zu weit weg und war bereits zu konzentriert: Er hatte seine Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf sein Element. Das Element des Windes, welches er schon so viele Jahre nicht mehr gespürt hatte. Mehr als zehn Jahre war es her, dass er das letzte Mal sein Element beschworen hatte... Aber jetzt musste er es schaffen. Wenn nicht, würde er ewig ein Unterwächter sein, ewig im Schatten seines Bruders bleiben und meilenweit entfernt von seinem Engel. Der Gedanke an sie genügte und er bekam Herzklopfen, wollte genau wie Grey seine Hand auf seine Brust legen, um das Klopfen seines Herzens zu beruhigen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so wohlgefühlt, so ausgefüllt, so voller Leben nur bei dem Gedanken an eine einzige Person. Und das einzige, was er schaffen musste, war ein paar Böen zu erzeugen. Ein wenig Wind… die kleinste Reaktion würde schon genügen… Er musste an Green denken. Zuerst streckte Saiyon den gesunden Arm aus und dann, ganz langsam, seinen versiegelten – und sofort verzog sich sein Gesicht, sofort verweigerte sich sein Körper, denn sein Arm reagierte mit Schmerzen auf diese eigentlich doch so simple Bewegung, doch der Windwächter blieb eisern. Er spürte wie das Mal aufleuchtete, aber noch keine Anzeichen auf Windmagie, obwohl er so inständig versuchte, mit seinem Element in Kontakt zu treten – die Luft um ihn herum war unbewegt, kein einziger Windhauch und das obwohl sein Arm so sehr schmerzte, als würde er jeden Moment auseinanderspringen. Tapfer biss er die Zähne wie auch die Augen zusammen, um dem Schmerz standzuhalten – er konnte ja nicht sehen, dass das Zeichen rot wurde. „Saiyon, hör auf!“, hörte er Shitaya rufen, doch er machte keine Anstalten, auf ihn zu hören. Säil hielt ihren Mann fest: „Wenn du jetzt dazwischen gehst, wird er es nie schaffen!“ Dann spürten sie es: Es zog Wind auf. Er war zwar nicht besonders stark, doch er war vorhanden und mit erstaunten Augen sah das frisch vermählte Ehepaar, dass es sich um Saiyon sammelte. Kurz hörten sie nur das sachte Rauschen des Windes, bis Saiyon sich herumdrehte und Freudentränen an seinen Wangen herunterliefen. Das Mal auf seinem Arm war schwarz geworden, begann nun langsam abzuperlen wie Ruß oder Staub, der von ihm fiel, vom Wind davon getragen wurde und sich auflöste. „Aniki! Ich hab es geschafft…! Seit zehn Jahren spüre ich endlich wieder mein Element…“ Saiyon wischte sich lächelnd die Tränen aus den Augen: „…ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein herrliches Gefühl ist!“ Auch Shitaya musste seine Tränen zurückhalten, als er auf seinen Bruder zu rannte und ihn stürmisch umarmte: „Unsere Eltern wären so stolz auf dich gewesen…!“ „Glaub mir, sie werden stolz auf mich sein, wenn ich Greens Getreuer bin!“ Shitaya grinste nur und beide drehten sich zu Säil herum, die ihre beiden Männer ebenfalls freudig anlächelte. „Säil-chan! Ich denke, wir brauchen heute ein Festessen!“   Kapitel 37: Dämonische Verführungskunst ---------------------------------------    Okay, tief durchatmen. Es war ja eigentlich nichts dabei. Es würde nichts Schlimmes geschehen – und eigentlich sollte Firey sich freuen. Endlich war der Tag gekommen, an dem sie zum ersten Mal das Reich der Wächter sehen würde. Sie hatte sich eigentlich die ganze Zeit auf diesen Moment gefreut… jedenfalls hatte sie sich das immer beschworen, aber nun spürte sie, dass die Nervosität sie zu übermannen drohte; nun da es sich nur noch um Minuten handelte, ehe sie aufbrechen würde. Aber sie war ja nicht alleine! Ilang begleitete sie. Alles war gut. Ilang war nett. Und freundlich. Alles war gut. Sie würde sie hinbringen. So lautete die Abmachung. Es ging doch nur um einige Tests ihrer… M-Magie. Nichts besonderes, nur ein paar Tests. Firey ärgerte sich darüber, dass sie nervös war und wünschte sich, sie könnte es abstellen – es war doch albern, nervös zu sein! Es war ja nicht so, dass es sich um ein Vorstellungsgespräch oder so etwas handelte. Warte – oder doch? Die Tests sollten doch wahrscheinlich ihre Tauglichkeit als Wächterin untersuchen? Naja, dann musste sie wirklich nicht besorgt sein, denn das Ergebnis lag auch schon ohne Tests klar auf der Hand – sie war absolut untauglich. Seit zwei Monaten – genauer gesagt seit Weihnachten – war nichts mehr geschehen. Keinerlei magische Aktivität. Kein plötzlich aufspringendes Feuer, keine Hände, die in Flammen standen. In den letzten zwei Monaten war einfach...alles normal gewesen. So normal, dass sie das ganze Thema fast vergessen hätte, wäre da nicht das Wissen, dass sie zwei Halbdämonen in der Klasse hatte – und die manchmal auftauchende, enorm nervige Dämonin Rui, die Siberu aber immer schnell zu vertreiben versuchte, wenn er denn mal zur Schule kam, denn im Gegensatz zu Gary kam Siberu eher sporadisch und wenn es geschah, sah er aus wie sieben Tage Regenwetter – wegen Green, die ebenfalls nicht in der Schule auftauchte, weil sie sich ihrer Wächterausbildung widmete. Wächterausbildung… was das wohl genau bedeutete? „Firey-san, du brauchst nicht nervös zu sein“, versuchte Ilang sie zu beruhigen, als sie das Zittern von Fireys Hand spürte, als diese sich in Ilangs legte. Das war ihr unangenehm, sogar… sehr unangenehm. Es war schlimm genug, dass sie die Nervosität nicht verbannen konnte; jetzt hatte Ilang sie auch noch bemerkt. „Es sind nur ein paar harmlose Tests, die wahrscheinlich nicht einmal sonderlich viel Zeit in Anspruch nehmen werden.“ Die Zeit war Fireys geringstes Problem, dachte sie, und versuchte den Drang zu unterdrücken, ihre Hand sofort aus Ilangs herauszureißen. Argh, sie benahm sich wirklich dumm! Ilang war so lieb und freundlich und Firey zitterte wie Espenlaub, nur weil sie sich teleportieren mussten. Ihre erste Teleportation. Und dann… und dann würde sie mitten ins Reich der Wächter gebracht werden. Dem Reich, in dem Green sich nun befand – wo Magie und… Unwirklichkeit herrschten. Fliegende Inseln. Dämonen, die man bekämpfen musste. Sie, mit dem Element des Feuers… Es würde schiefgehen. Es musste schiefgehen. „Bereit, Firey-san?“, fragte Ilang mit einem lieben Lächeln und drückte die Hand der unsicheren Feuerwächterin ein wenig fester, denn natürlich spürte sie, dass Firey für jegliche Form des Halts dankbar war. Die Feuerwächterin hätte es gerne hinausgezögert, aber stattdessen nickte sie. Sie musste es ja hinter sich bringen – und… sie war neugierig. Irgendwie. Das Teleportieren war eine Aktion, die sie wirklich so schnell nicht wiederholen musste. Firey war keine Person, die gerne flog – sie mochte auch nicht gerne in ein Flugzeug steigen – weshalb sie weder das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, mochte, noch plötzlich kein Gewicht mehr zu haben. Es fühlte sich befremdlich an---- aber alle Gedanken an das Gefühl des Teleportierens verpufften förmlich, als Firey zusammen mit Ilang an deren Bestimmungsort landete und sie die Augen wieder aufschlug. Firey reagierte ähnlich wie Green; auch ihr fiel erst einmal die Kinnlade herunter, als sie den Boden Sanctu Ele’Saces berührte und genau wie ihre Freundin starrte sie ihre Umgebung ungläubig an. Die Feuerwächterin war allerdings nicht an dem gleichen Ort gelandet wie Green es getan hatte; sie befand sich im Osten der Inselformation, direkt vor einer langen, nach oben gehenden Brücke, die – Firey glaubte ihren Augen nicht – die Insel mit einem fliegenden Gebäude verband. Einem fliegenden Gebäude. Voller Erstaunen blinzelte Firey noch ein paar Mal, ehe sie das weiße, hohe Gebäude genauer unter die Lupe nehmen konnte – aber da unterbrach ihr eigener Körper sie. Etwas geschah mit ihr; von einem Moment auf den anderen beschleunigte sich plötzlich ihr Herz; es begann schneller und schneller zu schlagen, ihr Körper wurde heiß--- eine Hitze breitete sich von ihrem Herzen aus; eine Hitze, die Firey bis in ihre Fingerspitzen spüren konnte. Ein komisches, aber irgendwie auch angenehmes Gefühl, das sich auch in ihrem Kopf bemerkbar machte und die Feuerwächterin dazu brachte, ihre Augen schließen zu müssen. Was war das? Was hatte ihrem Körper plötzlich befohlen, sich in diesen Zustand der absoluten Konzentration zu begeben? Jede Faser ihres Körpers, besonders ihr Herz und ihr Kopf, schienen sich auf etwas zu konzentrieren… auf die Umgebung, auf die Laute--- nein, nicht die Laute, es waren nicht nur Laute, nicht nur Geräusche, es waren… Silben, Silben, die zu… Worten geformt wurden. „… war besorgt. Mein Sohn, er kränkelte so sehr.“ „Hast du schon mit Aores-sama gesprochen?“ „Ah, ich würde es vorziehen, mit einem anderen Arzt zu reden…“ Es waren tatsächlich keine Laute und keine Geräusche gewesen, sondern Worte einer Sprache, die Firey nicht gelernt hatte, von der sie noch nie ein Wort gehört hatte – bis jetzt. Firey selbst bemerkte es nicht, dafür aber Ilang: als Firey die Augen wieder aufschlug, leuchteten sie für einen kurzen Moment feuerrot auf. „Ist alles okay, Firey-san?“, fragte Ilang mit einem etwas unsicheren Lächeln, als sie sah, wie Firey sich an den Kopf fasste, die Hand nun allerdings lösend und zur Naturwächterin blickend: „Eh, ja, alles in Ordnung.“ „Gut, dann sollten wir aufbrechen. Wir werden bereits im Inneren des Sanctuarians erwartet…“ In diesem Punkt irrte sich Ilang, denn sie wurden nicht im Inneren erwartet – man war ihnen vom Krankenhaus aus entgegengekommen: „Firey-san, nehme ich an?“ Ilang riss kurz verwundert die Augen auf, denn ihr war nicht gesagt worden, dass Hizashi es sein würde, der sich Fireys annehmen würde – sie hatte eigentlich mit einem anderen Wächter und keinem Hikari gerechnet… wenn sie das gewusst hätte, hätte sie Firey darauf vorbereitet, wie sie sich einem Hikari gegenüber zu verhalten hatte, aber da sie es nicht gewusst hatte, folgte Firey nicht ihrem Exempel, als Ilang sich vor Hizashi verneigte. Firey sah den lächelnden Hizashi kurz blinzelnd an, der für sie wie ein schneeweiß leuchtender Engel… oder ein Albino aussah – bis ihr Ilangs Verbeugung auffiel und sie sich blitzschnell ebenfalls verneigte; allerdings nicht auf die Art, wie Wächter es zu tun pflegten, sondern auf  japanische Art, weswegen sie anders als Ilang keine Hand auf ihre Brust gelegt hatte. „Sie können sich wieder erheben, Firey-san, Ilang-san. Ich habe nicht viel Zeit, denn in 40 Minuten erwarten mich meine Schüler. Folgen Sie mir daher bitte eiligen Schrittes.“ Fireys Nervosität hatte einen weiteren Schub bekommen, als sie bemerkte, dass sie sich falsch verbeugt hatte – aber scheinbar war es für Hizashi nicht schlimm gewesen, denn er lächelte immer noch auf eine absolut strahlende Art, weswegen Firey annahm, dass ihr der Fehler verziehen wurde. Sie wechselte noch einen Blick mit Ilang, die irgendwie ein wenig nervös wirkte und folgte Hizashi dann, der eine etwas ungeduldige Handbewegung machte. Ilang sah Hizashi und Firey mit einer ungewissen Unruhe hinterher: das musste sie Tinami und Kaira berichten.     Der Tag, an dem Firey zum ersten Mal das Reich der Wächter besuchte, war der 11. Februar. Während Firey von Hizashi untersucht wurde und von seinem strahlenden Lächeln und seinem weißen Äußeren fast geblendet wurde, kämpfte Green auf einer anderen Insel gerade gegen Grey. Ein Trainingskampf natürlich; ein Trainingskampf wie so viele andere zuvor. Ein Kampf, in welchem Grey bewies, dass er Green nicht weniger hart rannahm, nur weil sie seine Schwester war – er war genauso gnadenlos wie Itzumi es gewesen war, aber dennoch wusste Green ganz klar, mit wem sie lieber trainierte… … auch wenn sie gerade wieder fluchend zu Boden ging. „Nicht fluchen, Green.“ Jetzt wollte sie es erst recht, besonders wenn sie sich Grey so ansah: so...von ihrer Position vom Boden her aus. Denn wieder war es ihm gelungen, sie zu Boden zu werfen und wieder sah sie hinter seinem ernsten Blick einen leicht entschuldigenden Ausdruck. Dieser wurmte sie – aber noch mehr wurmte es sie, dass Grey absolut nicht aus der Puste zu sein schien, wie er da über ihr stand, sein Schwert locker auf dem Boden abstützend, ihr nun die Hand reichend, die Green etwas maulend annahm. „Ich muss schon weiße Kleidung tragen - ein wenig Fluchen wirst du mir schon erlauben müssen“, erwiderte Green, die Hand, die Grey gerade noch gehalten hatte, in die Hüfte gestemmt. „Du lässt es immer so klingen als wäre es Folter.“ „Ist es ja auch.“ Green grinste, um zu untermalen, dass sie die Worte nicht ganz so ernst meinte, denn ihr war nicht entfallen, dass Grey ein wenig verletzt aussah – er liebte es doch so sehr, sie in seinen Kreationen zu sehen. Und es war ja auch nicht alles komplett hässlich. Nur die Farbe war es. „Können wir jetzt die, ehm, Trainingsform ändern?“ Green machte einen Wink zu ihrem Stab, der eine für sie ungewohnte Form angenommen hatte; eine, die sie in letzter Zeit zwar öfter benutzte, aber vorher nie, denn es war die Form, in welcher ihr Stab eine Länge von drei Metern hatte. Und nach den letzten Tagen des Trainings wusste sie eindeutig, warum sie diese nicht führen mochte. „Nein, Green.“ Die Angesprochene hörte bereits den tadelnden Tonfall aus Greys Stimme heraus, welcher sich bereits für die fünfte Runde bereitmachte: „Du musst in der Lage sein, alle drei Modi deines Stabs anzuwenden. Also…“ Er lächelte sie ermutigend an: „… lass uns fortfahren.“ Green seufzte, ergab sich aber dann doch ihrem harten Schicksal. Anstatt mit ihrem Bruder die Waffen zu kreuzen, würde sie viel lieber mit ihm etwas unternehmen: wäre lieber mit ihm irgendwo auf der Welt unterwegs, anstatt hier auf dem Innenhof des Tempels zu trainieren. Das Leben mit ihrem Bruder war nämlich gar nicht so eintönig, wie Green es sich vorgestellt hatte. Ganz im Gegenteil sogar – manchmal jedenfalls! Grey hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Green das Leben so angenehm und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten und ihr dabei sehr deutlich die Vorzüge des Teleportierens gezeigt. Green hatte vorher nie darüber nachgedacht, dass einem mit der Fähigkeit der Teleportation die ganze Welt offenstand – als Grey sie einmal plötzlich fragte, ob sie einen Tag in Paris verbringen wollten, war Green daher ziemlich perplex gewesen. Natürlich hatte sie das aber nicht davon abgehalten, sofort zuzusagen und da es den Geschwistern auch nicht an finanziellen Mitteln mangelte, waren sie erst einmal ausgiebig einkaufen gegangen; Greens Idee natürlich, die von den großen Boulevards Paris‘ und den teuren Einkaufszentren vollkommen in den Bann gezogen wurde, während Grey von den Menschenmengen deutlich eingeschüchtert wirkte und sich in einigen Momenten schier an Ryô klammern musste. Geld ausgeben durfte Green trotzdem nicht so viel, wie sie es gerne hätte: schon gar nicht für Kleider. Aber sie durfte sich Kleider aussuchen, welche Grey sich einprägte und welche er für sie – mit ein paar kleinen oder größeren Modifikationen – nachschneidern würde, wenn sie ihm dann selbst gefielen, denn Grey besaß ein kritisches Auge. Zusammen hatten sie den Louvre besichtigt, wo Green sich einen Spaß daraus gemacht hatte, zu versuchen den ahnungslosen Grey davon zu überzeugen, dass sie genug Geld hätten, um die Mona Lisa zu kaufen und dass sie dies doch auf jeden Fall tun sollten. Auf ihre Albernheit fiel er blauäugig hinein: dennoch wollte er das Gemälde nicht kaufen, da er nicht verstehen konnte, warum Green – und die ganzen anderen Menschen – die Frau so hübsch fanden. Er fühlte sich von dem Lächeln eher verfolgt als von ihm fasziniert. Natürlich durfte auch der Eiffelturm nicht fehlen und so aßen sie in einem Café in der Nähe des Turms und standen danach mehrere Stunden an, um an die Spitze zu kommen – Stunden, die Grey natürlich dafür benutzte, um mit Green Theorie zu pauken. Im Stehen. Manchmal war er schlimmer als Gary – was Grey natürlich nicht hören mochte, aber Green ärgerte ihn zu gerne mit diesem Vergleich.   Und so ging es fast in jeder Hauptstadt der Menschenwelt. Egal ob es nun New York, Madrid, Kairo, London oder Mexico City war. Nur nach Tokio wollte Grey nicht, auch nicht als Green ihm vorgeschlagen hatte, ihm die Stadt zu zeigen. Er fühlte sich so oder so nicht wohl, wenn er von Wolkenkratzern umgeben war: vielleicht war das sogar ein größerer Grund als der, Green von Tokio fernhalten zu wollen. Auch die unreine Luft würde ihm womöglich nicht bekommen: nach deren New York-Ausflug hatte Grey sich erst einmal erholen müssen. Dennoch, auch wenn die Ausflüge Strapazen für den manchmal etwas kränkelnden Windwächter bedeuteten, so war es deutlich, dass sie ihm gefielen; dass sie ihnen beiden gefielen. Dies freute Ryô sehr: er hatte seinen Herren selten so ausgelassen erlebt wie in dieser Zeit und seine Gesundheit hatte sich trotz deren Reisen nicht verschlechtert, sondern eher verbessert. Dennoch… machte der Tempelwächter sich insgeheim Sorgen um seinen Freund, denn seine geliebte Schwester würde nicht ewig bleiben… und im Jenseits begann es zu brodeln. Das Jenseits interessierte Green allerdings herzlich wenig – im Moment interessierte sie nur eins: das Datum. „Grey, bald ist Valentinstag…“, begann Green, als die beiden Geschwister sich nach dem Training in den Tempel zurückzogen: Green wusste nicht, was als nächstes auf dem Tagesprogramm stand, aber sie hatte auf jeden Fall eine eindeutige Agenda. „Ah, ja, von dieser absonderlichen, menschlichen Tradition habe ich schon einmal gehört.“ „Sie ist nicht absonderlich, sie ist toll! Sie ist vor allen Dingen auch niedlich! Und sie ist wichtig!“ Grey musterte seine Schwester nachdenklich und auch ein wenig skeptisch: „Wenn du Schokolade wünscht, kannst du diesen Wunsch doch einfach äußern?“ „Ich will ja keine Schokolade haben…“ Green hakte sich bei ihrem Bruder ein und setzte ihr strahlendes Lächeln auf: „… ich will dir Schokolade schenken!“ Überraschte Scham tauchte das Gesicht ihres Bruders in eine helle Röte, auch wenn er immer noch nicht so ganz platzieren konnte, was am Valentinstag so besonders sein sollte: „Du… willst mir Schokolade schenken? Aber ich muss doch auch nur fragen…?“ Verwirrt wechselte er einen Blick mit Ryô, bis Greens süße Stimme seine Aufmerksamkeit wieder für sich einnahm.    „Grey, wirklich…“ Immer noch sah sie ihn lächelnd an, aber nun war sie es, die eine tadelnde Stimme benutzte: „… es geht nicht um die Schokolade an sich, sondern um das Verschenken. In Japan ist es so, dass die Mädchen den Jungen etwas schenken – am 14. Februar. Und am 14. März ist es dann umgekehrt.“ Green verstärkte ihr Lächeln, ließ es noch süßer wirken und verunsicherte Grey deutlich: „Man schenkt nur denjenigen etwas, die einem etwas bedeuten, verstehst du, Grey?“ Eine wohl platzierte Pause, dann fuhr Green fort: „Und ich kenne dafür den perfekten Laden…“ Sie log: Sie kaufte nie Pralinen, wenn dann würde sie sie selbst machen, das sparte bestimmt Geld: „… und würde dir gerne etwas kaufen. Aber dafür müsstest du mich kurz in Tokio alleine lassen.“ Die Röte verschwand fast wie auf Knopfdruck aus Greys Gesicht – und das Lächeln Greens ebenfalls. Mist, er hatte sie durchschaut! „Du willst nur Kontakt mit den Halblingen aufnehmen, es geht dir nicht um diesen Valentinstag.“ „Doch, das tut es – das tut es sehr wohl!“ Ryô erlaubte sich ein kleines Seufzen, während er besorgt den einen, dann den anderen musterte: zwei Geschwister, die sich nun offensichtlich wieder wegen ihres Lieblingsthemas streiten würden. „Ich habe noch nie den Valentinstag mit den beiden verbracht! Ich will ihnen wenigstens etwas schenken!“ „Es geht dir wirklich immer nur um die beiden Halbdämonen…“ Oh, stöhnte Ryô besorgt in sich hinein: hörte er da etwa Eifersucht aus der Stimme seines Freundes heraus? „… ihre Manipulation deiner Gedanken ist wirklich äußerst effektiv.“ „Argh, nicht das schon wieder! Grey, du kannst mich von mir aus auch mit Itzumi gehen lassen, die mich beobachten und dafür sorgen wird, dass ich wirklich nur Schokolade in ihren verdammten Spind lege!“ „Nein, keine Kontaktaufnahme, Green.“ „Es ist nur Schokolade, verdammt nochmal!“ „Könntest du dich einmal benehmen?!“ Eigentlich erwartete Ryô, dass Green zu einem weiteren, wahrscheinlich wüsten Schlag ausholen würde, aber stattdessen verwandelte sich die Wut in ihrem Gesicht… zu etwas anderem. Zu Traurigkeit – und mit Traurigkeit wandte sie sich auch von ihm ab. „Ich hätte dir auch Schokolade mitgenommen.“ Grey schien etwas sagen zu wollen, aber Green hatte sich bereits von ihm entfernt – um am Ende des Ganges von Pink überrascht zu werden: „Habe ich das Wort Schokolade gehört!?“ „Mein Gott, Pink!“, fuhr Green zusammen: „Wo kommst du denn plötzlich hergeschossen - hast du einen Sensor für Schokolade oder was!?“ „Aber natürlich! Ah – Green-chan, du siehst traurig aus…?“ Ryô warf einen besorgten Blick zu Grey. Doch dieser erwiderte seinen Blick nur kurz, ehe er sich abwandte: Green war nicht die einzige Person, die traurig war.     Nein, das war sie garantiert nicht. In Tokio, am nächsten Tag, war eine andere Person ebenfalls überaus traurig: jemand, der sich quer über seinen Tisch warf, als hätte er irgendeine große Schlacht geschlagen, die ihn nicht zum Sieger gekürt hatte. „Übermorgen ist Valentinstag!“, weinte Siberu: „Und Green-chan ist nicht daaaaha!“ Der Rotschopf jammerte weiter, während Gary seine Tasche auf seinem Tisch abstellte und das Jammern seines Bruders offensichtlich sehr gut ignorierte – es war ja auch nicht so, als hätte er es in den letzten Tagen nicht schon oft gehört. „Für wie groß hältst du die Chance, dass Green-chan bis übermorgen zurückkommt?“ „Ich halte sie für überdurchschnittlich gering.“ Siberu verzog das Gesicht und sah seinen Bruder anklagend an: „Wie kannst du das nur so einfach sagen!? Mein Herz! Es bricht in tausend Teile! Ein wenig Optimismus bitteschön!“ „Ich sehe es realistisch und halte es nicht für realistisch, dass Greens Training so schnell abgeschlossen ist. Das war so, wenn ich mich richtig erinnere, auch nicht vorgesehen. Greens Basis war sehr mangelhaft: Ihr Bruder und sie werden viel trainieren müssen…“ „Das werde ich Green-chan sagen.“ Garys Blick sagte deutlich, dass er dies nicht als Drohung auffasste, ganz egal wie drohend Siberu diese Worte hatte klingen lassen wollen. Doch Gary kam nicht dazu ihm zu sagen, dass diese Drohung ihn relativ wenig beeindruckte, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür des leeren Klassenzimmers und Firey kam herein. Eben noch schien sie in bedrückenden Gedanken gewesen zu sein, aber sie blieb sofort verdattert stehen, als sie bemerkte, dass sie mit den beiden Dämonenbrüdern alleine im Raum war. Gary runzelte stutzend die Stirn: irrte er sich oder hatte Firey kurz verunsichert gewirkt, fast so als wolle sie rückwärts wieder herausgehen? Sie tat es jedoch nicht; sie festigte ihren Blick und die Hand, die ihren Köcher festhielt, und ging ohne einen Ton zu sagen an ihren Platz, dabei von Siberu beobachtet, der sich sofort aufgesetzt hatte. Gary ahnte Übles: „Kann ich euch beide alleine lassen oder muss ich fürchten, dass du dafür sorgst, dass die Schule in Brand gesteckt wird?“ Die beiden Dämonenbrüder waren nämlich früher in die Schule gekommen, da Gary noch vor dem Unterricht in die Bibliothek wollte – jetzt hielt er das aber nicht mehr für ganz so sicher. „Wieso fragst du mich? Ich bin doch nicht derjenige, der Dinge in Brand steckt…“ Der tadelnde Blick Garys ließ Siberu verstummen und er setzte sein unschuldigstes Grinsen auf – es überzeugte Gary nicht sonderlich, aber der Ruf der Bibliothek war stark und er vertraute Firey, dass sie vernünftig genug war, keinen Kampf in der Schule auszulösen. Gary warf seinem Bruder noch einen letzten, warnenden Blick zu - dann verschwand er aus dem Klassenzimmer, ohne dass Firey sichtbare Notiz davon genommen hatte. Sie hängte gerade ihren Köcher über ihren Stuhl und holte die Bücher für den Unterricht aus ihrem Rucksack – das Rascheln ihrer Tasche und der Bücher war kurz das einzige, was im Raum zu hören war, bis ein irritierendes Quietschen die sachte Stille unterbrach, in dem Moment, als Siberu einen Stuhl heranschob und plötzlich vor Firey saß, die Arme auf ihrem Tisch abstützend. Irritiert hob Firey den Kopf, aber Siberu war schneller: „Und, wie war dein erster Ausflug ins Reich der Wächter?“ Fireys Irritation verwandelte sich zu Skepsis: „Woher…“ „Na, die Naturfutzi hat dich doch gestern von der Schule abgeholt.“ „Du warst doch gestern gar nicht in der Schule?“ „Ne, aber Rui, du weißt schon, meine Untergebene.“ „Und du weißt, wie absolut widerlich das klingt?“ „Ich bleibe einfach bei den Fakten.“ Siberu grinste etwas neckend, aber eher… heimtückisch, bedrohlich fand Firey sogar ein wenig und ihr Argwohn wurde größer: „Du hast Rui also den Befehl gegeben, mich zu beschatten?“ Siberu blinzelte verwundert: „Was, nein – sie hat von sich aus irgendwie einen Narren an dir gefressen.“ „Oh wie… angenehm.“ Weiter kam Firey jedoch nicht mit ihrer Beschwerde, denn schon unterbrach sie Siberu: „Ist aber ja auch absolut schnuppe!“ Er beugte sich vor und Firey stutzte über das eigentümliche, plötzliche Leuchten in seinen Augen: „Hast du Green-chan gesehen? Du bist doch ihre kommende Elementarwächterin des Feuers, oder, Flachbrett?“ Firey, gerade noch verwundert, verzog nun wieder das Gesicht und lehnte sich zurück: „Warum sollte ich dir das sagen, Bakayama?“ „Weil ich dich ganz nett frage?“ „So fragst du nett?“ Er lachte in sich hinein und Firey wusste nicht wieso, aber dieses Lachen machte sie irgendwie unsicherer als das eben gesehene, heimtückische Grinsen. Ein Grinsen kehrte auch jetzt zurück auf sein Gesicht: dieses Mal jedoch war es feixend und Firey kam nicht drum herum zu denken, dass dieses Grinsen Sho sicherlich gut gefallen würde… „Soll ich dich etwa ganz, ganz nett fragen?“ Firey konnte nichts dagegen tun, dass sie rot wurde – sie verfluchte sich dafür, aber wie das Fluchen konnte sie das Rotwerden dennoch nicht verhindern. Warum lehnte er sich dabei auch noch so… so über den Tisch… er kam ihr zu nah, viel zu nah--- „Rück mir von der Pelle, Bakayama! Gerade erst gestern habe ich gehört, dass ich mich von euch fernhalten solle. Dämonen, auch Halbdämonen, seien keinen Kontakt für Wächter. Man dürfe ihnen nicht zu nah kommen, also verzieh dich!“ „Ach?“ Das Grinsen verschwand jedoch nicht, auch wenn Siberu kurz fragend die Augen geweitet hatte: „Ist das hier etwa zu nah für dich, Flachbrett?“ „Ich warne dich…“ „Ach, tust du…“ Doch weiter kam Siberu nicht, denn ein dicker Wälzer rammte seinen Hinterkopf – eine „Waffe“ geführt von Gary, der eben wieder ins Klassenzimmer gekommen war. „Ey, Blue! Meine Haare! Und obendrein hat es auch noch wehgetan! Hast du dir mal angeguckt, wie dick dieses Teil ist?!“ Siberu wirbelte zu Gary herum, aber Gary beachtete das Jammern seines Bruders nicht, da er Firey ansah: „Ich entschuldige mich anstelle meines Bruders. Er weiß leider nicht, wie man sich zu benehmen hat.“ Firey sah ihn nur kurz schweigend an, dann nickte sie – etwas, was Gary ebenfalls tat, ehe er seinen Bruder am Kragen packte und ihn zu seinem Platz bugsierte: etwas, was natürlich nicht leise geschah. „Aniki! Das Flachbrett war im Reich der Wächter! Ich wollte nur wissen, ob sie Green-chan gesehen hat, Mann! Lass los!“ Die Erwähnung Greens brachte Gary tatsächlich dazu, seinen kleinen Bruder gehen zu lassen, welcher prompt eine Bürste und einen kleinen Handspiegel hervorholte, um seine Frisur zu retten. „Dann entschuldige ich mich noch einmal, Firey-san“, begann Gary, sich an Firey wendend, da ihm nicht unbemerkt geblieben war, dass Firey sie weiterhin beobachtete: „Wenn es um Green geht, ist Silver extra eigenartig.“ „Ich bin nicht eigenartig! Du bist eigenartig – es geht hier immerhin um Green-chan; du weißt schon, das Mädchen, das zu unserem Trio gehört und das von ihrem bekloppten Bruder gefangen gehalten und angesabbert wird?!“ „Silver, was du Grey-san immer andichtest…“ Das Klassenzimmer begann sich zu füllen, aber auch wenn andere Schüler neben Firey Platz nahmen und ihre ebenfalls ankommende Schwester natürlich ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, sah Firey immer wieder zu den beiden Brüdern herüber. Dämonenbrüder… Dämonen… von denen Wächter und sicherlich auch Menschen sich fernhalten sollten. …Aber das einzige, was Firey da sah, war ein extremer Idiot – und eigentlich einfach nur zwei Brüder, die sich wie so viele andere Brüder triezten. Einfach nur… Brüder. „Ich habe Green leider nicht gesehen. Man sagte mir, dass sie zu beschäftigt sei mit ihrer Ausbildung.“ Beide sahen zu ihr herüber – aber dann begann der Unterricht.     