Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 15: Das Gehirn der Wächter ---------------------------------- Als Itzumi ihre neue Herrin und sich selbst an deren Bestimmungsort teleportiert hatte, dachte Green für einen Moment, dass sie sie an den falschen Ort gebracht hatte, was sie der Tempelwächterin durchaus zutraute – auch wenn die beiden kaum Zeit miteinander verbracht hatten. Just in diesem Moment befand Green sich außerhalb Tokios in der Nähe eines Observatoriums, welches direkt am Meer lag. Es herrschte ein kühler Wind und Green hörte die gewaltigen Wellen gegen die Klippen preschen, angetrieben durch den Wind, welcher auch Greens Haare dazu brachte, sich zu erheben; die blonden Haarringe Itzumis hingegen bewegten sich keinen Zentimeter und schienen sich dem Wind nicht beugen zu wollen. Ein schöner Anblick bot sich den beiden jungen Frauen: Die abendliche Wintersonne berührte die steilen Klippen und ließ ihre spitzen Ränder im Licht golden glitzern. Doch dieser Anblick wurde nur wenige Sekunden genossen, ehe Green sich an Itzumi wandte und sie skeptisch fragte, ob sie wirklich richtig seien. „Hikari-sama, ich kann Euch versichern, dass wir das sind.“ Die Angesprochene wählte, den giftigen Tonfall ihrer aufgezwungenen Tempelwächterin zu ignorieren und steuerte auf den Eingang des Observatoriums zu, wobei Itzumi ihr mit einigen Schritten Abstand folgte, was Green schnell dazu brachte, stehen zu bleiben: „Du kannst in den Tempel zurückkehren, ich bekomme das schon alleine hin.“ „Es ist meine Pflicht, Euch bei jedem Eurer Schritte beiseitezustehen.“ Mit schwingenden Haaren wandte Green sich herum und versetzte argwöhnisch: „Soll das heißen, du willst die ganze Zeit bei mir bleiben?“ „Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung“, entgegnete Itzumi ruhig, doch Green hörte deutlich heraus, dass der Tempelwächterin dies genauso wenig gefiel wie umgekehrt. „Tu uns beiden einen Gefallen und geh zurück zu Grey. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“ Ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, drehte Green sich auf ihrem Absatz herum und wollte gerade ihren Weg fortsetzen, als sie schnell bemerkte, dass Itzumi ihr diesen Gefallen nicht tat. Einen Moment lang musste Green sich zusammenreißen, um nicht zu fluchen, als sie sich erneut an ihre Tempelwächterin wandte, doch diese kam ihr zuvor; scheinbar hatte sie nicht bemerkt, dass Green sich wieder herumgedreht hatte: „Ihr macht Grey-sama nur Kummer. Ihr werdet uns allen nur Kummer bereiten!“ „Wie war das?“ „Entschuldigt, ich habe nichts gesagt. Ich werde Euren Wunsch befolgen und freudig auf Eure Rückkehr warten.“ Skeptisch sah Green dabei zu, wie Itzumi sich mit einem giftigen Seitenblick in Luft auflöste und fragte sich, ob Itzumi im Ernst geglaubt hatte, dass sie es nicht gehört hatte oder ob sie es mit Absicht so laut gesagt hatte - was auch immer ihr Hintergedanke gewesen war, so war sie auf jeden Fall Green gegenüber alles andere als wohlgesonnen. Aber Kummer? Green hatte weiß Gott genug mit ihrem eigenen Kummer zu tun, als dass sie anderen diesen bereiten würde! Mit entschlossenen Schritten erreichte Green die Tür zum Observatorium und klopfte an die mit einem heruntergefahrenen Rollo versehene Glastür. Lange musste sie nicht warten, bis sich die Tür öffnete und das Gesicht eines blauhaarigen Mädchens im entstandenen Türspalt erschien, welches Green fragend ansah. „… ja? Sie wünschen?“ Ganz sicherlich handelte es sich nicht um Tinami, auch wenn das kleine Mädchen ihr schon ähnlich sah, wenn man nur die Haare und die Augen betrachtete. Doch die Hautfarbe war um einiges bleicher, sogar blasser als Greens. Ihre langen, blauen Haare waren durchnässt, ein Handtuch lag um ihre Schultern und sie trug ein weißes Kleid mit Trägern, dekoriert mit blauen Karos. „Äh, bin ich richtig bei Asuka? Ich möchte gerne mit Tinami sprechen.“ „Ach, Sie wollen zu meiner großen Schwester? Kommen Sie herein, ich werde Sie zu ihr bringen.“ Green bedankte sich bei der kleinen Schwester Tinamis und war froh, in die warme Behausung zu gelangen; draußen war es ihr doch langsam zu kalt geworden. Kaum schloss das blauhaarige Mädchen die Tür hinter sich, weiteten sich auch schon Greens Augen vor Verblüffung, als sie die Glasvitrinen links und rechts neben sich erblickte. Von einem Observatorium hatte sie erwartet, in solchen Vitrinen galaktische Steine zu erblicken, doch sie sah etwas gänzlich anderes - nämlich Waffen, Waffen aller Art. Waffen, die Greens Stab nicht unähnlich sahen, aber auch außerordentliche Bogen und Pfeile, Armbrüste, Speere, Hiebwaffen und zu Greens Verwunderung auch eine große Axt, bei der sie nicht erfahren wollte, wozu diese gebraucht worden war. Während Green den langen, eher engen Gang an der Seite des Mädchens herunterging, bemerkte die Hikari, wie ungewöhnlich oft sie darauf achten musste, nicht über die sich am Boden schlängelnden Kabel zu stolpern, welche kreuz und quer über den Gang gezogen waren. Einige von ihnen fanden ihren Weg durch die einen Spalt weit geöffneten Türen, andere gingen im Kabelgewirr verloren. Plötzlich hörte Green eine Stimme, welche sie dazu brachte, stehen zu bleiben: „NEIN! Verdammt! Wie oft denn noch?!