Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 14: Die wahre Familie ----------------------------- Hikari Shinsetsu Shinpai Lili war überaus überrascht gewesen, als man sie für die Ratsversammlung vorgeladen hatte; immerhin war das Thema dieser Ratsversammlung überaus heikel und gerade deswegen war beschlossen worden, nur eine bestimmte Anzahl Hikari daran teilnehmen zu lassen. Zwar hatte Lili bereits an mehreren anderen Ratsversammlungen teilgenommen, doch konnte von sich selbst nicht gerade behaupten, dass sie durch viele glorreiche Beiträge geglänzt hatte. Für gewöhnlich … hielt die eher schüchterne Hikari sich lieber im Hintergrund auf und sprach nur, wenn man sie direkt nach ihrer Meinung fragte. Es war jedoch eine große Ehre, an dieser besonderen Ratsversammlung teilzunehmen und Lili hatte sich ausgiebig über das Thema informiert, was eigentlich nicht Not getan hätte. Denn in den Gängen des Jenseits hatte es seit ein paar Monaten kaum ein anderes Thema gegeben neben dem der „unreinen Hikari“, über die so gut wie jeder Hikari Bescheid wusste. Doch trotz des recht heiklen Themas war Lili freudig erregt und fieberte dem Beginn der Ratsversammlung bereits entgegen; auch wenn sie ein wenig nervös war. Der Grund für ihre freudige Erwartung war der, dass sie es kaum abwarten konnte, White wieder in Aktion zu sehen. Lili hatte nicht erfahren wer alles an der Ratsversammlung teilnehmen würde, doch White, als die Mutter der unreinen Hikari, würde garantiert eines der anwesenden Ratsmitglieder sein. Für viele Wächter war White ein leuchtendes Vorbild und auch unter ihren eigenen Familienmitgliedern war sie äußerst beliebt und geachtet trotz der relativ kurzen Zeit, die sie bereits tot war; umso größer war die Überraschung, ja, der Schock darüber, dass eine solch reine und gütige Hikari einen solchen Schandfleck zur Welt gebracht hatte.    Als sie ankam, wurde sie jedoch enttäuscht - denn White war nicht zu sehen. Lili erkannte stattdessen einige andere bekannte Gesichter aus ihrer Familie wieder, unter anderem Whites Vater Hikari Kishitsu Kouhei Shinjitsu Shaginai und somit der Großvater der unreinen Hikari – zugleich aber auch die größte Bedrohung des Mädchens. Denn Shaginai war für seine überaus radikalen Methoden bekannt, wenn es darum ging, die Ehre und die Reinheit der Familie zu bewahren – und wenn er dafür über Leichen gehen musste. Aus seinen weißen Augen, die wirken wie weißer Stahl, leuchtete eine unbändige Willensstärke, die von nichts und niemanden gebeugt werden konnte. Das Wort Schwäche war ihm fremd, doch ebenso das Wort Erbarmen. Er genoss großen Respekt in seiner Familie, denn dank seiner charakterlichen Stärke so wie seines Könnens hatte er bereits viele Siege errungen: nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch mit Worten im Kriegsgericht Lili musste sich selbst allerdings eingestehen, dass der Respekt, den sie vor ihm hatte, auch auf Furcht aufbaute und so steuerte sie gewiss nicht auf den schlecht gelaunt aussehenden Shaginai zu, sondern auf ihr direktes Familienmitglied: ihren Sohn Hikari Meiyou Hikaru Seigi. Sein verwegenes Aussehen unterstrich seinen Posten als bester Schwertkämpfer der Hikari: obwohl auch er in Weiß gekleidet war und seine langen, zu einem Zopf gebunden Haare dieselbe Farbe besaßen, umgab ihn eine lockere Aura im Gegensatz zu den anderen Hikari. Seine ungewöhnlichen, minzgrünen Augen und sein selbstbewusstes Grinsen strahlten einen gewissen mörderischen Tatendrang aus, den sein geflügeltes Schwert, welches er beständig an seiner Hüfte trug, nur noch weiter untermauerte. Obwohl er ihr Sohn war, war er um die zwei Köpfe größer als sie, was kein Wunder war, immerhin waren Lili sechs Jahre weniger Lebenszeit vergönnt gewesen und somit war Seigi älter geworden als seine Mutter. Doch Lili trauerte diesen sechs Jahren nicht nach, denn sie hatte seinerzeit ihr Leben für das dreier Kinder geopfert und das war es ihr wert gewesen: das Leid anderer war ihr unerträglich und manchmal hatte sie sich sogar dabei erwischt, wie sie im Kampf gegen die Dämonen gezögert hatte. Lili unterbrach ihren Sohn gerade dabei, wie dieser mit Hikari Kirei Uchiki Mary flirtete – eine Tat, die sie ihm nicht verübeln konnte, denn mit ihren langen, weißen, hochgesteckten Haaren und den von wunderschönen langen Wimpern umrundeten Augen gehörte Mary zweifelsohne zu den hübschesten