Wie froh war Firey nicht darüber, dass sie sich nach dem Unterricht ihrem Bogenschieß-Club widmen konnte. Das Sausen der Pfeile war beruhigend; nicht nur das ihres Pfeils, sondern auch das der anderen und endlich spürte sie, wie ihre Gedanken langsam zur Ruhe kamen, langsam wieder… in die richtigen Bahnen gelenkt wurden. Das gestrige Treffen mit… diesem Wächter, diesem… Hikari war so eigenartig gewesen. Natürlich war eigentlich alles eigenartig gewesen; sie hatte immerhin eine Stadt gesehen, die sich auf einer schwebenden Insel befand! Aber dennoch… dieser Hikari – Hizashi? – hatte ausgesehen wie ein Mensch, genau wie die anderen Wächter, aber doch war es so deutlich gewesen, dass er es nicht war – dass er ein ganz… anderes Wesen als sie war. Und so ein Wesen war Green ebenfalls? Ihr letzter Pfeil sauste ins Ziel; mitten ins Ziel, aber Firey war nur kurz stolz auf ihre Leistung, zu tief war das Seufzen, welches sich aus ihrer Kehle befreite, während sie den mittlerweile leeren Raum durchquerte und sich daran machte, die Pfeile aus der Zielscheibe herauszuziehen. Firey fand nicht, dass Green so komisch wirkte wie Hizashi. Sie war nicht… unheimlich. Er hatte die ganze Zeit gelächelt, aber das Lächeln hatte Firey nicht erwärmen können; es hatte ihn nur noch befremdlicher wirken lassen. Er war freundlich gewesen… und die Tests waren wahrlich kaum von Bedeutung gewesen… er hatte ihr nur Blut entnommen und sie eine Textstelle aus einem roteingebundenen Lederbuch vorlesen lassen… aber als Firey ihn gefragt hatte, wo denn Green sei und ob sie sie treffen könnte, hatte seine Körperhaltung sich kurz versteift. Nur einen kurzen Augenblick, das Lächeln war immer noch geblieben, aber… „Sind Sie eng miteinander befreundet?“ „Ehm, ja. Sie ist mehr oder weniger meine Schwester.“ „Ja, darüber bin ich informiert. Hat sie auch zu den anderen Mitgliedern ein gutes Bündnis?“ „Ehm, nein. Nur mit meiner großen Schwester, Sho, ehm, Shojoki.“ Hizashi nickte nur und überprüfte die Formalien, die er gerade aufgenommen hatte, während Firey auf ihrem Stuhl auf der anderen Seite des aufgeräumten Schreibtisches hin und her rückte, immer wieder auf das Buch blickend, das nach wie vor auf dem Tisch vor ihr lag. „Welchen Namen soll ich aufschreiben? Es sind sowohl „Hinako“ als auch „Firey“ vermerkt. In unserer Gesellschaft ist es allerdings den regulären Wächtern nicht erlaubt, Doppelnamen zu besitzen, verstehen Sie? Sie müssen sich für einen entscheiden, der fortan auf den offiziellen Dokumenten verwendet werden wird.“ Firey blinzelte etwas verwirrt, aber das brachte Hizashis Lächeln nicht dazu, zu verschwinden: „Der Name eines Wächters besteht aus dem Familiennamen und dem Element. Sie werden also entweder „Hinako Hii Minazaii“ heißen oder „Firey Hii Minazaii“. Wenn Sie eine andere Reihenfolge wünschen ist dies möglich, aber bitte entscheiden Sie sich und seien Sie sich sicher, denn die Reihenfolge kann nur mit einem hohen bürokratischen Aufwand geändert werden…“   „Ich entscheide mich für Zweiteres.“ Hizashi nickte und begann sofort mit der linken Hand ihren Namen auf das Dokument zu schreiben: so einfach… war das also. So einfach wurde sie ein Wächter. So einfach hatte sie nun ihren Spitznamen als… richtigen, echten Namen. Sie bereute es kurz, aber es war zu spät – und es war ja eigentlich auch passend. Es war ja eine zweite Identität. Oder nicht? Doch war es, dachte Firey, während sie die Pfeile zurück in ihren Köcher gleiten ließ, immer noch an das Treffen mit Hizashi zurückdenkend… und daran, wie sie ihn noch einmal nach Green gefragt hatte. „Kommt Green denn bald zurück?“ „Das liegt nicht in meinem Ermessen, sondern in dem ihren.“ Ob die Hikari alle so geschwollen redeten? „Ich hoffe, dass sie bald wiederkommt. Wir vermissen sie.“ Hizashi unterbrach das Zusammenräumen seiner Dokumente und drehte sich zu ihr herum. Er lächelte nicht mehr. „“Wir“?“ „Ja…“ Firey war eingeschüchtert gewesen: „… ich und Gary-san und… sein Bruder.“ „Sie sind also auch mit den Dämonen befreundet?“ Firey wollte nicht daran zurückdenken: Hizashis Tonfall hatte zu bedrohlich geklungen und so ein falsches und gleichzeitig so strahlendes Lächeln hatte sie noch nie gesehen, als er diese Frage gestellt hatte… Warum hatte er so unheimlich gewirkt? So bedrohlich? Green hatte ihr gesagt, dass Gary und sein Idiot von einem Bruder keine Feinde waren; Dämonen aber an sich schon… aber sie waren eine Ausnahme, sie durften nicht angegriffen werden… Fireys Stirn zeigte sich nachdenklich, als sie den Bogen wieder spannte und den Pfeil ein weiteres Mal anlegte, das Ziel fest im Visier. Sie ließ den Pfeil los, er sauste, schoss durch die Luft; den Pfeil, den sie zum Entspannen brauchte, der aber eigentlich eine Waffe war, eine Waffe zum... Und eine Waffe, die ins Ziel traf; mitten in die Mitte der Zielscheibe, doch auf dem Weg zerriss sie die Wange des plötzlich aufgetauchten Rotschopfs. „He, Flachbre-“ „Bakayama!“ Die Wunde war nicht tief; es war nur ein Kratzer, der nun seine Wange teilte, aber doch tief genug, um Siberu zu schockieren. Sichtlich perplex über den plötzlichen und unerwarteten Angriff starrte er auf den Pfeil, der sich gleich neben seinem Kopf in die Zielscheibe hinter ihm gebohrt hatte. „Bakayama, geht es dir gut?!“, rief Firey aufgebracht und besorgt, während sie auf ihn zustürzte.  „Ehm, ja…“ Immer noch starrte er auf die offene Wunde in seinem Gesicht und auf das Blut, das herunterlief: „Zum Glück hab ich einen Zopf getragen, ansonsten hättest du jetzt meine Haare beschädigt…“ Sofort runzelte Firey die Stirn: das war seine größte Sorge? Offensichtlich, denn er begann sofort seine Haare zu überprüfen, auf das Blut in seinem Gesicht gar nicht achtend. „Stell dir vor, wie vielen Mädchen du das Herz gebrochen hättest und das so kurz vor dem Valentinstag…Du bist wirklich eine brutale Furie, ganz wie Rui es sagt!“ Ihre Sorge und ihr Mitgefühl verschwanden sofort und gereizt stemmte sie die Hände in die Hüfte: „Ja, natürlich, alle Mädchen der Schule hätten geweint.“ Siberus ernstes Gesicht sagte ihr ganz deutlich, dass er genau das annahm, aber er kam nicht dazu, es auch noch zu sagen: „Dir ist klar, dass du selbst Schuld bist, oder? Was tauchst du auch plötzlich vor mir auf, während ich bogenschieße?“ Siberu sah auf und musterte Firey, die in ein traditionelles japanisches Gewand gekleidet war, welches ihre momentane Tätigkeit unzweifelhaft unterstrich und sah dann offensichtlich ein, dass er vielleicht nicht das beste Timing gehabt hatte: „Ja, gut, das war wahrscheinlich nicht unbedingt intelligent.“ „Nein, war es nicht.“ „Ey, bist du mein Bruder?”, antwortete Siberu schnippisch und Firey bereitete sich schon auf einen Streit vor, die Frage ganz vergessend, warum Siberu überhaupt plötzlich vor ihr aufgetaucht war – aber der Rotschopf hatte tatsächlich einen triftigen Grund für seine Überraschungsteleportation, weshalb er davon absah, sich mit Firey zu streiten; auch wenn es immer wieder ein Genuss war. „Ich habe mich zu dir teleportiert, weil ich deine Hilfe brauche!“     Das war das erste und einzige Mal, dass sie Siberu helfen würde. Das erste und einzige Mal, das schwor sie sich. Nie wieder, oh nein, nie wieder! Wenn sie das nächste Mal so etwas hören würde, würde sie sofort fliehen! Warum geschah das hier nochmal?! Warum rannte sie nochmal um ihr Leben? Ach ja – wegen Green. Firey tat es, weil sie Siberu zu lange zugehört hatte – schwerwiegender Fehler – der davon überzeugt gewesen war, dass sie Green „herauslocken“ könnten. Er spürte einen Dämon, hatte er ihr beschworen – außerhalb der Stadt und er benötigte ihre Hilfe. Wenn sie zusammenarbeiten würden, dann würden sie dafür sorgen, dass Green zu ihnen kommen würde: das Bekämpfen der Dämonen sei doch ihr Gebiet und wenn akute Gefahr im Verzug war, dann musste sie einfach auftauchen – ein perfekter Plan, wie Siberu fand und wenn Firey dabei war, würde sie erst recht kommen, immerhin war Firey doch noch eine Nachwuchswächterin und obendrein auch noch die einzige Elementarwächterin des Feuers! Sie wollte Green doch sehen? Natürlich wollte sie – aber sie wollte sich deswegen nicht in Lebensgefahr bringen?! Und die Kämpfe bedeuteten doch Lebensgefahr; das hatte sie bei ihrem einen Kampf, dem sie beigewohnt hatte, doch selbst bemerkt?! Aber Siberu hatte nur lachend gemeint, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte; er war ja da und würde schon auf sie aufpassen. Diese Worte hatte er mit einem charmanten Lächeln unterstrichen; einem charmanten Lächeln, welches zwar Fireys Herz dazu gebracht hatte, sich zu beschleunigen, nicht aber ihre Meinung zu ändern – sie vertraute ihm viel zu wenig, um ihm ihr Leben anzuvertrauen?! Und ihren „Fähigkeiten“ als Wächter erst recht nicht… aber Siberu hatte nicht gefragt. Er hatte einfach ihre Hand genommen. Und daher rannte sie nun; rannte um ihr Leben und vor einem Dämon davon, da ihre Beine sich einfach von selbst in Bewegung gesetzt hatten, als sie dieses fliegende, lilaleuchtende Monstrum gesehen hatte. Fast auf Knopfdruck hatten sich ihre Beine bewegt; sofort den Rückwärtsgang eingeschlagen, ihren Bogen an sich drückend – und auch genau in dem richtigen Moment, denn schon hatte der Dämon einen schwarzen Energiestrahl entfesselt, welcher Firey fast zu Fall gebracht hätte. Niemals hätte Gary so etwas getan; nicht nur auf die Schnapsidee wäre er nicht eingegangen, sondern auch diese waghalsige Teleportation inmitten des Angriffszirkels des Gegners hätte er nie zugelassen. Aber Gary war nicht da. Gary wusste nichts von alledem: er saß immer noch in seinem Mathe-Club und freute sich über das Vergnügen, mehr und mehr lernen zu können. Er ahnte nichts von den fixen Ideen seines Bruders und ahnte auch nicht, dass dieser sich gerade inmitten von Containern in einem Industriegebiet befand – zum Glück war es wenigstens verlassen. Aber das war das einzige, was „nach Plan“ verlief.    „Warum rennst du denn weg?!“ „Weil da ein schwarzer Strahl aus dem Maul von diesem Etwas kam?!“ Siberu runzelte die Stirn – für ihren Geschmack sah er viel zu entspannt aus; er schien sich auch nicht sonderlich anstrengen zu müssen, um mit ihr Schritt zu halten: „Ich meine gehört zu haben, dass Feuerwächter in der Offensive kämpfen?“ Firey antwortete nicht; sie konzentrierte sich zu sehr darauf zu rennen; klammerte sich zu sehr daran, in diesem Containerlabyrinth nicht plötzlich in eine Sackgasse zu rennen und hörte daher nicht, wie Siberu seufzte: „Ich glaube, das war keine gute Idee.“ „Nein, wirklich?!“ Noch ein Strahl; der Boden unter ihren Tabi-Socken bebte, sie musste springen, sie fürchtete zu fallen, zu stürzen und dann war alles aus; so einen Strahl konnte ein Mensch doch nicht überleben?! Aber Firey sprang; ihr blieb auch gar nichts anderes übrig, denn der Weg war vorbei, es ging steil herunter; wenn sie sich abrollen könnte… Eine gute und rettende Idee, aber Firey kam nicht dazu, sie umzusetzen, denn Siberu beschloss mit einem ernsten Gesichtsausdruck, dass es wirklich keine gute Idee gewesen war – er sah es in Fireys angstvollem Gesicht, in ihren panischen Augen, die sich nun schockiert weiteten, als Siberu sie packte und sie sich überrascht an seiner Schulter festklammerte. Siberu hatte es tatsächlich nicht besonders eilig gehabt: der gegnerische Dämon war nicht gerade schnell, gar nichts im Vergleich zu seiner Schnelligkeit, die er nun auch bewies, als er mit Firey zusammen in die Luft sprang, sich herumdrehte und die schwarze Strahlenattacke mit derselben parierte, freigesetzt und abgeschossen von seiner ausgestreckten Hand. Argh, die Stärke des gegnerischen Dämons hatte Siberu allerdings unterschätzt und ein Fluchen drang aus seinen zusammengebissenen Zähnen: auch die Druckwelle war größer als erwartet, als die beiden Attacken zusammenprallten. Die freigesetzte Magie brannte an der Wunde, die er Firey zu verdanken hatte und er spürte, wie seine Haare und die Fireys wie aufgeschreckt um sie herum flatterten, zusammen mit dem angstvollen, erstickten Schrei Fireys, die sich schon schmerzhaft an ihn klammerte. „Sorry, Firey“, brachte Siberu unter Zähneknirschen hervor, die Attacke aufrechthaltend: „Um meinen Bruder zu zitieren… ich habe mal wieder gehandelt, bevor ich nachgedacht habe--- Ich dachte, dass es die Wächter wohl herzlich wenig kratzt, wenn sich zwei Dämonen prügeln und wollte dich deswegen mithaben…“ Er war wirklich ein Arschloch; ein unglaubliches, widerliches Arschloch, fluchte Firey in sich hinein, während sie gleichzeitig aber auch hoffte, dass er sich gefälligst zusammennahm und sie beide beschützte--- „Das tut mir leid.“ Er sollte einfach ruhig sein und sich konzentrier--- Siberu verstärkte den Angriff, verstärkte die Magie – und es gelang ihm, der Dämon wurde zurückgeschleudert, Container rummsten und krachten in sich zusammen, genau wie Fireys Beine, als Siberu sie eilends absetzte, sie besorgt musternd: „Wirklich“, begann er noch einmal, die Hand immer noch an Fireys Hüfte: „… ich wollte dir keine Angst machen.“ Firey starrte ihn nur ungläubig an, während der Köcher von ihrer Schulter rutschte und auf den Boden glitt. Anders als ihr Köcher bewegte Firey sich jedoch nicht; sie konnte sich nicht von ihrem Schock lösen, als Siberu sie losließ und sich, genau wie der andere Dämon, aufrichtete: „Rui!“ Die Reaktion folgte sofort: wie aus dem Nichts, als hätte Rui nur darauf gewartet, tauchte sie neben ihrem Gebieter in der Luft auf, wo sie auch hängen blieb, ganz perplex über die Situation, in der sie Siberu vorfand – und über seinen ernsten Blick, der sie zum Erröten brachte: „Beschütze Firey, während ich mich um den Gegner kümmere.“ „Natürlich, Silver-sama, zu Befeh – was?!“ Aber der Angesprochene hörte Ruis Proteste nicht, denn er war schon losgeflitzt – und zwar mit glühender Hand, bereit sofort ein weiteres Mal anzugreifen. „Was geht hier eigentlich vor sich?!“, rief Rui verwirrt, die sich tatsächlich vor Firey hinstellte, bereit Siberus Befehl auszuführen, wenn es Not tat – auch wenn sie gerade die Hände in die Hüfte gestemmt hatte und auf die zitternde Firey herabsah, die sie mit geöffnetem Mund anstarrte und leicht mit dem Kopf schüttelte. Sie hatte keine Ahnung. Sie war zu verwirrt; zu verwirrt von dem, was eben geschehen war, zu verwirrt von den Schmerzen, die sie irgendwie in ihren Knochen spüren konnte, als würden sie beben und als würde das Beben an sich ihr Schmerzen bereiten… und wieder einmal zu gelähmt davon zu sehen, wie ein Mensch – Siberu sah immerhin aus wie einer – gegen ein so großes Ungetüm kämpfte. Firey schluckte und zwang sich, ihren Gedanken zu korrigieren: Siberu war nicht menschlich. Er war ein Dämon. Und deswegen gelang es ihm auch auszuweichen, nicht von den Attacken des… Aber da wurde er getroffen; gerade als Firey den Gedanken in ihrem Kopf formuliert hatte, war es geschehen und sofort, im gleichen Moment, als Rui Siberus Namen rief, war auch Firey aufgesprungen. Die Attacke des Gegners hatte seine Hüfte gestreift, als er seine Hände benutzt hatte, um sich auf dem Untergrund abzufedern – die Hände hatten ihn aber nicht gehalten, er war mit schmerzverzerrtem Gesicht eingeknickt… und von den Handgelenken blutete es?!   --------------ihr Herz, es schlug so schnell, es tat so weh – war das Angst? War das Todesangst?   „Silver-sama!“ Rui wollte auf den sich aufrappelnden Siberu zustürzen, aber seine Stimme hielt sie davon ab ---- Siberu sah nicht so aus, als verspüre er… Todesangst – er sah verbissen, entschlossen aus --- man sah ihm die Schmerzen an, aber keine Angst --- es musste so wehtun: die Wunden an seinen Händen, die Wunde an seiner Hüfte…   „Nein! Bleib bei Firey! Nein, noch besser---“ Seine roten Augen huschten kurz zu den beiden Mädchen --- er hatte wieder die Zähne zusammengebissen, aber auch aus diesen trat Blut hervor--- „--- teleportiert euch weg, ich mach…“ --- ihre Hand hatte ihren Bogen nicht losgelassen--- ihr Köcher lag neben ihr, im Köcher lagen Pfeile ---   Fireys Hand nahm den Pfeil--- „Runter, Siberu!“ --- und sie schoss ihn ab.   Es war knapp; ganz knapp – der Dämon hatte sich zu einem Angriff bereit gemacht, seine gelben Augen hatten aufgeleuchtet, genau wie Siberus kurz geflackert hatten – aber dann schoss der Pfeil Fireys ein weiteres Mal an diesem Tag an seinem Kopf vorbei und direkt in das linke Auge des Dämons, in welches er sich hineinbohrte und fast horizontal steckenblieb. Eine Blutfontäne ergoss sich über dem perplexen Siberu, der irgendwie nicht zu begreifen schien, was da gerade geschehen war – dass Firey ihn gerettet hatte; Firey, die er gerade eben noch hatte beschützen müssen und die so… angstvoll ausgesehen hatte. Auch jetzt, als Siberu sich, blutüberspritzt, zu ihr herumdrehte, sah er, dass sie bleich war; dass das Entsetzen in ihren Augen stand. Aber jetzt war es nicht die Angst, sondern die Abscheu, die ihr die Gesichtsfarbe raubte – es war das schmerzhafte Schreien, das gepeinigte Jaulen des Dämons, das dafür sorgte, dass Firey der Bogen aus der Hand glitt. „Er… er weint ja…“ „Ja, was hast du denn geglaubt?!“, fuhr Rui sie von der Seite her an: „Dass er sich freut, einen Pfeil im Auge zu haben?!“ Sie wandte sich von Firey ab, setzte wieder dazu an, zu Siberu zu rennen, unterbrach sich jedoch, schnell zu Firey herumwirbelnd: „Danke – und gut getroffen… oder so.“ Doch wieder kam sie nur einen Meter, ehe sie überrascht stehenblieb, als ein erneuter schwarzer Magiestrahl die Container um sie herum in schwarzes Licht hüllte – dieses Mal stammte die Magie allerdings weder von dem leidenden Dämon, noch von Siberu – sondern von einem vierten Halbdämon, der sofort, kaum dass der gegnerische Dämon weggeschleudert wurde, neben seinem Bruder landete. „Silver!“ Sofort war Gary da, um seinem Bruder hochzuhelfen und ihn zu stützen, ihn besorgt ansehend, ehe er mit Fragen und Tadel kam: „Geht es dir gut?!“ „Ja, geht – diese verdammten Tempelwächterverletzungen sind wieder aufgegangen…“ Er blinzelte seinen besorgten Bruder etwas erschöpft und mit blutverschmierten Gesicht an: „Aber es geht schon, wirklich, Aniki.“ Sonderlich überzeugt wirkte Gary nicht, aber er wandte seinen Blick dennoch von Siberu ab und musterte den Dämon skeptisch, der rund fünfzig Meter von ihnen entfernt auf der Spitze eines Containers gelandet war und dabei war, sich Fireys Pfeil aus dem Auge zu ziehen – erbleichend sah Firey weg. „Was ist das überhaupt für ein Dämon?!“, fragte Gary, als erwartete er eine kluge Antwort von Siberu, die er natürlich nicht bekam: „Ich habe keine Ahnung; ich kenne ihn nicht – aber als ich ihn spürte, rief er förmlich „Töte mich“.“ „Wie bitte?!“ Und schon war da der tadelnde Ausdruck in Garys Stimme: „Ich finde nicht gerade, dass das ein ausreichender Grund hierfür ist, Silver?!“ „Das ist auch nicht der Grund!“, antwortete Siberu plötzlich verzweifelt: „Ich wollte dafür sorgen, dass Green-chan kommt! Ich wollte sie wiedersehen!“ Innig festigte sich Siberus Griff um Gary: „Ich vermisse sie so, Blue!“   „Silver…“ Der tadelnde Tonfall war aus Garys Stimme verschwunden; das Gefühl, sein Bruder benötigte Trost, überkam ihn plötzlich, als wären sie noch kleine Kinder – als ein Teil von Siberus Plan plötzlich aufging und ein violetter, übergroßer und unheimlich spitzer Sekundenzeiger, geführt von einer überaus präzisen Hand, den Dämon sang- und klanglos köpfte. Und schon landete Kaira mit festem Schritt neben Firey. Rui suchte sofort das Weite, als fürchtete sie, der Sekundenzeiger würde auch sie in Funken verwandeln, aber Gary und Siberu drehten sich zu Kaira herum: Siberu mit einem hoffnungsvollen Strahlen in den Augen, aber… Kaira war nicht mit Green gekommen, sondern mit der Wasserwächterin Azura… von deren Hikari war nichts zu sehen. „Was geht hier vor sich?“ Kaira schien sie alle gleichzeitig anzusehen; überaus feindlich, während Azura Firey fürsorglich auf die Beine half und Rui sich neben Siberu platzierte, als könnte er sie beschützen. Aber das konnte er nicht: da Gary immer noch seinen Arm um seinen Bruder gelegt hatte, hatte er förmlich gespürt, wie Siberu entkräftet und enttäuscht in sich zusammengesackt war, als er gesehen hatte, dass Green… nicht da war. „Will mir hier niemand eine Antwort geben?!“ „Nun, es ist ein Dämon aufgetaucht…“, versuchte Gary mit einer ruhigen Stimme zu erklären, wurde aber sofort von Kaira unterbrochen: „Und was geht euch das an?! Führt ihr jetzt einen Halbdämonenkrieg in der Menschenwelt?!“ „Nein. Die Situation, Kaira-san…“ Kairas Auge zuckte gefährlich, als er sie so nannte, aber Gary fuhr dennoch fort: „… ist etwas außer Kontrolle geraten.“ „Es ist meine Schuld.“ Gary schlug überrascht die Augen auf und sah verwirrt auf seinen Bruder herab, der sich von ihm löste und aufrichtete; seinen Beinen ging es ja auch gut, nur von seinen Handgelenken tropfte das Blut herunter… und von einer Hüftverletzung. „Ich hatte gehofft, dass Green-chan geschickt werden würde, wenn in der Menschenwelt Gefahr droht.“ Kaira hob zweifelnd die Augenbraue und tauschte einen Blick mit Azura aus, welche dann auch fortfuhr, als hätte der Blick ihr gesagt, dass sie antworten solle: „Green ist unsere Hikari. Sie wird nicht ausgesandt wegen einem Dämon, dem wir uns auch widmen können. Es ist ohnehin so, dass wir alle unterschiedliche Gebiete haben, für die wir verantwortlich…“ „Das reicht Azura, diese Halblinge müssen ja nicht alles wissen.“ Azura schwieg sofort, ein wenig eingeschüchtert wirkend. Gary dagegen hob zweifelnd die Augenbraue: als ob das nun das große „Top Secret“-Geheimnis wäre. Das war eigentlich allgemein bekannt – nur scheinbar nicht für seinen kleinen Bruder. Aber Gary war nicht in der Stimmung, ihn zurechtzuweisen; dafür… sah er gerade zu traurig aus. „Ich wollte einfach, dass Green-chan vorm Valentinstag zurückkommt…“ Gary wollte Siberu am liebsten unterbrechen, genau wie Kaira es bei Azura getan hatte, und ihn darauf hinweisen, dass das nicht jeder wissen musste, aber er brachte es nicht über sein Herz: „… wir wollten meinen ersten Valentinstag zusammen genießen. Sie hat mir gesagt, dass sie Schokolade machen wird, die ich nie vergessen werde…“ Kaira hob zweifelnd, absolut unberührt die Augenbraue, ebenso wie Azura; Rui wollte Siberu umarmen, aber er wehrte sie ab – und Firey… Firey wusste, dass sie allen Grund hatte, böse auf ihn zu sein. Aber sie konnte es nicht, denn genau wie Gary brachte auch sie es nicht übers Herz.     Die Akte mit Fireys Namen hatte einen Platz auf Hizashis Schreibtisch gefunden; neben den Aufsätzen der ersten und dritten Klasse. Die Aufsätze über die sieben Teufel, die die zweite Klasse gerade hatte schreiben müssen, lagen vor ihm und wurden von seinem aufmerksamen, stets kritischen Auge gerade mit Hilfe einer in rote Tinte getauchten Feder auf Fehler überprüft, als Adir hereinkam – ohne anzuklopfen, was nicht gerade dafür sorgte, dass Hizashi das Gespräch mit guter Laune begann, besonders da er gerade fast einen roten Strich über das Papier gemacht hatte. „Adir-san, womit kann ich Ihnen…“ „Geht es der Feuerwächterin gut?“ Hizashi mochte es nicht, unterbrochen zu werden, weshalb sich seine Stirn auch kurz dunkel verzog, aber dann zwang er sich doch zu seinem Lächeln, während er sein Monokel von seinem linken Auge löste. „Warum sollte das Befinden der Hii denn in Gefahr sein?“ Adir war kurz davor, die schnippische Antwort zu geben, dass die Frage alleine schon deshalb berechtigt sei, weil es Hizashi gewesen war, der mit dem Mädchen gesprochen hatte, aber er wählte die diplomatischere Variante: „Weil Shaginai mir berichtet hat, dass Sie eine Gedächtnislöschung beantragt haben.“ „Das habe ich in der Tat – und deswegen stürzen Sie in mein Büro während der Arbeitszeit?“ „Haben Sie schon wieder die verbotenen Künste angewandt, ohne vorher vom Rat oder dem Gericht eine Erlaubnis dafür einzuholen, Hizashi-san?“ Das Lächeln auf Hizashis Gesicht war nun definitiv dahin – und auch Adir versuchte gar nicht erst, sonderlich freundlich zu wirken, als er fortfuhr: „Das junge Mädchen ist genauso wenig wie die beiden Offiziere zu Beginn des Jahres ein Sonderregelfall, und dennoch haben sie die Erinnerungen der beiden Offiziere – hochrangige und brave Wächter – gelöscht. Ohne rechtliche Erlaubnis. Diese Techniken, Hizashi-san, sind nicht umsonst verboten.“ „Ich glaube, das weiß ich, Adir-san. Aber vielen Dank für die Aufklärung.“ Hizashi legte seine Finger zusammen und lehnte sich ein wenig demonstrativ in seinem eisernen, nicht sonderlich bequem aussehenden Stuhl zurück:   „Lassen Sie mich Sie nun aber ebenfalls aufklären, denn scheinbar sind Sie etwas schnell zu etwaigen Konklusionen gesprungen oder aber Shaginai-san hat Sie nicht vollends informiert… Ich habe eine Erlaubnis für zukünftige Anwendungen der verbotenen Technik Nummer Fünf beantragt, weil die Hii ebenfalls Kontakt zu den Halbdämonen hat. Eine Gedächtnislöschung könnte daher noch nötig sein… anders als bei den beiden Offizieren zu Beginn des Jahres befand ich mich jedoch nicht in einer Notsituation, weshalb ich den sofortigen Einsatz nicht für nötig erachtete, Adir-san. Das Gespräch von mir und der Hii verlief ganz nach Schema. Es fand keine… Willkür statt, falls es das ist, was Sie befürchtet haben.“ „Das habe ich in der Tat.“ „Die heiligen Regeln befehlen mir, ehrlich zu sein und ehrlich sage ich Ihnen, dass Sie mich mit diesen Worten kränken.“ Adir antwortete nicht. Denn wenn er sagen würde, dass es ihm leid täte, dann wäre es eine Lüge.     „Bakayama.“ Es war immer etwas schwer, sich mit Rui am Arm herumzudrehen – dafür hielt sie seinen Arm zu fest umklammert, aber es gelang Siberu dennoch. „Huh?“ Sein Blick war skeptisch, als er Firey ein paar Meter vor sich entdeckte; natürlich lange nicht so skeptisch wie der von Rui, welcher bereits Funken sprühte, ganz egal ob Firey ihrem Gebieter vorgestern noch das Leben gerettet hatte oder nicht. Aber die Skepsis löste sich in einem fragenden Blick auf, als Siberus Augen sich vor Überraschung weiteten – denn Fireys sture Körperhaltung, den Köcher an sich gedrückt, Siberu widerspenstig ansehend, verschwand, als sie plötzlich auf ihn zuging und ihm ein flaches Geschenk reichte. Siberu nahm das in blau eingepackte Geschenk allerdings nicht an, sondern betrachtete es nur, als wäre es ein eigenartiger Fremdkörper, mit dem er nichts anfangen konnte – obwohl heute doch Valentinstag war und er mehr Geschenke bekommen hatte, als dass er sie an zwei Händen abzählen konnte. „Ist das etwa… Valentinstagsschokolade?“, fragte Siberu, Firey verwirrt blinzelnd ansehend, während Rui fauchte wie eine wütende Katze. „Das ist ein Dankeschön für… deinen Einsatz vorgestern“, erwiderte Firey und die Röte auf ihren Wangen brachte sie dazu, kurz wegzusehen, als könne sie nicht mit eigenen Augen mitansehen, wie Siberu das Geschenk annahm. „Valentinstagsschokolade vom Flachbrett…“ Siberu sah auf das Geschenk, welches er nun zwischen seinen Fingern hin und her wog: „Das hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht! Findest du wirklich, dass ich sie verdient habe?“ „Sei einfach ruhig und iss sie, bevor ich es bereue.“ „Ich hoffe, du hast sie nicht selbst gemacht – ich muss keine Vergiftung befürchten?“ „Bakayama…“ „Ich werde vorkosten, Silver-sama!“ Der Angesprochene lachte und als Firey sich wieder traute hinzusehen, spürte sie ungewollt, wie ihr Herz sich beschleunigte, als sie… ihn einfach nur grinsen sah. „Nein, nein, Rui, das ist meine!“ Panik stand plötzlich auf Ruis Gesicht und sie ließ sogar den Arm ihres Angebeteten gehen – und als er sich herumdrehte, um sich von den beiden Mädchen zu entfernen, rannte sie ihm auch nicht hinterher, sondern starrte ihm nur verängstigt und mit Tränen in den Augen nach, während Siberu die bandagierte Hand hob, das Geschenk lässig zwischen die Finger geklemmt.   „Danke, Firey!“ Firey dagegen… sie spürte, wie sie fast lächeln wollte. „Wirklich, du hast sie gar nicht verdient… Siberu.“ Aber nur fast. Kapitel 38: Die letzten vier Zentimeter ---------------------------------------                       „My broken wings… still strong enough to cross the ocean with…My broken wings… how far should I go drifting in the wind…“   Ununterbrochen ging der Regen auf den Tempel nieder; nicht gerade das perfekte Wetter um sich aufzuheitern, dachte Green seufzend, die letzten Töne des Liedes nachsummend, mit den Augen auf dem leuchtenden Display ihres Mp3-Players, der gerade die letzten Sekunden von Tomoko Tanes „Broken Wings“ einleitete. Sie hatte Itzumi beauftragen müssen ihn aus ihren Zuhause zu holen, da sie selbst immer noch nicht dahin zurückkehren durfte.   