“ Diese laute Stimme gehörte eindeutig Kaira, was die Hikari auch schnell mit eigenen Augen feststellte, als das blauhaarige Mädchen Green in das Zimmer hineinließ, in welchem Kaira in diesem Moment gerade den Frust über ihre Niederlage an einem Videospielcontroller ausließ. Doch kaum, dass sich die Tür öffnete und Green im Türrahmen stand, ließ die Zeitwächterin den Controller wie vom Blitz getroffen fallen, während Tinami Green grinsend zuwinkte. Auch sie hielt einen Controller in der Hand, allerdings um einiges relaxter: Sie saß auf einem Drehstuhl, die Beine auf einem der vielen Schreibtische platziert und die andere Hand über eine Tastatur sausend, im Mund einen Pocky-Stick. Doch weder Tinami noch Kaira waren es, die Greens Aufmerksamkeit erhielten, sondern eine grünhaarige junge Frau, welche auf der Fensterbank saß und, wenn es nicht aufgrund ihrer Haarfarbe unmöglich gewesen wäre, an eine Chinesin erinnerte. Nicht nur die Art, wie ihre Haare dank zweier Haarnadeln zu einem eleganten Knoten zusammengebunden waren, sondern auch ihr Kleidungsstil wirkte chinesisch. Als sie Greens Blick bemerkte, lächelte sie lieb und rutschte gesittet von der breiten Fensterbank herunter. Doch es war Tinamis Stimme, welche zuerst zu hören war: „Ah, Ee-chan! Ich habe dich bereits erwartet!“ „Wie bitte, was hast du?! Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?“, raunte Kaira ihrer Freundin zu, doch wurde überhört, denn nun übernahm die grünhaarige Frau das Wort, nachdem sie bei Green angekommen war. Wie so viele andere legte auch sie ihre Hand auf ihr Herz und verbeugte sich höflich, ehe ihre ruhige Stimme sich an Green wandte: „Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Hikari-sama. Mein Name ist Ilang Shizen Ling. Ich bin die Elementarwächterin der Natur und besitze den zweiten Rang.“ Verlegen und immer noch nicht an diese hingebungsvollen Verbeugungen gewohnt, winkte Green mit der Hand ab und antwortete: „“Green“ ist vollkommen ausreichend.“ Nun mischte sich auch das blauhaarige Mädchen ein, welches bis jetzt stillschweigend das Szenario um sich herum betrachtet hatte, ohne daran teilzunehmen – doch nun war es blass geworden und wich einige Schritte vor Green zurück. Als Green dies bemerkte und sich zu ihr umdrehte, beeilte das Mädchen sich damit, sich genau wie Ilang zu verbeugen und sagte hastig: „V-Verzeiht mir! Ich … wollte nicht unhöflich sein, Hikari-sama, ich dachte nur …“ Es gelang der Angesprochenen nicht, eine Antwort zu formulieren, ehe Tinami das Stottern ihrer Schwester unterbrach. Sie schlang ihre Arme von hinten um ihre kleine Schwester, welche im Vergleich noch kleiner erschien als ohnehin schon. „Du hättest dir ausrechnen können, Azu-chan, dass es sich bei Ee-chan um unsere geehrte Hikari-sama handelt!“ „Naja, aber man sieht es nicht so …“ „Ich denke, ich darf vorstellen - Ee-chan, das hier ist meine kleine Schwester: Azura Mizu Asuka, Elementarwächterin des Wassers, zweiter Rang!“ Tinami grinste erfreut, während Azura eher danach aussah, als wolle sie vor Scham in Grund und Boden versinken. „Und man mag es ihr nicht ansehen, aber sie ist genauso alt wie du!“, fügte Tinami mit einem Zwinkern hinzu – was Green wahrlich verwunderte und ihren Mund sogar dazu brachte, fragend aufzuklappen: Azura sah gewiss nicht aus wie 16 – weder von ihrem Körperbau noch von ihrer Ausstrahlung her! Nicht auf das gerötete Gesicht ihrer Schwester achtend, drückte Tinami Azura fest an sich und umarmte sie mit einem Quietschen, wobei sie nicht bemerkte, dass Kaira sich nun zu ihnen gesellte; jedoch nicht ohne dem „Game Over“-Bildschirm noch einen feindseligen Blick zuzuwerfen. Mit einem Seufzen wandte sie sich Green und Ilang zu:  „Ich bewundere Azura dafür, dass sie ihre Schwester aushält.