weiblichen Hikari – wenn sie nicht sogar die Hübscheste war, immerhin lautete ihr Beiname das „Licht der Schönheit“. Kaum dass Lili sich zu den beiden Hikari aufmachen wollte, bemerkte sie bereits, dass es ein sinnloses Unterfangen darstellen würde, denn die rund 15 Hikari betraten nun den Raum, in dem die Ratsversammlung üblicherweise stattfand. Es war ein großer, kreisrunder Raum, der zirka 20 Meter hoch war; weiße Säulen ragten bis zu der weit entfernten, verzierten Decke empor und umfassten die Tribünen, auf denen die Hikari ihre Plätze einnahmen und wo bereits Federkiele, Papier und das heilige Regelbuch für sie bereitgelegt worden waren. Nach und nach füllten sich die Plätze mit weißen Antlitzen, während Lili sich neben ihren Sohn in die zweite Reihe der Tribünen setzte. „Seigi, weißt du, ob White-senpai ebenfalls kommen wird?“ Der Angesprochene wandte seinen Blick von Mary ab, welche ihm von der Tribüne gegenüber einen finsteren Blick zugeworfen hatte, und sah sich im Raum um, ehe er antwortete: „Scheinbar ist sie noch nicht da - und da sie noch nie zu spät gekommen ist … denke ich nicht, dass sie kommen wird. Schade eigentlich! Es ist immer sehr unterhaltsam, wenn sie da ist und Blacky kann ich auch nirgends sehen …“ Lili verwunderte es sehr, dass White anscheinend nicht an der Ratsversammlung teilnehmen würde: Es ging doch um ihre eigene Tochter, warum war sie da nicht anwesend? Vielleicht gerade deshalb? Immerhin könnte sie durch ihre mütterlichen Gefühle beeinflusst sein … Gerade als Lili ihren Sohn darauf hinweisen wollte, dass er Whites Sohn nicht „Blacky“ nennen sollte, übertönte die gewaltige Stimme Shaginais bereits ihre ersten Worte: „Diese Versammlung ist einberufen worden, um über das weitere Verfahren mit Kurai Yogosu Hikari Green zu beraten, mit besonderer Berücksichtigung ihrer …“, Shaginai unterbrach sich selbst, indem er sich hörbar räusperte: „… Abnormitäten. Als ihre Familie liegt unser Hauptaugenmerk darauf, einen Weg zu finden, wie wir sie reinigen können, damit sie auf den rechten Weg des Lichtes gelangt!“ Kaum hatte Shaginai seine Worte beendet, schnellte Seigi auch schon in seinem Sitz empor – eine Tat, die Lili verwunderte, denn normalerweise war Seigi nicht sonderlich an den Ratsversammlungen interessiert und manchmal fragte sie sich auch, warum seine Teilnahme überhaupt erwünscht war, denn er war nicht sonderlich politisch engagiert. Doch er war trotzdem selbstbewusst und hatte keine Scheu davor, seine Meinung zu sagen, auch wenn sie oft kontrovers erschien. Auch dieses Mal schüttelte Lili in Gedanken den Kopf über die Frage ihres Sohnes, denn es war eine überflüssige Frage, würde er die Regeln so auswendig kennen, wie ein Hikari es eigentlich sollte:  „Die Ursache ihrer Unreinheit ist doch ihr Freundeskreis oder liege ich da falsch?“ „Vollkommen richtig“, antwortete Shaginai, während er mit seinen Fingern ungeduldig auf seinen Notizen tippelte und scheinbar nicht besonders erfreut darüber war, diese Antwort geben zu müssen. „Und diese „Freunde“ sind nach meinen Informationen Halbdämonen?“ Eine Weile trat Schweigen ein, denn die Hikari gaben die Tatsache, dass eine ihrer Eigenen Halbdämonen „Freunde“ nannte, ungerne zu. Die Vorstellung, dass eine Hikari wie sie Wert darauf legte, mit Wesen, durch deren Adern dämonisches Blut lief, zusammen zu sein und sich ganz offensichtlich weigerte, diese zu eliminieren, wie es die heiligen Regeln vorschrieben, war absolut gegen ihre Weltanschauung. „… ebenfalls richtig“, antwortete der Großvater der fragwürdigen Hikari mit einem verbitterten Unterton. Es war jedem bekannt, dass Shaginai einer derjenigen war, der den größten Groll seiner Enkelin entgegenbrachte: Nach Whites einzigartigem Erfolg hatte er eine fähige Enkelin erwartet - eine, die ihn genauso stolz machen würde; nicht so eine grenzenlose Enttäuschung, wie sie es nun einmal geworden war. In seinen Augen war sie es nicht würdig, das heilige Element des Lichtes zu tragen und seiner Meinung nach gab es auch keine Lösung für dieses absonderliche Problem: mit oder ohne ihre dämonischen Freunde. Green war auch ohne diese unrein und somit in den Augen der Mehrheit keine Hikari. Seigis Gesicht hellte merkwürdigerweise auf, als er diese Antwort erhielt und Lili sah mit entsetztem Gesicht, dass die Hand ihres Sohnes auf dem Griff seines Schwertes lag: ein deutliches Anzeichen dafür, dass Seigi das Verlangen hatte zu kämpfen, womit auch deutlich wurde, wie er das Problem zu beseitigen glaubte. „Ich entschuldige meine Frage im Voraus, aber gelten für Halbdämonen die gleichen Regeln wie für Volldämonen?