Vier Monate schon… Vier Monate war es her, seitdem Gary sie gerettet hatte. Immer noch gab es keine Anzeichen dafür, dass Green sich bald auf den Heimweg machen durfte. Im Gegenteil! Das Zimmer welches sie hier hatte, war schon überfüllt mit ihren privaten Sachen, unzählige Kleider hatte sie jetzt schon von Grey bekommen, hingen einsatzbereit im Kleiderschrank und das was Ryô anfangs prophezeit hatte, war wahr geworden: Green kannte jeden noch so kleinen Geheimgang im Tempel. Die unterirdischen Gänge entlang des „Sancire“, die Kerkergänge, einen Geheimgang in der Bibliothek und sämtliche Abkürzungen. Zusammen mit Pink hatte sie sich einen Spaß und eine Herausforderung daraus gemacht diese zu suchen – natürlich hatte sie Ryô einfach nur fragen müssen, denn er und Itzumi – als Tempelwächter – wussten natürlich wo die Geheimgänge zu finden waren, aber stattdessen hatte Green immer nur um einen kleinen Tipp gebeten, damit sie zusammen mit Pink auf die Suche gehen konnte. Auf diese Art hatte sie nun mehr Winkel des Tempels kennengelernt, als von denen Grey überhaupt wusste – aber obwohl sie den Tempel jetzt schon so gut kannte… heimisch fühlte sie sich dort nicht gerade, obwohl ihr Zimmer mit privaten Dingen gefüllt war und sie Geheimgänge gefunden hatte.   Im Augenblick war Grey mal wieder im Jenseits, während Green mal wieder einen Haufen Bücher vor sich liegen hatte und sich eigentlich Notizen machen sollte, aber sie drehte die Feder in ihrer Hand nur, anstatt sie zum Schreiben zu benutzen. Dieser Teil des Trainings war zwar kein besonders anstrengender, aber definitiv der langweiligste; Greens zog da eindeutig den praktischen Teil des Trainings vor, aber Grey meinte, dass auch dies zu ihrem Training gehöre. Tz, lesen konnte sie jawohl gut genug.   Green suchte aus dem Bücherhaufen ein paar Bücher die irgendwie vielversprechend klangen; vielversprechend für ein Wächterbuch versteht sich. Hatten die Wächter eigentlich überhaupt keine Romane?! Denn auch wenn sie schon solange in diesen „goldenen Käfig“ eingesperrt war und Tag aus Tag ein von den Heldentaten der Wächtern und vor allen Dingen der Hikari lass oder hörte; sie hatte garantiert nicht begonnen daran Gefallen zu finden und die Notizen, die sie sich schrieb waren eher Dinge, über die sie gestolpert war, die sie irgendwie abnorm oder ulkig fand und die sie daher unbedingt Siberu und Gary erzählen wollte.  Wann auch immer das sein würde.    Vier Monate…  Wieder dachte Green an ihre dämonischen Freunde und spulte das Lied noch einmal zurück. Ob die beiden wohl in ihre Welt zurückgekehrt waren? Oder warteten sie auf Green? Gingen sie ganz normal zur Schule?    Man konnte ihnen wohl nicht verübeln, wenn sie es nicht taten… Vier Monate waren eine lange Zeit… aber sie konnte sich irgendwie gar nicht vorstellen, dass sie nicht in Tokyo sein sollten. Irgendwie waren sie doch immer mit jener Stadt verbunden; wenn Green an Tokyo dachte, dann waren da unweigerlich auch die beiden Dämonenbrüder, wie auch umgekehrt. Gary war ja früher – als sie noch nicht befreundet gewesen waren – ja auch nie für längere Zeit weggewesen; sie hatte nie irgendetwas bemerkt, was darauf hindeuten würde, dass er in der Dämonenwelt und nicht in Tokio gewesen war. Obwohl – das musste sie sich selbst eingestehen, während sie Garys Anhänger in die Hand legte, der vorher auf einem der Büchertürme gelegen hatte – sie hatte auch nicht sonderlich darauf geachtet was Gary damals getan hatte. Wenn er nicht da war, war es für sie positiv gewesen. Wenn sie so genauer darüber nachdachte dann wusste sie nicht einmal wo er vorher gewohnt hatte.   Green schmunzelte und legte den Anhänger – den Grey ein „billiges Stück Plastik“ genannt hatte, als er ihn entdeckte – wieder zurück auf die Bücher. Es hatte sich wirklich sehr viel in nur kürzester Zeit verändert. Vor knapp einem halben Jahr noch hätte sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendet wo Gary sich aufhielt und jetzt? Naja, jetzt saß sie ja auch in einem Lesesaal im Tempel, einer fliegenden Insel und hatte einen stets beschäftigten Bruder und eine quirlige Cousine, die… wo war sie eigentlich?  Gerade in dem Moment, als Green die Kopfhörer von den Ohren herunter rutschten ließ, klopfte es an der Tür – und da Pink um einiges energischer Klopfen würde, wenn sie überhaupt Anklopfen würde, hatte schon einen Verdacht wer es sein konnte und sofort verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck, besonders als ihr Verdacht sich bestätigte und Itzumi herein kam.    „Hikari-sama, das Essen ist angerichtet.“   „Nenn mich nicht so, wie oft eigentlich noch?“ Die Beiden Wächter sahen sich kurz stur an, keiner gewillt irgendetwas dazu zu sagen, weshalb Green etwas unwirsch fragte, ob Grey denn schon zurück sei. Die Angesprochene senkte den Kopf und verneinte.   „Gut, dann bring mir das Essen auf mein Zimmer, ich komme gleich“, seufzte Green und bemerkte selbst, wie es ihr absolut nicht gefiel, dass Grey mal wieder nicht anwesend war. In den letzten Wochen war er ständig weg, ständig außer Haus, oder eher: außer Welt. Ständig war er im Jenseits. Was er da wohl die ganze Zeit tat? Gut, Green war hier um zu trainieren und das taten sie auch, denn es war ja nicht so, als ob Grey den ganzen Tag im Jenseits verbrachte – er verschwand immer erst, wenn das Training für den Tag abgeharkt war, blieb dann aber meistens lange weg. Dank Pink fühlte Green sich nicht einsam, nein, so war es nicht und gelangweilt auch nicht, denn Pink sorgte schon dafür, dass keine Langeweile aufkam – trotz der vielen Bücher die Grey Green zum Lesen auftrug – aber Green hätte nichts dagegen wieder mehr Zeit mit Grey zu verbringen. Als… Geschwister. Nicht als Lehrer und Schüler. Deren Ausflüge waren in letzter Zeit so rar geworden.  Seine Gesundheit schien auch irgendwie zu leiden. Er versuchte es vor Green und Pink geheim zu halten, doch einmal hatte sie gesehen wie er beinahe zusammengebrochen war und Ryô ihn stützen musste. Er aß weniger als sonst und seine Hautfarbe ähnelte langsam der ihrer Mutter! Green hatte versucht ihn darauf anzusprechen, aber immer wieder hatte er beteuert, dass es ihm gut ginge.  Da war definitiv etwas faul.   Trotz dieser recht düsteren Gedanken musste Green ein wenig in sich hinein lachen – auch da war etwas, dass sich verändert hatte, denn den Bruder, der so plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war, hatte sie richtig lieb gewonnen. Daher kam auch die Sorge um ihn; sie war sogar so groß geworden, dass sich einmal dabei erwischt hatte ihn fragen zu wollen, ob er sie nicht mitnehmen wollte ins Jenseits. Aber sie hatte sich noch selbst davon abhalten können. Sir wollte nicht ins Jenseits. Nein, um alles in der Welt wollte sie nicht ins Jenseits.   „Eine Sache noch, Itzumi!“ Itzumi hatte die Tür schon geöffnet und hatte sie wohl eigentlich schon verlassen wollen, als Green aufsprang:  „Wo ist Pink eigentlich?“  „Ich habe Eure Cousine vor einigen Minuten noch in der Bibliothek gesehen“, antwortete Itzumi und verwundert sah Green drein. In der Bibliothek? Was tat denn ausgerechnet Pink in der Bibliothek? Besonders um diese Uhrzeit? Es gab im Tempel immer pingelig zur gleichen Zeit essen und obwohl Pink sich eigentlich keinen Begriff um die Zeit machte, so merkte sie fast instinktiv immer, wann es Zeit war zu Essen. Es sei denn… aha!   Itzumis Gesicht verfinsterte sich sofort und wurde dunkler als das bedrückende Wetter Draußen vor den Fenstern, als Green sich an ihr vorbei durch die Tür drängte und schon den Gang herunter lief; offensichtlich jeden Gedanken an irgendein Abendbrot vergessend, denn  wenn sie in ihr Zimmer wollte, rannte sie in die falsche Richtung.  „Euer Essen, Hikari-sama?! Ich dachte ihr wolltet in Eurem Zimmer dinieren!?“  „Ach, ne, lass mal, ich esse später!“ Green kümmerte es nicht im geringsten wenn sie sich irgendwelche Minuspunkte auf ihrem Itzumi-Konto einheimste – es konnte wahrscheinlich ohnehin nicht schlimmer werden als ohnehin schon.       Obwohl Green wusste was Pink in der Bibliothek wollte, so wunderte es sie dennoch, dass was Pink daran interessant fand. Sie war sicherlich wegen dem Gestern gefundenen Geheimgang wieder dort: irgendwie hatte dieser Pink ganz besonders interessiert, obwohl Green nicht verstand warum. Es war der letzte Geheimgang den die beiden neugierigen Wächterinnen gefunden hatten, aber Green fand ihn eigentlich relativ unspektakulär – gut, es war an sich schon ziemlich cool, dass der Eingang dadurch aktiviert wurde, dass man ein kleines, kaum sichtbares Siegel unter dem Flügel des Springbrunnen-Engels betätigen musste. Dann bewegte sich, unter Ach und Krach, der gesamte Springbrunnen beiseite und gab den Weg runter frei – eine dünne, sehr unheimliche und dadurch ziemlich spannend aussehende Wendeltreppe frei, die in die Dunkelheit hinab führte. Dunkelheit! Im Tempel! Alleine das machte diesen Geheimgang ziemlich spannend, immerhin war alles im Tempel immer hell erleuchtet oder vom Sonnenlicht durchflutet – bis auf diesen Gang, den Green auch jetzt herunter ging, ausgerüstet mit nichts anderen als eine kleine Kerze. Wäre sie mit ihrem Training ein wenig weiter und würde sie ein wenig mehr dem Wunsch ihres Bruders nachkommen, dann wäre sie in der Lage Licht auf ihrer Handfläche erscheinen zu lassen um die Dunkelheit zu vertreiben. Aber… so weit war sie leider nicht, denn sie übte dies nicht so oft wie sie es eigentlich sollte.   Schon beim ersten Abstieg hatte Green sich gefragt wie weit runter diese Wendeltreppe eigentlich ging – der Abstieg kam ihr sehr lang vor, aber sie ging auch langsam, denn die steinernen Stufen waren feucht und rutschig. Wozu dieser Gang genutzt wurde hatte Green nicht in Erfahrung bringen können, denn Ryô wusste auch nicht mehr als sie, sondern eben nur, wie man diese Wendeltreppe in die Dunkelheit fand und was sich am Ende lag. Nicht viel, weswegen Green auch nicht wusste, was Pink hier unten zu suchen hatte… aber sie war da; sie musste eigentlich dort sein, denn der Springbrunnen war zur Seite geschoben worden; Green hatte einfach nur heruntergehen müssen, was sie jetzt auch getan hatte und somit in einer kleinen, bedrückenden Kammer angekommen war, die das Licht ihrer Kerze kaum erhellen konnte. Eine „Kammer“ konnte man es vielleicht auch nicht ganz nennen denn sie mündete aus mit dem dunklen Wasser des Sancire, welches direkt an der Kammer anschloss. Die Wendeltreppe führte mit anderen Worten nur runter zum Fluss, wobei Green diese unterirdische Ansicht des Flusses nicht geheuer war. Oben im Tempel war er schön und mit seinen vielen Kanälen und Quellen und seinem klaren Wasser, aus dem man ja auch trinken konnte – aber hier unten? Hier unten sah dieser Kanal aus wie eine schwarze Masse, in die Green nicht einmal ihren kleinen Finger reinstecken würde. Bedrohlich und schwarz und… ohne Ende. Tief und verschlingend und… wo war Pink eigentlich!? Wirklich, was wollte sie hier unten?! Gestern noch hatte sie sich so gefürchtet, dass Green Pinks Hand die ganze Zeit hatte halten müssen und jetzt… gut, Green konnte verstehen warum Pink es hier unheimlich fand. Die Stille hier war bedrückend und es roch modrig und… eigenartig metallisch.   „…Pink?“   „Ja, Green-chan?“ Green erschrak sich so fürchterlich über Pinks plötzliche Antwort, dass sie fast ihre Kerze fallen ließ. Woher war Pink denn plötzlich aufgetaucht?! Green hatte sie überhaupt nicht bemerkt, aber jetzt stand Pink hinter ihr, neben der Wendeltreppe, sie unschuldig anblinzelnd, mit ihrem HelloKitty-Plüschtier im Arm. Was zur…  „Pink…“ Green bemerkte, dass ihre Stimme zitterte, weshalb sie erst einmal schlucken musste.  „Was machst du hier unten?“ Pink drückte ihr Plüschtier an sich und Green bemerkte im fahlen Licht der völlig überforderten Kerze, dass ihre Augen genau wie die Greens vorher auf das Wasser gerichtet waren.  „Ich hab mich einfach gefragt… wozu dieser Gang gebraucht wird. Hellokitty-chan fragte sich das auch!“ Die Angesprochene runzelte die Stirn und sah über die Schulter um ebenfalls auf das Wasser zu blicken, während Pink sich neben sie stellte.  „Keine Ahnung, aber du wirst heute wohl nicht mehr herausfinden als gestern.“  „Der Kanal scheint wohin zu führen.“ Green warf einen Seitenblick an ihre Cousine, was sie nicht bemerkte, denn sie hatte ihren Blick weiter auf das Wasser gerichtet.  „Stimmt, aber ich möchte ehrlich gesagt gar nicht herausfinden wo er genau hinführt. Wenn nicht einmal Ryô es wusste… Vielleicht sollte das hier ja eigentlich ein weiterer Schutzraum werden und der Bau wurde abgebrochen?“`  „Es gibt aber doch schon so viele Schutzräume.“  „Stimmt und das wo der Tempel angeblich „unantastbar“ ist.“ Green kannte die Zahl im Moment nicht auswendig, aber sie hatte sie für Gary aufgeschrieben: es gab jedoch mindestens 10 Schutzräume, die alle irgendwo versteckt im Tempel lagen. Aber auch diese sahen freundlich aus und nicht so bedrückend wie dieser Ort. Green musste zugeben, dass sie lieber wieder nach oben wollte, aber Pink schien diesen Wunsch nicht zu teilen.  „Kannst du nicht mal versuchen das Ende mit einer Lichtkugel zu erleuchten, Green-chan?“ Bei dieser Frage fühlte Green sich ein wenig ertappt, denn genau das war ja das, was sie ein wenig vernachlässigte bei ihrem Training.  „Du weißt doch, dass ich das nicht so gut kann…“ Pink sah auf und sah sie zusammen mit ihrem Plüschtier fragend an:  „Aber du kannst es doch als Training ansehen!“ Green grummelte, ergab sich dann aber und streckte die Hand aus, allerdings ohne näher an das Wasser heran zu gehen. Sie hatte versucht diese Handbewegung lässig wirken zu lassen, so als ob dies absolut gar kein Problem für sie war und natürlich absolut keine Herausforderung… aber schnell war auf ihrem Gesicht deutlich zu erkennen, dass es sehr wohl eine war, denn es verzog sich konzentriert und die Freude, als es ihr dann endlich gelang eine kleine – aber vorhandene! – Lichtkugel entstehen zu lassen verriet ebenfalls, wie sehr sie ihr Training vernachlässigt hatte und weswegen sie allen Grund hatte über diese kleine Lichtkugel erfreut zu sein, da ihr Erscheinen wohl mehr Glück und Zufall war, als wahres Können.   Gespannt sahen Green und Pink dabei zu, wie die Lichtkugel über die blanke Oberfläche des schwarzen Wassers hinweg schoss. Stolz war Green ein wenig, als sie sah wie lange ihre Lichtkugel aushielt – schon mehr als dreißig Meter hatte die Kugel schon hinter sich gelegt, aber an sich nichts spannendes offenbart, sondern nur, dass die Decke tiefer und tiefer wurde… und dann, nach knapp 40 Metern verpuffte das Licht ohne, dass es noch mehr hatte zeigen können.   „Nicht so interessant wenn du mich fragst, Pink.“  „Ob etwas auf dem Grund ist…?“ Green lachte über diese Überlegung und wandte sich der Wendeltreppe zu, etwas, was Pink ihr gleich tat.  „Keine Ahnung, aber ich weiß, dass keine zehn Pferde mich auch nur in die Nähe dieses Wassers bringen – ganz zu schweigen davon darin zu schwimmen!“ Die Hikari war schon einige Stufen oberhalb des feuchten Steinbodens, als sie sich nach Pink herumwandte, die immer noch dort stand:  „Kommst du, Pink?“         Dieser kleine „Ausflug“ war am nächsten Tag schon wieder völlig vergessen, denn nachdem Green Grey am vorigen Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, war sie nun mehr als froh, ihn heute zu sehen – und dann stand endlich auch mal kein Training auf dem Tagesprogramm! Und kein Lesen! Endlich mal wieder etwas anderes, endlich mal wieder etwas das zu Grey passte. Green hatte sich gar nicht vorstellen können, dass sie sich mal so darüber freuen würde zu hören, dass Grey ihr ein neues Kleid machen wollte. Sie war ja eigentlich nicht so der Freund von seinen Kreationen, aber es war so schön ihn so ausgelassen zu sehen, wo er doch die letzten Tage, Wochen, so angespannt gewirkt hatte. Sein Lächeln hatte sie so gefreut, dass Green sich nicht einmal gesträubt hatte, als Grey sie darum bat, sich in der Mitte seines Zimmers aufzustellen, denn er müsse ihre Maße noch einmal nehmen, da er sie irgendwie – er schien sich richtig dafür zu schämen, dass so etwas vorkommen konnte – verlegt hatte. Aber ihn hatte die Muse geküsst, er wollte sofort anfangen – also zauberte er ein Zentimeterband hervor und legte es schon an Greens Handgelenk an.   Green schmunzelte als sie sah, wie eifrig Grey die Zahlen aufschrieb; was das wohl für ein Kleid werden sollte, wenn er so erpicht darauf war, es zu kreieren? Die Hikari erinnerte sich daran, dass es beim ersten Mal Ryô gewesen war, der die Maße genommen hatte – wo er wohl war? Jedenfalls schien Grey die Muse wirklich schwer erwischt zu haben, wenn er nicht darauf warten konnte, dass Ryô zurückkehrte, hihi!       „Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass du bei all den Kleidern, die du mir schon gemacht hast, meine Maße noch nicht auswendig kannst, Onii-chan!“ Grey lachte und Green bemerkte, dass sie sich über sein Lachen freute, als er ihre Taille maß und antwortete:  „Stimmt, eigentlich ist es beschämend, da hast du ganz Recht! Aber das hier dauert ja nicht lang, danach kannst du dann wieder an deine Lesungen zurückkehren.“  „Oh, wie zuvorkommend! Das freut mich aber zu hören. Damit hast du meinen Nachmittag wahrlich gerettet!“, antwortete Green mit einem ironischen Lächeln und sah ihren Bruder mit einem gespielten Schmollmund an.  „Ich würde lieber etwas mit dir zusammen machen… Von mir aus auch zusammen trainieren, ja Grey? Bitte!“ Er stand auf und fing jetzt mit ihren Oberarm an.  „Nach dem Abendmahl vielleicht.“   „Was willst du denn abends noch machen?“   „Ich muss leider noch etwas in der Bibliothek untersuchen. Wenn du willst, könnten wir den heutigen Abend zusammen in der Bibliothek verbringen; wir sind die Fragen von gestern noch gar nicht durchgegangen. Das könnten wir nebenbei machen.“ Mist, schoss es Green durch den Kopf, sie hatte eigentlich gehofft er hätte es vergessen.  „Gut, von mir aus. Das ist immer noch besser als nichts!“ Grey lächelte; wie sehr es ihn nicht freute, dass Green angefangen hatte seine Gegenwart zu schätzen. Er hatte vor ein paar Monaten noch nie zu träumen gewagt, dass sie ihn mal fragen würde, ob er Zeit hatte, geschweige denn, dass sie es traurig fand, wenn Grey keine Zeit für sie hatte. Die vier Monate hatten deren Bruder-Schwester-Beziehung wirklich gefestigt.   Mit den Gedanken ganz woanders, legte Grey das Band um Greens schlanken Hals, immer noch völlig in Gedanken versunken, immer noch mit einem sachten Lächeln auf dem Gesicht. Dann aber, gerade als er es wegnehmen wollte, um die Zahlen aufzuschreiben, verpufften seine Gedanken jäh.   Er war ihrem Gesicht so nah.   Grey stand direkt vor ihr, so dass sich deren Nasenspitzen schon fast berührten. Green sah an ihn vorbei, sie merkte diese ungewöhnliche, vorher noch nie dagewesene Nähe, nicht, bemerkte sie nicht so wie er es bemerkte… Nein, es war ihr egal. Einfach egal. Natürlich war es ihr egal! Er war ja nur ihr Bruder, was sollte sie da schon denken? Warum sollte sie da erröten, oder sonst irgendwie reagieren… so wie Grey es tat?  Warum war Grey nicht fähig sich vom Fleck zu bewegen?   Vielleicht sollte, konnte er, durfte er… nein. Das… würde sie nicht zulassen… unmöglich… doch… vielleicht… was war das, was war das für ein gemeines „vielleicht“, dass sich da Grey unbewusst einschlich, zusammen mit einem leisem Gefühl von Hoffnung?   Eine Hoffnung die sagte: Was sollte schon geschehen.  Was geschehen sollte, was geschehen würde?! Alles! Nur schlechtes! Denn dieser Gedanke war schlecht, diese hoffnungsvollen Gedanken waren schlecht – Greens gerade erst zu keimen begonnene Liebe für ihn--- Geschwisterliebe. Nichts weiter. Nichts anderes.   Das wollte er doch. Darüber freute er sich doch.   Nein, das war nicht das was er wollte.   Wenn er das falsche tat, oder etwas falsches sagte, dann riskierte er Greens Liebe – ihre Geschwisterliebe – für immer zu verlieren. Und das wollte er nicht, nein, das wollte er nicht – doch. Doch das wollte er, diese von ihm nicht gewollte Liebe auf dem Spiel zu setzen, war das Risiko doch…   Der Windwächter verstand seine eigenen Gedanken nicht mehr, sie drehten sich im Kreis und ließen ihn nicht mehr klar denken. Er bemerkte nicht einmal wie er das Band hatte fallen gelassen – aber Greens Schultern bemerkte er. Greens Haut unter seinen Fingern. Langsam bemerkte Green auch, dass etwas nicht stimmte und sah ihn besorgt an.  „Grey… Stimmt etwas nicht? Du bist ganz rot im Gesicht… Hast du Fieber?“ Warum legte Green ihre Stirn jetzt an seine? Warum hatte sie nun dafür gesorgt, dass wirklich nur noch ein paar wenige Zentimeter zwischen ihnen waren… zwischen ihren… zwischen deren…  „…Du bist wirklich ziemlich warm…“ Green bemerkte den inneren Kampf ihres Bruders überhaupt nicht. Sie nahm wirklich an, dass seine Gesundheit der Grund für sein merkwürdiges Verhalten war… mehr dachte sie nicht darüber. Sie dachte nur, dass es merkwürdig war und das… war es ja… auch.  Tief holte Grey Luft und gerade als die Tür aufging und Ryô rein kam, hatte Grey Green losgelassen und war einen Meter von ihr weggegangen – oder eher gestolpert.  Was hatte er da nur fast getan…?!   „Onii-chan! Was ist denn nur mit dir los?“ Besorgt wandte sie an Ryô:  „Ich denke, dass Grey Fieber hat!“ Kurz sah Ryô verwirrt drein – aber nur solange bis er einmal zu Grey gesehen hatte. Ein Blickkontakt genügte und er verstand.   „Aaaah! Ja, natürlich Hikari-sama, das nehme ich auch an. Ich werde Grey-sama umgehend ins Krankenzimmer bringen und ihm seine Medizin verabreichen. Wenn Ihr uns entschuldigt…?“ Ohne Grey um Erlaubnis zu fragen, nahm er seinen Herren am Arm und brachte ihn aus dem Zimmer. Ohne Widerstände ließ sein Herr sich mitnehmen in ein anderes Zimmer, wo er sich umgehend auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen ließ.  „Grey-sama, was ist geschehen?“   „Vier Zentimeter… Vier Zentimeter…!“   „Soll ich Euch Wasser holen?“ Grey hörte ihn nicht. Er schien gänzlich von seinen eigenen Gedanken eingenommen zu sein, Gedanken, die Ryô Angst machten:  „Ryô, ich will sterben… ich will sterben… auf der Stelle…“  „Sagt doch so etwas nicht… So schlimm wird es nicht sein.“ Er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht und die kläglichen Versuche stürzten auch in sich zusammen, als Grey manisch den Kopf schüttelte, nur um seine Hand in sein Haar zu vergraben vor lauter Verzweiflung und… Selbsthass.  „Doch! Doch… so schlimm ist es…“  „Bitte, Grey-sama, so beruhigt Euch doch...“ Er legte seine Hand auf Greys bebende Schulter: ein Beben, dass sich auf ihn zu übertragen schien. War sein Freund etwa kurz davor der Verzweiflung nachzugeben?   „…Was habt Ihr getan? Was ist geschehen, Grey-sama?“  „Nichts ist geschehen… Zum Glück! Wenn ich es getan hätte… wenn sie wüsste…“ Grey vergrub nun beide Hände verzweifelt in seine Haare und krümmte sich vor Ryô, als hätte er schreckliche Schmerzen.  „Ryô…! Es waren nur vier Zentimeter die mich aufhielten… und ich… und ich… hätte meine Schwester… geküsst…!“ Das letzte Wort brachte er über die Lippen, als wäre es das allerschlimmste Wort das er jemals benutzt hatte.   „…Ich wollte es tun! Ich wollte sie küssen! Meine Schwester! Was ist, wenn sie es bemerkt hat…?! Green ist nicht dumm… auch nicht naiv… Sie weiß es… sie weiß jetzt…was für… perverse Gefühle ich für sie… empfinde…“ Nun war es endgültig zu viel für Grey. Er stürzte sein Gesicht förmlich in seine zittrige Hände und fing voller Unglück und Pein an zu weinen.   Völlig hilflos erstarrte Ryô. Er wusste nicht was er tun sollte, oder was er sagen sollte, vom den gleichen Unglück erschlagen wie Grey: wenn es nicht vermessen war, das zu behaupten, so glaubte Ryô, dass er sich in diesem Moment genauso elendig fühlte, genauso sehr am Boden fühlte wie Grey. Noch nie hatte er Grey in so einer Verfassung erlebt, noch nie so verzweifelt – noch nie so nah am Rand zu zerbrechen. So kannte er ihn nicht; er kannte ihn lächelnd, meistens. Gedankenverloren und verträumt, nachdenklich, aber nicht so. Nicht so von sich selbst zerrissen.   Ryô musste etwas tun. Er musste etwas tun, irgendetwas! Er musste Grey helfen!   „Grey-sama, Eure Gefühle sind von edler Natur – Liebe ist immer von edler Natur! Nennt Eure Gefühle doch nicht so – sie sind doch nicht „pervers“!“ Grey fiel Ryô ins Wort und das Lächeln, dass Ryô hervor gezwungen hatte um Grey irgendwie aufheitern zu wollen, verschwand sofort wieder:  „Aber nicht in ihrer Welt! Liebe unter Geschwistern ist nicht erwünscht! Nicht…“ Grey krampfe und krümmte sich noch weiter auf dem Sofa zusammen, als wollte er sich so klein machen, dass er gänzlich verschwand:  „… wenn der große Bruder die kleine Schwester küssen will! Dann nennen sie es Inzest! Dann ist es… verboten! Eine Todsünde! Pervers!“ Von sich selbst angewidert schüttelte er den Kopf hin und her, zusammen mit den immer noch an den Kopf gefestigten Händen:  „Wie hätte Green mich angesehen… wenn sie es bemerkt hätte! Ihre Augen! Ihre Augen! Sie hätte sich vor mir… geekelt! Mich nie wieder angesehen!“ Kurz schwieg Grey. Ryô sollte diese Sekunde nutzen um etwas zu sagen – irgendetwas! – doch er war unfähig Worte zu finden.   „… Ich will das nicht… ich wollte das auch nie… ich wollte mich nie in Green… verlieben… ich wollte sie nie als… Frau lieben…! Niemals… NIE! … Wie konnte ich nur zulassen, dass es so weit geht…! Ich hasse diese Gefühle so… ich hasse mich so für diese Gefühle!“ Worte konnte Ryô keine finden, aber seine Hände verlangten nach Taten und diese nahmen Grey nun an den Schultern und die nassen Hände rutschten von Greys Gesicht herunter, als er aufsah. Aber er sah nichts. Diese großen, blauen Augen sahen nichts; sie sahen nur seine eigenen Tränen.    „Ich will das nicht… ich will diese Gefühle nicht…“, brachte Grey verzweifelt und heiser über die Lippen ohne Ryô direkt anzusehen. Dann wurde die Verzweiflung in dem Tempelwächter zu groß. Jede Etikette und jeden Standesunterschied vergaß der Tempelwächter, als er die Augen niederschlug und dann seinen Arm um Greys Kopf herum legte und ihn sanft, aber nicht weniger verzweifelt, als Grey es war, an seine Schulter zu drücken. Zuerst reagierte Grey nicht, aber dann spürte Ryô auf seinen Rücken wie Greys Finger sich dort in seine Uniform festkrallten und Grey den Kopf senkte. Doch obwohl sein Freund den Kopf nun in seine Schulter gepresst hielt, hörte Ryô die Worte dennoch deutlich, die ihm genauso das Herz zerrissen wie umgekehrt.   „…Ich liebe sie… Ich liebe Green… Ich habe noch nie… jemanden so geliebt wie sie… Diese verfluchte… Liebe… sie zerreißt mir das Herz…“   „Dann…beichtet es ihr…“ Grey schüttelte energisch den Kopf.  „Nein…! Wenn sie es nicht schon weiß, soll sie es auch niemals erfahren… Dann werde ich diese verdammten Gefühle mit ins Grab nehmen…!“   „Grey! Bitte mach keinen Fehler! Deine Schwester braucht dich…“ Aus lauter Panik hatte Ryô das Suffix vergessen, doch Grey achtete nicht darauf.  „… keine Sorge, Ryô – so hatte ich das nicht gemeint… das könnte ich nicht…was würde ich nie… Was soll ich nur tun…?“   „Wenn Ihr…Eure Gefühle nicht beichten könnt, denn müsst Ihr… lernen damit zu leben. Oder ihr müsst Abstand halten von Hikari-sama und versuchen Eure Gefühle zu vergessen.“  „Das kann ich nicht. Ich brauche sie… ohne sie kann ich nicht leben…“ Ryô biss die Zähne zusammen und nickte traurig:   „Ich weiß… ich weiß…“   „Wie soll ich mir ihr gegenüber verhalten…? Es ist nie ausgeschlossen, dass so eine Situation, wie gerade eben, wieder kommt…“  „Ihr könnt nichts anderes machen, als weiterhin ein Bruder für sie zu sein. Eure Schwester liebt Euch…“   „…Aber nicht so wie ich sie.“  „Nein.“  „…Und das wird sie auch niemals tun.“ Ryô konnte ihm darauf keine Antwort geben. Er konnte nicht lügen, aber die Wahrheit war zu hart um sie auszusprechen. Aber Grey hatte es auch ohne Worte verstanden, das sah Ryô in seinem nassen Gesicht, als Grey sich von ihm löste und wackelig aufstand. Die Tränen waren versiegt, aber die Traurigkeit war dennoch so deutlich zu erkennen, dass Ryô sich selbst zwingen musste ihn anzusehen. Aber er weinte nicht länger – das war doch… gut.   Grey atmete ein paar Mal tief durch; erst dann wandte er sich von Ryô ab.    „Ich werde ins Bad gehen. Sag bitte Green Bescheid, dass ich unsere Verabredung heute Abend einhalten werde und… das mit mir alles in Ordnung ist.“ Besorgt musterte Ryô seinen Herren.   „Haltet Ihr das wirklich für klug? Vielleicht solltet Ihr Euch lieber ein wenig ausruhen, anstatt gleich wieder Euren Gefühlen ausgesetzt zu sein… Ist das nicht…“ Grey drehte sich zu ihm und versuchte zu Lächeln.  „Danke, dass du dir Sorgen machst, mein Freund, aber… das geht schon. Danke.“ Ryô nickte und wollte seinen Herren gerade alleine lassen – aber Greys Worte hielten ihn davon ab:   „Auch danke dafür, dass du mir geholfen hast und…“ Ryô wandte sich nicht herum, aber er sah aus den Augenwinkeln, dass Grey es tat – und dass er schwach lächelte.  „…du darfst das Suffix ruhig öfter vergessen.“                        Kapitel 39: Der Flötenspieler ----------------------------- Wie verabredet wartete Grey nach dem Essen auf Green in der Bibliothek: eigentlich hätten sie zusammen gehen wollen – sie hatten ja auch zusammen gegessen – aber Green hatte Pink erst ins Bett gebracht. Sie war irgendwie komisch müde gewesen; an der Müdigkeit an sich war nichts komisch gewesen, aber die Uhrzeit und die Art, wie sie die ganze Zeit verkündet hatte, dass sie erschlagen und müde war… das war schon irgendwie eigenartig gewesen. Aber bei Pink wunderte sich Green eigentlich über gar nichts mehr – wer sie während einer Klassenreise 26 Mal anrief und danach vergaß was es so Dringendes gegeben hatte… ja, der konnte auch mal zu komischen Zeiten auf seine Müdigkeit bestehen – und natürlich darauf, dass Green sie ins Bett brachte als wäre sie wirklich noch ein kleines Kind. Eigentlich hatte Pink ein eigenes Zimmer bekommen, gleich in der Nähe von Green, aber sie hatte von Anfang an darauf bestanden bei Green zu schlafen, was sie ihr dann auch mit einem aufgebenden Kopfschütteln erlaubt hatte.   Grey war schon völlig vertieft in seine Arbeiten als Green in der Bibliothek ankam und sah nur kurz auf, als seine Schwester herein kam. Sie warf kurz einem Blick zum Springbrunnen, als erwartete sie, der Geheimgang würde sich plötzlich öffnen und das schwarze Wasser heraussprudeln… aber dann gesellte sie sich zu Grey. Sie hatte Pink zu viel zugehört, das musste es sein. Es war Green nämlich so vorgekommen, als hätte Pink plötzlich wieder Angst vor dem Ort gehabt…   Green legte ihre eigenen Bücher auf den Tisch, zusammen mit einem Teller mit Knabbereien, was ihren Bruder sofort dazu brachte aufzusehen.    „Du weißt schon, Green, dass das Verzehren von Speisen in der Bibliothek nicht erlaubt ist, oder?“   „Ja, aber du hast gerade eben ja kaum was gegessen! Du musst doch Hunger haben, also drück ein Auge zu – dir selbst willen, ja?“ Grey sah gleich wieder runter, denn er wollte es vermeiden Green zu lange anzuschauen. Schon bei diesen eigentlich so harmlosen Worten, hatte er gespürt, dass er rot geworden war… und das Geschehen von heute Mittag hatte er immer noch nicht ganz verdaut. Seine Augen waren zwar nicht mehr rot, aber sie brannten.  „Ich habe keinen Hunger. Trotzdem, danke, Green.“ Sie seufzte und nahm sich selbst einen Keks.  „Bist du dir sicher?“  „Ja. Lass uns lieber gleich mit den Fragen anfangen.“ Green stöhnte und gab nur widerstrebend ihre Einwilligung. Kurz erlaubte Grey sich, seine Arbeit zu pausieren – er war ohnehin schon weiter gekommen, als er gedacht hatte – und legte die Bücher beiseite, nahm sein Schneidzeug hervor und begann damit, Rüschen an einen Rock zu nähen, während Green seine Fragen beantwortete. Doch da Green nicht gerade von sich selbst behaupten konnte, dass sie besonders viel geübt hatte – oder sie sich gemerkt hätte, was sie gelesen hatte – ging es eher schleppend voran, denn natürlich bemerkte ihr Bruder jeden noch so kleinen Fehler. Es war daher schon 22 Uhr, als Grey zufrieden war und Green erlaubte – sie verzog das Gesicht – sich in ihre eigenen Bücher zu vertiefen.   Natürlich war auch dieses Mal ihre Konzentration nicht dort, wo sie eigentlich sein sollte und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie Greys Schneiderarbeit interessanter fand – oder wie ihre Augen ab und zu wieder zum Springbrunnen huschten.  Bis sie es dann nicht mehr aushielt.  „Sagmal, Grey, weißt du, was der Sinn hinter dem Geheimgang da ist?“ Grey, völlig vertieft in seine Gedanken, schreckte auf und sah Green zuerst verwirrt an, ehe er dem Wink ihrer Feder folgte, die auf etwas hinter ihm zeigte. Er schien es allerdings immer noch nicht zu verstehen, weshalb Green ausfuhr:  „Ich rede von dem Geheimgang unter dem Springbrunnen.“  „Da… da ist ein Geheimgang?“ Okay, offensichtlich war Grey nicht der richtige Ansprechpartner dafür – aber gut, wenn Ryô es nicht wusste und er ja nun einmal „Wächter des Tempels“ war…  „Da ist so ein Gang drunter der zu einem Kanal führt. Ziemlich unheimlich, aber Pink findet ihn interessant und… nunja, ich auch. Ich dachte nur du würdest vielleicht wissen was für ein Sinn dahinter steckt.“ Grey blinzelte noch einmal verwirrt und Green sah das Gespräch eigentlich für beendet, aber dann sah sie, dass ihr Bruder nachdachte und als er sich zu ihr herum wandte war es Green, die die Augen weitete:  „Wenn mich nicht alles täuscht ist das der Ort, wo unsere Mutter gestorben ist.“   „W-Was? Unsere Mutter…?! Da unten?!“ Sofort wurde Green mulmig zumute und wieder huschten ihre Augen zu dem Engel, dessen weises Antlitz vom Mond erhellt wurde und plötzlich überaus unheimlich und drohend auf Green wirkte – da unten starb ihre Mutter?! Und sie hatte da einfach gestanden und hatte sich… umgeguckt. Lecker.   „Ich war nie da unten.“ Green wünschte plötzlich sie wäre auch nie dort gewesen.  „Ich habe Mutters… toten Körper erst gesehen, als er schon gesäubert und für die Ewigkeit hergerichtet worden war.“ Green schluckte, während Grey sich wieder seiner Schneiderarbeit zuwandte und zwischen ihnen geschwiegen wurde. Sie allerdings konnte sich nicht wieder ihren Büchern zuwenden, zu sehr war sie nun mit dem Ort und mit dem Tod ihrer Mutter beschäftigt.   Sie war da unten, in dieser kleinen Kammer gestorben?! Wie hatte sie denn dort gekämpft? Sie hatte doch gekämpft, doch – doch, das hatte Green gehört und auch von gelesen. Sie war in einem Kampf gestorben, in einem Zweikampf… Green sah wieder zum Engel, betrachtete seine Flügel und dachte an das gigantische Kunstwerk ihrer Mutter, dass in der Nähe von Greys Zimmer hing… dort hatte sie ebenfalls Flügel gehabt… ihre Mutter war unter diesem Steinengel gestorben. Dort unten hatte sie ein Dämon getötet. Ein Dämon, der genauso stark und mächtig gewesen war, wie sie. Was das wohl für ein Dämon gewesen war?    Aus diesen düsteren Gedanken weckte Grey sie, als er plötzlich aufstöhnte: ihr Bruder hatte sich in den Finger gestochen und ein paar Tropfen Blut kamen zum Vorschein. Green grinste angesichts von Greys verzogenen Gesichtes:   „Steck dir den Finger doch einfach in den Mund.“   „Nein?! Dann würde ich mir ja vorkommen wie ein Dämon!“  „Grey ernsthaft: Jeder halb normale Mensch würde das tun und das hat nichts mit dämonisch sein zu tun.“ Aber natürlich tat Grey es nicht: er steckte stattdessen den blutenden Finger in sein Wasserglas, das er natürlich danach nicht wieder anrühren würde. Green musste ein Lachen unterdrücken.  „Das ist wirklich typisch du, Onii-chan!“   „Ich finde das nicht so witzig! Stell dir vor, wenn ein Blutflecken auf dein neues Kleid gekommen wäre!“, rief Grey zwar leicht gereizt, doch als Green ihn entschuldigend anlächelte, musste auch er unwillkürlich schmunzeln, während er seinen Finger wieder aus dem Glas holte und es beiseite stellte – und tatsächlich kontrollierte er dabei, ob auch ja kein Fleck auf den teuren Stoff des noch teureren Kleides gekommen war.   Green dagegen war eine Idee gekommen und während Grey mit dem neuen Kleid beschäftigt war, richtete sie sich auf und verschwand für einen kurzen Moment zwischen den Regalen. Als sie wieder zurückkam, hob Grey verwundert den Kopf, denn sie legte einen großen, alt und in die Jahre gekommenen Ordner oben auf ihre anderen Bücher. Grey musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte was das für ein Ordner war oder warum Green ihn ausgerechnet jetzt hervorholte. Green bemerkte anscheinend seinen Blick:  „Hierüber bin ich gestolpert, als ich mal wieder auf der Suche nach neuen ach so tragischen Tagebüchern war! Es ist eine Art Ansammlung von gefährlichen Dämonen.“  „Und was willst du darin jetzt finden?“, fragte Grey, als er bemerkte, dass Green eindeutig etwas suchte; ihr Finger glitt über das Inhaltsverzeichnis.  „Green, du weißt schon, wenn du einen bestimmten Dämon suchst, dann kannst du das auch am Computer tun. Alle Dämonen, ab der Klasse E, haben eine Akte. Du musst nur die Nummer oder den Namen kennen…“   „Ach, ich habe schon das gefunden was ich gesucht habe! Näääämlich einen Eintrag den unsere Mutter gemacht hat – und zwar nur einen einzigen!“ Triumphierend zeigte Green auf das Inhaltsverzeichnis, wo in einer Tabelle der Name des Dämons stand, zusammen mit einer Nummer, einer Seitenanzahl und der Wächter, der ihn eingetragen hatte – und ganz am Ende, der aktuellste Eintrag, war von ihrer Mutter geschrieben.   Das war alles was sie interessierte – das war der einzige Dämon, der für sie von Interesse war also musste das jawohl der Dämon sein, mit dem White gekämpft hatte. Haha! Und sie hatte es ganz alleine herausgefunden! Die vielen Stunden in der Bibliothek hatten sich ja doch irgendwie ausgezahlt gemacht, das war doch…gut, dachte Green grinsend, während sie zu blättern anfing.     „Was findest du daran jetzt so interessant, Green?“ Die Angesprochene sah nicht auf.  „Mutter hat einen Dämon eingetragen – und der interessiert mich!“  „Warum?“ Seine Schwester überhörte seine Frage.   „N… Seite 311… Noc….ah hier!“ Green schlug gerade den Ordner ganz auf, womit sie einiges an Staub verbreitete, aber die Akte konnte sie sich nicht näher anschauen – denn genau in dem Moment, als sie sich der Akte widmen konnte, schlug Grey ihr den Ordner vor der Nase zu und klemmte Green dabei fast die Hände ein.  „Hey! Was soll denn das?! Ich wollte das gerade lesen!“  „Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen. Morgen musst du wieder früh raus.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er den Ordner und stellte ihn zurück ins Regal und innerhalb von Sekunden wie es Green schien hatte er seine Sachen zusammengepackt, ohne auf ihren verwunderten Blick zu achten.   „Was soll das?“  „Das habe ich dir doch gerade gesagt. Kommst du?“ Schon stand er an der Tür und dämmte die zwei Lichter runter die sie gerade gebraucht hatten. Green blieb stehen. Sie verstand sein Verhalten nicht – aber eins verstand sie ganz gewiss: Wenn Grey glaubte, dass er sie so davon abbringen konnte, diese Akte zu lesen, dann kannte er sie eindeutig noch nicht gut genug.       Grey hätte sich von zehn Fingern abzählen können, dass sein Verhalten Green erst Recht neugierig machen würde. Sobald er in sein Zimmer verschwunden war, schlich Green daher zurück in die Bibliothek und vergaß dabei auch jeden Gedanken an irgendeine bedrückende Stille oder allgemein ihre Unlust nachts im Tempel umherzustreifen. Wenn ihre Neugierde erst einmal geweckt war, dann musste sie auch gestillt werden.  In der Bibliothek angekommen, achtete sie nicht ein einziges Mal auf den unheilschwangeren Springbrunnen, sondern klemmte sich einfach den Ordner unter den Arm und lief zurück in ihr Zimmer, leise natürlich, denn sie wollte Pink nicht wecken. Das Licht ihres Schreibtisches dämmte sie auch so weit herunter, dass es gerade ausreichte um lesen zu können – und schon schlug sie neugierig auf Seite 311 auf.   Das Bild des Dämons war ein etwas verschwommen, aber er schien bemerkt zu haben, dass er aufgenommen wurde, denn er starrte direkt in die Kamera, auch wenn das Bild in der Bewegung gemacht worden war. Die Augen, die sich direkt auf sie gerichtet hatten, waren die schrecklichsten Augen die Green jemals gesehen hatte. Die Augen waren stechend rot, die schwarze Pupille dünn und um sie herum war das rot heller, was die Pupille sehr deutlich hervor brachte - und was für eine Mordgier sie ausstrahlten... Unbewusst bekam sie eine Gänsehaut. Das war wirklich der Inbegriff für „dämonisch“.   Obwohl das Bild unscharf war, glaubte Green, dass sie unter seinem linken Auge ein schwarzes, gerades Zeichen… oder Mal oder Tattoo erkennen konnte. Schwarzes, langes Haar, das leicht rötlich wirkte… aber was war das, was er da auf dem Rücken trug? Green konnte es nicht wirklich erkennen…  Kurz schüttelte Green den Kopf und wandte sich auch kurz von dem Bild ab, denn es schien sie förmlich anzustarren und löste ein ungutes Gefühl in ihr aus. Aber Green riss sich zusammen; es war nur ein Foto, weiter, da war immerhin noch Text:    Name: Nocturn Le Noires  Nummer: 13-24-7893   Rasse: Unbekannt     Position: Keinen  Geburtsdatum: 19.07.1965   Größe: 186cm      Favorisierte Techniken: Meister der Körper-, Seelen- und Gedankenkontrolle, allgemein Verbotene Techniken (Achtung!)    Besonderes: Trägt immer eine Querflöte bei sich; besitzt keine spitzen Eckzähne; ein Zeichen unter dem linken Auge; besitzt keine Aura (Achtung!); hält sich meistens in Paris, Frankreich auf     Green war geschockt. Nicht von den Daten an sich, sondern… woher zur Hölle wusste ihre Mutter denn das alles?! Green blätterte ein bisschen durch den Ordner und bemerkte, dass neben den Namen – der manchmal sogar auch fehlte – und der Nummer, höchstens die Position bekannt war. Alles andere war unbekannt… Woher wusste White das alles? Sein genaues Geburtsdatum?! Und – was zur Hölle – Paris?!   Green sah zögernd auf die nächste Seite, wo der nächste Schock dann auch schon auf sie wartete: Die Liste von seinen Opfern war riesig und ganz oben stand:  Eien Kaze Kanori.   Greys Vater.   Dieser Dämon hatte ihn also umgebracht…?   Als Green die Liste weiter überflog, bemerkte sie geschockt, dass alle Elementarwächter der letzten Generation auf seiner Liste standen, inklusive aller Offiziere. Am Ende der Liste stand mit Whites schöner Handschrift geschrieben:  Wird auf weitere 1.000 geschätzt; tötet willkürlich.    Green atmete tief durch und schloss den Ordner. Mehr wollte sie dann doch nicht wissen.   Was war denn das für ein Monster?! Zum Glück war dieser Kerl tot. Green schüttelte sich.  Der Typ war tot, Geschichte.   Die Hikari schaltete das Licht am Schreibtisch aus und stattdessen ein kleines Leselicht am Bett. Sie konnte jetzt nicht einschlafen, vorher musste sie sich noch mit irgendetwas ablenken und für diese Ablenkung musste ein Buch herhalten, irgendeines, dass sie vom nächst besten Stapel herunter riss.    „Die zugleich heilende und destruktive Lichtmagie“ Ja, das war genau das, was sie brauchte. Es klang zum Einschlafen, genau das richtige. Green legte sich unter die Decke und fing an zu lesen.   Nach einer Stunde kam sie zu dem Schluss, dass das absolut das falsche Buch gewesen war. Sie hatte sich eigentlich ablenken wollen, aber nun war sie abermals schockiert. In diesem verdammten Buch stand bis ins kleinste Detail beschrieben wie ein Lichtwächter am effektivsten einen Dämon tötete! Wo die Schwachstellen waren, mit welcher Technik, haargenau welche Wirkung sie auf den Dämon hatte, wie sein Körper auf das Licht reagierte… was das Licht mit dem Körper eines Dämons tat… und das alles noch mit Bildern unterlegt. Egal wie angewidert Green von der ersten Seite an gewesen war, sie hatte das Buch einfach nicht aus der Hand legen können. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Magie so… so… schrecklich war. Wenn Green sie einsetzte, fühlte sie sich eigentlich immer so warm und wohl. Es war so ein angenehmes Gefühl.   Doch… jetzt…? Jetzt wollte sie ihre Magie am liebsten nie wieder beschwören, der Effekt war einfach abscheulich! Bei jeden Wesen wirkte Lichtmagie heilend, man konnte niemanden verletzen – außer Dämonen. Das hatte sie natürlich gewusst, das war für sie absolut nichts Neues. Aber was für sie neu war, war, wie genau das Licht bei den Dämonen wirkte. Denn bei ihnen wirkte es anders, ganz anders. Die Magie verletzte nicht von außen, so wie Green immer angenommen hatte, sondern drang ins Innerste ein und zerstörte den Körper von Innen. Das Licht war ätzend wie Säure, die den Körper langsam von ihnen auffraß und zersetzte. Je nachdem wie stark oder schwach der Dämon, beziehungsweise der Hikari war, umso schneller oder langsamer ging dieser Prozess von statten. Sogar noch nach dem eigentlichen Kampf, konnten Dämonen noch an dem Lichtintus verenden. Langsam und qualvoll.   Oh nein… oh nein, was wenn Siberu und Gary, wegen ihr, schon Lichtintus hatten…?! Was war, wenn Greens Magie schon stark genug war? Stark genug um sie zu töten, ohne das Green es überhaupt beabsichtigte?! Gary hatte sie noch nie angegriffen, dafür aber Siberu… was war, wenn er das verdammte Licht schon in sich hatte und es ihn langsam tötete…?!   Aber… das würden sie doch wissen? Und ihre beiden Freunde hatten auf sie nie irgendwie geschwächt gewirkt… nein, nein, sie machte sich umsonst Sorgen. In dem Buch stand ja, dass die Dauer der Wirksamkeit des Lichtes davon abhängig war, wie stark der Hikari war – und Greens Licht war klein, unbedeutend. Sie konnte nicht einmal einen dunklen Raum erhellen – und plötzlich fand sie das auch sehr gut so. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Green momentan von ihnen getrennt war. Sie ertrug den Gedanken einfach nicht, dass sie am Ende daran schuld war, wenn ihnen etwas zustieße…   Green schloss kurz fest die Augen. Dann ließ sie das Buch auf den Boden fallen, schaltete das Licht aus und zog die Decke über den Kopf.   Wie sollte sie jetzt jemals wieder einschlafen…?!      ………….Es war eine wunderschöne Melodie, die Green aus ihrem Schlaf weckte. Ihre Augen waren noch geschlossen, als sie den Kopf hob, sich aufsetzte und die Hände an ihre Ohren legte um der Melodie besser lauschen zu können. Es war eine schwere Melodie. Dunkel. Die Dunkelheit selbst, aber anziehend, schön – schön und traurig.   Was war das für ein Instrument?   Voller drängender Neugierde diese Frage beantwortet zu erhalten, öffnete Green ihre Augen und erblickte ein paar Meter von ihr entfernt einen Mann. Ein unbekannter, schwarzhaariger Mann, der ihr den Rückenzugekehrt hatte. Sie kannte ihn nicht – sollte sie nervös sein? Vielleicht, aber sie war es nicht. Aus irgendeinen, ihr unbekannten Grund, war sie es nicht. Sie blieb einfach weiter sitzen und lauschte fasziniert, dem Spiel des Mannes, dessen Konturen im Licht des blutroten Mondes leicht rötlich wirkten. Er war derjenige der spielte, der diese faszinierende, verzaubernde Musik erschuf: sie stammte aus seinen Fingern, die sich auf seiner Querflöte hoben und senkten.   Völlige Ruhe hatte von Green Besitz ergriffen. Irgendetwas… kleines in ihr sagte ihr, dass sie es nicht sein sollte, aber die Stimme war zu klein, zu unbedeutend, um irgendeinen Effekt zu haben – bis er aufhörte zu spielen und die Flöte senkte. Ohne den Grund dafür kennen, fühlte Green Wut in sich aufsteigen.    „Warum hörst du auf zu spielen?!“ Er antwortete nicht. Das machte sie noch wütender. Sie wollte, dass er weiter spielte. Alles andere war unwichtig, von keiner Bedeutung.   „Spiel weiter!“   „Wenn du mir dein Blut schenkst, spiele ich weiter.“ Was für eine Stimme… was war das für eine eigenartige Stimme? Sie war ihr ein pures Rätsel, denn sie war ohne jegliche Betonung, ohne jeglichen Tiefgrund, ohne jeglichen Charakter – sie war einfach… vorhanden und formte Worte. Worte, die sie nicht verstand.    „Mein Blut? Wozu?“ Warum sollte sie das tun? Was sollte das bringen? Sie wollte niemand  ihr Blut schenken.   „Du willst mir also dein Blut nicht schenken?“  „Das habe ich nicht gesagt!“  „Soll ich das Blut von Anderen nehmen? Wäre dir das lieber?“ Von Welchen anderen? Sie waren ganz alleine, nur der blutrote Mond war da.  „Siehst du sie nicht?“ Green hatte plötzlich ihren Stab in der Hand und richtete ihn auf den Rücken Flötenspieler.  „Hör sofort auf meine Gedanken zu lesen!“ Er drehte sich immer noch nicht um. Er sah nicht einmal über die Schulter, nur unablässig drehte er seine Flöte um die Hand. Dann horchte er auf, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt – was es war, dass wusste Green nicht, denn plötzlich, von irgendetwas gestoßen, stürzte Green zu Boden. Als sie sich wieder aufrappeln wollte, lag etwas in ihrem Blickfeld. Zuerst konnte Green es, wegen der alles umfassenden Dunkelheit, nicht erkennen, doch dann sah sie, mit aufgerissenen Augen, dass es eine blutüberströmte Hand war und ihre Augen weiteten sich noch weiter, das Entsetzen in ihnen wurde noch größer, als sie erkannte wem die Hand gehörte:  „Sibi!“ Panisch kroch sie zu ihm und nahm den völlig regungslosen, völlig erkalteten Halbdämon in ihre Arme. Er konnte doch nicht… er durfte nicht… er war doch…  „Der erbärmliche Halbdämon ist tot.“  „Nein! NEIN! Das glaube ich dir nicht! Er ist nicht… er kann nicht… Sibi!“ Hasserfüllt und mit tränenden Augen sah sie zu ihm empor:  „Du hast Sibi getötet! Warum?!“  „Ich? Du behauptest, ich hätte ihn umgebracht, obwohl du noch die Mordwaffe in deinen Händen hältst?“ Ein stoß ging zu Green – kurz erstarrte sie, doch wie von Fäden geführt wandte sie dann ihren Kopf etwas ruckartig zu ihrer rechten Hand, die Hand, in der sie den Stab hielt: Die Flügel waren zerbrochen und der Stab sah aus… sah aus… als wäre er in Blut getaucht worden.   „..Aber… ich würde doch… nie… niemals… Das… kann doch nicht… Wieso… Sibi… Sibi!“  „Green, du hast Silver umgebracht.“ Das war nicht die tonlose Stimme des Flötenspielers…   Zitternd drehte Green sich herum und erblickte, genau wie von ihr befürchtet, Gary – doch nicht so aussehend, wie sie ihn kannte, sondern mit den roten Augen eines Dämons.  „Aber Gary! Du weißt doch, dass ich Sibi niemals würde verletzen wollen…! Ich habe ihn nicht umgebracht…bitte glaub mir! Ich habe es nicht getan!“   „Er hört dich nicht. Er wird dich töten, so wie du seinen Bruder getötet hast.“ Siberus Körper hatte sich aufgelöst. Funken umkreisten Green, als sie aufstand. Mit Müh und Not konnte Green Garys Angriff ausweichen, obwohl er ohne jegliche Vorwarnung geschehen war. Aber ihr Stab fing den Angriff ab – der Stab, der auch schon Siberu… Siberu…   „Du musst ihn angreifen. Sonst stirbst du - wäre doch schade.“       „Ich kann nicht...! Ich will nicht! Gary, bitte hör auf!“   „Wieso? Du hast die Macht ihn umzubringen.“   „Nein, habe ich nicht! Ich will ihn nicht verletzen! Ich will ihn nicht auch noch verlieren! Gary!“   „Du bist eine Hikari. Mach deine Mutter stolz. Oder willst du ewig „Yogosu“ bleiben? Er ist nur ein Halbdämon. Töte ihn. Das geht einfach… Siehe… Ich werde dir dabei helfen.“ Green wusste nicht wie ihr geschah. Ihr Körper bewegte sich von allein, ohne, dass sie überhaupt etwas tat. Aber diese Bewegungen… noch nie in ihren Leben hatte Green solche Angriffspositionen benutzt, sie hatte sie gar nicht erlernt – und was waren das für Techniken?! Von denen hatte sie noch nie etwas gehört, diese hatte sie noch nie gelernt! Aber es waren die Techniken und die Beschwörungen der Lichtwächter! Es war ihre Sprache die sie da benutzte!   „Guck? Siehst du das Blut? Siehst du wie einfach das geht? Wie einfach es ist, ihn umzubringen?“  „Hör auf! HÖR AUF! BITTE!“ Green konnte absolut nichts tun. Ihre Gedanken waren das einzige was sie noch hatte, was noch ihr selbst gehörte. Sie konnte nichts sagen, nichts unternehmen. Ihr Körper gehorchte ihr absolut nicht. Sie war nicht Herr über ihren Körper – sie konnte ihn nicht aufhalten, ihn nicht davon abbringen das zu tun. Nicht einmal die Augen konnte sie schließen um nicht zu sehen, wie der Stab immer wieder auf Gary einschlug.    „Aufhören? Wieso? Er ist doch noch nicht tot.“ Green flossen die Tränen aus den Augen, während sie Gary immer mehr zusetze. Es ging… alles so schnell und doch dauerte dieser Moment ewig. Der Moment in dem Gary zu Boden fiel. Tot.  „Jetzt ist er tot. Jetzt darfst du aufhören.“   Sofort gehörte Greens Körper wieder ihr und sie fiel vor ihm auf die Knie. Den blutgetränkten Stab ließ sie fallen. Green nahm seine Hand, drückte seinen leblosen Körper an sich wie zu vor Siberus. Tränen liefen Green über die Wangen, genau wie das Blut zwischen ihren Fingern lief und auf den Boden tropfte. Das Blut breitete sich aus, vermehrte sich… wurde zu einem kleinen See um sie herum.  „Das war schön. Das war genug Blut. Das hat genügt. Ich werde weiterspielen.“    Green merkte nicht, dass der Flötenspieler näher heran gekommen war. Er stand jetzt genau vor ihr, aber da sie den Kopf immer noch gesenkt hielt, dicht an Garys sich nicht mehr bewegender Brust, bereits im Begriff sich aufzulösen, konnte Green nicht mehr als seine schwarzen Stiefel sehen, dessen metallene Riemen im roten Mondlicht leuchteten.  „…warum…“  „Weil du es wolltest. Es war dein Wunsch.“  „…Nein… ich wollte es nicht…Ich würde niemals… Das kann doch alles nicht wahr sein… mach die Augen wieder auf, Gary…!“   „Hör auf zu jammern. Du wolltest Beide umbringen. Ich habe dir lediglich dabei geholfen. Dabei geholfen dein Schicksal zu erfüllen. Du bist eine Hikari - sei stolz drauf.“ Green hielt sich die Ohren zu und schüttelte verbissen den Kopf.  „NEIN! NEIN! NEIN! DU LÜGST!“ Er hob den Arm und zeigte nach links.  „Schau doch hin. Dann siehst du dein wahres Ich und dann weißt du, dass meine Worte der Wahrheit entsprechen.“ Zögernd, ganz langsam wandte Green den Kopf und sah in einen Spiegel. Dort sah sie nicht, das, was sie erwartet hatte zu sehen. Stecknadelgroße Augen blickten ihr entgegen, ein kleines, zitterndes Mädchen, mit einem fast schon aufgelösten Körper im Schoss – ein Mädchen, mit hellen, weißen Haaren…und ihre Augen. Sie waren nicht mehr dunkelblau.   Sie waren weiß.  Dieselben Augen wie auch alle anderen in ihrer Familie.  Die Augen einer Hikari.      Pink wurde unsanft aus ihren süßen Träumen gerissen, als ein spitzer Schrei neben ihr ertönte. Erschrocken wandte sie sich herum und sah, dass Green kerzengerade im Bett saß, mit weit aufgerissenen Augen und bebenden, offenem Mund, aus welchem immer noch erstickte Schreie drangen.  „Green-chan?!“   Doch ehe Pink etwas tun konnte, wurde die Zimmertür aufgestoßen und Grey kam herein gelaufen. Er hatte wohl Greens Schrei gehört… nein, gespürt. Ohne auf irgendetwas anderes zu achten packte er Greens Schultern, versuchte sie zu beruhigen, aber Green schien ihn gar nicht zu hören. Ihre Augen waren immer noch so klein, so klein und ihre Brust hob und senkte sich in einem viel zu schnellen, unregelmäßigen Rhythmus. Kreidebleich war sie und die Tränen rannten wie Wasserfälle an ihren weißen Wangen herunter. Aufgeregt und hilflos blickte Grey sich im Zimmer herum, traf jedoch nur Pinks ebenfalls bestürzten und hilflosen Blick – sah aber dann den Ordner auf Greens Schreibtisch.    „Green… hattest du einen Alptraum von…?“  „…Sibi…!“ Sie sah erschüttert ihre bebenden Hände an ohne auf Greys Frage zu reagieren.    „…Gary…!“ Das Tempelwächter-Zwillingspaar kam hinzu und kurz blickte Grey Ryô hilfesuchend an, als hätte dieser per se eine Lösung parat, doch auch er sah geschockt aus, angesichts von Greens Zustand, genau wie Itzumi.   „Ryô, ich brauche ein Beruhigungsmittel!“ Ryô schreckte auf, nickte und umgehend lief er aus dem Zimmer. Pink war bis zum Ende des Bettes gekrochen und hatte die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen: sie ertrug es nicht Green in so einer Verfassung zu sehen und vergrub ihr Gesicht schutzsuchend in ihre Decke. Grey konnte es ihr nicht verübeln: er würde sich am liebsten auch unter einer Bettdecke verkriechen, doch er unterdrückte diesen Wunsch. Er musste dafür sorgen, dass Green wieder klar denken konnte, dass sie verstand, dass es nur ein Alptraum war – und dass sie aufgewacht war, nicht länger darin gefangen.  Dann – plötzlich – warf Green sich ihm in die Arme und überrumpelte ihren besorgten Bruder damit völlig.   „Gary…! Es tut mir Leid…! Es tut mir Leid! Ich wollte das nicht! Ich wollte dir nicht wehtun…! Ich wollte auch Sibi nicht wehtun…! Ich wollte ihn nicht töten! Sag ihm das! Sag ihm, dass ich ihn nicht verletzen wollte…! Ich habe es nicht mit Absicht getan… Ich wollte das nicht!“ Jetzt verstand Grey: sie dachte wohl… sie nahm wohl an, er wäre der Ältere der beiden Halblinge. Wahrscheinlich weil sie in etwa die gleiche Größe hatten… und in Greens jetziger Verfassung… Was sollte Grey tun?  „Itzumi! Hol Wasser, kaltes! Schnell!“ Dann wandte er sich wieder Green zu, die sich jetzt krampfhaft an ihn fest klammerte und immer wieder dasselbe wiederholte… Flehte ihn um Vergebung an, beteuerte, dass sie ihn niemals verletzen wollte, dass…  Grey legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Es war doch egal, für wen sie ihn hielt. Hauptsache sie kehrte wieder zu Bewusstsein zurück. Hauptsache, diese Berührung tat ihr gut.  