“ Kaum dass die Zeitwächterin dies gesagt hatte, ergriff Tinami schon wieder das Wort, dieses Mal jedoch, um alle anderen außer Green aus dem Zimmer zu befördern, mit den Worten, dass sie mit Green eine Verabredung hatte. Doch ehe die drei anderen Mädchen den mit Computern zugestellten Arbeitsraum verließen, verabschiedete Ilang sich freundlich von Green mit den Worten, dass sie sich sicherlich bald wiedersehen würden. Azura erinnerte Tinami daran, dass sie um 18 Uhr essen würden, was Tinami nur mit einem halben Ohr hörte, denn das andere war durch das Flüstern Kairas besetzt, die ihr etwas zuraunte, was Green nicht hören konnte, Tinami aber zu einem Grinsen verleitete. Als alle drei Mädchen den Raum verlassen hatten und die Tür hinter ihnen zugefallen war, setzte Tinami sich wieder an ihren Computer und bot Green einen Stuhl neben sich an. Sie setzte sich und spähte zum Monitor, doch sie verstand kein einziges Wort von dem, was dort geschrieben stand. „Das wird Spaß machen! Endlich mal wieder eine Herausforderung … Ee-chan, wenn du so freundlich wärst und mir dein Glöckchen geben würdest?“ Green war drauf und dran, der Bitte Tinamis Folge zu leisten, doch als sie das Glöckchen von ihrer Kette lösen wollte, verengten sich ihre Augen skeptisch und sie fragte, wie lange sie es denn bräuchte. Auf die plötzliche Feindseligkeit erwiderte Tinami nur ein Grinsen und fügte hinzu: „Dir wird nichts passieren, das verspreche ich.“ Zögernd löste die Hikari es von ihrer Kette und legte das kleine, goldene Schmuckstück in die Hände der Klimawächterin, dabei versuchend, den Drang, es sofort wieder an sich zu reißen, zu unterdrücken. „Eindeutig eine meiner besten Waffen - doch die deiner Mutter gefällt mir auch sehr gut! Mein Vater war wirklich ein Genie … Dieses simple Design hatte was, obwohl ich ja eher auf Detailverliebtheit stehe!“ Green antworte darauf nicht; erstens hatte sie die Waffe ihrer Mutter noch nie gesehen und zweitens war ihr das Aussehen ihrer Waffe auch ziemlich egal - sie sollte einfach nur funktionieren. Tinami legte das Glöckchen auf den Tisch, während sie mit der anderen Hand ein kleines, rundes Metallobjekt aus einer Schublade holte, was sie sich hinter ihr rechtes Ohr klemmte und daraufhin einen Knopf  an diesem betätigte. Wie aus dem Nichts tauchte eine Art Brille auf, welche ihr rechtes Auge bedeckte. Neugierig beugte Green sich vor und sah, dass diese Brille, oder was auch immer es war, keine feste Substanz zu haben schien; die glatte Fläche vor ihrem Auge war blau und durchscheinend. Ohne Greens fragenden Blick zu beachten, schaute Tinami sich nun das Glöckchen genauer an, wobei die Hikari sich in Schweigen hüllte, aus Angst, dass sie die Klimawächterin womöglich bei ihrer Arbeit stören könnte. Es war merkwürdig; normalerweise, wenn ihr Glöckchen von anderen gehalten wurde, wäre Green eigentlich schrecklich nervös, doch Tinami löste dieses Gefühl nicht aus, obwohl sie sie nicht besonders gut oder lange kannte – genauer gesagt: eher gar nicht. Doch es war, als wäre ihr und ihrem Glöckchen bewusst, dass sie bei Tinami in sicheren Händen waren. Grey hatte ihr erzählt, dass es Tinami gewesen war, welche das Glöckchen und somit auch den Stab geschaffen hatten – vielleicht war das der Grund für ihre ungewöhnliche Ruhe? „Du bist viel zusammen mit Si-kun und Ga-kun, nicht wahr?“, fragte Tinami plötzlich und weckte Green aus ihren Gedanken, wobei sie sich kurz fragen musste, von wem die Klimawächterin sprach, bis ihr klar wurde, dass nun auch Siberu und Gary Spitznamen von Tinami erhalten hatten – und diese toppten wahrlich alles. „Ja, das bin ich. Fast … den ganzen Tag, wenn ich so genauer darüber nachdenke.“ Tinami nickte verstehend, den Blick nicht vom Glöckchen nehmend. Kurz zögerte Green mit der Frage, die ihr auf der Zunge brannte, ehe sie sich dazu durchrang, sie zu stellen:  „… was hältst du eigentlich von den beiden?“ Ohne aufzusehen, erwiderte sie: „Ich mag keine Vorurteile. Allerdings haben bereits viele Erfahrungen gezeigt, dass der Großteil der Dämonen nach unserer Definition von bösartiger Natur ist … “ Green schwieg und ihre Augen wandten sich in Richtung des von Kabeln übersäten Bodens – was für eine Antwort hatte sie erwartet? Tinami war eine Wächterin; natürlich hatte sie diese Einstellung. Dennoch hatte Green gehofft, dass sie vielleicht jemanden in ihrem Umfeld finden würde, der eine andere Meinung hatte. Mit Sho konnte sie wohl kaum darüber reden, und selbst wenn Green versuchen würde, mit Pink ein ernsthaftes Gespräch zu führen, so war auch sie nicht unbedingt positiv den beiden Brüdern gegenüber eingestellt – auch wenn es schon besser geworden war. Tinami bemerkte ihren Blick und musste unwillkürlich grinsen: „Wie gesagt, ich bin kein Fan von Vorurteilen, daher mache ich mir immer selbst ein Bild. Wer weiß, vielleicht sind deine beiden Halbdämonen die bekannte Ausnahme, die die Regel bestätigen?