“ Ein anderer Hikari antwortete: „Selbstverständlich. Jedes Wesen, durch dessen Adern dämonisches Blut läuft, wird als „Dämon“ klassifiziert und somit ist es für die Regeln vollkommen irrelevant, ob Halbdämon oder reinrassiger Dämon.“ Seigis Gesicht hellte weiter auf, im Takt mit dem steigenden Entsetzen in Lilis Gesicht: „Dann verstehe ich nicht, wo das Problem besteht! Ich bin dafür, dass wir die beiden einfach in die ewigen Jagdgründe schicken! … Ich melde mich freiwillig für diese Aufgabe.“. Seine Mutter vergrub ihr Gesicht in den Händen, als sie mal wieder grausam vor Augen geführt bekam, wie gewalttätig ihr Sohn war. Wie froh war sie, dass es nicht ihr Kind war, welches als Schande der Familie galt! Aber zum Glück hielt er die Regeln meistens ein und wies ansonsten keine unreinen Züge auf. Allerdings wurde er für sein etwas zu intensives Interesse am Kämpfen schon öfter als „dämonisch“ bezeichnet – eine Beschreibung, die Lili ihnen nicht verübeln konnte, wenn sie zwischen ihren Fingern hervorlugte und das beinahe bösartige Grinsen ihres Sohnes erblickte, für welches sie vor Scham im Boden versinken wollte. Was hatte sie bei seiner Erziehung nur falsch gemacht! Doch Seigis Veranlagung war im Rat ein altbekanntes Thema und niemand reagierte so extrem darauf, wie Lili es tat. Einige verdrehten die Augen, andere seufzten – Shaginai war einer von ihnen, der die Augen verdrehte, denn etwas anderes hatte er auch nicht von Seigi erwartet. Diese „Lösung“ hielt er allerdings nicht für besonders geeignet: Die Halbdämonen waren zwar ein Problem – aber sie waren ein Problem, das weitaus leichter gelöst werden konnte, als die Unreinheit des Mädchens; die zwei Dämonen besaßen erst zweite Priorität. In dem Moment, als Shaginai den Mund öffnete, um Seigi auch gerade dies zu erwidern, öffnete sich plötzlich die Tür und in dessen Türrahmen erschien seine, von Lili längst erwartete, Tochter: White. Verwundert wandten sich die weiße Augenpaare Richtung Tür; der Einzige, der von Whites plötzlichem Auftauchen eher sofort negativ beeindruckt war, war Shaginai, der sich ein Seufzen nicht verkneifen konnte, als er schnell bemerkte, dass ihm die Aufmerksamkeit aus den Händen glitt: gerade dies wollte er vermeiden. Ein gelassenes Lächeln zierte wie immer das Gesicht der legendären Lichtwächterin und untermalte ihr ausnahmslos weißes Erscheinungsbild. In ihren weißen Augen lag Wärme und Güte, aber auch eine gewisse ruhige Entschlossenheit, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. „White! Ich habe angenommen, dass du deinen Sohn ins Diesseits bringen wolltest und dass dies dich verhindern würde“, begrüßte Shaginai White mit einem steifen Lächeln, welches überaus aufgesetzt aussah – das Auftauchen seiner Tochter schien ihm alles andere als zu gefallen. „In der Tat habe ich meinen Sohn in die Welt der Lebenden gebracht, aber wie du siehst, habe ich noch die Zeit gefunden, dieser Ratsversammlung beizuwohnen.“ „Ja, das kann ich konstatieren.“ Abermals schlich sich ein verbitterter Unterton in die Worte Shaginais, welche allerdings das Lächeln Whites nicht ins Wanken brachten. „Vater, mir ist bewusst, dass dies nicht der einzige Grund dafür ist, weshalb du angenommen hast, dass es besser für mich wäre, nicht an dieser Ratsversammlung teilzunehmen. Hast du womöglich wegen des Themas eine Einschränkung meines Urteilsvermögens befürchtet?“ Fragende Blicke wurden von den anderen Hikari ausgetauscht, doch niemand unterbrach das Gespräch zwischen Vater und Tochter. Obwohl White offensichtlich ins Schwarze getroffen hatte, ließ sich Shaginai davon nicht beeinflussen und entgegnete:  „Ich halte dich durchaus für zurechnungsfähig; doch weiß ich, dass du eine Mutter mit Leib und Seele bist und daher liegt der Gedanke wohl nahe, dass du dich von diesen mütterlichen Gefühlen beeinflussen lassen könntest.“ Beide tauschten einen vielsagenden Blick aus: einen Blick, dessen Bedeutung nur für sie beide klar verständlich war. Anstatt die lautlos übermittelte Botschaft allerdings in Worte auszuformulieren, rundete Shaginai seinen Vortrag nur mit den folgenden Worten ab:  „Einen solchen Konflikt wollte ich dir ersparen.