Doch egal was er auch sagte, welche Worte er auch wählte, sie hörte es nicht, sie ging nicht darauf ein – sie erreichten sie nicht, egal wie fest Grey sie an sich drückte.     Dann endlich kehrten die Zwillinge wieder zurück. Itzumi gab Grey das kalte Wasser und ohne zu zögern schüttete er es über seine Schwester aus. Sie schrie kurz auf, da dass Wasser ziemlich kalt war, doch dann blinzelte sie, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und sah sich dann verwundert um. Sie war… aufgewacht. Er sah es an ihren größer werdenden Augen, die aus einem Grey unverständlichen Grund zuerst zum Spiegel huschten. Erst als sie ihr eigenes Spiegelbild sah seufzte sie erleichtert auf.  „…Es war ein Alptraum… nur ein Alptraum! Gary und Sibi… sind am Leben…“ Voller Erleichterung sackte Greens nasser Kopf auf ihre Brust und ohne, dass Grey sich von dem Wasser stören ließ, legte er abermals die Arme um sie – und obwohl seine Schwester erwacht war und ganz gleich ob sie kurz zusammenzuckte, sie nahm die Umarmung dankend an, legte ebenfalls die Arme um ihn.    „Green… kam in seinem Traum ein Flötenspieler vor?“ Grey spürte, dass Green langsam nickte.   „Es tut mir Leid, Green… so Leid. Ich wollte nicht, dass dieser Dämon auch für dich zum Alptraum wird.“  „Hat er… hat er… war er es, der deinen Vater…?“  „Ja.“   „Er ist…“  „Ja, er ist tot. Dein Traum wird nie in Erfüllung gehen. Es war nur ein Alptraum…“  „Mutter hat ihn getötet…? Ist das… sicher…?“ Grey nickte und als Green zögernd, leicht ängstlich aufsah, lächelte er sie aufmunternd an:  „Ja, Mutter hat es getan. Er wird nie wieder zurückkehren. Egal was du geträumt hast, es bleibt ein Traum.“ Green nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Erst da traute sich auch Pink wiederhervor, die die Arme um Greens Hüfte schlang und den Kopf in ihrem nassen Nachtkleid vergrub, ohne etwas zu sagen. Verwundert sah Green Pink an, doch nur kurz, ehe sie lächelnd eine Hand auf ihren Kopf legte und diesen beruhigend streichelte.   Dieses vertraute Bild, dieses familiäre Bild… brachte Grey ebenfalls zu einem Lächeln, aber es wurde schnell beunruhigt, als er zum Ordner sah.   Er hätte es wissen müssen – und wie schrecklich er sich nicht dafür schämte, dass genau das eingetroffen war, was er sich nicht gewünscht hatte.  Reichte es diesem Nachtmahr denn nicht, nur Grey zu plagen?      Am nächsten Morgen war Green wieder absolut wohlauf. Sie hatte beschlossen, den Traum einen Traum bleiben zu lassen. Grey hatte immerhin recht: Nocturn war seit 16 Jahren tot und das würde ja auch so bleiben. Sie würde niemals in eine Lage kommen wie die in aus ihrem Traum.   Siberu und Gary würden niemals durch ihre Hand sterben. Eher brachte Green sich selbst um.   Etwas ziellos streifte Green alleine durch den Tempel. Es war noch sehr früh am Tag; es hatte nicht einmal Frühstück gegeben: Pink schlief noch, Grey war schon im Jenseits, obwohl er eigentlich hatte bei Green bleiben wollen, doch sie hatte ihm beteuert, dass es ihr wieder 100% gut ginge und er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Natürlich wollte sie im Moment lieber mit Grey zusammen sein, anstatt alleine durch den Tempel zu streifen, aber sie wollte auch nicht so wirken, als würde so ein Alptraum sie komplett aus der Bahn werfen.  Etwas verwirrt blickte Green sich herum. Dieser Gang kam ihr irgendwie nicht bekannt vor. War sie hier noch nicht gewesen? Das war gut möglich, obwohl sie eigentlich das Gefühl hatte, dass sie alles vom Tempel kannte – manchmal entdeckte sie immer noch einen ihr unbekannten Winkel. Der Tempel war einfach so… enorm.  Aber dieser Gang schien nicht sonderlich spannend zu sein, außer, dass Green ihn nicht kannte, denn er endete in einer Sackgasse, führte nur zu einer einzigen Tür, am Ende des Ganges. Was wohl dahinter lag? Ob es einer der Türme war, fragte Green sich selbst, während sie hinaus in den hellen und klaren Morgenhimmel sah, der zwischen den Säulen sichtbar war.    Die Tür war nicht abgeschlossen und Green hatte keine Skrupel einfach hinein zu gehen. Ein unbenutztes Zimmer lag leergeräumt vor ihr. Der Schreibtisch war unbenutzt und poliert, die Regale leer und die Vasen wurden nicht geziert von Blumen. Die Balkontür stand offen und der Wind spielte mit den hauchzarten weißen Vorhängen. Neugierig ging Green weiter ins Zimmer hinein, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und begutachtete ein langes Gemälde welches über dem Schreibtisch hing. Auf Grund seiner dunklen Farben stach es hervor, denn es zeigte einen Abendhimmel, auf dem die Sonne gerade untergegangen war und die ersten Sterne am Himmel blinkten. Ein ungewöhnliches Motiv für ein Kunstwerk, das im Tempel hing, aber Green gefiel es. Es hatte etwas Ruhiges an sich.  Green wandte sich vom Bild ab und bemerkte stutzend, dass auf dem Schreibtisch kein einziger Staubkrümel zu finden war; Itzumi musste dieses Zimmer regelmäßig putzen – warum nur?   Aber ein hübsches Zimmer war es wirklich und wie perfekt es lag, überlegte Green, mit den Händen auf den Rücken, als sie sich zur offenen Balkontür herumwandte und hinaus in den Himmel blickte. Nichts als Himmel konnte man von hier aus sehen. Das Zimmer lag vielleicht etwas zu abgelegen vom Rest des Tempels, aber es war wirklich ein sehr schönes Zimmer.     Sie schritt wieder auf die Tür zu, doch gerade als sie die Hand über den Türknauf hatte, hörte sie etwas… Die zarten Töne einer Spieluhr. Es war eine sanfte Melodie, aber dennoch ging ein Stoß durch ihren Körper und mit dem schrecklichen Bild des Alptraumflötenspielers wandte sie sich etwas nervös herum – aber es war niemand zu sehen. Natürlich war niemand zu sehen, Green!    Die einzigen die mit ihr dort waren, waren ein paar Vögel, die auf dem Balkongeländer saßen und ihre Lieder zwitscherten. Green lief ein Schauer über den Rücken, sie fühlte sich nicht wohl - als wäre sie nicht allein. Die Töne der Spieluhr waren langsam und ein wenig schleppend… und weckten in Green ein Gefühl von Traurigkeit. Sie schaute sich um, doch nirgends konnte sie eine Spieluhr entdecken. Doch in der Ecke des Zimmers führte eine Wendeltreppe nach oben, in eine zweite Etage, in eine Art Atelier. Mit etwas unsicheren Schritten ging Green auf die Wendeltreppe zu und rief leise nach oben:  „…Ist da jemand?“ Doch nur die Melodie antwortete ihr. Greens Hand lag schon auf dem Geländer, aber sie zögerte nach oben zu gehen. Sie sah noch zur Balustrade der zweiten Etage, als erwartete sie, dass irgendjemand dort oben auftauchen und zu ihr herunter schauen würde.   Es geschah nichts. Natürlich geschah nichts, nur die Melodie spielte weiter und ein sanfter Windhauch kräuselte ihre Haare. Green schluckte, sah die Wendeltreppe an, die sie unwillkürlich wieder an die erinnerte, die sie vorgestern nach unten geführt hatte… dort wo ihre Mutter mit diesem Monstrum gestorben war… ah, nicht daran denken. Einfach hochgehen.      Oben angekommen war natürlich auch niemand – dennoch atmete Green erleichtert auf, ehe sie sich in dem recht kleinen zweiten Teil des Zimmers umsah. Warum war sie eigentlich so nervös? Es wirkte doch alles so freundlich, so hell und luftig. Auch der obere Teil des Zimmers wurde hell von einem großen Fenster erleuchtet, das gegenüber von einem großen, weißen Himmelbett stand, das zur Wand gewendet war. Daneben ein Kerzenleuchter und am Fenster stand eine Harfe, von der Greens geschultes Auge sofort wusste, dass es sich um eine Harfe aus puren Gold handelte. Mein Gott! Wer hatte denn hier gelebt – und vor allen Dingen, warum stand so ein teures Stück hier noch herum?   Und dort – auf dem Nachtschrank, stand die Spieluhr, die nicht aufhören wollte zu spielen. Die Gänsehaut Greens nahm zu, sie spürte sie jetzt am gesamten Körper, denn die Feder, die man brauchen würde, um die Spieluhr aufzudrehen lag neben der Spieluhr und nichts deutete darauf hin, dass sie benutzt worden war.   Wie war sie angefangen zu Spielen? Der Wind hatte sie wohl kaum zum Spielen gebracht… war hier jemand gewesen, ohne, dass sie es bemerkt hatte…? Green schüttelte den Kopf und nahm, wie aus Protest, die Spieluhr in die Hand, die sofort verstummte.   Die Spieluhr bestand zum größten Teil aus blauen Tönen: blau Töne, die sich vom hellen Himmelblau, bis hin zu den dunklen Nachthimmel hinstreckten. Eine kleine Figur eines Engels war an der Spitze angebracht, allerdings sah der Engel ein wenig mitgenommen aus, denn er hatte nur einen einzigen Flügel. Aber wenigstens hatte er noch beide Arme – haha… - die beide weit ausgestreckt waren, als würde der Engel nach etwas greifen wollen. Vielleicht nach dem im Hintergrund, im Deckel der Spieluhr, aufgemalten, schwarzem Adler? Es sah jedenfalls fast so aus als würde der Engel versuchen den Adler zu erreichen… ohne es jemals tun zu können, sich immer nur im Kreis drehte zu dieser traurigen Melodie.    Die Spieluhr war kaputt. Überall hatte sie Risse. Als wäre sie gegen die Wand geworfen worden und dann wieder notdürftig, aber mit großer Mühe, zusammengeflickt.    Erst da sah Green dass die Spieluhr kaputt war. Sie hatte überall Risse, als hätte man sie gegen die Wand geworfen und danach wieder mit großer Mühe zusammengesetzt.   Untersuchend drehte Green die Spieluhr auf den Kopf und sah, dass auf dem Boden etwas eingraviert worden war:  „An H.A.T.S.W in ewiger Treue E.K.K.“   Zuerst wusste Green nicht was die zweiten Initialen bedeuten sollten, aber dafür wusste sie sofort, wofür die ersten standen: Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White. Na großartig! Bedeutete das, dass Green in dem ehemaligen Zimmer ihrer Mutter eingedrungen war? Das war sicherlich nicht unbedingt gut, dachte Green mit einem unsicheren Lächeln und stellte daher auch die Spieluhr zurück. Sie wollte eigentlich sofort gehen, aber dieser Entschluss bröckelte, sobald sie sich herumdrehte. Einmal wollte sie die Melodie noch einmal hören. Und dagegen hatte ihre Mutter garantiert nichts.   Green nahm also die Feder in die Hand und steckte sie ins passende Loch, doch es klemmte.  „Verdammtes Mistding! Gerade hast du noch freiwillig gespielt, hallo?!“ Während Green hartnäckig versuchte die Feder umzudrehen, baumelte ihr Glöckchen aus ihrem Oberteil heraus und berührte den Engel – doch das bemerkte Green nicht, denn in diesem Moment gelang es ihr mit einem siegreichen Ausruf, die Feder zu drehen.   Allerdings verblasste ihre Freude schnell, denn das Glöckchen hatte zu Strahlen angefangen, zusammen mit dem Klang der Spieluhr – die ebenfalls aufstrahlte und das gesamte Zimmer, inklusive Green, in ein helles, blaues Licht einhüllte---   „Was zum Teufel…?!“ Mehr konnte Green nicht ausrufen, denn schon wurde ihr schwarz vor Augen.                    Kapitel 40: Whites erste und einzige Liebe ------------------------------------------         „Die Rückkehr des Goldenen Wächtertums“, so wurden die Jahre von 1814-1962 genannt. Eine Zeit in dem kein Krieg herrschte und nur wenige Kämpfe ausgefochten werden mussten. Der letzte Krieg endete 1789 und hatte unzählige Opfer beider Seiten gekostet. Die Dämonen waren geschwächt, wie auch die Wächter. Also hielten sich beide Seiten zurück und konzentrierten sich auf den Wiederaufbau ihrer Welten. Darin waren eindeutig die Wächter am Besten, obendrein brach auch noch ein Krieg in der Dämonenwelt aus. So hatten die Wächter Frieden. Familien blühten erneut auf, Kinder wurden in Friedenszeiten ausgebildet und wuchsen auf, ohne das deren Eltern um deren Leben fürchten mussten. Sie wurden älter, einige erreichten sogar die 40. Unter dieser Zeit wurde die dritte und vierte Zentrale erbaut, weil es einfach zu viele Wächter gab.  Es war wirklich das goldene Zeitalter…  Und es endete mit einem wahren Grauen.   Ohne Vorwarnung, ohne Grund, wurde die zweite Zentrale am 13.11.1962 dem Erdboden gleich gemacht. 2353 Wächter starben in dieser Nacht. Keiner der Wächter der dort gelebt hatte, überlebte es. Keine Häuser blieben zurück – nichts blieb am leben.   Mit diesem Anschlag war der siebte Elementarkrieg eröffnet.    Der Hikari, zu dieser Zeit, beging Selbstmord und sein Sohn, Shaginai, übernahm mit dreizehn Jahren seinen Platz als Hikari. Entschlossen die Schande seines Vaters wieder gut zu machen, versuchte er alles um den Krieg zu wenden – vergebens. Die Dämonen waren zu stark, da sie durch ihren eigenen Krieg alle Schwachen „aussortiert“ hatten. Dennoch heiratete Shaginai drei Jahre später die Schutzwächterin Isari. Deren erste Tochter, Violet, kam ein Jahr darauf zur Welt, war allerdings nicht geeignet als Lichterbin. Der Krieg wurde immer schlimmer, die Kämpfe aussichtslos. Wächter waren nur noch Kanonenfutter und so wurden sie immer weniger. Deren einzige Hoffnung war eine fähige Hikari, die eine Wendung bringen konnte.   In der dunkelsten Stunde des Wächtertums wurden die Gebete erhört. Eine Hikari wurde geboren, die reiner war als alle ihre Vorgänger. Man behauptete sogar, sie wäre die leibhaftige Wiedergeburt Hikari-kami-samas. Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White. Von dem Tage an, an dem White in den Kämpfen teilnahm, nahm der Krieg eine ungeahnte Wendung ein. Niemand, nicht einmal ihr Vater, hätte dies jemals zu träumen gewagt.  Und so, erhielten die Wächter wieder die Führung zurück…              Völlig verwirrt schüttelte Green den Kopf. Ein übles Gefühl hatte sich in ihrem Körper ausgebreitet – ein Körper, der ihr kaum gehorchte und nur langsam das tat, was sie ihm befahl. Konzentration, sagte sie sich selbst: was war passiert? Ihr Körper musste sich zusammen nehmen – aber auch ihr Kopf. Alles musste sich zusammen nehmen… Konzentrier dich, konzentrier dich…   Das erste was ihre Sinne vernahmen, als sie langsam wieder ihre Arbeit aufnahmen war der Geruch von frisch gemähten Gras, der ihr in die Nase stieg und sie spürte warmes, fast heißes Sonnenlicht auf ihrer Haut… und die Luft, es war schwül – es schien… Sommer zu sein, aber im Tempel war gar nicht Sommer? Im Tempel war… Herbst, oder so. Sie hatte noch nicht ganz verstanden wie das mit den Jahreszeiten im Tempel funktionierte – egal.   Wo war sie?   Weit entfernt konnte sie Gelächter von Kindern hören, Worte die gesprochen worden, einander zugeworfen… aber nicht in ihrer Sprache, sondern in irgendeiner anderen… warte, war das nicht Englisch?   Langsam und auch ein wenig nervös öffnete Green die Augen und blinzelte erst einmal mühsam in die Sonne, starrte sie eine Weile an, ohne die Augen zusammen kneifen zu müssen, als suchte sie Halt an etwas, was sie kannte, ehe sie sich aufsetzte – und dann wurde ihr eins ganz klar: Sie war nicht mehr im Tempel. Und auch nicht auf irgendeiner anderen Insel. Sie war in der Menschenwelt. Aber… wie…   Mit skeptisch verengten Augen blickte Green sich umher. Sie war auf einem langen Grundstück gelandet auf dem ein zweistöckiges Haus aus Holz gebaut worden war: ein freundlich wirkendes Haus, das fast von Efeu bedeckt wurde, ohne dabei ungepflegt auszusehen. Im Gegensatz dazu stand der Rasen, denn dieser ging Green fast bis zu den Knien, wie sie bemerkte, als sie sich aufrichtete – der Geruch von frischgemähten Gras kam also garantiert nicht von diesem Grundstück. Nein, Green sah nach links – es kam von dem Nachbarsgrundstück, wo alles ordentlich und sauber war. Dort lag nichts herum, so wie auf dem Grundstück auf dem sie gelandet war – hier wuchs nicht nur Gras und Unkraut ungehindert, sondern auch Spielsachen lagen herum und Green entdeckte auch eine ziemlich überfüllte Sandkiste, daneben eine selbst gemachte Schaukel, die an einem hohen Baum befestigt war. Hohe Tannen umgab die rechte Seite des Grundstücks, das das letzte Grundstück war, dass an dieser Straße lag.  Fragend blickte Green sich herum; die Nervosität war verschwunden, denn auch, wenn sie immer noch verwirrt war… dieser Ort wirkte zu idyllisch um in ihr das Gefühl zu wecken, dass sie sich in Gefahr befinden würde. Zusammen mit den drei anderen Häusern lag dieses Haus richtig versteckt, umgeben vom einen prächtigen, grünen Wald, der wahrlich dazu einlud, dort spazieren zu gehen. Was für ein heimatlicher Ort, dachte Green und bemerkte, dass sie lächelte – und beim Klang der Kinder auch ein wenig eifersüchtig wurde. So etwas hätte sie auch gerne gehabt.   Immer noch nach Anhaltspunkten suchend, wo sie eigentlich war, schenkte Green dem Haus wieder ihre volle Aufmerksamkeit und sah zur Terrasse, die ebenfalls überwuchert wurde von Pflanzen. Dort standen auch viele Pflanzentöpfe, einige davon waren leer, in anderen hingegen wucherten die verschiedensten Blumen. Mit einem Schmunzeln fragte Green sich, ob die Leute die in diesem Haus wohnten, sich denn keine Gartenschere leisten konnten, aber dann wurde sie auch schon vom Dach abgelenkt, denn an diesem hing die größte Sammlung von Windspielen die Green je gesehen hatte.   Erst da merkte sie, dass sie nicht alleine war, denn auf der Terrasse saßen zwei Männer. Sofort ging Green in Deckung und erst nach einigen Sekunden, in denen sie sich im Gras versteckt hielt, schlich sie sich langsam weiter, um sich dann hinter dem Zaun zu verstecken, womit sie nur den älteren der beiden Männer sah. Ein wirklich älterer Herr wie es Green schien, denn seine schwarzen Haare hatten bereits damit begonnen sich grau zu färben und sein Gesicht wies schon die ersten Falten auf – und da waren auch ein paar Narben. Oh! Und ein fehlender Arm! Ob er ein Kriegsveteran oder so war? Sofort schloss Green auf einen Wächter, obwohl sie dafür keine konkreten Anzeichen hatte, denn er trug keine Uniform, sondern ein weißes Hemd – und sie war eindeutig in der Menschenwelt…   „Hast du wirklich verstanden wie wichtig es ist, dass du dich benimmst!? Wir reden hier immerhin nicht um irgendeine Wächterin!“ Aha! Also war sie doch unter Wächtern!  „Bitte, Kanon, tu mir den Gefallen und stürz unsere Familie nicht in Schande! Ein Fehler und wir könnten entehrt sein! Es hängt alles von dir ab und dir muss bewusst sein, dass eine Uniform tragen dich noch lange nicht zum Elementarwächter des Windes macht…“ Elementarwächter des Windes? Aber Grey war doch…  „… und du diesen ehrenhaften Titel erst einmal nur auf Probe erhalten hast – und besonders, dass du ihn jederzeit wieder verlieren könntest! Shaginai-samas Augen werden auf dir liegen, mein Sohn und nur weil es einmal geschafft habe ihn von deinen Qualitäten zu überzeugen, bedeutet es nicht, dass ich es ein zweites Mal kann.“  „Vater, wirklich, das weiß ich. Das hast du mir schon drei Mal erklärt! Ich brauche es kein viertes Mal!“ Warte--- warte--- Warum hörte sich das alles danach an als wäre sie… in einer anderen Zeit? In der Vergangenheit?! Aber wie das denn?! Wie war das überhaupt möglich, wie war das passiert?! Zeit war immerhin nicht ihr Element und das war wohl kaum ein Streich von Kaira! Was hatte sie zuletzt getan, was hatte sie zuletzt getan… Sie war in das Zimmer ihrer Mutter gegangen, hatte sich umgeschaut und…  Und dann sprang ein Mädchen direkt durch Green durch als sie die Hand auf den Zaun legte und flink darüber sprang – mitten durch Green durch, sie war mitten durch Green durchgesprungen! Green stolperte rückwärts, stand auf, fiel aber sofort wieder ins Gras. Was zur Hölle---  „Kano! Du bist wieder da!“, rief das braungebrannte Mädchen, dessen blonde Zöpfe um sie herum wirbelten, als sie ihre Schultasche achtlos in die Ecke der Terrasse schmiss und sich dem Wächter um den Hals schmiss, den Green bis jetzt immer noch nur von hinten gesehen hatte. Der ältere Windwächter stöhnte auf, während die beiden anderen sich umarmten.    „Ciel, bitte! Dein Bruder und ich haben etwas Wichtiges zu besprechen…“  „Oh, was hast du für eine hübsche Uniform an, Kano! Die steht dir aber gut!“   „Wirklich, Ciel, Kanon und ich haben etwas Wichtiges…“  „Oh, danke, Ciel! Ich finde sie ein wenig gewöhnungsbedürftig.“ Während dieses Gespräch hin und her ging und der ältere Wächter von den beiden eifrig redenden komplett überhört wurde, stand Green wieder auf und kam aus dem hohen Gras hervor, immerhin hatte sie nun verstanden, dass sie ohnehin niemand sehen konnte – und schon weiteten sich ihre Augen, als sie nun den Mann sah, denn die beiden Kanon, beziehungsweise Kano nannten.  Das war… Green fasste es nicht – das war Greys Vater! Kanori!   Sie hatte ihn nur ein einziges Mal auf einem Foto gesehen, dennoch zwar jeder Zweifel ausgeschlossen, denn die Ähnlichkeit der beiden war verblüffend. Es war, als sähe Green einen jüngeren und kräftigeren Grey vor sich, minus der ungesunden Haut, denn dieser Wächter sah alles andere als kränklich aus. Er sah gesund und stark aus, mit einem lachenden, offenen Gesicht, eingerahmt von etwas zerzausten, schwarzen Haar. Aber genau wie Grey hatte auch er zwei längere Strähnen, die mit Haarbändern versehen waren – und, wie Green lange genug gesehen hatte, immerhin hatte sie für mehrere Minuten nur auf seinen Rücken gestarrt, einen Zopf der ihn auf den Rücken fiel.   Ciel lachte über die Bemühungen ihres Vaters und schlang von hinten die Arme um Kanori herum:    „Das gleiche wie immer, was, Papa? Was bin ich froh, dass ich kein Wächter bin! Wenn ich deine Vorträge hören müsste, würde ich verstauben!“ Das Stirnrunzeln auf Greens Gesicht wurde immer größer – wie, sie war kein Wächter? Aber sie hatte doch Kanori ihren Bruder genannt und den alten Wächter gerade Vater genannt – wie konnte sie da kein Wächter sein? Obwohl, warte – Ciel sah den beiden Windwächtern nicht sonderlich ähnlich. Bei den beiden Wächtern sah man deutlich, dass sie verwandt waren – sie aber stach irgendwie heraus… nicht nur wegen ihrer braunen Haut, sondern auch wegen ihren blonden Haaren und ihren braunen Augen, denn die Augen von Vater und Sohn waren hellblau; dasselbe Himmelblau wie das von Grey.    „Kano, musst du heute etwa schon wieder los? Ich dachte das wäre verschoben worden… Heute sind doch die Sommerferien angefangen!“  „Du weißt doch, ein Wächter hat keine Ferien“, antwortete Kanori mit einem entschuldigenden Lächeln. Green war sprachlos: sogar seine Stimme ähnelte der von Grey.   „Nur weil die Hikari es sagen, musst du wieder dahin…“   „Deren Wort ist Gesetz. Ich kann mich nicht beugen, so gern ich es auch wollte! Glaub mir Schwesterherz, ich würde wirklich gern die Sommerferien mit dir zusammen verbringen!“ Mit einem kleinen Donnerwetter mischte sich nun sein Vater ein:  „Das will ich nicht gehört haben! Bei all den Anstrengungen, die wir in den letzten Monaten in deine Beförderungen gesteckt haben! Muss ich dich daran erinnern wie knapp die Entscheidung ausfiel und wie sehr Shaginai-sama eigentlich gegen deine Ernennung ist?! Und mit dieser Einstellung, die du da an den Tag legst, zwingst du mich fast ihm zuzustimmen!“ Angesichts der offensichtlichen Wut seines Vaters setzte Kanori ein schmollendes Gesicht auf, was Green zu einem kleinen Kichern brachte. Er war ihr sympathisch!   „Ich hasse die Hikari!“, rief Ciel plötzlich aus und dann brach das wahre Donnerwetter erst aus:  „Ciel! Das will ich nicht gehört haben!“ Doch bevor ihr Vater noch etwas sagen konnte, gab sie ihren Bruder einen Kuss auf die Wange und das Mädchen verschwand lachend ins Haus – ihre Schultasche hatte sie liegen gelassen, nun, das hätte Green auch getan. Es waren ja scheinbar Ferien!    „Dann lass uns aufbrechen, Kanon. Zu spät kommen wäre sehr gegen meine Intentionen – wenn du denn überhaupt noch vorhast Elementarwächter und Leibwächter der Hikari zu werden!“ Kanori lachte, stand aber auf und klopfte seinen Vater beruhigend auf die Schulter.  „Aber natürlich will ich das, Vater. Und ich verspreche dir, ich werde der Eien-Familie keine Schande bereiten.“       Das waren die letzten Worte, die Green von Kanori hörte – ehe alles schwarz geworden war. Etwas ängstlich blickte die Hikari sich herum, aber da spürte sie schon, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Es war keine gefährliche Dunkelheit; sie war warm und wohltuend – und dort, in der Dunkelheit war ein kleiner Punkt erhellt, dort, wo zwei Personen gegenüber von einander saßen. Ein Mann und eine Frau, sachte erhellt von einem warmen Licht. Kanori und… ihre Mutter. Zwischen ihnen stand die Spieluhr und wieder hörte Green das traurige Lied, aber die beiden… sie lächelten einander an.   „Es ist ein trauriges Lied“, hörte White ihre Mutter sagen.   „Ich möchte dich damit aber nicht traurig machen, White.“ Er legte seine Hände auf ihre und Green… sie wusste nicht warum, aber irgendwie… rührte sie dieses Bild, dieses kleine, einfache Bild, diese so sanfte Erinnerung, die so warm war.   „Im Gegenteil. Ich möchte, dass du Lächeln kannst, wenn du diese Melodie hörst. Ich habe all unsere Erinnerungen mit der Hilfe von Aermis darin gespeichert. Wir können sie so immer wieder erleben, immer wieder über unsere dummen Fehler lachen und aus ihnen lernen – unseren Kindern zeigen, wenn sie so weit sind.“ Green spürte Tränen in den Augen – sie wusste nicht warum. Sie kannte Kanori doch gar nicht… und ihre Mutter… eigentlich kannte sie sie doch auch nicht. Und jetzt erhielt sie Zugriff auf ihre Erinnerungen? War das nicht… falsch? Tat sie nicht etwas Falsches? Sie und White… sie kannten sich doch eigentlich gar nicht, dachte Green und spürte, wie sich plötzlich eine Träne aus ihren Auge löste. Ihre Mutter – sie kannte sie nicht. Ihre Mutter, die sich bei ihr entschuldigt hatte, immer und immer wieder, ihre Mutter, die sie in den vier Monaten kein einziges Mal besucht hatte und wofür Green eigentlich gar nicht so wütend war, wie sie es eigentlich sein konnte – denn sie… sie hatte sie ja auch nicht besucht. Sie könnte es – aber sie traute sich nicht. Sie trauten sich beide nicht. Daher kannten sie sich nicht. Daher war Green dieses warme Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter so fremd, so fremd.   Ob sie die Geschichte, die die Spieluhr zu erzählen hatte noch aufhalten konnte?   Vielleicht, aber sie wollte es gar nicht.   Vielleicht… lernte sie jetzt ihre Mutter kennen.   Vielleicht würde sie sich dann trauen ihr gegenüber zu treten und vielleicht würde sie dann ebenfalls dieses warme Lächeln sehen, hervorrufen, dass White nun Kanori schenkte.     Alles was sie tun musste war, sich fallen zu lassen.       „Guten Morgen!“   „Guten Morgen, Hikari-sama…“  „Euch auch einen Guten Morgen, Teresa, Aisa…“  „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Guten Morgen, Hikari-sama!“  „Danke, gleichfalls, Jeraf.“  „Hikari-sama! Guten Morgen!“  „Ferel, Guten Morgen.“   Jeder Tag begann auf dieselbe Art; sobald White nur einen Schritt aus ihrem Turmzimmer machte und die eigentlichen Korridore des Tempels erreichte, wurde sie links und rechts von „Guten Morgen“ begrüßt. Es gehörte zu ihrem Tagesablauf, dass sie dieses „Guten Morgen“ von ihrem Zimmer an, bis zu ihrem Ziel begleitete – aber obwohl es eine festgefahrene Angewohnheit war, war es doch eine ermüdende Angewohnheit. Aber dennoch lächelte White stets, grüßte jeden der vielen Wächter mit einem Lächeln zurück. Schenkte ihnen das strahlende Lächeln für das sie bekannt war und was man von ihr erwartete.   Nach vier weiteren „Guten Morgen“-Grüßen blieb White stehen, denn sie hörte wie jemand auf sie zu gerannt kam – jemanden, den White schon erkannte bevor er überhaupt bei ihr angekommen war, denn seine energische Aura war selbst unter den anderen, anwesenden Wächtern nicht zu verkennen. Sie strahlte förmlich hervor wie eine Fackel. Mit einem breiten Grinsen tauchte jener feuerroter Haarschopf neben White auf, salutierte und tat dasselbe was die anderen Wächter ebenfalls schon getan hatten:  „Jo, Hikari-sama! Guten Morgen!“ White fühlte wir wie ihr Lächeln bei diesem gefühlt 30igsten Mal ein wenig steif wurde, allerdings wurde es von seiner Heiterkeit schnell wieder aufgelöst.   „Guten Morgen, Hirey…“   „Ihr seht heute aber gar nicht gut aus! Und das wo wir fünf Stunden schlafen konnten! Stimmt etwas nicht?“   „Nein, alles in bester Ordnung, ich bin nur…“ Hirey fiel ihr ins Wort:   „Angenervt? Von dem ewigen „Guten Morgen“? Kann ich verstehen! Ich finde es sowieso sehr beachtlich wie Ihr Euch die ganzen Namen merken könnt…“ Ehe er weiterreden konnte, schob ihn der Offizier des Wassers beiseite und verkündete, mit einer gänzlich übertriebenen Geste:  „Hikari-sama! Ich wünsche Euch einen gesegneten Morgen! Aber wenn ich Euch sehe, kann es ja nur ein schöner Morgen werden! Es ist als würde ein Licht den Morgen erhellen!