“ Die Klimawächterin fuhr mit ihrer Arbeit fort, als wäre nichts geschehen und reagierte nicht auf die großen, verwunderten, aber auch erfreuten Augen Greens. Die Hikari musste sich selbst eingestehen, dass sie ziemlich erleichtert war, dass es wenigstens eine Wächterin gab, die die beiden nicht sofort verurteilte. Ob Ilang eine ähnliche Meinung hatte? Hoffentlich - Kaira wollte sie lieber gar nicht erst fragen; sie mochte wahrscheinlich niemanden und so wie deren erste Begegnung gelaufen war, schenkte sie Dämonen nicht einmal so viel Zeit, dass diese sich auf ihren Tod vorbereiten konnten. Nein, sie hasste Dämonen sicherlich mehr als Grey es tat. „Weißt du eigentlich, was in dem Glöckchen drinnen ist?“ Wieder wurde Green aus ihren Gedanken gerissen und brauchte ein paar Sekunden, um über Tinamis Frage nachzudenken. Was konnte sich in ihrem Glöckchen befinden? Es war unheimlich leicht, machte aber anders als herkömmliche Glöckchen keine Geräusche, es sei denn, ein Dämon war in der Nähe, was wiederum bedeuten musste, dass es … leer war von innen? „Es ist … leer?“ „Auf jeden Fall kann man mit dem bloßen Auge nichts sehen.“ Tinami legte das Glöckchen auf ihren Tisch und mit erstauntem Blick sah Green zu, wie die Hand der Klimawächterin aufstrahlte und kaum, dass sie diese über das Glöckchen legte, erwachte der Bildschirm, der ihnen am nächsten war, zum Leben. Daten flimmerten über ihn - Daten, mit denen Green nichts anfangen konnte, doch es war ein merkwürdiges Gefühl, ihr Glöckchen als Buchstaben und Zahlen zu sehen. „Doch der Inhalt ist mit den richtigen Mitteln messbar.“ „Pink hat mir mal erzählt, dass … das Glöckchen die Kraft meiner Seele speichert, oder so? Ist es das, was du da lesen kannst?“ Ein Lächeln zuckte über Tinamis gebräuntes Gesicht: „Extrem einfach ausgedrückt könnte man es so bezeichnen! In der Tat beinhaltet das Glöckchen die Stärke der Seele eines jeden Hikari und gerade, weil es „leer“ erscheint, ist das Glöckchen im Wächtertum ein Zeichen von Reinheit, unterstrichen von den weißen Flügeln. Es ist nicht genau bekannt, was der Hintergrund der Glöckchen ist; warum die Vorfahren der Hikari gerade ein solches Design auswählten oder warum es überhaupt geschaffen wurde. Fakt ist, dass selbst die ältesten Hikari ein Glöckchen tragen und dass sie ohne zum Sterben verdammt waren. Viele Legenden, Gerüchte und Theorien ranken sich um diese kleinen Relikte. Fakt ist, es ist kostbarer als dein Herz, Ee-chan. Wird dein Herz durchstochen, kannst du es überleben, weil du eine Hikari bist und die Kraft deiner Seele getrennt von deinem Körper in diesem kleinen Teil deinen Körper weiterhin belebt. Wirst du aber von ihm getrennt, wird das Glöckchen beschädigt oder gar zerstört, gehst du mit ihm zugrunde.“ Green erstarrte bei den Worten Tinamis und erst nach einer Weile schlich sich ein verwirrtes „Wie bitte?!“ über ihre Lippen, obwohl ihr absolut klar war, dass Tinami nur die Wahrheit sprach – hatte sie es nicht selbst erlebt auf der Klassenreise? Doch, das war ziemlich eindeutig gewesen. Gott, sie würde es nie wieder aus den Händen legen! „Du siehst“, fuhr Tinami grinsend fort: „Du solltest stets gut darauf achtgeben!“ Das musste sie ihr wahrlich kein zweites Mal sagen, das war ihr nun deutlicher denn je bewusst. „Und … was ist jetzt das Problem mit dem Glöckchen?“, fragte Green unsicher, da sie eigentlich das Verlangen hatte, es lieber nicht zu hören. „Dein Glöckchen hat kein Problem; sagen wir, hätte es ein Problem damit gegeben, so müsste ich dich gerade wiederbeleben, anstatt mit dir zu reden!“ Herzhaft begann Tinami über ihren eigenen Witz zu lachen, doch die Hikari fand ihn alles andere als witzig, sondern eher das Gegenteil. Das beinahe grimmige Gesicht Greens brachte Tinami auch dazu, ihr Lachen einzustellen, doch das Grinsen verschwand nicht, als sie ausführte: „Nein, nein, Ee-chan, es ist nicht dein Glöckchen, sondern deine Waffe! Ich muss mich entschuldigen, denn es ist meine Schuld – dein Stab ist erst die zweite Waffe gewesen, welche ich geschaffen habe und naja, nicht nur das Design ist ziemlich altbacken, meinst du nicht auch, Ee-chan? Jedenfalls ist die Waffe deinen Bedürfnissen nicht angepasst: Die Waffe besitzt ja nicht einmal einen Filter! Und den, sagen wir es so, brauchst du dringender als andere Hikari!“ „Einen … Filter?“ „Ganz genau!“ Tinami sah zwar weiterhin Green an, während sie mit ihr sprach, doch ihre Finger rasten bereits über die eingelassene Tastatur wie unbändige Bienen: „Du brauchst natürlich einen komplett anderen als deine Vorfahren, immerhin bist du ja auch ganz anders – es wird eine Herausforderung, aber keine unlösbare! Ich sehe es vor mir!“ Ein Ausbruch der Freude und des Tatendranges unterbrach ihre eigenen Worte: „Ich platze vor Begeisterung! Meine Finger kribbeln richtig!“ „Was genau macht denn so ein Filter?