“ Eine gewisse Anspannung tauchte plötzlich in den weißen Augen der beiden auf, doch diese Anspannung sprang nicht auf die Worte Whites über, als sie antwortete: „Für deine Fürsorge bin ich dir dankbar; dennoch wünsche ich, an dieser Ratsversammlung teilzunehmen. Nicht, weil die betroffene Person meine Tochter ist, sondern weil es meine Pflicht als Hikari ist, an so einem wichtigen politischen Treffen teilzunehmen. Ich gelobe, dass ich mich nicht von meinen mütterlichen Gefühlen verleiten lassen werde.“ Und mit diesen Worten deutete White eine Verneigung an und setzte sich daraufhin auf den freien Platz neben Lili, welche sie erwartungsvoll anstrahlte: Whites ruhige Aura war einfach unglaublich! Sie hätte sich nie getraut, so mit Shaginai zu sprechen … nein, garantiert nicht … Hörbar räusperte sich Shaginai und riss das Ruder der Versammlung wieder an sich und vor allen Dingen wieder zurück zum eigentlichen Thema dieser Ratsversammlung: „Um dich nicht ausschließen zu wollen, White, hatte Seigi soeben vorgeschlagen, die beiden Halbdämonen zu eliminieren.“ Kein Funken an Verwunderung war in Whites Gesicht zu sehen, als sie diese Worte hörte: Stattdessen wandte sie sich an die völlig überrumpelte Lili und bat sie um die Notizen, die sie seit dem Beginn der Versammlung bis zum jetzigen Zeitpunkt gemacht hatte, und ließ einen kurzen Blick darüber schweifen, ehe sie wieder aufsah. „Ich halte diesen Vorschlag zwar für durchaus annehmbar, aber eine Lösung für unser Problem stellt er nicht da. K.Y.H. Green war schon vor ihrem Zusammentreffen mit den Halbdämonen Silver und Blue anders als gewöhnliche Hikari. Wir müssen allerdings im Auge behalten, dass sie ohne jegliche positive Beeinflussung unsereins aufgewachsen ist und ihr erst seit Kurzem bewusst ist, dass sie zu uns gehört.“ Das aufgesetzte Lächeln Shaginais verschwand nun völlig, doch er war es nicht, der ihr antwortete, sondern Mary: „Was gedenken Sie zu tun, White-sama?“ „Mein Vorschlag lautet, dass K.Y.H. Green zuallererst eine Unterweisung in unsere Kultur benötigt, da sie bis zum jetzigen Zeitpunkt als Mensch aufgewachsen ist.“ Während White diese Worte gesagt hatte, hatte sie zwar alle weißen Gesichter im Saal versucht gleichzeitig anzusehen, dennoch war ihr nicht entfallen, dass es hinter Shaginais Stahlaugen brodelte. Sie wusste genau, was er dachte, was er eigentlich sagen wollte; doch genauso wusste sie auch, dass er dies nicht vor ihrer Verwandtschaft tun würde. „Ich denke, dass mein Sohn dafür überaus geeignet ist. Darüber hinaus schlage ich vor, dass wir uns ein eigenes Bild von ihr machen und sie zu diesem Zweck zu unserem nächsten Familientreffen einladen sollten.“ „Niemals!“, unterbrach sie Shaginai nun mit donnernder Wut: „Ich dulde keine unreine Kreatur auf unserem geweihten Boden!“ White versuchte nach wie vor, die Ruhe zu bewahren; ein Unterfangen, welches ihr nach außen hin auch gelang und für welches sie Lili bewunderte. Im Gegensatz zu seiner Mutter betrachtete Seigi das Geschehen mit einem gelassenen Lächeln und aus den Augenwinkeln sah Lili, dass ihr Sohn doch tatsächlich anfing, auf seinem goldenen Stuhl zu kippeln. „Diese Missgestalt ist es nicht würdig, diesen geheiligten Boden zu betreten“, fuhr Shaginai mit einer autoritären Stimme fort: „Ohnehin wird ein solcher Besuch wohl kaum etwas an der Tatsache ändern, dass sie unrein ist. Sie ist und bleibt das, was ihr Name ausdrückt: unrein!“  „Wie lautet dann dein Vorschlag, Vater?“ „Mein Vorschlag lautet, die Sonderregeln in Kraft zu setzen!“ Sämtliche Ratsmitglieder starrten ihren Mithikari schockiert an; sogar Whites Lächeln war in sich zusammengestürzt wie ein unsicheres Mauerwerk. Der einzige, der sich nicht bewusst war, welche Bedeutung in den Worten Shaginais lag, war Seigi. Dieser hatte zwar bemerkt, dass es etwas wahrlich Schreckliches sein musste, doch verstand er nicht, was dies sein sollte. Um Aufklärung zu erhalten, wandte er sich flüsternd an seine Mutter, welche vor Schreck ihre Feder verloren hatte. „Was sind denn das für Regeln? Von denen hab ich noch nie gehört.“ Die Angesprochene schluckte einen scheinbar ziemlich großen Kloß herunter und antwortete gedämpft: „Im Prinzip kann man sagen, dass es sich bei den Sonderregeln nur um eine Regel handelt: eine einzige Regel, die für die betroffene Person bedeutet, dass sie nicht länger unter dem Schutze unserer 2059 heiligen Regeln steht.