“ Hirey schielte ihn belustigt an, allerdings nur kurz, ehe er den Offizier dann an seinen Umhang packte:  „Schleim woanders, Kikares! Hikari-sama und ich müssen zur Versammlung, also: Hopp, mach den Weg frei! Aber ein bisschen plötzlich!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drängte Hirey guter Dinge sich an ihn vorbei und White folgte ihm – natürlich nicht ohne dem etwas überrumpelten Kikares ebenfalls einen Guten Morgen zu wünschen.   „Man sollte meinen, dass Kikares langsam mal verstanden hat, dass man so nicht um Eure Hand anhalten kann. Die Prozedur ist doch allgemein bekannt – traut er sich nicht Shaginai anzusprechen oder wie?“ White antwortete nicht, schwieg sogar kurz, was Hireys Grinsen dazu brachte zu verschwinden:  „Es ist nicht nur wegen dem ständigen „Guten Morgen“, dass Ihr heute keine gute Laune habt, oder, Hikari-sama?“ White schreckte auf – anscheinend war sie wirklich in Gedanken gewesen, denn kurz sah sie ihren Elementarwächter des Feuers verwirrt an.  „Ist es wegen unserem Zuwachs? Der sollte doch heute kommen, wenn ich mich nicht vertan habe?“  „Oh, du meinst wegen Kanori-san?“ White schüttelte den Kopf, wurde dann von Hireys Lachen überrumpelt und fuhr beinahe erschrocken zusammen:  „“Kanori-san“?! Ahahaha, ich glaube bei Kano braucht Ihr kein Suffix, Hikari-sama!“   „“Kano“? Du kennst ihn, Hirey?“   „Klar! Kano und ich waren im selben Jahrgang. Ich frage mich wie der Kerl es geschafft hat überhaupt in die Nähe eines Elementarwächterranges zu kommen, nachdem was er angestellt hat…“ „Angestellt“? White wunderte sich über dieses Wort – es klang so negativ. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht viele Gedanken um ihren neuen Elementarwächter des Windes gemacht, aber er war Katarons Sohn und somit eigentlich von Geburt an berechtigt den Titel zu tragen. Es war doch ganz natürlich, dass er den Posten seines Vaters übernehmen würde, nun, da Kataron nicht mehr kämpfen konnte?   „Habt Ihr ihn denn noch gar nicht gesehen?“ White schüttelte den Kopf.  „Ich habe gehört unser neuer Elementarwächter musste in den letzten Wochen einen Eignungstest nach dem anderen auf Sanctu machen“ Eignungstest? Das klang wirklich nicht so überzeugend, aber ihr Vater hatte die Ernennung abgesegnet, also brauchte White sich eigentlich keine Gedanken zu machen, ganz egal was ihr neuer Elementarwächter angeblich angestellt hatte   „Ich muss gestehen, dass das ganze etwas an mir vorbei gegangen ist“, antwortete White, nachdem sie wieder zwei vorbei gehende Wächter gegrüßt hatte.   „Ist ja auch kein Wunder – es geht alles an einem vorbei was hier auf unseren schönen Inseln passiert wenn man einen Monat in der Dämonenwelt gewesen ist! Ich setze immer meinen Tempelwächter darauf an Ohren und Augen für mich offen zu halten – eigentlich müsst Ihr Euren Tempelwächter nur Fragen, die wissen doch sowieso meistens besser Bescheid als wir!“ Hirey lachte heiter und White fühlte sich ein wenig beruhigt – es war also nur ein Gerücht…  „Aber wenigstens waren wir erfolgreich und konnten die Dämonen ordentlich Feuer unter dem Hintern machen – aber ich habe immer noch das Gefühl, dass ich nach Schwefel stink!“ White wollte ihn schon versichern, dass er sich darüber absolut keine Sorgen zu machen brauchte, als sie auch schon angekommen waren – im Versammlungsraum in der dritten Etage des Tempels, dem größten und bestausgestatteten Versammlungsraum im Tempel, einzig und allein vorgesehen für die Elementarwächter und daher allmorgentlicher Treffpunkt der momentan Acht Elementarwächter, wo die anderen Elementarwächter auch schon auf Hirey und White gewartet hatten.   Hirey schwang sich sofort auf den roten Stuhl des Elementarwächters des Feuers und White steuerte auf ihren weißen zu, als die Tür sich hinter ihr noch einmal öffnete und zwei weitere fehlende Mitglieder in der Tür auftauchten. Zuerst Whites Elementarwächter des Klimas, Azai, der auch gleichzeitig ihr geschätzter Leibarzt war, hereingestürmt:        „Ich habe verschlafen! Entschuldigt die Verspätung!“ Hirey, der eben noch seinen besten Freund und Elementarwächter der Erde, Izerin begrüßt hatte, lehnte sich nun über seinen Stuhl und sah Azai feixend an:  „So wie du aussiehst warst du eher bei Mizuno, als dass du verschlafen hast…“ Der Angesprochene wurde knallrot und fuhr fahrig durch die Haare, womit er auch bemerkte, dass er vergessen hatte sich diese zu kämmen, was Hirey nur zu einem noch breiteren Grinsen brachte – welches dann allerdings steif wurde, als eine weibliche Stimme sich räusperte und Hirey seine große Schwester hinter Azai entdeckte: Mizuno, die Elementarwächterin des Wassers.    „Hirey-kun! Das Privatleben deiner großen Schwester geht dich überhaupt nichts an!“ Schuldbewusst, aber immer noch leicht grinsend wandte Hirey sich wieder ab und nahm, genau wie die beiden Neuankömmlinge des Elementarwächterteams auf ordentliche Manier seinen Platz ein.   Lächelnd begann White damit ihre Elementarwächter zu begrüßen, die alle ihr Lächeln und ihre Begrüßung erwiderten. Die Hikari schätzte sich sehr glücklich, dass sie zu diesem Team gehören durfte – sie war glücklich und stolz deren Elementarwächterin des Lichts zu sein und stolz und froh darüber sie ihre Mitstreiter nennen zu dürfen. Jeder einzelne von ihnen war ihr Freund und mit jedem von ihnen verstand sie sich bestens. Es gab keine Unebenheit, keine ungeglättete Woge zwischen ihnen. Sie waren ein Elementarwächterteam das nicht nur durch Pflicht, sondern auch durch Respekt und Freundschaft aneinander gebunden war und jedes Mal, wenn einer ihrer Familienmitglieder White für ihr gut ausgewogenes Team lobte, fühlte sie sich von Stolz erfüllt.   „Ich hoffe ihr habt Euch alle nach unserer gestrigen Heimkehr gut erholt.“ Hier und da wurde genickt: Mizuno und Azai lächelten sich verstohlen an – obwohl sie einen Sohn hatten, taten sie manchmal immer noch so, als hätten sie sich erst kürzlich getroffen und als wären sie gerade frischverliebt.  „Sai war ganz aus dem Häuschen“, erzählte Mizuno und Azai ergänzte:  „Es hat sehr lange gedauert bis wir ihn ins Bett bekommen konnten.“ Hirey lachte:  „Und bei mir erst! Mein Sohnemann wollte mich gar nicht mehr loslassen!“ Jetzt war es Hirey der feixend angrinst wurde, nämlich von Izerin, der ihm gegenüber saß:  „Oder warst es eher du, der ihn nicht gehen lassen wollte, huh, Hirey?“ Der Angesprochene wurde leicht rot, verneinte allerdings nicht.   „Wie geht es Kataron-san, Yuri-san?“ Diese Frage Whites richtete sich an ihre Elementarwächterin der Natur, die neben Izerin saß. Eine wahre Schönheit, mit langem, seidigem schwarzen Haar und hellen grünen Augen. Ein ungewöhnliches Aussehen für eine Naturwächerin, aber manchmal kam es vor, dass man nicht nach dem Elternteil kam, von dem man das Element geerbt hatte. Selten, aber solche Fälle existierten auch.    „Den Umständen entsprechend geht es meinem Sturkopf von einem Vater gut. Er muss sich natürlich noch daran gewöhnen, dass ihm ein Arm fehlt, aber ich bin zuversichtlich, dass er auch das schaffen wird.“ White freute das zu hören: Kataron war das älteste Mitglied der Elementarwächter gewesen – er hatte noch Shaginai gedient. Mit seinen 46 Jahren war er ein sehr kampferprobter Wächter gewesen, den White immer gerne an ihrer Seite gewusst hatte, aber er hatte den Ruhestand wahrlich verdient, obwohl er sicherlich noch länger gekämpft hätte, wäre da nicht dieser eine Dämon gewesen, der ihn den Arm abgerissen hatte, in Kombination mit jenen einen Mal, als White ihn nicht schnell genug hatte heilen können, da sie an einem anderen Ort gekämpft hatte, womit sein Arm verloren gewesen war. Das war kurz vor ihrem Schlachtzug in die Dämonenwelt geschehen; seitdem war der Platz des Elementarwächter des Windes freigeblieben. Ein wenig nachdenklich blickte White auf den freien Platz Katarons – der graue, geflügelte Stuhl des Windwächters. Was Kanori wohl für ein Wächter war? White kannte ihre Elementarwächter nun schon so gut, es kam ihr ein wenig befremdlich vor dort unter ihnen bald ein neues Mitglied zu sehen, aber sie vertraute dem Urteil ihres Vaters, weshalb sie sämtliche Gerüchte Hireys auch schon aus dem Kopf geschlagen hatte. Wenn ihr Vater ihn als neuen Elementarwächter bestimmt hatte, dann hatte  das schon seine Richtigkeit.        „Wann soll Kanori eigentlich eintreffen?“, fragte Mizuno in die Runde und White antwortete:  „Ich treffe unser neues Mitglied um 13 Uhr.“ Yuri kicherte ein wenig in sich hinein:  „Ciel hat mir mitgeteilt, dass Vater ihn begleitet – er glaubt wohl, dass Kanon sich sofort blamieren wird!“ Whites Lächeln verschwand – das… klang aber gar nicht gut. Hirey lachte nur:  „Ja, das kann ich mir vorstellen. So einen Unruhestifter würde ich auch an der kurzen Leine halten wollen.“ Unruhestifter? Kanori war Unruhestifter? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte White sich wahrlich keine allzu großen Gedanken gemacht; das jetzt aber zu hören machte sie doch langsam ein wenig unruhig. Sie hatte Hirey zwar vorhin noch gesagt, dass Kanori nicht der Grund war, weshalb sie sich Gedanken machte – aber scheinbar hätte sie sich mehr Gedanken machen müssen? Aber Shaginai hatte auch ihre jetzigen Mitglieder ausgesucht; es gab keinen Grund zur Sorge…   „Mal eine ganze andere Frage“, begann Izerin sich demonstrativ ein wenig nervös umsehend:  „Wo ist eigentlich Violet?“ White horchte auf und antwortete ihrem Erdwächter:     „Nee-sama wird wohl noch schlafen.“  „Typisch“, begann Yuri,   „Sie wahrlich verschläft immer!“   „Oder sie hat keine Lust“, kicherte Mizuno.   „Ist doch egal. Wir haben ja sowieso kein wichtiges Thema!“, antwortete Hirey. Azai räusperte sich, anscheinend fand er schon, dass sie wichtige Themen zu besprechen hatten:   „Der neue Impfstoff ist im Übrigen eingetroffen, während wir in der Dämonenwelt tätig waren. Ich würde die Impfung gerne im Anschluss durchführen.“ Mit einem Schlag wurde Hirey wich sämtliche Farbe aus Hireys Gesicht:   „I-Ich glaube ich werde Vio mal wecken gehen!“ Mizuno hielt den nun plötzlich sehr ängstlich wirkenden Feuerwächter zurück und Izerin hob halb grinsend, halb tadelnd die Augenbraue:   „Das ist doch nur ein minimaler Picks! Der wird dich schon nicht umbringen.“   „Du musst meine Hand halten!“  „Ich halte hier überhaupt nichts! Stell dich nicht so an, sogar dein Sohn macht nicht so einen Aufstand wie du, Hirey! Außerdem: wie oft musste Azai dir in der letzten Etappe unserer Schlacht schon Dämonenklauen aus dem Körper holen? Da jammerst du auch nicht.“ Wie deutlich man Hirey nicht ansah, dass dieser fand, dass das was ganz anderes war – aber er kam nicht dazu seinem Freund dies auch zu antworten, denn in diesem Moment klopfte es an der Tür und das erheiterte Lächeln auf Whites Gesicht verschwand sofort, denn sie spürte, dass es ihr Tempelwächter war – und das konnte nur eins bedeuten.    „Verzeiht die Störung.“ White winkte lächelnd mit der Hand ab und bemühte sich darum sich nichts anmerken zu lassen:  „Was ist denn, Irizz?“  „Ihr habt eine Botschaft aus dem Jenseits, Hikari-sama. Sie ist soeben eingetroffen.“  „Ich nehme an von meinem Vater.“ Irizz verneigte sich, die anderen Elementarwächer lauschten neugierig blinzelnd.   „Ja. Er wird gleich hier sein.“   „Ich komme.“ Ein kleines Seufzen konnte White nicht zurückhalten, ehe sie sich aufrichtete, sich von ihren Elementarwächtern entschuldigte und dann ihrem Tempelwächter folgte.    Ihr Team sah ihr hinterher.   „Was Shagilein wohl will?“  „Nenn ihn nicht so, Hirey-kun. Wenn er das hört, stellt er dich noch vors Kriegsgericht“, gebot Mizuno mit erhobenen Zeigefinger.    „Aber Hikari-sama ist doch sofort nach unserer Rückkehr ins Jenseits gegangen um direkten Bericht zu erstatten?“ Fragen blickte Yuri ihre Kollegen an. Azai faltete die Hände und erwiderte:  „Vielleicht handelt es sich um ihren nahenden 17ten Geburtstag.“  „Du meinst, einen Verlobten? Das kann ich mir gar nicht vorstellen... Shaginai lehnt doch jeden Anwärter ab“, spekulierte Mizuno und Izerin fügte hinzu:  „Ich kann mir überhaupt niemanden an Hikari-samas Seite vorstellen.“  „Im Endeffekt geht es uns nichts an. Also lass uns… Hirey! Du bleibst gefälligst hier! Izerin! Halt ihn zurück!“      Der verabredete Treffpunkt war ein Pavillon in den riesigen Gärten des Tempels. Es war ein angenehmes Wetter und White genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer bleichen Haut, während sie über die Steinfließen durch die Blumen und ordentlich zurechtgeschnittenden Büsche schlenderte. Ein paar Wächter kreuzten ihren Weg, ein automatisches Grüßen wurde ausgetauscht, Köpfe verneigten sich, White lächelte - aber ihr war nicht nach einem Lächeln zumute und obwohl ihr Mund ein solches zeigte, zeigten ihre Augen etwas anderes, als sie hilfesuchend in die Sonne hinaufblickte, als könnte diese ihr helfen.   Aber natürlich konnte sie es nicht und seufzend ließ White sich auf der obersten Stufe der Treppe nieder, die zum Pavillon hinaufführte. Sie hatte nicht mehr viel Zeit zum Seufzen; wenn Shaginai sich angekündigt hatte, folgte sein Besuch eigentlich in der Regel auch sofort. Er ließ nie viel Zeit verstreichen, immerhin waren sie im Krieg und im Jenseits gab es viel zu besprechen, besonders nach ihrem langen Schlachtzug - sie hatten gesiegt und dieser Sieg musste schnell genutzt werden um weiter auf diesem aufzubauen.   Ihre Gedanken an Krieg verblassten ein wenig, als White ihren Blick wieder abwandte von der strahlenden Sonne und hinunter sah in den Garten, der sich vor unter ihr erstreckte, denn der Pavillon lag auf einem kleinen Hügel, von wo aus man eine gute Aussicht hatte über die Gärten. Die Kinder spielten Ball; die zwei Kinder die sich nur wage Bilder machen konnten von dem Krieg, in den sie bald hinein gezogen werden würden, denn auch diese beiden Kinder gehörten zu Whites Elementarwächterteam, beziehungsweise, würden es bald tun, sobald sie das kriegsfähige Alter erreicht hatten: der Elementarwächter der Illusionen, Thalion, zusammen mit der Elementarwächterin der Zeit, Yuna, die dort freudig und unbekümmert miteinander spielten, jenseits aller strategischer Gedanken um den nächsten Kriegsschritt. Sie bemerkten Whites Anwesenheit, winkten ihr freudig zu, White winkte zurück und sie wandten sich wieder ihrem Spiel zu.   Dann hob White den Kopf, denn ihr feinfülliges Gefühl sagte ihr, dass ihre große Schwester einer der anderen Treppen zum Pavillon hinaufgegangne war und tatsächlich - als sie den Kopf nach hinten wandte, sah sie ihre große Schwester Violet hinter ihr stehen, die sich kurzerhand neben ihr auf die Stufen setzte - und erst einmal herzhaft gähnte, ehe sie ihr einen „Guten Morgen“ wünschte.   Violet war das genaue Gegenteil von White. Sie war aufbrausend, hatte das Temperament Shaginais Geerbt, war für jeden Spaß bereit und verabscheute - im Gegensatz zu White - das Lernen und obwohl sie Shaginais Tochter war, kannte sie von den Regeln nur einen Bruchteil. Doch trotzdem – oder gerade deshalb - war sie eine liebenswerte Person und White schätze ihre Gegenwart sehr. Violet erinnerte sie zu gern daran, dass es auch ein „Leben“ gab, was die Lichterbin öfters zu verdrängen versuchte.    „Was tust du eigentlich hier, White-chan?“ White konnte nicht drum herum zu schmunzeln wenn Violet sie so nannte, immerhin war sie somit die einzige, die sie nicht „Hikari-sama“ nannte - mit Ausnahme deren Vaters natürlich. Aber obwohl White schmunzelte war sie dennoch verwundert über die Frage - sie hätte gedacht, Violet wüsste es und wäre deshalb gekommen. War Violet etwa nur hier, weil sie Whites Aura gespürt und sich an dieser orientiert hatte? Gab es denn etwas zu besprechen?    „Ich genieße die Sonne, solange bis Vater…“ Kaum wurde deren Vater erwähnt begannen Violets Augen auch schon groß und strahlend zu werden, doch sie kam nicht zum Antworten, denn in genau diesen Moment kam ein Ball angeflogen - direkt auf White zu, der wohl auch mit ihrem Gesicht kollidiert wäre, wäre da nicht Violets Hand hervorgeschossen um diese „Attacke“ abzufangen. Sofort war die Schutzwächterin auf den Beinen.  „Hej! Wenn ihr Knirpse nicht einmal einen Ball unter Kontrolle halten könnt, wie wollt ihr denn euer Element kontrollieren?!“ Die Kinder brachten sich schnellstens vor Violet in Sicherheit, die sofort auf sie zu gerannt kam, denn nicht nur White kannte das Temperament ihrer Schwester. Schnell hatte Violet die zwei Kinder allerdings eingeholt und die gerechte Strafe folgte zusammen mit lauten Kindergelächter - denn Violet hatte angefangen sie durchzukitzeln.   Auch White konnte sich, genau wie die Kinder, nicht zurückhalten und ungewollt löste sich ein leichtes Kichern von ihren Lippen. An sich war dies nichts Besonderes. Ein Lächeln war sie immerhin gewohnt - aber ein Kichern?  Das war doch…   „Ihr habt ein wirklich schönes Lachen, White-sama!“    White verstummte sofort, sie kannte die Stimme nicht und in ihrer Ablenkung hatte sie auch nicht bemerkt wie sich ihr eine Aura genähert hatte, weshalb ihr umdrehen ein wenig zögernd, ja, nervös war. Hinter ihr stand ein junger Mann, zirka vom gleichen Alter wie ihre Schwester. White blinzelte den unbekannten an, sah in sein himmelblaues Augenpaar, blinzelte noch einmal - und war nicht in der Lage irgendetwas zu erwidern. Sie sollte etwas sagen, irgendetwas, sie wusste doch, wie sie auf Komplimente zu reagieren hatte, aber unbewusst starrte sie ihn an, brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. Anders als er - er lächelte. Ein warmes Lächeln, das auch noch auf seinem Gesicht bestehen blieb, als er sich lässig verbeugte und dann an White vorbei, die Treppe herunter ging. Wer war das?     Beschämt über ihre unziehrliche Reaktion sprang White sofort auf die Füße, kaum, dass er ihr den Rücken zugekehrt hatte und die Frage, wer er war, stellte sie sich nicht länger, denn kaum, dass sie aufgesprungen war, schoss ihr die Information, die ihr gerade noch gemangelt hatte, durch den Kopf. Kanori! Dieser Mann war Kanori! Ihr neuer Elementarwächer - a-aber deren Treffen war erst für 13 Uhr vorgesehen, was tat er hier schon, hier, wo sie sich mit ihrem Vater…   Völlig verwirrt von dieser abrupten Planänderung schaute White Kanori hinterher; sah zu wie er lässig einige Stufen herunter sprang, ehe er bei Violet ankam. Als diese ihn erblickte, hellte ihr Gesicht erfreut auf und die Beiden umarmten sich - also kannten auch sie sich. Sofort redeten die beiden munter los und schienen sich zu necken, während White immer noch auf den Treppenstufen verharrte, als wäre sie angewurzelt.   Aber schnell bewegte sich ihr Körper wieder, genau wie Violets die plötzlich, als hätte sie sich teleportiert, neben ihr erschien - aber nicht lange, denn schon warf sie sich lachend um Shaginais Hals.   „Papaaaaaaaaa!“ Und da war er wieder – der Moment, in dem White sich fragte wie Violet das tat: nicht nur, dass ihr Vater Violet ebenso freudig in die Arme schloss wie umgekehrt, so lächelte auch – lachte, wirkte für einen kurzen Moment völlig ausgelassen. Wie machte sie das bloß… White wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie sich auf jeden Fall nicht traute sich ihrem Vater um den Hals zu werfen.     „Guten Morgen, Vater“, sagte sie stattdessen und versuchte dabei auch erfreut zu klingen. Doch obwohl sie sich größte Mühe dabei gab, war Shaginais Lächeln verschwunden, als er seinen Blick von Violet abwandte und seine zweite Tochter ansah. Er ließ Violet los, seine Ausgelassenheit war verschwunden und zurück blieb die gewohnte Ernsthaftigkeit eines Hikari.   „Guten Morgen, White.“ Die Angesprochene deutete eine leichte Neigung mit dem Kopf an und wandte sich Shaginais Begleitung zu um ihn ebenfalls zu begrüßen – Kataron.   Sobald sich ihre Augen getroffen hatten, verneigte dieser sich, seine übrig gebliebene Hand auf sein Herz legend, nachdem White auch ihm einen Guten Morgen gewünscht hatte.   „Ich wünsche Euch ebenfalls einen Guten Morgen.“  „Es freut mich Euch so wohlauf zu sehen, Kataron-san“, erwiderte White, ihr Lächeln beibehaltend, obwohl sie eigentlich ziemlich verwirrt war. Warum waren Kataron und sein Sohn denn schon hier? Ihr Vater hatte ihr doch gestern im Jenseits gemeint, dass er ihr etwas zu verkünden hatte, weswegen sie eigentlich angenommen hatte, dass sie alleine miteinander sprechen würden und nicht… wenn andere dabei waren.   „Vielen Dank, Hikari-sama, man gewöhnt sich leichter daran, als man denkt.“   „Alles andere hätte mich bei dir auch überrascht“, mischte sich nun Shaginai ein:  „Trotzdem ärgerlich, dass du nicht länger Mitglied der Elementarwächter sein kannst, Kataron.“  „Das nehme ich als Kompliment“, antwortete Kataron lächelnd und Shaginai schien es auch als eines gemeint zu haben – man merkte ihnen an, dass sie alte Kampfgefährten waren:  „Deinen Sohn kann ich allerdings nicht komplimentieren…“ Katarons Lächeln wurde umgehend steif, dabei war Shaginai noch gar nicht fertig:  „… hat er nicht gerade White mit ihrem Vornamen angesprochen?“   „Oh, ja, das mag sein, Shaginai-sama. Ich entschuldige mich auf den Wegen meines Sohnes! Er ist die Umgangsformen hier im Tempel noch nicht gewohnt…“   „Das hat nichts mit dem Tempel zu tun. Das ist allgemeine Höflichkeitslehre.“   „Natürlich, Shaginai-sama…“   „Vater, ich habe mich nicht…“ Aber da mischte sich nun Violet ein: sie hatte lange genug ruhig zugehört und lange genug zugesehen wie Shaginai seine Aufmerksamkeit anderen zuwandte – und das ging nicht, jedenfalls nicht, wenn sie noch eine Rechnung offen hatten!  „Papa! haben noch eine Rechnung offen! Ich hoffe jawohl, dass du das nicht vergessen hast! Denn das nächste Mal…“ Sie platzierte ihren Zeigefinger herausfordernd auf der Brust ihres Vaters:  „…bringe ich dich in die Hölle! Darauf kannst du dich verlassen!“ Wieder verlor Shaginai für einen Moment seine ernste und oftmals starre Miene, als Violet eines ihrer gemeinsamen Lieblingsthemen aufbrachte: ihr Lieblingsspiel, ein strategisches Brettspiel, namens: „Himmel und Hölle“. Ein Brettspiel, welches nicht nur bei ihnen sehr beliebt war, sondern auch bei anderen Wächtern: es war das wohl meist gespielte Spiel unter den Wächtern, kaum ein Wächter, der es nicht spielen konnte. Ein Spiel bei dem es darum ging, dass man die Länder der Menschenwelt von den schwarzen Spielfiguren, den Dämonen, befreien musste – und das schneller als der andere Mitspieler. Wem dies nicht gelang, landete in der „Hölle“, der Gewinner im „Himmel“. Shaginai und Violet spielten dies mit leidenschaftlicher Freude; White dagegen konnte dem Spiel nicht viel abgewinnen, sie schaute lieber Hirey und Izerin lieber beim Schachspielen zu. Denn da Shaginai und Violet beide Temperamentbündel waren – dazu schlechte Verlierer – endeten deren Spiele meistens in laute und hitzige Diskussionen, wo niemand gerne im Zimmer sein wollte.   „Tut mir Leid, Violet, aber heute habe ich keine Zeit. Ich muss mit deiner Schwester sprechen. Das müssen wir auf später verschieben.“ Die Angesprochene sah zutiefst beleidigt aus, doch fügte sich dem Wunsch ihres Vaters, auch wenn es ihr nicht zu gefallen schien: sie warf sogar Kataron einen etwas finsteren Blick zu, als wolle sie deutlich machen, dass sie es ungerecht fand, dass er bleiben durfte, sie aber offensichtlich weggeschickt wurde. Sie wartete sogar noch eine Sekunden, als ob sie darauf lauerte, dass Shaginai seine Meinung ändern würde, aber das tat er nicht und mit einem „Schon gut, schon gut!“, drehte sie sich auf den Hacken herum und hopste die Treppen herunter.   Mit einem etwas mulmigen Gefühl sah White ihr hinterher, sah dabei zu, wie Violet Kanori im Vorbeigehen einen Klapps auf den Rücken gab, ein paar Worte austauschte, ehe sie Richtung Tempel verschwand und Kanori sich wieder den Kindern widmete. Warum war er schon hier? Und warum war der kleine Frühstückstisch auch für Kataron gedeckt worden – was hatte Shaginai mit ihr zu besprechen und was hatte das mit den beiden Windwächtern zu tun? Komischerweise war für Kanori nicht gedeckt worden und weder Shaginai noch Kataron deuteten irgendwie an, dass man ihn rufen sollte. Es war also wirklich ein Gespräch nur… unter ihnen. Handelte es um Kanoris Stellung als Elementarwächter? Aber dann hätte Violet doch anwesend sein können…   „Also, Vater, was hast du mit mir zu besprechen?“, fing White nun ohne Umschweife an, sobald sich die drei Wächter an den Tisch gesetzt hatten und Irizz White und Kataron Tee eingeschenkt hatte – für Shaginai musste er natürlich keinen einschenken. Ein toter Hikari konnte weder Nahrung noch Getränk zu sich nehmen, selbst wenn er es gewollt hätte. Und White wusste, dass Shaginai es eigentlich gerne wollte, auch wenn er sich nichts anmerken ließ – zu Lebzeiten war er ein Feinschmecker gewesen.   „Uns wurde Bericht erstattet, dass du gleich zu Beginn des letzten Ausrottungsfeltzuges einen Schwächeanfall erlitten hast – mitten im Kampf.“  „Das ist wahr.“  „Warum hast du das nicht selbst berichtet?“   „Ich erachtete es nicht als wichtig. Es gelang uns immerhin das ausgewählte Gebiet wie geplant zu säubern“, erwiderte White sich dabei die größte Mühe gebend gelassen zu klingen, während Kataron sich gänzlich seinem Essen widmete, da er für sich beschlossen hatte, sich lieber nicht einzumischen – er wusste schon warum.  „Ich erachte es aber als wichtig, White. Dein Arzt hat zementiert, dass es allgemein um deine Gesundheit nicht gut steht.“  „Die Luft in der Dämonenwelt setzt mit zu, ja. Aber du musst dir keine Sorgen machen, Vater…“, antwortete sie mit einen unsicheren Lächeln. Shaginai lächelte nicht:  „Natürlich mache ich mir Sorgen! Immerhin bist du meine Tochter.“ Shaginai war gar nicht bewusst wie sehr White diese Worte freuten – und verwunderten, sogar ihre Gabel kam zum Stillstand und sie tauschte einen Blick mit Kataron aus, als bräuchte sie Versicherung, dass sie nicht die einzige war, die das eben gehört hatte. Doch ehe sie antworten konnte, fügte Shaginai hinzu:  „Unsere gesamten Kriegspläne brechen zusammen, wenn dir etwas zustößt!“  „…Was?“     „Du bist als Hikari einfach unverzichtbar! Ohne deine Fähigkeiten werden wir den Krieg gegen diese widerlichen Dämonen nicht so erfolgreich fortsetzen können! Da ist es doch normal, dass ich und unsere Vorfahren uns Sorgen um deine Gesundheit machen. Immerhin bist du der Dreh und Angelpunkt unserer Pläne.“ Ja. Natürlich. Wie konnte White nur so naiv sein… einen Moment anzunehmen… dass ihr Vater sich Sorgen um sie machte. Er machte sich Sorgen, dass sie nicht mehr kämpfen konnte. Das war alles.   Violet war seine einzige Tochter. White war eine Kriegswaffe.  „Ich verstehe. Mir geht es gut und ich kann kämpfen. Das versichere ich. Ihr braucht euch da keine Gedanken zu machen.“ Shaginai merkte es nicht, Kataron allerdings schon. Er sagte nichts, warf White Shaginai unbemerkt aber einen aufmunternden Blick zu, der White allerdings nicht aufheitern konnte.   „Nichts ist gut. Oder nennst du es gut, dass du vor unseren Feinden zusammen brichst?“  „Das war einmalig. Es wird nicht wieder vorkommen.“  „Es kann immer wieder kommen. Und was ist wenn du alleine bist? Wenn niemand in deiner Nähe ist? Dein nichtsnutziger Tempelwächter ist ja auch nicht immer bei dir.“  „Irizz ist nicht „nichtsnutzig“. Er ist sehr fleißig und gehorcht meinen Befehlen treu und ergeben.“  „Und warum ist er nicht die ganze Zeit über an deiner Seite?“  „Vater, soll ich meinen Tempelwächter mit in die Dämonenwelt; mit auf das Schlachtfeld nehmen?“   „Natürlich nicht. Auf einem Schlachtfeld sind nur kampffähige Wächter erlaubt. Aber dennoch wünschen wir Ratsmitglieder, dass du ständig jemanden um dich hast, der dich im Falle des Falles beschützen kann.“   „Ich könnte mit Violet sprechen…“  „Nein, das wäre Verschwendung einer guten Streitmacht, immerhin müsste Violet sich immer in deiner Nähe aufhalten. Violet gehört in die Offensive und du bist ja nun einmal nicht immer in der Offensive tätig.“ Den gleichen Gedanken hatte White zwar auch, allerdings…    „Also haben ich und die anderen Hikari beschlossen, dass du einen Leibwächter brauchst. Jedenfalls vorübergehend.“ Seine Tochter verschluckte sich an ihren Tee.  „…Was?!“   „Du hast mich schon richtig verstanden.“  „Ich benötige Keinen.“  „White.“  „Ja, ich bitte um Verzeihung, Vater. Ich wollte dir nicht widersprechen… Wenn es nicht Violet ist, die diese Aufgabe übernehmen wird, welcher Wächter wird es dann sein?