“ Die Frage Greens unterbrach den Freudentaumel Tinamis, da sie sich nun einer Erklärung widmete, um die Frage ihrer Hikari zu beantworten: „Das Element des Lichtes ist sehr empfindlich, musst du wissen. Es reagiert überaus fein auf die Gefühle des Trägers: Zweifelst du, flackert dein Licht und verliert an Stärke. Unsere Elemente sind stets mit unserer Seele verknüpft, aber kein Band ist so stark wie das der Hikari.“ Die Klimawächterin hob den Zeigefinger und fuhr fort: „Das wiederum bedeutet auch, dass das Element mit deinem Glöckchen verbunden ist und im Umkehrschluss mit deiner Waffe, da dein Glöckchen sich in deine Waffe verwandelt – heißt auch, dass du auf diese ebenfalls aufpassen musst. Ein in deiner Waffe eingebauter Filter verhindert, dass unreine, dunkle, dämonische Energien von außen eindringen können. In deinem Stab war natürlich auch ein Filter eingebaut, allerdings keiner, der für eine dauerhafte Belastung ausgelegt gewesen ist. Sagen wir es, wie es ist: Der Filter deines Stabes war überlastet und hat seinen Geist aufgeben!“ Die Hikari schwieg, da sie diese Menge an Information erst einmal verstehen und verarbeiten musste – wollte Tinami etwa darauf hinaus, dass es ihrem Glöckchen nicht „gut tat“, wenn sie so viel mit Siberu und Gary zusammen war? Das machte die ganze Situation nicht gerade besser – eher das Gegenteil. „Ach, ich sehe es schon vor mir!“ Der Verwirrung Greens nicht besonders viel Beachtung schenkend redete Tinami in einem Fluss weiter: „Ich habe das Design deutlich vor Augen – und natürlich kommt wieder das EL-Hen System zum Einsatz und – oooou es wird großartig werden! Mein Meisterwerk!“ Die Freude Tinamis beruhigte Green ein wenig; es klang immerhin nicht gerade so, als stünde sie vor einem unlösbaren Problem und als sei Green dazu gezwungen, sich von Siberu und Gary fernzuhalten – ein Gedanke, der sie aufatmen ließ. „Das EL-Hen System?“, fragte Green verwundert, nachdem sie die grauenvollen Gedanken brüsk zur Seite geschoben hatte und sich stattdessen auf ein neues ihr unbekanntes Wort konzentrierte. „Hm … wie formuliere ich es, damit du’s verstehst …“ Aus dem Mund jedes anderen würden diese Worte wohl beleidigend klingen, doch nicht aus dem Mund Tinamis, welche sich nun dem Computerbildschirm zugewandt hatte; anscheinend bereits in Gedanken damit beschäftigt, das Design des Stabes zu entwerfen: „Das EL-Hen System ist die Ursache dafür, dass dein Glöckchen sich in einen Stab verwandeln kann, alles klar? Schade, dass derjenige so früh gestorben ist, der es erfunden hat …“ Die Frage, wer ein solch praktisches System erfunden hatte, folgte selbstverständlich sofort und grinsend warf Tinami ihr einen Blick zu: „Mein Vorfahre! Er hat vor 310 Jahren gelebt und man kann wohl sagen, dass er fast so intelligent war wie ich! Er hieß Tao Kikou Asuka. Leider ist er, wie gesagt, viel zu früh gestorben.“ „Woran ist er denn gestorben?“    „Das weiß niemand so genau … angeblich soll er sich überarbeitet haben - aber wenn du mich fragst, ist das kompletter Unsinn. Wir Kikous sind es gewohnt, tagelang durchzuarbeiten und ich kann dir sagen, das haut uns eigentlich nicht so leicht aus den Latschen. Wir schlafen dann einfach ein paar Tage durch, wenn wir zu viel gearbeitet haben und alles ist wieder gut.“ Plötzlich sah Tinami nachdenklich aus und ihre Finger, die eben noch über die Tastatur gerast waren, kamen zum Stillstand und mit einem beinahe verärgerten Seufzen legte sie die blaue Brille wieder ab – anscheinend mochte sie es nicht, dass sie über den Tod ihres Vorfahren keine Aufklärung hatte. „Vielleicht hat er ja an etwas ziemlich Großem gearbeitet?“ Tinami sah auf, als ihre Hikari dies sagte, und lächelte ironisch. „Groß ist wohl untertrieben: Er hat an etwas gearbeitet, was unmöglich ist. Selbst für uns … Er hat nach einer Möglichkeit gesucht, den Tod zu überwinden.“ Okay, dachte Green – das war in der Tat eine große Sache; eine ziemlich große Sache sogar. Offensichtlich teilten die doch sehr anders wirkenden Wächter dennoch etwas mit den Menschen; wenigstens in einer Sache ähnelten sie sich … und auch für die Wächter war es ein unerreichbarer Traum. Welch Ironie, dass Tinamis Vorfahre bei dem Versuch, den Tod zu bekämpfen, selbst gestorben war. Während Greens Gedanken um die Ironie dieser Sache kreisten, gingen Tinamis Gedanken in eine völlig andere Richtung - zur Frage, warum ihr Vorfahre Tao überhaupt ein solches Bestreben gehabt hatte. Jeder wusste doch, dass es keinen Weg gab, Tote wieder ins Leben zurückzuholen. Viele vor ihm hatten es versucht und waren daran gescheitert. Hatte er es deshalb gewollt? Wollte er beweisen, dass es möglich war? Wollte Tao beweisen, dass er besser als seine eigenen Vorfahren war? Das ergab keinen Sinn … Tao war ohne Zweifel brillant gewesen: Es gab für ihn keinen Grund, sich beweisen zu müssen. Außerdem hatte Tinami aus dem Tagebuch ihres Vorfahren deutlich