“ „Und das bedeutet …?“, Lili wandte sich zu ihrem Sohn herum und antwortete ernst: „Das bedeutet, dass man sich nicht dafür strafbar macht, der betroffenen Person etwas anzutun, was gegen unsere heiligen Regeln verstößt.“ Überrascht runzelte Seigi die Stirn: „Bedeutet das, dass man diese Person auch töten darf? Einen Mitwächter?“ „Genau dies bedeutet es. Deshalb werden diese Regeln auch nur zum Schutze unserer Gesellschaft angewandt.“ Nun verstand Seigi, warum seine Familienmitglieder so schockiert über Shaginais Vorschlag waren: ein Umstand, der ihm zu gefallen schien, besonders die Tatsache, dass Whites Ruhe dahin war.  „Niemals … erst im äußersten Notfall sollten wir diese Maßnahme ergreifen.“ Überlegen lächelte Shaginai; offensichtlich war er davon überzeugt, dass nichts Green davor bewahren könne, ein Sonderregelfall zu werden. „Gut“, sagte er, während er seine Hände ineinander faltete: „Ich bin einverstanden: Gewähren wir dem Mädchen ein wenig Zeit, sich zu bewähren und führen dann ein nettes, kleines Familiengespräch. Irgendwelche Einwände?“ Niemand wagte es, noch irgendwelche Einwände zu erheben.     Von den Plänen der Hikari nichts ahnend, beschäftigte Green momentan die Frage, warum es ihr partout nicht vergönnt war, sieben Stunden durchzuschlafen. Kaum, dass sie sich ins Bett gelegt hatte und gerade eingeschlafen war, hatte ihr Glöckchen sie auch schon aus dem Schlaf gerissen mit der unzweifelhaften Nachricht, dass mal wieder ein Dämon darauf wartete, bekämpft zu werden. Siberu und Gary waren beide noch wach gewesen und waren sofort zur Stelle, um Green zu unterstützen: ersterer wahrscheinlich auch zum Spaß, denn freudestrahlend verkündete er, wie sehr er sich nach ein bisschen Action gesehnt hatte, wobei Green der Meinung war, dass es in ihrem Leben eindeutig genug davon gab. Als Green allerdings verkündete, dass der Dämon sich augenscheinlich auf dem Dach des gigantischen Wolkenkratzers, dem Metropolitan, befand, verschwand sein euphorisches Grinsen schnell. Dabei war es nicht die enorme Höhe des Wolkenkratzers, welche die Laune des Rotschopfes in den Keller rasseln ließ, sondern die Tatsache, dass auch er einsehen musste, dass das Dach eines solchen Hochhauses nicht gerade für seinen Kampfstil geeignet war. Wie gemein das war! Er hatte sich doch so darauf gefreut, sich mal richtig austoben zu können und nun das.  „Ich warne dich, Silver“, begann Gary mit erhobenem Zeigefinger, als sie auf dem Treppenabsatz ankamen und alle drei zur rot blinkenden Spitze des Gebäudes blickten, untermalt von dem Klingen des Glöckchens; anscheinend vertraute Gary dem gesunden Verstand seines Bruders nicht sonderlich: „Dieses Mal wirst du davon ablassen, Explosionsmagie anzuwenden – haben wir uns verstanden? Es wäre eine nicht auszumalende Katastrophe, würdest du das Metropolitan beschädigen! Immerhin ist es doch …“ Siberu unterbrach ihn, ehe Gary in die Versuchung kam, einen langen Vortrag über die Entstehung des Wolkenkratzers zu halten: „Unterschätz mich nicht! Ich weiß schon, was ich tue.“ Der Blick, den Gary auf das unschuldige Grinsen Siberus erwiderte, war Antwort genug: Er glaubte ihm kein Wort. „Das letzte Mal wusstest du also auch, was du tatest? Als du das halbe Museum in die Luft gejagt hast?“ „Wer interessiert sich denn schon für so einen alten, verstaubten Müll! Wenn ich nicht so wunderbar schnell gehandelt hätte, wäre nicht nur die Hälfte drauf gegangen, sondern das gesamte Museum.“ „“Schnell“? Ich würde es eher „unüberlegt“ bezeichnen und außerdem-“ „Jungs! Hört auf zu streiten! Die Ausrede, es wäre eine Gasexplosion gewesen, war doch eine ausgezeichnete Idee. Eigentlich ist mir auch vollkommen egal, auf welche Art und Weise wir gewinnen, Hauptsache, wir tun es!“, mischte sich nun auch Green in die Meinungsverschiedenheit der beiden Brüder ein. Triumphierend warf Siberu Gary einen Blick zu - immerhin hatte Green ihm zugestimmt und nicht Gary. Dieser ignorierte diesen Wink und antwortete Green ebenso tadelnd wie zuvor bei Siberu: „Green, jetzt wo du dir bewusst bist, dass du eine Hikari bist, solltest du …“ „Ah! Ich will dieses Wort nicht hören!“, antwortete die Wächterin mit einem beinahe angewiderten Kopfschütteln, und ehe Gary seine Verwunderung über ihre heftige Reaktion äußern konnte, wandte sie sich sofort an Siberu: „Aber diesmal hältst du dich trotzdem ein wenig zurück, Sibilein! Immerhin ist das Metropolitan einer der größten Wolkenkratzer der Welt und ich hab keine Lust, da herunterzustürzen.