“ White war während dem Wortwechsel mit ihrem Vater nicht aufgefallen, dass Shaginai Kataron einen Blick zugeworfen hatte, den dieser genau richtig verstanden hatte, woraufhin er sich aufgerichtet hatte um nun die letzte Person hinzu zu hohlen – der er natürlich zugeraunt hatte, dass er sich an das „Hikari-sama“ erinnern sollte und gefälligst seine beste Höflichkeit an den Tag legen musste!    „Der werde ich sein, Hikari-sama.“ Er sah die perplexe White nur kurz an, dann warf er seinen Vater einen etwas feixenden Blick zu, als verlangte er ein „Gut gemacht“.   Shaginai war nun aufgestanden und hatte die übliche Verbeugung entgegen genommen, wie es sich gehörte gegenüber einem Hikari – mit skeptischen Augen allerdings, prüfend, ob Kanori sich noch einmal einen Patzer erlaubte. Aber An der Verbeugung war nichts auszusetzen, wie Kataron erleichtert feststellt und Shaginai ebenfalls – dafür fand er allerdings an White etwas auszusetzen, die Kanori immer noch verwirrt und perplex anstarrte und sich daher noch nicht erhoben hatte.  Als ihr Vater sich allerdings räusperte, zuckte sie zusammen und stand sofort auf den Füßen. Noch bevor der Fremde die gleiche Prozedur durchführen konnte, wie bei Shaginai, nahm White sich zusammen und nahm dieselbe Verbeugung entgegen, wie Shaginai zuvor, nur begleitet von einer galanten Vorstellung:  „Wächter des Windes, Eien Kaze Kanori,…“ Kataron fluchte innerlich – Kanori hatte seinen Rang vergessen zu erwähnen, genau wie die Tatsache, dass er jetzt Elementarwächter war – auch wenn man es eigentlich kaum glauben konnte…  „Ich freue mich Euch kennenzulernen, Hikari-sama.“ Und dann erstarrte White abermals, ließ sich wegen ihres Vaters und Kataron allerdings nichts anmerken, als Kanori plötzlich ihre Hand ergriff und ihr einen sanften Kuss auf ihren Handrücken hauchte.   „Ich schwöre Euch ewige Treue.“      Shaginai und Kataron sahen den beiden hinterher, als sie sich zum Tempel aufmachten – er war immerhin nun ihr Leibwächter.   Kataron war recht steif und ihm gefiel das Schweigen nicht, dass Shaginai kurz zwischen ihnen ließ. Wenn ihm eins, in der Zeit, in der er Shaginai gedient hatte, gelehrt hatte, dann, dass es kein gutes Zeichen war, wenn Shaginai schwieg.   „Dein Sohn hat offensichtlich Probleme damit seine Höflichkeit richtig einzuteilen.“ Kataron beeilte sich Shaginai anzulächeln, obwohl dieser ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musternd anblickte:  „Wie gesagt, Shaginai-sama, Kanori muss sich hier erst einmal einfinden. Es wird schnell gehen, das versichere ich Euch.“ Kurz blieb der intensive Blickkontakt bestehen, dann bewegte sich Shaginai die Treppe herunter:  „Lass mich dir eins sagen, Kataron…“ Er blickte über die Schulter und sah zu Kataron, der ihm hinterher ging:  „… unsere Freundschaft gibt deinem Sohn keine Narrenfreiheit.“               Kapitel 41: Shaginais Erziehungsmethoden ---------------------------------------- White wusste, dass das, was sie sah, ein Traum war. Sie hatte ihn schon so oft gehabt, dass es daran keinen Zweifel geben konnte. Aber war es… ein Traum… oder ein Alptraum? Diese Bedrückung die sie an jenen Ort verspürte, die sie zur Niederpressung ihres Atems brachte – die nach ihr zu greifen schien, wie eine Hand, sie sich an ihr ausstreckte, nach ihr griff, sie packte, ihr Herz packte, ohne, dass dort irgendwie eine Person war, von dem dieser Klammergriff ausgehen könnte. Sie war… alleine--- der Boden, unter ihren Füßen, die lebendige Erde, das saftige Grün--- es riss und dort--- doch, da stand doch eine Person, dort am Baum---? --- Was war das für ein Instrument, dass da gespielt---- White erwachte wie jeden Morgen Punkt fünf Uhr dreißig bei dem Klang ihres Tempelwächters. Nie war er sonderlich laut, wenn er morgens herein kam, aber White vernahm Irizz‘ schwache, aber beständige Aura und sein eifriges Tun in dem unteren Teil ihres Gemaches war ihr trotz seiner Vorsicht wie ein Wecker geworden. Es war ein Teil ihrer morgendlichen Routine und gleich, fünf Uhr dreiunddreißig würde er die Wendeltreppe hinaufgehen um ihr ihre tägliche Medizin zu bringen. Normalerweise hätte White sich zu diesem Zeitpunkt schon in ihrem Bett zurecht gesetzt, aber jetzt lang sie noch in ihren Kissen vergraben, ihre weißen Haare wie ein weißes Meer, das links und rechts von ihren Kissen herunterfloss. Es war so ordentlich wie zu dem Zeitpunkt als sie sich ins Bett gelegt hatte – sie bewegte sich nur geringfügig im Schlaf. Aber nun wollte sie eigentlich wieder darin versinken, denn sie hatte nicht das Gefühl, dass sie sich ausgeruht hatte. Aber der Tag hatte schon seinen üblichen Lauf begonnen; in ihrem privaten Badezimmer füllte sich gerade die Badewanne, in das Irizz wie jeden Morgen die duftenden Badeöle gefüllt hatte – und jetzt hörte sie auch schon seine bedächtigen Schritte auf der Treppe. Der Tag begann mit seinem Rhythmus, egal ob White nun dafür bereit war oder nicht. „Guten Morgen, Hikari-sama.“ Derselbe morgendliche Gruß wie jeden Morgen, dieselbe Andeutung eines Lächelns auf Irizz‘ Gesicht – aber das Lächeln verschwand, als er White wundernd ansah, weil diese sich noch nicht in ihrem Bett aufgerichtet hatte. „Guten Morgen, Irzz“, antwortete White und wählte seinen verwundernden Blick nicht zu kommentieren; stattdessen richtete sie sich in ihrem Bett auf, damit der Tag seinen Lauf nehmen konnte. „Wünscht Ihr noch ein wenig zu ruhen?“ Wie lieb er immer zu ihr war; um ihr Wohl besorgt, statt darum, ob der Tag seinen gewohnten Ablauf nehmen konnte. „Nein, von Träumen wollen wir uns nicht abbringen lassen.“ Sie nahm das bittere Wasser, schluckte es, ohne die Miene zu verziehen herunter, nahm dann das Glas Wasser entgegen, dass Irizz ihr hinhielt um die Medizin herunter zu spülen und schluckte dann die anderen drei Tabletten in ihrer vorgesehenen Reihenfolge. „War es der Traum, den ihr jedes Jahr zu dieser Zeit habt, der Euch geplagt hat, Hikari-sama?“ Sie sah einen besorgten Blick in den Augen ihres Tempelwächters, den sie sofort zu beruhigen wünschte, während sie ihre weißen Füße in wärmende Pantoffeln schob und den ihr gereichten Morgenmantel annahm: „Ja, aber du musst dir keine Gedanken machen, Irizz. Mir geht es gut.“ Sie ging vor, begann die Wendeltreppe herunter zu gehen und ihr Tempelwächter folgte ihr mit vier Stufen Abstand. „Irgendwelche Vorkommnisse?“ „Ja“, begann Irizz während er White dabei behilflich war aus ihrer Kleidung zu schlüpfen. Das Wasser war bereits eingelassen, hatte sich wie immer bis zu dem Punkt gefüllt, an dem es automatisch aufhörte zu fließen, damit White sich hineinlegen konnte um mit ihrer körperlichen Pflege zu beginnen, während Irizz seinen Platz hinter ihr einnahm, bereit ihre Haare zu waschen, sobald seine Herrin ihm ein Zeichen dafür gab. „Hirey-sama und Izerin-sama kämpfen zum gegebenen Zeitpunkt zusammen mit Mizuno-sama in der Welt der Dämonen…“ Von der Aufstellung her klang das ganz so, als hätte Hirey eher eine Schlacht vom Zaun gebrochen und Mizuno sei mitgekommen, um ihren Bruder zu bändigen. Sie sah und hörte Mizunos Standpauke förmlich: genau wie sie Izerins ernstes Gesicht sah, obwohl dieser sich ebenfalls darüber freute kämpfen zu können – er zählte immerhin auch mit leidenschaftlichem Eifer seine gezählten Dämonen. Was man daran nur toll oder erstrebenswert sehen konnte war White ein Rätsel. „… ansonsten keine Vorkommnisse, Hikari-sama.“ Jetzt begann Irizz damit ihre Haare zu waschen, sie in duftenden Ölen einzureiben, vorsichtig einmassierend, dann ausspülend, dann noch einmal, dann noch einmal ausspülen. Dann wurde sie abgetrocknet, dann kämmte er ihr Haare und schnitt sie gegebenenfalls gerade. Dann trank White ein Glas ihres geliebten Orangensaftes, während Izerin ihre Sandalen zuband. Sie konnte es natürlich auch selbst und manchmal überkam ihr auch ein schlechtes Gefühl, wenn sie sah, wie ehrerbietend er sich vor ihr niederkniete und ihre Sandalen zuband; aber es war normal, so war es jeden Morgen, wenn der Krieg den Ablauf nicht störte – dann setzte ein anderer Rhythmus ein. Rhythmus… wie das traurige Spiel, dass sie jedes Jahr in ihrem Traum hörte. Auch da war es… immer dasselbe… „Hikari-sama!“ Die trällernde Stimme Kanoris riss White aus ihren Gedanken und dem eben noch so hochgehaltenen Rhythmus, kaum, dass die Hikari zusammen mit Irizz ihr Gemach verlassen hatte. Kanori war plötzlich so hastig herbei geeilt gekommen, dass er Irizz anrempelte, als er abrupt neben White zum Stillstand kam. Diese blinzelte Kanori verwirrt an, fand dann aber zu einem erwidernden Lächeln, als der Windwächter ihr einen „Guten Morgen“ wünschte, während er Irizz an den schmalen Schultern genommen hatte um ihn mit einen entschuldigenden Lächeln wieder „gerade zu rücken“. Das sonst so ruhige Gesicht des Tempelwächters hatte sich eine Spur verzogen und er nahm auch Abstand ein zu Kanori, als befürchte er, er würde ihn noch einmal umwerfen. „Sie sind heute aber ungewöhnlich pünktlich…“ Ja, das dachte Irizz sich auch; normalerweise war Kanori nämlich alles andere als… der pünktliche Typ. Eigentlich kam er nämlich stets zu spät und das wo er doch Whites Leibwächter war! Sollte Whites Leibwächter nicht wissen, was Pünktlichkeit war? Sollte er nicht in der Lage sein eine Uhr ablesen zu können? Und jetzt – Irizz traute seinen Ohren nicht, weigerte sich förmlich – unterbrach er White auch noch: „Hier, ich habe Euch etwas von Zuhause mitgenommen!“ Schon hatte er der Hikari ein Croissant in die Hände gelegt, zusammen mit der überschwenglichen Erklärung, dass er gerade einen Abstecher Nachhause gemacht hätte, weil er einen Heißhunger auf dieses Gebäck gehabt hätte – und da hatte er an White gedacht und dass sie diese mal kosten solle, wo sie doch von seinem „Bäcker um die Ecke“ am besten schmeckten. Irizz wusste nicht, was er davon halten sollte; er starrte das noch warme Croissant an, als würde er überlegen, ob er es vorkosten sollte. Und warum musste er dafür überhaupt in die Menschenwelt – hatte er denn kein Vertrauen in die Küche? Gefühl diesem ungehobelten Windwächter denn etwa nicht das Essen, dass ihm serviert wurde?! White schien Irizz Ärgernis allerdings nicht nachzuempfinden. Im Gegenteil, sie schien richtig… angetan zu sein, dachte Irizz, als er Whites errötete Wangen sah. „Danke, dass Sie an mich gedacht haben…“ „Natürlich, Hikari-sama, ich denke immer an Euch!“ Auf dem Gesicht von Irizz zuckten die Augenbrauen, White wurde noch röter, Kanori lachte und zwinkerte: „Ich bin doch Euer Leibwächter!“ Da hatte er vollkommen Recht, obwohl er seine Arbeit wirklich nicht gut machte – das fand Irizz jedenfalls. Dafür war einfach zu wenig Verlass auf Kanori; er hatte viel zu viele Flausen im Kopf um White in ihrem Alltag eine Hilfe zu sein – er lenkte sie nur ab! Und sowieso, argh, Irzz sollte diesen Gedanken nicht haben, aber er plagte ihn schon den gesamten Monat, schon die gesamte Zeit die Kanori Whites Leibwächter war – wozu brauchte sie ihn überhaupt – sie hatte doch ihn! Gut, er konnte ihr im Kampf nicht zur Seite stehen, aber… „Ich denke wir sollten los, ansonsten brauchen wir beide einen Leibwächter, hehe!“ Ja, Irizz konnte einfach nicht von sich behaupten, dass er sonderlich angetan war von Kanori oder seine Arbeit irgendwie schätzte. Passte er auf dem Schlachtfeld wirklich auf White auf? Sie war seit einem Monat nicht mehr zusammengebrochen, so dass Kanori seine Fertigkeiten als ihr Leibwächter im Prinzip gar nicht unter Beweis hatte stellen können. Er war eigentlich nur ständig in ihrer Nähe und… irritierte den Tagesablauf mit seinen komischen Einfällen. Irizz hätte bestimmt nicht dafürgesprochen, dass Kanori sich im Verlauf des letzten Monats irgendwie dafür verdient gemacht hätte Elementarwächter zu werden. Er hatte doch eigentlich nichts getan… aber Irizz kannte seinen Platz hinter White und verzog nicht einmal das Gesicht, als White Shaginai und Kataron gegenüber beteuerte, dass sie für Kanori und seine Qualitäten – pfft! – bürgte. Eingeschleimt hatte er sich – mit Croissants! „Ja, Vater, ich kann bezeugen…“ White warf Kanori einen lächelnden Blick zu und Irizz fragte sich, ob auch Shaginai auffiel, dass dieses Lächeln irgendwie anders aussah als ihr übliches Lächeln. „… dass Kanori-san bestens geeignet ist um das Element des Windes zu vertreten.“ Und White fuhr fort mit ihren Lobpreisungen, achtete gar nicht darauf, dass Kataron Tränen der Freude in die Augen stiegen, anders als Kanori, der etwas verschmitzt grinste und Irizz, der fast mit den Augen rollen wollte. Hatte er diese Lobpreisungen wirklich verdient? „Es ist schon fast so, als wäre Kanori-san bereits ein Mitglied unseres Teams – und ich denke ich spreche da für alle Mitglieder der Elementarwächter. Er füllt die Lücke, die Kataron hinterlassen hat gut und auf eine neue Art aus.“ „Ah, Hikari-sama, Ihr ehrt mich – ich werde noch ganz rot!“ Auch wenn Shaginai nicht gänzlich von Kanori überzeugt zu sein schien – in seinen Augen glaubte Irizz eine gewisse Skepsis zu erkennen, die auch er in sich verspürte, wenn er Kanori ansah – so unterschrieb er dennoch das Dokument, das bezeugte, dass die Probefase Kanoris vorbei war. Von dem heutigen Tag war er somit zeitgleich Elementarwächter des Windes, sowie Leibwächter Whites. Irizz hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Waren seine Bemühungen – die ohnehin in seinen Augen nicht ausreichend gewesen waren – wirklich aufrichtig, genau wie das Lächeln, dass er jetzt an den Tag legte, als er von seinem freudestrahlenden Vater umarmt wurde? Irizz hatte so seine Bedenken, sagte aber natürlich nichts – Kanori würde ohnehin schnell genug die Gelegenheit bekommen seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen.         Man wusste nicht warum, aber aus irgendeinen unerfindlichen Grund hatten sich die Dämonen dazu entschieden die einzige Insel anzugreifen die keinen beschützenden Bannkreis hatte – Espiritou del Aire, die Insel, die vor mehr als 30 Jahren von ihrem vorigen Herrscher zerstört worden war. Heutzutage war sie nur noch eine Ruine; kein Leben war dort mehr zu finden, nur zerstörte Häuser die von einer einst sehr schönen Insel zeugten. Warum hatten die Dämonen gewählt diesen alten Stützpunkt anzugreifen? Dämonen waren doch eigentlich dafür bekannt, dass sie nur der keinen Kampfeslust Willen angriffen – also warum griffen sie eine Insel an, wo niemand lebte? Ging es ihnen darum Kulturgut noch mehr zu zerstören, die Ruhe der dort gestorbenen Wächter zu stören? Hizashi hatte schnell jede Diskussion über die Ursache des Angriffes beiseitegeschoben: Dämonen handelten oftmals ohne Sinn und Verstand, man solle sich nicht wundern sondern handeln. Der neue König der Dämonen, der erst vor sechs Jahren gekrönt worden war, war doch ohnehin nicht gerade für seine Intelligenz bekannt. Wieder waren es White und ihr Elementarteam, das in den Kampf geschickt wurde; nur Mizuno war nicht anwesend, denn nach der Schlacht in der Dämonenwelt ruhte sie sich aus, im Gegensatz zu Hirey und Izerin, die, als sie aus der Dämonenwelt wieder zurückgekehrt waren so mit direkt in die nächste rauschten – und das ohne sichtliche Probleme. Während White zu Beginn bei Azai blieb um per Funkübertragung mit ihrer Familie zu sprechen, stürzten Hirey, Izerin, Violet voller Elan los – von Müdigkeit keine Spur. Wieder einmal wurde es als eine spaßige Aktion gesehen, die nur noch witziger wurde durch die Sinnlosigkeit dieses Angriffes. White wollte gerade ein paar strategische Worte mit Kanori wechseln, als dieser wie ein Wirbelwind an ihr vorbei rannte und schon war er bei den anderen Elementarwächtern, wo White ihn lachend triumphieren sah und hörte wie er freudestrahlend verkündete, dass man ihn soeben zum Elementarwächter ernannt hatte – und dann verschluckt sie schon die Schlacht. „Ich dachte Euer Leibwächter sollte in Eurer Nähe bleiben…“, kritisierte Azai mit hochgezogenen Augenbrauen, während er das Schlachtfeld – einen ehemaligen Versammlungsplatz der Insel – mit einer blauen Brille scannte. „Nun ja, es besteht jetzt ja auch keinen Grund um in meiner Nähe zu bleiben…“ Azai wollte gerade antworten, dass es darum ja nicht ging, Kanori musste immer bereit sein einzugreifen… als die Stimme Shaginais in Whites Ohr schon um ihre Aufmerksamkeit verlangte. „Es sind zwar keine Wächterleben in Gefahr, dafür aber Kulturgut. Die Zerstörung Espiritou del Aires darf nicht vergrößert werden!“ White nickte und behielt auch den Kampf vor ihr im Auge, bereit einzugreifen – aber im Moment sah es nicht danach aus, als bräuchten die vier Krawallwächter irgendeine Hilfe… „Löscht die Dämonen so schnell wie möglich aus – es darf unter keinen Umständen zugelassen werden, dass der Kampf sich in den Ruinen der Stadt ausbreitet! Verstanden, White?“ White und Azai – Shaginais Stimme war so laut, dass er es ohne Probleme ebenfalls hören konnte – warfen einen Blick über die Schulter, wo sie einen in Mitleidenschaft gezogenen Pfad sahen, der sich dem Hügel hinauf in die zerstörte Ruinenstadt bahnte. Wirklich, keiner von ihnen hatte die Insel noch gesehen bevor sie zerstört wurde, aber sie musste einmal sehr schön gewesen sein. Verblasst vom Atem der Zeit und nur gelegentlich erhellt von dem Blitzgewitter der Attacken erkannte White, dass die Ruinen von Bildern geziert wurden; Sonnen, Wolken, Mond und Sterne waren noch zu erahnen, doch die Zerstörungswut der Dämonen hatte all diese Schönheit jäh ein Ende gesetzt. Es gab so viele Legenden um jenen Tag… „Sollten die Dämonen Verstärkung schicken…“ Hizashi mischte sich nun ein: „Davon gehe ich nicht aus – das ist die Privathorde des Königs, die andern Dämonen werden nicht so dumm sein und dem König in seiner Dummheit nachzumachen. Für Dämonen ist Kultur nicht wichtig und daher verstehen sie auch ihren Wert und damit auch ihren Zerstörungswert nicht.“ Shaginai übernahm wieder das Gespräch: „Für den Notfall stehen zwei Bataillone zum Angriff bereit.“ „Jawohl, Vater. Ich nehme allerdings nicht an, dass wir sie benötigen werden.“ Shaginai kappte die Verbindung ohne noch etwas zu sagen – aber obwohl er es nicht ausgesprochen hatte, glaubte White aus dem Schweigen heraus gehört zu haben, dass er auch davon ausginge und nichts anderes von White erwartete. Aber im Moment schlugen sich die vier Angriffswächter des Teams sehr gut, wie auch Azai anhand der getöteten Dämonen feststellen konnten – einige ergriffen auch schon die Flucht, scheinbar hatten sie die Dummheit ihres Königs erkannt und sahen keinen Zweck darin Ruinen zu zerstören, besonders wenn diese Ruinen von vier so talentierten Wächtern beschützt wurden. „Die hinteren Ränge ergreifen die Flucht!“, rief Izerin zu den anderen drei herunter; er hing nämlich gerade an der Spitze eines langen, goldenen Stabes, seinen treuen Taktstock mit dem er die Erde befehligte und somit einen guten Ausblick über das Schlachtfeld hatte – bis ein Dämon ihn vom Himmel herunter reißen wollte. Izerin fluchte schon, denn diesen Angriff hatte er nicht kommen gesehen, als schon das gezackte Schwert Kanoris durch die Luft sauste und den Dämon förmlich in der Luft zersägte. „Danke, Kanon!“ Schon folgte der nächste Angriff eines anderen Dämons, den Kanori mit seiner windigen Geschwindigkeit aber locker auswich – Windwächter waren nicht umsonst für seine Schnelligkeit bekannt. Doch auch unten auf dem Boden wurde der nächste Angriff im Schutze von Violets Magie vorbereitet – eine Magie, die sie jetzt auf einen Pfeil legte, den Hirey ihr lässig hinhielt: „Lass uns „Boom“ machen, Vio!“ „Mit dem größten Vergnügen!“ Pink leuchtete der Pfeil auf den Hirey in der Faust hielt – dann verband sich die pinke Magie mit seiner Magie des Feuers die den Pfeil umschloss, ehe Hirey ihn, ohne verbrannt zu werden, spannte um ihn dann in die Höhe zu schießen. Mit schierer unglaublicher Präzision schoss der Pfeil in die Luft und schlug weit weg von ihnen, mitten in die hintersten Ränge der Dämonen ein, die geschockt dem Geschoss aus dem Weg sprangen – an sich hatte der Pfeil niemanden getroffen aber dann explodierte der Pfeil in eine große, pinke Flammenwand, die ihre Opfer nicht nur mit ihrem Feuer verbrannte, sondern auch in Form von tausenden von großen und kleinen Splittern auf die Dämonen zuschossen und sie förmlich auseinander rissen. „Und BOOM, hahahahaha!“, jubelte Hirey, doch nur kurz jubelten die beiden Wächter über den Tod von rund 50 Dämonen, ehe Violet die pinke Schutzbarriere auflöste und die beiden wieder in den Nahkampf übergingen: „51 tote Dämonen, Vio!“, rief der Feuerwächter seiner Teamkollegin zu mit der er gerade Rücken an Rücken kämpfte: „26 an mich, 25 an dich!“ „Wieso geht der eine denn an dich?! Es war mein Pfeil! Ich habe ihn abgeschossen!“ „Ja und meine Magie!“ „Meine war es auch?!“ „Hört auf euch zu streiten, ihr seid schon unprofessionell genug!“ Diese aufgebrachte Stimme stammte von Yuri, die nun hinzu gerannt kam: „In eurem dummen Spiel habt ihr die rechte Flanke übersehen – dort rücken sie vor, ihr Spielkinder!“ Violet und Hirey grinsten sich beschämt an und wollten schon aufbrechen, als sie Whites Stimme in ihrem Ohr hörten: „Ich übernehme die rechte Flanke, haltet ihr die Stellung.“ Und schon wurde die Nacht erleuchtet – und wie Azai mit einem missvergnügten Blick feststellte bewegte dies Kanori immer noch nicht dazu sich an Whites Seite zu gesellen. Stattdessen neckte er gerade Hirey damit, dass er – als der einzige Wächter der fliegen konnte – alle Dämonen für sich hatte, die sich in der Luft aufhielten. Yuri hatte wahrlich recht: in diesem Moment waren sie wirklich unprofessionell. Kinder auf einem gefährlichen Spielplatz den sie White zu verdanken hatten. Nur weil sie sie als mächtige Trumpfkarte besaßen, konnten sie die Schlacht so angehen.     Dank White dauerte die Schlacht auch nicht mehr lange und obwohl sie erfolgreich lief und sie keine Verstärkung benötigt hatten, sah Azai White an, dass sie nicht zufrieden war. Sie hatte gerade die verletzte Yuri geheilt und war nun dabei Hirey zu heilen… und irgendwie tat sie dies mit einer finsteren Miene. Die Finsternis war kaum zu sehen, aber dennoch bemerkte Azai sie – er kannte sie einfach schon zu lange und er konnte sich denken, was ihr Problem war; wahrscheinlich das gleiche, was ihn auch irritierte: Kanori war während des gesamten Kampfes kein einziges Mal an Whites Seite gewesen. Kein besonders guter Anfang wenn man bedachte, dass er gerade erst vor wenigen Stunden seine Testphase hinter sich gelassen hatte. Nun, Azai wollte nicht so negativ von ihm denken – er hatte sich wahrscheinlich einfach nur über seine Ernennung zum Elementarwächter gefreut und sich von den überschwänglichen Kampfeswillen der anderen drei mitreißen lassen. Aber dennoch – so etwas durfte nicht geschehen, er hatte immerhin eine Doppelposition.  Und Whites Leben, dachte Azai und spürte wie die Finger sich auf seinem Rücken verkrampften, war wertvoller als so eine dumme Spielerei! „Wenn Kano weiter so abräumt wird er noch deinen Rekord brechen! Du solltest echt aufpassen, Izzy! Bald bleiben keine Dämonen mehr für uns übrig!“ Hirey fing an zu lachen, während er Kanori weiter auf die Schulter klopfte. „Ach was! Das war Zufall und das waren sowieso nur drittklassige Dämonen, die haben doch keine Chance gegen uns!“, antwortete Kanori, ebenfalls mit einen Grinsen. „Sei doch nicht so bescheiden, Kanon! Du und dein Schwert, ihr habt die Dämonen förmlich auseinander gesägt. Ha! Wirklich, keine Chance haben die gegen uns!“ Azai war offensichtlich nicht der einzige, der etwas gegen dieses Schauspiel hatte, auch Yuri verdrehte die Augen, hatte es aber wohl aufgegeben irgendetwas zu sagen. White verblieb ruhig. Mit starrer Miene heilte sie nun Kanori, der eine große Wunde auf dem Rücken hatte. Irgendwie machte Azai das noch wütender. Wie White da einfach diese dummen Kinder heilte, nichts sagte und sie ihre Heilung einfach für selbstverständlich ansahen, sich nur beiläufig bedankten. Wer sie spielte wirklich nur eins eine Rolle „Wer hatte wie viele Dämonen getötet?“. Egal wie zerstört auch alles um sie herum war, egal ob Menschen durch deren Kampf ebenfalls getötet worden waren; Wächter waren wirklich gut darin, dieses kleine Randdetails zu übersehen; in diesem Kampf war zwar niemand gestorben, aber dennoch – Azai hatte oft genug gehört wie dann, wenn man sie darauf ansprach, die Antwortet lautete, dass Opfer nun einmal nicht vermieden werden könnten und man rettete ja den Großteil! White hatte die drei Wächter – jetzt vier – oft genug darauf hingewiesen, dass sie solche Worte nicht hören wollte, dass es ihr schlecht dabei ginge, regelrecht schlecht wurde, aber das hatten sie wohl heute vergessen, dachte Azai ironisch. „Wir sollten eine neue Regel in unseren Wettstreit anbauen: Menschenleben geben Abzug! Dann hast du auf alle Fälle verloren, Hirey, so rücksichtslos wie du bei der letzten Schlacht gewesen bist!“ „Und was ist mit dir, Kano – deine Attacke hat eine Ruine zerstört!“ „Ja, aber du hast es ja schon gesagt: es ist eine Ruine, das zählt nicht.“ Azai hatte es gesehen; White hatte ihre Arbeit unterbrochen, ihre Hände waren erstarrt, aber Kanori, Hirey und Izerin blieb es unbemerkt; Violet dagegen hatte es bemerkt, denn als sie hatte antworten wollen, hatte es stattdessen gewählt zu schweigen. „Vielen Dank, Hikari-sama.“ Kanori sah sie nicht an, während er dies sagte; zu sehr lenkte ihn der Konkurrenzkampf mit Izerin und Hirey ihn ab: „Ich hätte da noch eine Wunde, an meinem Bei-“ Hätte White nicht selbst etwas gesagt, so wäre Azai dazwischen gegangen, denn das konnte er sich ja nicht mehr angucken, geschweige denn anhören! „Kennt Ihre Dreistigkeit denn keine Grenzen, Kanori-san?!“ Kanori und Izerin blinzelten verwirrt über Whites Ausruf, fast so, als hätten sie beide Whites Anwesenheit vergessen – Hirey dagegen ging in die Hocke und verbarg sich hinter dem Erdwächter, der nur eine geringe Größe hatte und ihm daher wohl kaum Schutz geben konnte – als ob überhaupt etwas im Falle von Whites Wut helfen konnte. Sie war nicht oft vorhanden, brach nicht oft aus, aber wenn sie es tat, dann explodierte sie auch mit einem Knall. Dann bemerkte man, dass sie nämlich doch mit Shaginai verwandt war. Kanori tat gut daran zu schweigen…  „Ich glaube es nicht! Wie könnt ihr so herzlos über Opfer reden?! Das ist doch kein Spiel! In diesem Kampf sind zwar keine Unschuldigen gestorben, aber in anderen Kämpfen sind bereits viele gestorben während ihr euch lachend konkurriert habt! Ist euch das zahllose Leid der Opfer egal?! Ihr lacht spöttisch über tote Menschen, dabei wären sie gar nicht tot, gäbe es unseren Krieg gegen die Dämonen nicht!“ Hirey schien in sich selbst hinein versinken zu wollen, genau wie Violet, während Izerin schweigend und beschämt zu Boden sah. Nur Kanori schien White nicht folgen zu können, die jetzt auf die zerstörte Stadt hinter sich zeigte: „Auch diese Zerstörung ist nur wegen dem Krieg geschehen über den ihr lacht! Dieser Ort sollte euch ein Mahnmal sein für die Schrecken des Krieges und ihr seid ohne Respekt vor den hier verstorbenen Wächtern!“ Kurz schwieg die Hikari, atmete tief durch und fuhr dann fort: „Ihr solltest euch schämen. Als Wächter ist es unsere Pflicht die Menschen zu beschützen und nicht, sie wegen eines Konkurrenzkampf in Gefahr zu bringen!“ Sie sah alle vier scharf an. „Ihr seit keinen Deut besser als die Dämonen.“ Jetzt wurde es Kanori zu viel. Egal ob er eine Hikari vor sich hatte, oder nicht, er ließ sich nicht beleidigen. „Wir machen für Euch ja nur die Drecksarbeit! Und Ihr gönnt uns nicht einmal ein wenig Spaß?! Ja, auch ich sehe das Grauen – ja, auch ich weiß dass es unsere Schuld ist! Aber uns gleichsetzen mit den Dämonen ist eine maßlose Beleidigung, wozu nicht einmal Ihr das Recht habt!“ White verschränkte die Arme und einen Moment lang, dachte Kanori sie würde zum Gegenschlag ausholen, doch ihre Wut schien plötzlich verraucht. „Scheinbar… Habe ich mich in Euch getäuscht.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ den Windwächter sprachlos stehen. Hirey klopfte Kanori auf die Schulter und sagte: „Tjaaaa, Alter…Ich denke das wars mit deinem Elementarwächter-Titel. Ich habe Hikari-sama noch nie so außer sich erlebt.