herauslesen können, dass Tao seine Arbeit geliebt hatte und ihr gewiss nicht nachgegangen war, um Ruhm zu erlangen. Schon oft hatte Tinami sich über diese Frage den Kopf zerbrochen – nicht nur, weil Tao ein berühmter Elementarvorfahr für sie als Kikou war, sondern auch, weil sie es liebte, über ungeklärte Fragen zu spekulieren und sie im besten Falle auch zu lösen; wenigstens für sich selbst. Aber bei dem Tode ihres Vorfahren biss sie auf Granit. Green hatte nicht geantwortet, sondern schweigend Tinami dabei zugesehen, wie sie sich den Kopf zerbrach. Erst nach einigen Minuten regte die Klimawächterin sich wieder: „Seine Verlobte –übrigens eine deiner Vorfahren - beging auf Taos Tod hin Selbstmord. Einen ziemlich brutalen Selbstmord … Auch das ist unlogisch.“ „Warum ist das unlogisch? Ich meine, sie hat aus unerklärlichen Gründen ihren Verlobten verloren.“ „Ja, du kannst es vielleicht nachvollziehen und ich auch, aber für eine Hikari ist es ziemlich merkwürdig, Selbstmord zu begehen; besonders wenn man kinderlos geblieben ist.“ „Was hat denn das mit Kindern oder nicht zu tun?“ Die Verwunderung in Greens Gesicht war unübersehbar und sofort wurde Tinami klar, dass sie noch nicht so viel Zeit mit Grey verbracht hatte, ansonsten wüsste sie, wovon sie sprach: „Hat Grey dir etwa noch nicht erzählt, dass die Hikari dem Wächtertum gegenüber die Pflicht haben, einen Lichterben zur Welt zu bringen?“ Als die Klimawächterin dies sagte und die ziemlich nüchterne Reaktion Greens bemerkte, wurde ihr darüber hinaus ebenfalls bewusst, dass Green sich selbst noch nicht als Hikari ansah, denn es schien nicht so, als würde sie sich angesprochen fühlen; was sie eigentlich tun sollte. Stattdessen warf Green ein, dass sie glaubte, dass es der Verlobten Taos wohl in diesem Moment egal gewesen sei, ob sie ihre Pflicht erfüllt hatte oder nicht. Diese Worte brachten Tinami dazu, zu lächeln: Green würde wahrlich eine sehr merkwürdige Hikari werden. Aber Tinami war keine Person, die das „Merkwürdige“ als etwas Schlechtes ansah. „Ich glaube, da bist du die einzige Hikari, die so denkt. Aber warte, es kommt noch besser: Akari-Hikari-sama, so der Name der Verlobten, existiert noch im Jenseits!“ „Huh!? Aber warum macht man denn so ein Mysterium daraus, wenn man sie nur zu fragen braucht?“ Die Antwort ließ lange auf sich warten; genauer gesagt so lange, bis Tinami die zwei Pockies, welche sie sich gerade aus einer Packung rechts neben sich genehmigt hatte, gegessen hatte.  „Seitdem sie tot ist, spricht sie kein Wort mehr darüber – es ist, als hätte sie alles vergessen, was mit Tao zu tun hat. Auch das Eindringen in ihre Gedanken hat keine Ergebnisse erzielt – es ist, als seien alle Erinnerungen vollkommen verschwunden oder nie geschehen! Ich muss zugeben, dass ich es nicht verstehe. Und das ist so frustrierend!“ Tinami grummelte etwas vor sich hin und begann damit, auf ihrem Stuhl vor und zurück zu kippeln. Interessant klang diese Geschichte, das musste Green zugeben; offensichtlich gab es viele unergründete Leichen im Keller ihrer Familie. Aber wenn selbst die und auch Tinami keine Antwort gefunden hatten – und das nach 310 Jahren! - dann würde Green sie bestimmt auch nicht finden.  „Ee-chan, was willst du denn mit so was?“ Während die Klimawächterin mit dem Stuhl gekippelt hatte, hatte sie bemerkt, dass Green ein Buch in ihrer Tasche liegen hatte – die Tasche hatte offen neben Green auf dem Tisch gelegen. Die Hikari sah genauso fragend auf das Buch wie die Klimawächterin, welche es zwar erkannt hatte, sich aber wunderte, dass ihre ungewöhnliche Hikari ein solches Werk lesen wollte. Green kannte es nicht; als sie aber das in rotes Leder eingebundene Buch aus der Tasche holte, wurde ihr schnell bewusst, warum ihre Klimawächterin sie so verwundert gefragt hatte. Mit goldenen Lettern stand dort in einer wunderschönen Schnörkelschrift geschrieben „Die universelle Dämonen Enzyklopädie I“ – einen Titel, den Green ungläubig wiederholte, und das Buch plötzlich weit von sich entfernt hielt, als würde es sie beißen wollen. „Ich habe keine Ahnung, was ein solches Buch in meiner Tasche zu suchen hat! Grey muss es reingelegt haben! Und er wird es postwendend und ungelesen zurückbekommen!“ Doch obwohl Green es ihr regelrecht vor die Nase hielt, unternahm Tinami keine Anstalten, es ihr abzunehmen: „Ich würde es lesen, wenn ich du wäre, Ee-chan – es ist eine überaus lehrreiche Lektüre!“ „Niemals! Das sind sicherlich nur ein Haufen Vorurteile!“ „Eigentlich ist es eher ein wissenschaftliches Buch über die Anatomie der Dämonen.“ „Das ist ja noch besser.