“ Dieser Kommentar zauberte ein vielsagendes Grinsen auf das Gesicht des Rotschopfes: „Keine Sorge, Green-chan, ich werde stets dein Retter in der Not sein!“ Der Angesprochenen gelang es nicht zu antworten, denn schon wandte Siberu abermals seinen Kopf Richtung Himmel und mit glänzenden Augen und wehenden Haaren fragte er aufgeregt: „Also: Nehmen wir den langweiligen Weg über das Treppenhaus – 48 Etagen, Leute …“  „… Sibi, es gibt einen Fahrstuhl.“ „Welcher genauso geschlossen sein wird wie das Gebäude, immerhin ist 24 Uhr nicht gerade Touristenzeit, Green.“ „… oder wir nehmen den direkten Weg nach oben? Ich nehme Green-chan!“ Und bevor Green oder Gary überhaupt etwas antworten oder erwidern konnten, hatte der Rotschopf sie schon auf seine Arme gehoben – wobei er natürlich sofort die Chance genutzt hatte, um seine Hände ein wenig nach unten gleiten zu lassen, doch eine giftige Hand Greens wies ihn sofort zurecht.  „Aber, Green-chan ... Das war ein Versehen. Ehrlich!“, jammerte er mit dem unschuldigsten Blick, den er beherrschte, ohne das genervte Seufzen seines Bruders zu beachten; nicht nur aufgrund des frevelhaften Benehmens seines frühreifen Bruders, sondern auch, weil er das Fliegen nicht gerade für eine gute Idee hielt, auch wenn ihm klar war, dass es keine andere Möglichkeit gab. Mit einem bestimmenden Unterton raunte Gary seinen beiden Begleitern zu, dass sie ruhig sein sollten, da die beiden sich noch während des Fluges nach oben für seinen Geschmack zu laut darüber unterhielten, ob es nun ein Versehen gewesen war oder nicht. Der Sinn hinter seiner Aktion war zweifelhaft, denn der auf dem Dach wartende Dämon hatte sie wahrscheinlich sowieso bereits bemerkt. Kaum, dass sie oben angekommen waren, spähte Siberu auch schon über die Dachkante, ohne die Worte seines Bruders zu beachten, dass sie vielleicht erst einmal eine Strategie zurechtlegen sollten, während Green schummrig nach unten sah. Zwar hatte sie keine Höhenangst, aber der lange Weg nach unten jagte ihr dennoch einen Schauer über den Rücken und sie schlang ihre Arme fester um den Hals des Rotschopfes. Der heftige Wind, der hier oben herrschte, wehte Siberu die Haare ins Gesicht, welche er sich fluchend wieder hinter sein Ohr schob, mit den Worten, dass er an ein Haargummi hätte denken müssen. Doch auch ohne Haargummi war die Freude über den kommenden Kampf ungetrübt. „Ziemlich kühl hier oben, aber sehen kann ich nichts. Sind wir hier wirklich richtig?“ „Natürlich sind wir das, oder sind deine Sinne schon so getrübt, dass du das nicht spüren kannst, Brüderchen?“, erwiderte Gary so leise wie möglich und folgte seinem Bruder auf das Dach, wobei er das eher geringe Areal im Auge behielt. Der Dämon, den es zu vernichten galt, war irgendwo auf diesem Dach, welches von orange-blickenden Lichtern umrahmt wurde – oder er befand sich auf dem Dach links von ihnen, immerhin war das Metropolitan ein Zwillingshochhaus. Doch nein, während Gary den Blick über die beiden menschenverlassenen Dächer schweifen ließ, sagten ihm seine Sinne eindeutig, dass es sich um das Dach handelte, auf welchem sie just in diesem Moment standen. Genau wie Greens Glöckchen spürte auch Gary, dass sich hier oben ein Dämon befand.  „Green, gehe bitte weg von der Kante!“, sagte Gary, ohne sich zu ihr herumzuwenden, sondern sie nur auf den Augenwinkeln betrachtend, während er sich auf die Mitte zubewegte: „Das ist zu halsbrecherisch - und wandle dein Glöckchen bitte um, der Dämon ist hier irgendwo. Nur wo …“ Die Füße der Hikari setzten dazu an, Gary und Siberu zu folgen, doch nach kaum einem halben Meter kamen sie zum Stillstand – eine Tatsache hatte sie dazu gebracht, erstarrt stehen zu bleiben: die überaus unpraktische Erkenntnis, dass ihr Glöckchen nicht die Form veränderte. Green öffnete entsetzt den Mund, um es den beiden mitzuteilen, doch nur ein erstickter Laut drang aus ihrem geöffneten Mund, denn in dem Moment, wo sie es hatte aussprechen wollen, zog Gary sie auch schon hart zur Seite, während Siberu in die andere Richtung sprang. Ahnungslos wollte Green gerade fragen, was los sei, doch da wurde es ihr schon selbst klar: der Dämon besaß die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen – die schwarze, strahlenförmige Attacke, die er auf sie