“        Nachdem die Elementarwächter wieder in den Tempel zurückgekehrt waren, lehnte Kanori sich seufzend an eine Säule. Auch im Tempel war es jetzt Nacht geworden und aus den Augenwinkel heraus sah er, wie der Vollmond hinter einer Wolkendecke hervorkam. Er seufzte noch einmal, als er daran dachte, wie White ihn gerade weggeschickt hatte. Sie benötigte seine Dienste nicht. Sie wolle alleine sein. Sie hatte es nicht gesagt, aber irgendwie glaubte Kanori herauszuhören, dass, wenn er doch bei einer Schlacht wichtigeres zu tun hatte, als seine Pflicht zu erfüllen, dann war ihm ein Besuch in der Bibliothek wohl auch nicht spaßig genug. Spaß schien ihm immerhin ein wichtiges Anliegen zu sein… Kanoris Seufzen verwandelte sich in ein wehleidiges Stöhnen als er an ihren kühlen Blick zurück dachte – in diesem Moment hatte sie ihrem Vater verdächtig ähnlich gesehen und er war es gewesen, der von diesem kühlen Blick durchbohrt worden war; Augen, treffender, als jede Attacke!  Was sollte er nun tun? Es war seine Aufgabe an Whites Seite zu bleiben, aber sie hatte klar und deutlich gesagt, dass sie ihn nicht sehen wollte. Aber Shaginai hatte doch befohlen, dass Kanori sich von nichts davon abringen lassen sollte. Wesen Befehl sollte er den jetzt befolgen?! White sah wirklich wütend aus… sie würde ihn wahrscheinlich ignorieren wenn er sich zu ihr gesellen würde – sogar ihr Tempelwächter hatte ihn giftig angesehen… Kanori seufzte und ließ den Kopf hängen. Warum musste alles nur so kompliziert sein…?! Der Windwächter federte sich von der Säule ab und schlug den Weg zu Whites Gemach ein. Er sollte versuchen mit ihr zu reden, dass war seine einzige Möglichkeit dieses Desaster aus der Welt zu schaffen. Wahrscheinlich sollte er einfach die direkte Konfrontation wählen und in die Bibliothek gehen, aber… aaaaah, ihr Blick war etwas zu angsteinflößend.  Er würde vor ihrem Gemach warten und darauf hoffen, dass sich ihr Gemüt abkühlen würde. Gedankenverloren lehnte Kanori sich an das Fenster neben ihrem Gemach und biss sich auf die Unterlippe – vielleicht war das doch nicht so eine gute Idee… vielleicht sollte er erst einmal Grass über die Sache wachsen lassen… dank des letzten Monats hatte er eigentlich geglaubt, dass er White ganz gut kennen gelernt hatte und sie gut einschätzen konnte, aber irgendwie hatte er jetzt das Gefühl, dass er sich geirrt hatte – so einen kühlen Blick hatte er ihr immerhin auch nicht zugetraut; vielleicht war sie ja nachtragend… vielleicht würde er statt dem Lächeln nun immer diesen Blick sehen… Kanori hob erstaunt den Kopf, als sein Gespür ihm sagte, dass sich eine Person näherte, die er hier nicht erwartet hatte zu spüren: nicht White, sondern Violet stand plötzlich vor ihm. Gekleidet in einem pinken Morgenmantel und genüsslich an einer Schokolade knabbernd – aber obwohl sie ihre Schokolade eindeutig genoss, so war deutlich zu erkennen, dass auch sie nicht gerade eine gute Laune hatte. „Na, Kano – zu feige um White-chan direkt zu konfrontieren?“ Kanori sah mit einem unsicheren Lächeln weg – wie sie ihn einfach mal auf frischer Tat ertappt hatte! „Und was ist mit dir? Was verschlägt dich hierher?“ „Ich habe dich gesucht.“ „Huh!? Wie… wieso?“ Darauf antwortete Violet nicht; sie blickte ihn forschend an, dann wandte sie sich herum mit der deutliche Aufforderung, dass er ihr folgen sollte. Zuerst zögerte Kanori, aber dann bewegte er sich dennoch und kaum fünf Minuten später sah er sich auf einem Sofa in Violets Zimmer, welches hauptsächlich in Pink und Violettönen gehalten war. Mit gewichtiger Miene warf sich Violet vor Kanori auf ein Sofa, rückte aber nicht sofort mit der Sprache raus, sondern machte sich daran die Schokolade, an der sie eben noch geknabbert hatte in kleine Stückchen zu teilen und diese dann auf ein Tablett zu legen. Warum sie das tat… das wusste Kanori nicht, jedenfalls tat sie es offensichtlich nicht, um ihn etwas davon abzugeben, denn als sie den Blick des Windwächters bemerkte sah sie ihn sofort abwehrend an: „Du bekommst nichts ab!“ Kanori war klug genug um Violet zu versichern, dass er auch nicht vorhatte ihr irgendetwas davon zu klauen – er wollte es sich ja nicht auch noch mit Violet verscherzen; mit White hatte er schon eindeutig genug Probleme. „Weißt du, was White-chan in der Bibliothek macht?“ „Eh – nein?“, antwortete Kanori erstaunt über diese Frage, aber scheinbar gefiel Violet diese Antwort nicht: „War White nicht in der letzten Zeit oft in der Bibliothek?“ „Doch, in den letzten Tagen drei mal.“ „Und du hast sie nicht gefragt, was sie liest?“ Kanori schwieg ein wenig beschämt und Violet betrachtete diesen Gesichtsausdruck kurz nachdenklich, dann fuhr sie fort: „Du weißt wirklich nicht viel von White-chan.“ „Sie ist eine Hikari. Woher soll ich auch wissen, was ich fragen darf und was nicht.“ Komischerweise brachte diese Antwort Violet zu einem Schmunzeln; Kanori konnte das nicht so ganz nachvollziehen, denn er fand, dass Violet wahrlich ins Schwarze getroffen hatte mit ihrer Feststellung… Dieser Tag hatte Kanori gezeigt, dass er nur ihr Äußeres kannte und von ihrem Inneren… gar nichts, obwohl er die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen war. „White-chan ist in der Bibliothek und liest mal wieder etwas über Traumdeutung.“  „Traumdeutung?“ „Jeps. Seid sie klein ist, hat sie immer zu dieser Jahreszeit ein und denselben Traum. Das merkwürdige ist: es ist immer derselbe und verändert sich nie und er kommt auch immer nur zu dieser Jahreszeit.“ Violet leckte sich die Schokolade von den Fingern ab – sie hatte einige Stücke zu lange zwischen den Fingern gehabt, weswegen sie schon weich geworden waren. „Was ist das für ein Traum?“, fragte Kanori nach und die Interesse schien Violet zu gefallen, weshalb sie auch fortfuhr: „Das kann ich dir nicht so genau sagen, weil White-chan es selbst nicht genau weiß.“ Violet zögerte kurz und Kanori kam es so vor, als würde sie ihn plötzlich sehr intensiv mustern. Ihr Blick war auch sehr ernst geworden… ob sie sich fragte, ob sie es Kanori wirklich erzählen sollte? Was auch immer ihr Schokoladekauend durch den Kopf ging, sie kam offensichtlich zu dem Schluss, dass sie es ihm erzählen wollte: „Er beginnt immer damit, dass sie vor einem großen Baum steht. An diesen Baum steht jemand, der ihr den Rücken zugekehrt hat. Sobald sie auf ihn zugeht, ertönt hinter ihr eine Melodie. Bis jetzt ist es ihr noch nicht gelungen diese Melodie zu deuten – sie kann nicht einmal zuordnen zu welchem Instrument sie stammt.“ Obwohl das Thema so ernst war, verblieb Violet dabei an ihrer Schokolade zu knabbern und sich nebenbei das Gesicht vollzuschmieren – irgendwie stand ihre ernste Stimme und ihr ebenso ernster Gesichtsausdruck in einem starken Kontrast zu ihren doch recht kindlichen Gebärden. „Mein Vater ist ein Experte auf dem Gebiet der Traumdeutung… hat sie schon einmal mit ihm darüber gesprochen?“ Violet schüttelte den Kopf: „Nein, es ist ein Geheimnis.“ Kanori spürte wie er errötete. Also… war er gerade in etwas eingeweiht, was so gut wie niemand wusste? Wie… war er denn zu dieser Ehre gekommen? Er wollte fast nachfragen – sie hatte immerhin ganz offensichtlich lange darüber nachgedacht, ob sie ihn einweihen solle oder nicht, aber statt diese Frage zu stellen, wechselte er das Thema zu einem etwas unverbindlicheren: „Du wirst noch Karies bekommen, wenn du so weiter machst.“ „Jetzt fang du nicht auch noch damit an! Papa sagt auch immer es wäre zu „ungesund“. Aber wusstest du das Schokolade Glückhormone freisetzt?“ Der Angesprochene lachte und schüttelte den Kopf. „Außerdem soll sich Papa mal nicht so anstellen! Er ist der Feinschmecker der Familie und er selbst liebt Schokolade – zwar Zartbitter, aber egal!“ Empört steckte Violet sich die Schokolade in den Mund und fuhr fort: „Er ist nur eifersüchtig, jawohl!“ „Sag mal, Vio… ich wage mich vielleicht etwas zu weit raus, aber da ist schon die ganze Zeit etwas gewesen, was mich gewundert hat. Wenn ich eine unverschämte Frage stelle, dann brauchst du natürlich nicht antworten.“ Die Angesprochene grinste: „Du hast wirklich einiges an Höflichkeit gelernt, Kano! Schieß los, schieß los, ich reiße dir schon nicht den Kopf ab, haha!“ Nein, das tat ihre Schwester auch wahrlich schon gut genug: „Warum hast du eigentlich so ein gutes Verhältnis zu Shaginai-sama und deine Schwester so ein…“ „Gezwungenes?“ Er nickte und sah erstaunt, wie sie die Schokolade beiseitelegte. Genau wie von ihm vermutet musste es also ein sehr ernstes Thema sein. „Wie du es eben vorhin schon so treffend gesagt hast. White-chan ist eine Hikari. Sie ist die Lichterbin die das Element von Papa geerbt hat und die sein Werk als nächste Regime-Führerin fortzusetzen hat. Das ist der Unterschied.“ Sie schwiegen kurz und Violet sah es Kanoris gerunzelter Stirn an, dass er es nicht ganz verstand, aber er stellte keine Fragen – nur als Violet plötzlich aufstand und ein eingerahmtes Bild von einer Kommode herunter nahm, weiteten sich seine Augen fragend, aber da drückte Violet ihm das eingerahmte Foto auch schon in die Hand.  Auf dem Bild zu sehen waren Shaginai, Violet, White und eine Frau die Kanori nicht kannte – wohl Shaginais Frau und die Mutter seiner Kinder? Sie hatte lange violette Haare, die allerdings schon ziemlich blass wirkten, fast ausgebleicht; die Haare sahen ungesund aus, genau wie ihre Haut. Sie wirkte sehr kränklich, nicht weniger kränklich als White es heute tat. Damals offensichtlich auch, wie Kanori bemerkte, als sie das Kind, das neben ihrer Mutter stand ansah: sie hatte damals – sie konnte höchstens sechs sein – schon eine sehr bleiche Haut. Wie sie sich da hinter ihrer Mutter versteckte und am liebsten wohl vor der Kamera geflüchtet wäre, wirkte sie sehr schüchtern, obwohl sie wie immer ein Lächeln auf dem Gesicht hatte. Wie anders wirkte Violet da nicht! Sie hing an dem rechten Arm ihres Vaters und lachte fröhlich: man konnte ihr Lachen förmlich hören. Auch Shaginai lachte, während er versuchte seine Tochter zu bremsen. Eigenartig… für Kanori sah es so aus, als wären die vier nicht eine Familie, sondern zwei: zwischen den Verheirateten konnte er kein Bund erkennen, als würden sie gar nicht zusammen gehören. Im Gegenteil: er sah eher eine tiefe Schlucht zwischen ihnen, als etwas, dass sie irgendwie miteinander verband. „Es war eine Pflichthochzeit, oder?“, fragte Kanori und gab Violet das Bild zurück. „Teilweiße. Papa hat Mutter abgöttisch geliebt… und wie genau es um das Herz meiner Mutter stand, weiß ich nicht.“ Violet stellte das Bild zurück auf die Kommode, doch konnte ihren Blick nicht davon wegbewegen: „Zu Beginn waren sie ein recht glückliches Paar. Erst als White-chan zur Welt kam, fingen sie an sich zu streiten und meine Mutter sonderte sich von ihm ab. Ich kämpfte darum, dass Shaginai sie nicht so erzog… wie er es nun einmal tat. Mutter wollte nicht, dass White das Gefühl hat, nur eine Hikari zu sein. Wie man sieht, hat das nicht geklappt…“ Jetzt blickte sie Kanori wieder an und das traurige, in sich gekehrte Lächeln blieb dem Windwächter nicht unbemerkt: „Ich weiß noch, der erste richtige Streit war wegen einem Kleid.“ Kanori sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ein…Kleid?“ Doch Violet blieb ernst. „Ja, um ein Kleid. Mutter war eine leidenschaftliche Schneiderin. Sie machte immer unsere Kleidung, auch die von Vater – es war ihre Stellung. Sie schneiderte die Uniformen. Als White sieben war, nahm Mutter sie mit in die Menschenwelt, als sie sich Stoff kaufen wollte; sie suchte ihn nämlich immer selbst aus, anstatt einen Tempelwächter loszuschicken. Papa war immer dagegen – zu große Gefahr, blaaa – aber Mutter war nie um eine Diskussion verlegen. Dort entdeckte White in einem Schaufenster ein königblaues Kleid und Mutter versprach ihr, ihr genau so eins zu machen – eine Woche später bekam sie das auch. White war überglücklich darüber, bis Papa abends aus dem Jenseits zurück kam und White darin sah – er ist an die Decke gegangen. Ich und White wurden aus dem Zimmer geschickt, dennoch konnten wir Draußen hören, dass sie sich stritten. Mutter verstand nicht was falsch daran war, wenn sie ihrer Tochter eine Freude bereiten wollte und warum Papa sich so aufregte, nur weil es mal kein weißes war. Papa hingegen war so wütend, dass er überhaupt keine Argumente zuließ. Da beide Sturköpfe waren, ging der Streit Stunden! Danach war nichts mehr wie früher. Du kennst White-chan sicherlich schon gut genug, um zu wissen dass sie sich dafür verantwortlich machte… Seit diesem Tag trägt sie nur noch Weiß.“ Violet seufzte und sah gedankenverloren zu ihren Schokoladenhaufen. Kanori schwieg, er wusste nicht was er darauf antworten sollte. Doch dann sagte Violet plötzlich: „Aber, es gab noch einen viel schlimmeren Streit… Er war kurz bevor Mutter starb. Noch nie hab ich Papa so wütend gesehen… Es war Winter im Tempel…“     1974 - Hikari Regien Hikari Kishitsu Kouhei Shinjitsu Shaginai     Eigentlich war alles wie sonst auch; nichts, was darauf hindeutete, dass dieser Tag so viele Veränderungen mit sich bringen würde. Einige hatten sich nur über den starken Schneesturm gewundert, der den Tempel einhüllte; die Fenster zeigten dunkles Weiß, man konnte kaum hinaussehen und das Feuer brannte in jeden Kamin um den Tempel von innen zu wärmen, wo es daher auch angenehm warm war. Violet war nervös, versuchte aber, sich von ihrer Nervosität nichts anmerken zu lassen – denn sie wusste, dass etwas… im Gange war, wo die vielen Wächter waren, wo ihr Vater und ihre Mutter waren. Aber sie versuchte sich nichts von ihrer Nervosität anmerken zu lassen, um White nicht zu verunsichern, mit welcher sie gerade „Himmel und Hölle“ spielte. Sie saßen vor dem wärmenden Kamin, der sein flackerndes Licht auf das bunte Spielbrett warf, tranken heißen Tee und Irizz hatte ihnen gerade auch Gebäck hingestellt – eigentlich ein schöner, kuscheliger Abend, wäre da nicht die Unruhe die nicht nur Violet spürte, sondern auch Irizz. Sie hatten es nicht abgemacht, aber genau wie Violet wollte er auch White nicht verunsichern und sagte daher nichts, doch Violet bemerkte, wie der Tempelwächter immer wieder unruhig auf die Uhr sah. Die Schlacht… die Schlacht in die alle Elementarwächter und das stärkste Bataillon gezogen waren, wahrte schon mehrere Stunden. Die Dämonen hatten die Menschenwelt angegriffen – Violet wusste nicht wo, es interessierte sie auch nicht, denn sie hatte erhaschen können, dass es nicht nur ein großer Kampf war – wenn sie sich nicht geirrt hatte, dann hatte Shaginai sogar davon gesprochen, dass man erwartete, dass die Dämonen Verstärkung bekommen würden – sondern, dass viele starke Dämonen anwesend waren. Die Stärksten. Violet musste sich sehr anstrengen sich nichts anmerken zu lassen, denn immer wieder huschten ihre Gedanken zu ihren Eltern. Ihre Mutter war eigentlich keine Kämpferin für die Front, keine Offensivkämpferin und trotzdem hatte sie darauf bestanden mit Shaginai zu gehen. Sie hatte die Unruhe auch gespürt… oder? Der Blick, mit dem sie Shaginai angesehen hatte als sie seine Hand nahm – fast so, als wolle sie ihn selbst aufhalten in den Kampf zu ziehen. Das würde Shaginai natürlich immer tun! Es gab nichts und niemanden der ihren Vater davon abhalten konnte in die Schlacht zu ziehen. Er war ihr Hikari. Er beschützte sie. White war schweigsam, aber Violet traute sich nicht nachzufragen, ob sie die Unruhe ebenfalls spürte, ob sie auch bemerkt hatte, dass Irizz wieder zur Uhr sah. Es war jetzt nach 18 Uhr. Die Schlacht dauerte schon länger als sechs Stunden… White nippte zagend an ihrem Orangensaft, sie wollte gerade ihren nächsten Zug machen, als ihre Hand über dem Spielfeld verharrte und sie genau wie Irizz und Violet aufhorchte – aufgeregte Stimmen und Fußgetrampel waren zu hören. Violet bemerkte den Schweiß auf ihrer Haut – wurde etwa noch ein Bataillon gerufen? Aus den Augenwinkeln – denn Violet hatte sich zur Tür herum gedreht – sah sie, dass ihre Schwester unruhig auf ihren Handrücken sah. Oh nein, das wollte sie ganz gewiss nicht sehen, weshalb Violet sich wieder zu White herumwandte: „Komm, lass uns weiterspielen, du hast noch nicht…“ „White-sama!“ Alle drei Wächter schreckten empor als die Tür zum Gemeinschaftsraum sich plötzlich öffnete und ein rothaariger Wächter herein kam: es war Naruäe, der Elementarwächter des Feuers. Aber was… was tat er denn hier? War die Schlacht doch schon vorbei? Stammte das Fußgetrampel nicht von Wächtern, die sich zur Schlacht aufmachten, sondern die gerade zurückkehrten? „Ich bin auf Geheiß Eures Vaters hier. Ich soll Euch beide zu ihm bringen.“ Violet und White rissen beide die Augen auf; sie blickten zuerst Naruäe an, dann warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu. Aufs Schlachtfeld? Sie? Sie hatten zwar beide ihre Ausbildung schon begonnen, aber nur Violet hatte an einem kleineren Kampf teilgenommen; White noch nie. „Kommt, wir haben nicht viel Zeit!“ „Habt Ihr diesen Befehl schriftlich, Naruäe-sama?“ Irizz hatte sich von seinem Platz am Fenster gelöst und hatte sich nun zwischen dem Feuerwächter und den Kindern gestellt, in einer ruhigen, aber deutlich abwehrenden Manier. „Aus dem Weg, Tempelwächter. Mit dir habe ich nichts zu schaffen.“ Jetzt war es für Violet ganz deutlich, dass White sich fürchtete, dass es Violet die ganze Zeit nicht gelungen war, White die Furcht zu nehmen – wie deutlich sie das nicht sah, als White ihre kleinen Finger in den Stoff von Irizz‘ blauer Hose vergrub. Er ließ sich nichts anmerken, deutete auch keine Verärgerung an, obwohl der Tonfall Naruäes sehr abwertend war; er achtete nur auf White und ihre Unruhe, die er mit einer Hand auf ihrem Kopf zu vertreiben versuchte. „Die Töchter Hikari-samas sind in meiner Obhut und eine Mitnahme auf das Schlachtfeld würde sie in Gefahr bringen, ich würde daher gerne Hikari-sama…“ „Ich habe keine Zeit für das Geschwätz eines dummen Tempelwächters der seinen Platz nicht kennt!“ Ein Faustschlag des wohl trainierten und starken Feuerwächters genügte aus um den um einiges schwächeren Irizz beiseite zu werfen. „Irizz!“ White wollte auf ihn zustürmen, wollte das blutige Gesicht des stöhnenden, halbbewusstlosen Tempelwächters heilen, war auch schon ein paar Schritte gerannt, aber da packte Naruäe Whites Arm und zerrte das kleine Mädchen aus dem Zimmer. White sah noch wie Irizz versuchte sich aufzurichten, aber dann doch einbrach – der Schlag war zu viel für einen Tempelwächter wie ihn gewesen. Geschockt blieb Violet stehen; wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte den bewusstlosen Tempelwächter an, rannte aber dann doch White hinterher, getrieben von Intuition und Sorge um ihre völlig neben sich stehende White, die Naruäe immer noch hinter sich her zog und es auch ohne Erbarmen durchzog, bis sie zum nächsten Teleportationspunkt angelangt waren. Violet hatte sich nicht getraut irgendwelche Fragen zu stellen – und White--- White redete, flüsterte nur mit sich selbst, dass sie zurück zu Irizz müsste, dass er ihre Hilfe bräuchte, dass er blutete und sie ihn heilen müsste. Naruäe interessierte sich nicht dafür. Er hatte den Auftrag sie zum Ort des Geschehens zu bringen und das tat er auch indem er sich, zusammen mit den beiden Mädchen, sofort zum Ort des Geschehens teleportierte.     Das Erste was Violet bemerkte, war der Temperaturunterschied. Hier war sicher kein Winter: hier war es heiß, Sommer – und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass es Nacht war; eine sternenklare Nacht. Sie hörte nichts, es war absolut still. In der Nähe sah Violet einen Wald, doch ansonsten nur Einöde: erst Shaginais Elementarwächter des Feuers sich in Bewegung setzte, sah Violet einen roten Himmel vor ihnen.  Naruäe ging ziemlich schnell, Violet hatte Schwierigkeiten ihm zu folgen und auch White stolperte über ihre kleinen Füße. Auch sie hatte den roten, fast brennenden Horizont bemerkt – Violet sah es in ihren Augen. Sah wie die Röte des Himmels sich in ihren großen, geweiteten Augen spiegelte. Der Name ihres Tempelwächters war verstummt, stattdessen war eine unbekannte Furcht in ihr Gesicht getreten, die sie auch plötzlich dazu brachte vehement stehen zu bleiben. Sie stemmte ihre Füße in den erdigen Boden und riss ihren Arm aus Naruäes Griff los, als hätte sie eine plötzliche, unsichtbare Wand am Weitergehen gehindert. „Komm schon, es ist nicht mehr weit.“ Genau das war doch das Problem, dachte Violet, als sie ihre Hände auf Whites Schultern legte. White sah zu Boden, ihre Hände vergrub sie im Zaum  ihres Kleides. Irgendetwas machte ihr plötzlich panische Angst. „Müssen wir da wirklich hin? Muss White dahin? Sie will doch nicht!“ „Es ist ein Befehl eures Vaters – und ihr wollt doch keinem Befehl eures Vaters missbilligen, oder?“ Naruäe wartete nicht auf eine Antwort – er schien es plötzlich eilig zu haben, so rabiat wie er White vorwärts schob, obwohl sie aufgehört hatte sich zu wehren. Noch ein paar Meter weiter und Violet verstand auf einmal, warum sie nicht hatte weiter gehen wollen, was sie förmlich daran gehindert hatte es zu tun: aus der Richtung wo sie hingingen, konnte man Schreie hören. Aber dann kam ihr Vater. Endlich. Violet brach sofort in Tränen aus – sie wusste nicht warum, aber sie überspülte enorme Erleichterung, als hätte sie irgendwie angenommen, dass Shaginai tot wäre und als wäre er jetzt in diesem Moment wieder auferstanden. Aber er war verletzt; schlimm verletzt; sein linker, zum Glück nicht schwertführender, Arm hing schlaf herunter, war blutrot, wie auch eine Hälfte seines Gesichts – aber dieser grauenhafte, fast angsteinflößende Anblick konnte Violet nicht abhalten. „Papa!“, rief sie und schon war sie zu ihm gestürzt, warf sich in seine Arme und drückte sich weinend an ihn, als wäre er wirklich von den Toten auferstanden. Er richtete ein paar tröstende Worte an seine weinende Tochter, sah dabei aber nicht sonderlich tröstend aus, denn sein Blick lag auf White, die neben Naruäe stehen geblieben war – sie schien am liebsten auf der Stelle wegrennen zu wollen. „Wie ist die Lage?“, fragte Naruäe seinen Elementarwächter des Lichts, während Shaginai auf sie zukam: „Weiterhin stabil. Die Verstärkung von Zeranion scheint auszureichen um die restlichen Dämonen auszulöschen.“ Als er zusammen mit Violet angekommen war blickte er auf White herunter und streckte die Hand nach ihr aus: „Komm, White.“ Aber White schüttelte den Kopf. „Ich… ich will nicht… Vater, ich muss zurück, Irizz, er ist… er ist…“ Aber Shaginai schien keine Wiederworte hören zu wollen und jetzt war er es, der Whites Hand nahm und sie mit sich zerrte, Violet und Naruäe im Schlepptau, was Shaginai nicht zu gefallen schien: „Renn vor, Naruäe! Du wirst in der Schlacht gebraucht!“ Der Feuerwächter verneigte sich im Gehen: „Jawohl, Hikari-sama!“ Und schon war er losgestürmt und von der roten Wand verschluckt, auf die auch sie zusteuerten, obwohl White sich weiterhin wehrte, doch Shaginais Griff verblieb hart. Die Temperatur stieg nun immer weiter, wuchs von jedem Schritt den sie nahmen und nun sahen White und Violet, dass die rote Färbung des Himmels von dem empor züngelten Flammen stammten; White versuchte noch einmal sich gegen das Weitergehen zu wehren, die Schreie, sie wurden lauter, wie ein Nebel, dessen Fangarme sich nach ihnen ausstreckte. Violet erkannte die Schreie nun – es waren Schmerzensschreie, aber nicht nur – es waren Beschwörungsschreie, Kampfschreie, Schreie des Todes, der Aggression, die sie packten und gegen die White sich nicht mehr wehren konnte, egal wie sehr sie sich auch mit ihren kleinen Kinderschuhen dagegen stemmte. Sie konnte sich nicht gegen die Greifarme des Krieges wehren. Sie standen nun am Rand einer Klippe und sahen hinunter. Violet war zwar schon bei ein paar Kämpfen dabei gewesen, aber dass hier… sie schluckte… war kein Kampf. Das hier – war wahrlich eine Schlacht.     Das ehemalige Menschendorf ging vollkommen in Flammen auf; Flammen, die immer weiter angefacht wurden durch die Attacken der Feuerwächter und der Dämonen – sie züngelten wie die Schreie zum Himmel empor  und zwischen diesem Feuerinferno bekämpften sie sich. Die Wächter und die Dämonen. Shaginai hatte von Stabilität gesprochen, aber Violet konnte unmöglich ausmachen, wer die Oberhand besaß. Wächter wie Dämonen wurden gnadenlos nieder gemetzelt, ein Wächter tötete einen Dämon und bekam von einem Anderen von hinten den Kopf abgeschlagen; Beschwörungen wurden in Eile ausgerufen, wurden abgeblockt oder töteten. Die Menschen, die dort gelebt hatten – kaum vorstellbar, dass dort es an diesem Höllenort mal Leben gegeben haben sollte – lagen tot, halb verbrannt, auseinander gerissen, auf dem Boden, zusammen mit den verstorbenen Wächtern, zertreten – niemand achtete darauf wo er hintrat. Ohne Rücksicht auf Verluste schlachteten beide Seiten ihre Feinde regelrecht ab und die Straßen gingen unter im Blut. Violet starrte entsetzt auf dieses Schauspiel. Sie erinnerte sich noch daran wie gerne sie sich einfach hatte abwenden wollen, aber ihre Augen hatten ihr nicht gehorcht. Es war unmöglich sich abzuwenden. Auch White konnte sich dem Schrecken nicht entziehen; sie hatte zwar ihre Hände vor ihre Augen geschlagen, aber durch den Spalt, den ihre gespreizten Finger entstehen ließen blickten kleine, weiße Augen starr auf das Bild der Hölle; auch sie war nicht fähig von dem Grauen wegzusehen. Ihre Augen waren stecknadelgroß, Tränen quollen hervor – aber abwenden konnte sie sich nicht. Auf Shaginais blutverschmierten Gesicht war nur eine starre Miene zu erkennen; eine Miene, die keinerlei Gefühle deutlich machte – erst als White sich plötzlich losriss, bewegte sich etwas auf seinem Gesicht. Er wirbelte herum um wieder ihre Hand ergreifen zu können. „White, bleib hier!“ Sie schüttelte manisch den Kopf; Tränen flogen nach links und nach rechts, aber sie verdampften wieder in der Hitze. „…N-Nein! I-Ich will nicht…! Ich will das nicht sehen…!“ White riss sich von Shaginai los und hielt sich die Hände vor die Ohren, um die Schreie nicht länger hören zu müssen. Doch Shaginai ließ nicht locker, packte beide Hände seiner Tochter und durchbohrte sie mit seinen Titanaugen.   „Es geht nicht darum was du willst!“ Er zeigte in Richtung der Schlacht und fuhr fort: „Das wird deine Zukunft sein! Es wird deine Aufgabe sein, deine Wächter in so einer Schlacht anzuführen! Wenn du nicht lernst damit umzugehen, wenn du nicht lernst keine Gefühle, wie Angst und Verzweiflung, zu zeigen, werden sie alle wegen DIR sterben! Dann ist es ganz alleine deine Schuld, wenn wir alle ausgerottet werden! Denn das ist deine Welt! Es wird dein Weg sein, deine Aufgabe und dein alleiniges Schicksal! Als Hikari trägst du die Verantwortung für unsere gesamte Rasse!“ Shaginai schien noch mehr sagen zu wollen, als seine Augen sich plötzlich weiteten – genau wie Whites und Violets sie beide zum ersten Mal eine Aura spürten die so enorm war, dass sie den Schrecken den sie gerade erlebten, beiseiteschob – nur um dieser Angst, diesem Schrecken noch mehr Nährboden zu geben. Eine Aura – so gewaltig, als wäre ein Blitz eingeschlagen, der alle anderen Auren verdunkelt hatte – und nur er selbst, der Träger dieser immensen Aura, strahlte noch hervor. „Das kann nicht sein – warum ist er hier--- Violet!“ Shaginais Stimme verlangte deutlich danach, dass Violet sich zu ihm bewegte, aber seine Tochter war am Rand der Klippe erstarrt zu Boden gestürzt. Die Aura hatte sie schier zu Boden gedrückt und anders als Shaginai und White sah Violet wem diese Aura gehörte. Er war mitten im dem Kampfgetümmel erschienen, schien dem kurz erhaben zu sein, losgerissen von diesem – ehe er sich mit einem erfreuten Lachen mitten hinein warf. Wächter, die in seiner Nähe standen brachen in Panik aus, aber es war zu spät: dieser riesige Dämon ergriff einen Wächterkopf einfach mit der Faust und zerdrückte ihn zwischen den Fingern, während er mit sichtbarer Leichtigkeit einen anderen Wächter gegen eine Hauswand schleuderte und das Haus zum Einsturz brachte. Sein Grinsen, sein von weisen Zähnen geformtes Grinsen, voller Freude, voller Boshaftigkeit--- Violet konnte es nur anstarren, genau wie das Blut und die Flammen die empor schossen, die Schreie, die nun immer mehr zu Schmerzensschreien wurden. Die Dämonen verneigten sich vor dieser in schwarzen Blitzen eingehüllte Naturgewalt – wie könnten sie es auch nicht: er war immerhin ihr König. Es war Kasra.   Shaginai packte Violets Arm, er wollte sie zusammen mit White wegteleportieren, aber es war zu spät – die roten Augen des Dämonenkönigs hatten sie entdeckt und ein fahles Lächeln ließ Shaginai verstehen, dass jeder Fluchtversuch zwecklos war. Ein Antiteleportationsbannkreis. Gelegt, während er sich durch die Wächter gemetzelt hatte. Violet sah ihn lachen, sah ihn springen – und dann hörte sie das Lachen hinter sich. „Ein etwas sehr spezieller Ort für einen Familienausflug, findest du nicht, Shaginai?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)