“ Nach wie vor sah Green nicht, wo für sie der Sinn darin lag, so ein Buch zu lesen – wenn sie Fragen über die Anatomie der Dämonen hatte, dann konnte sie ihre beiden Freunde doch einfach direkt fragen. Das war gewiss eine verlässlichere Quelle als die, die sie in den Händen hielt. Trotzdem beförderte sie das Buch zurück in ihre Tasche, entschlossen es nicht zu lesen, sondern es bei ihrem nächsten Besuch Grey zurückzugeben. „Du kannst deine neue Waffe morgen um 12.33 abholen! Dein Glöckchen kannst du aber wieder mitnehmen; wir verschmelzen die beiden dann morgen.“ Die Hikari sah sie wegen der Wortwahl recht schockiert an und Tinamis „Keine Sorge“ konnte daran nichts ändern; erst als sie ihr Glöckchen zurückerhielt, beruhigte sie sich vorerst wieder. „Bis dahin solltest du aber nicht alleine unterwegs sein.“ Green grinste, als Tinami dies sagte: „Das wird kein Problem sein, ich bin sowieso nie allein. Darf ich dein Telefon benutzen? Dann lass ich mich auch sofort abholen, anstatt alleine zurückzugehen.“ Zwar besaß Green ein Handy, aber wenn man die Möglichkeit hatte, das Telefon eines anderen zu benutzen und damit Geld zu sparen – ihr Geld zu sparen – dann nutzte sie diese Gelegenheit doch auch. Tinami dachte sich nichts dabei und reichte Green den Hörer des Telefons, während sie sich wieder ihrem Bildschirm zuwandte. „Hi, Sibi! … Jaaaaaha mir geht’s gut … Ich hab dir doch gesagt, wo ich bin! … Ups, oki, dann hab ich es halt nur Gary erzählt… schon gut! Ich tue es nie wieder! Warum fragst du nicht einfach … nein?! Damit hat das nichts zu tun … Ich vertrau dir, jaaaa…. Ok, ok… Weißt du, Sibi, deshalb darfst du mich jetzt auch abholen … ja, ich bin zu gütig… nein, wir gehen nicht aus… nein, habe ich gesagt… Ich lasse mich nicht von dir bestechen …Wir können zusammen Weihnachtsgeschenke kaufen, wenn du willst…. Ja, ich brauch was für Grey…  nein… Er ist mein Bruder? … Du wirst deinem doch auch was schenken… ja, Buch oder so… Was ich ihm schenke? Wie kommst du darauf, dass ich es überhaupt tue? ... Ja, du bekommst was…. Nein, dein Geschenk ist kein Date… Es lässt sich einpacken, ok? … nein, du frühreifer Idiot!… Hol mich jetzt bitte ab, wir können später darüber diskutieren… und ich schenke dir nichts in dieser Richtung….auch nicht mein Herz…. Sibi, hör auf! Tust du das extra?!... ja, bis gleich…ja, ich hab dich auch lieb… ich weiß selbst, dass es nicht das gleiche ist wie „Ich liebe dich“… Dann sag es mir doch nicht andauernd … Bis gleich, Sibi!“ Mit diesen Worten legte sie auf und himmelte mit den Augen, obwohl Tinami deutlich ein Grinsen auf dem Gesicht der Hikari sah. Ein Dämon brachte eine Hikari zu einem erfreuten Grinsen – sie war wirklich sehr außergewöhnlich.     Etwas Ähnliches dachte auch Grey, als er an diesem Abend mal wieder alleine zu Abend aß – nicht wie zum Frühstück in einem herrlich dekorierten Speisesaal, sondern in seinem eigenen Zimmer, wo er gedankenverloren und appetitlos das Essen, das Ryô ihm gemacht hatte, aß. Er hatte keinen Hunger, doch bemerkte er, dass sein Tempelwächter ihn besorgt ansah und er wollte dieser Sorge nicht noch mehr Futter geben, sondern sie beruhigen. Anscheinend war dieser Versuch nicht gerade von Erfolg gekrönt, denn er hatte sofort bemerkt, dass etwas mit seinem Herren nicht in Ordnung war und er ahnte auch, was es war, immerhin war er in der Nähe gewesen, als Green sich von Grey verabschiedet hatte, und hatte somit ihre Worte gehört – entweder war Grey aufgrund der Worte an sich bedrückt oder es war das schlechte Gewissen; oder einfach die Sorge um seine Schwester. „Danke für das Mahl.“ Grey schob den leeren Teller von sich weg und lehnte sich in seinem Sessel zurück, den Blick nicht von Ryô abwendend, dessen Sorge nicht verschwunden war. „Mir geht es gut, mein Freund“, sagte er mit einem Seufzen. „Wem wollt Ihr etwas vormachen?“ Der Angesprochene antwortete darauf nicht, wandte aber seinen Blick von seinem Tempelwächter ab, um hinaus in den sich langsam verdunkelnden Abendhimmel zu sehen. Beide schwiegen und rührten sich auch eine ganze Weile nicht, obwohl Ryô eigentlich den Tisch abdecken müsste. Doch er wusste, dass es Grey wohl von seinen Gedanken ablenken würde, würde Ryô nun herumklappern – außerdem kannte er seinen Herren gut genug, um zu wissen, dass er sich ihm anvertrauen würde, ohne dass Ryô ihn dazu drängen musste. Nach einer Viertelstunde stellte sich auch heraus, dass Ryô recht hatte – Grey seufzte noch einmal, lehnte sich in seinem Sessel vor, wo er seinen Kopf mit der Hand abstützte. Eine Pose der Verzweiflung, die Ryô wahrlich nicht sehen mochte. „Wie soll ich ihr ein guter großer Bruder sein, wenn ich dazu gezwungen bin, sie anzulügen?“ Grey schüttelte den Kopf und vergrub seine Hand in seinem Pony, ehe er fortfuhr: „Ich kann es Green nicht einmal verübeln, dass sie es vorzieht, in der Menschenwelt bei den beiden Halblingen zu bleiben – auch wenn es mich zutiefst besorgt.