abgeschossen hatte, war es allerdings nicht. Oh Gott, dachte Green – ein unsichtbarer Dämon, ein denkbar schlechter Kampfort und ein Glöckchen, das seinen Dienst verweigerte: was kam als nächstes? Als Nächstes kam, dass sie sich von der sicheren Seite Garys trennte, da sie beide in unterschiedliche Richtungen sprangen, um der nächsten Attacke auszuweichen. Beide Halbdämonen hatten noch nicht mitbekommen, dass Green einen Disput mit ihrem Glöckchen hatte: Gary war zu sehr von seinen strategischen Fragen eingenommen, als dass er es bemerkt hätte und Siberu war wegen dieser herausfordernden Situation so sehr in Hochstimmung, dass er alles andere um sich vergaß. Da Green zwar schutzlos aber keinesfalls lebensmüde war, setzte sie dazu an, hinter Gary zu gelangen, wo sie auch plante, ihm so schnell wie möglich von ihrem Problem zu berichten. Doch kaum, dass sie sich ihm näherte, wurden ihre Pläne von einem ungünstigen Missgeschick entzweigeschlagen: der Dämon attackierte Gary, welcher dem Strahl geschickt auswich – womit die Attacke auf Green zusteuerte, die es zu spät sah, als dass es ihr gelungen wäre, ebenso elegant auszuweichen. Sie bemerkte es gerade noch früh genug, so dass nur ihr rechter Arm gestreift wurde, aber dies genügte, um sie über die Dachkante des Metropolitans zu befördern. Gary hatte sich gerade in den Moment herumgedreht, in dem Green in die Luft geschleudert worden war, und wollte gerade erschrocken zum Lauf ansetzen, als Siberu bereits an ihm vorbeiraste. Gary blieb sofort stehen, denn ihm war bewusst, dass sein kleiner Bruder der Schnellste von ihnen war und schon sah er, wie Siberu den Sprung über die Dachkante machte. Mit wehenden Haaren streckte Siberu die Hände nach Greens Körper aus, die wie ein Stein auf die belebte Straße unter ihr zusteuerte – doch das war kein Problem für die Schnelligkeit Siberus und sie hatten nicht einmal die Hälfte des Gebäudes hinter sich gelassen, da packte der Rotschopf sie bereits an ihrer Taille und bremste sie ab. „Geht es dir gut, Green-chan?“ Die Angesprochene antwortete nicht. Sie zitterte am ganzen Körper, und obwohl Siberu sie fest an sich gepresst hielt, starrte sie immer noch geschockt nach unten. Erst nach verstrichenen Sekunden rang sie sich ein unsicheres Nicken ab. Kaum hatte sie diese Reaktion gezeigt, hob Siberu den Kopf hoch und rief in die kühle Nachtluft: „Aniki! Alles klar! Ich habe Green-chan!“ Um seinen Bruder machte er sich keine Sorgen; zwar war der Dämon unsichtbar, aber besonders stark war er nicht gewesen – eigentlich kaum der Rede wert. Siberu schien sich da nicht geirrt zu haben, denn keine fünf Minuten später war Gary bereits zur Stelle, um ihnen hoch zu helfen. Die Aura des anderen Dämons war verschwunden und das Einzige, was Gary fehlte, war ein Riss in seiner Jacke. Green fehlte ebenfalls nichts, wie sich nach einem prüfenden Blick Garys herausstellte: Die Attacke hatte zwar ihren Arm gestreift, hatte aber nur Schürfwunden hinterlassen. „Aber was ist passiert? Warum hast du dich nicht verteidigt?“, fragte der Ältere der beiden Halbdämonen, nachdem er sich ihre Wunde angesehen hatte. Green, welche auf dem Boden hockte, da ihre Beine nachgegeben hatten, nahm ihr Glöckchen in die Hand und sagte leise: „Es scheint kaputt zu sein. Die Umwandlung funktioniert nicht mehr.“ Eine Weile besah sich Green die goldene Oberfläche ihres Reliktes, konnte allerdings keine Veränderung feststellen: Es sah genauso aus wie immer. Warum funktionierte es bloß nicht? Als sie den Kopf hob und sich von ihrem Glöckchen abwandte, bemerkte sie etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit auffing: Gary schien das schlechte Gewissen zu plagen – dies jedenfalls verriet ihr sein finsterer Blick, welcher ins Nichts zu gehen schien. „Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben“, sagte Green und weckte somit den Halbdämon aus seinen Gedanken, der dessen ungeachtet auf ihre Worte nicht antwortete. „Du kannst ja nicht alles im Blick haben.“ Gary seufzte tief; anscheinend war er da anderer Meinung. Ihr Gespräch wurde allerdings schnell unterbrochen, denn Siberu plagten gewiss keine Schuldgefühle: „Hahahaha! Ich habe Green-chan gerettet! Ich bin nun einmal der Schnellste, der Beste, der Coolste, der Genialste …“ Weder Gary noch Green schenkten dem tänzelnden Rotschopf irgendwelche Beachtung, sondern versuchten, ihr Gespräch ungeachtet des Krachs, den Siberu veranstaltete, fortzusetzen: „Gary, wie geht es deiner Wunde?