“ Wieder seufzte der Windwächter, sah aber auf, als er bemerkte, dass Ryô nun vor ihm stand. Er versuchte zu lächeln, doch Grey sah ihm an, dass es ihm schwerfiel: „Gebt die Hoffnung nicht auf, Grey-sama – vielleicht besteht Hikari-sama das baldige Familientreffen und dann könnt Ihr die Lügen für immer vergessen.“ Auch Grey musste sich zu einem optimistischen Lächeln zwingen, denn er war weit davon entfernt, optimistisch zu sein und er wusste, dass Ryô auch nicht davon überzeugt war. Shaginai, deren Großvater, der für Grey immer ein solcher gewesen war, war für Green wie eine Mauer – eine Mauer, welche so gut wie unmöglich niederzureißen war.     Auch dieser Abend wurde mit einem gemeinsamen Essen von Siberu, Green und Gary gekrönt und auch Pink leistete ihnen Gesellschaft, sich gierig über die Nachspeise in Form eines von Green selbstgemachten Schokoladenpuddings stürzend. Green hatte die Gelegenheit genutzt und den beiden Brüdern von dem Treffen mit Tinami zu erzählen; auch die tragische Geschichte von Tinamis Vorfahren berichtete sie und fügte hinzu, dass ihre eigene Vergangenheit – die Trennung von ihrer Familie – für die Wächter scheinbar gar keine besonders außergewöhnliche Geschichte sei. „Komisch fand ich es dennoch", flüsterte Green beinahe, ihren Löffel beiseitelegend, obwohl sie nur die Hälfte ihres Puddings gegessen hatte. „Es kam mir so vor, als würde Grey nicht darüber reden wollen.“ „Also ich finde den Typen auch nach wie vor komisch – nichts gegen dich, Green-chan“, entschuldigte sich Siberu sofort, doch Green hatte sich nicht beleidigt gefühlt; sie stand der ganzen Sache immerhin auch skeptisch gegenüber und sie konnte nicht gerade von sich selbst behaupten, dass sie Grey vertraute. Er war lieb und sympathisch, aber irgendetwas stimmte einfach nicht. Gary äußerte sich nicht; jedenfalls nicht sofort, sondern erst nachdem Green ihnen noch mehr von Grey und seinem Verhalten erzählt hatte. „Ich glaube, du bist zu argwöhnisch, Green. Du vergisst, dass die Hikari der politische Knotenpunkt der Wächter sind. Daher müssen sie nun einmal Dinge entscheiden, die nicht mit ihrer persönlichen Gesinnung übereinstimmen.“ Mit dieser Aussage erntete sich Gary nur drei verwirrte Blicke und nicht das von ihm erhoffte Verständnis, weshalb er seufzend die nun leere Schale von sich wegschob und wählte, es anders zu formulieren: „Anders ausgedrückt: Wenn die Hikari – und dazu zähle ich jetzt einfach mal deinen Bruder – etwas entscheiden, was negative Konsequenzen für dich hat, bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass ihnen nichts an dir liegt. Sie müssen an das Wohlergehen ihres Volkes denken und stets die zukünftige Kriegsführung im Blick haben.“ „Krieg, Krieg, Krieg – ich höre immer nur Krieg!“, entfuhr es Green aufgebracht und energisch schob sie sich einen Löffel Pudding in den Mund, schluckte und verschluckte sich, ehe sie fortfuhr: „Wir sind doch nicht im Krieg, oder habe ich da was nicht mitbekommen?“ „Nein, wir sind nicht im Krieg. Aber der letzte liegt nicht lange zurück und der nächste kommt bestimmt. Vielleicht nicht in unserer Lebenszeit, aber Dämonen und Wächter sind nicht für eine Koexistenz geschaffen.“ Green öffnete sofort protestierend den Mund, doch es war Pink, deren Stimme zuerst zu hören war: „Die sollten einfach alle Green-chans Pudding probieren! Dann wäre alles gut und niemand würde mehr leiden müssen. Hellokittychan, willst du nicht auch einen Löffel?“ Zuerst wurde Pink verwundert angesehen, doch dann begannen Siberu und Green zu lachen und auch Gary huschte ein erschöpftes Schmunzeln übers Gesicht, auch wenn er wusste, dass Pudding leider keine Lösung gegen erkalteten Hass war. „Und wenn es dich beruhigt, Green ...“, unterbrach Gary das Gespräch über Greens Pudding: „… das, was Grey-san dir erzählt hat, ist das Gleiche, was auch ich gehört habe. Es wird also was Wahres dran sein.“ Green sah auf und traf Garys Blick zuerst mit großen, fragenden Augen, doch dann lächelte sie dankbar – und ja, erleichtert. Doch es gelang ihr nicht, etwas zu erwidern, denn Siberu unterbrach sie dabei: „Also ich hab davon noch nie was gehört.“ „Natürlich hast du das nicht.“ „Ey, ist das dieser nervige großer-Bruder-Tonfall à la „natürlich hast du das nicht, Silver, denn du hörst auch nie zu“?“ „Vielleicht?“ Green konnte ein Grinsen einfach nicht unterdrücken, als sie den beiden Brüdern dabei zuhörte, wie sie sich stritten und Pink nebenbei nach einer weiteren Schüssel Pudding verlangte. Vielleicht sollte sie Pudding mit ins Jenseits nehmen und dann würde schon alles irgendwie gut werden?         Fertiggestellt: 31.08.11   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)