“, fragte Green und deutete zu Garys rechter Schulter, doch dieser winkte mit der Hand ab, als er ihren besorgten Blick bemerkte. „Das ist nur ein Kratzer; nicht der Rede wert. Viel wichtiger ist, wie es dir geht.“ Eine leichte Besorgnis war in Greens Gesichtszügen zu erkennen, doch schnell lächelte sie ihn wieder an, mit den Worten: „Auch um mich musst du dir keine Sorgen machen – ich will nur ins Bett!“     Der nächste Tag war ein Sonntag und Green erhoffte sich von diesem Tag, dass es ihr vergönnt war, endlich mal lange ausschlafen zu können – sie hatte sogar Garys Drängen, dass ein Sonntag perfekt war, um eine Nachhilfestunde einzulegen, standgehalten und erfolgreich abgewimmelt. Daher war sie ziemlich genervt, als es um halb acht an der Tür klingelte und sie weigerte sich auch, auf das Klingeln zu reagieren. Statt dessen drehte sie sich samt Kissen zur Wand und versuchte, das penetrante Klingeln ihrer Haustür zu ignorieren. Herr Gott, sie war doch nicht die einzige, die in dieser Wohnung lebte, warum stand Pink nicht auf und öffnete die Tür?  Da weder Green noch Pink sich die Mühe machten, aufzustehen, ging das Klingeln weiter. Weiterhin penetrant und, wie es Green vorkam, in einem bestimmten Muster: immer drei Sekunden zwischen dem Betätigen der Klingel. Genervt, beinahe wütend schlug Green die Augen auf und fragte sich, was denn so schwer daran zu verstehen war: Wenn man nach fünfzehn Minuten keine Antwort erhielt, war die Möglichkeit ja wohl groß, dass niemand zuhause war, oder?! Fluchend richtete sich die Wächterin in ihrem Bett auf und schwang ihre Beine aus diesem. Ohne sich etwas überzuziehen, durchquerte sie ihre kleine aber gemütliche Stube und schritt zur Haustür – ohne zu bemerken, dass Pink doch von dem Klingeln geweckt worden war und auch die Tür zu ihrem Zimmer zusammen mit ihrem übergroßen Hello!Kitty Kuscheltier einen Spalt weit öffnete, um zu sehen, was das Klingeln zu bedeuten hatte. Die Haustür öffnete Green nicht ganz, sondern ebenfalls nur so weit, dass sie sehen konnte, wer um diese Uhrzeit ein solch penetrantes Klingelkonzert verursachte. Die Person, die ihr entgegenblickte, kannte sie nicht. Aber das Aussehen der jungen Frau kam ihr merkwürdig bekannt vor … die goldenen, monotonen Augen, das blonde Haar, die blaue Uniform … „Ich wünsche Euch einen schönen guten Morgen, Hikari-sama.“ Mit einem Schlag wurde Green bewusst, an wen sie die junge Frau erinnerte: an Ryô, den Tempelwächterdingsbums von Grey; nicht zuletzt aufgrund ihrer außerordentlich eleganten Verbeugung, welcher Green wenig Beachtung schenkte, sondern sich erst einmal im Treppenhaus umsah, ob jemand die ungewöhnliche Besucherin bemerkt hatte, ehe sie sie reinkommen ließ. Kaum war die junge Frau drinnen, verbeugte sie sich ein weiteres Mal: „Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle, Hikari-sama: Mein Name ist Itzumi. Ich stehe Euch als Eure Tempelwächterin stets zu Diensten.“ Die Angesprochene wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte; es war zu früh, sie war nicht ausgeschlafen, sie war genervt – und sie konnte nicht gerade behaupten, dass sie sich über diesen unerwarteten Besuch freute, oder über die Tatsache, dass sie einen Tempelwächter haben sollte. Wenn sie es richtig verstanden hatte, waren Tempelwächter doch private Diener – wozu brauchte sie einen privaten Diener? Sie kam wunderbar alleine zurecht. „Und was willst du hier?“ „Ich bin hier, Hikari-sama, weil Euer Bruder wünscht, mit Euch zu dinieren.“ „Hör auf, mich „Hikari-sama“ zu nennen. Mein Name ist Green.“ „Verzeiht mir, aber ich denke, diesen Wunsch kann ich Euch leider nicht erfüllen. Es würde gegen die Etikette verstoßen.“ Beide sahen sich einen kurzen Augenblick an und sofort wusste Green, dass sie diese Person nicht mochte und obwohl nur wenige Worte ausgetauscht worden waren, hatte sie das Gefühl, dass es andersherum der gleiche Fall war. Green schätzte sie auf Anfang 20, und obwohl sie damit noch recht jung war, sah Itzumi aus, wie Green sich eine alte, strenge Zofe vorstellte, ohne jemals eine im wirklichen Leben gesehen zu haben. Es waren nicht ihre streng zu Ringen zusammengebundenen Haare oder ihre steife Art zu stehen, oder die Tatsache, dass ihre blaue Uniform keine einzige überflüssige Falte besaß, sondern ihr Blick. Dieser ähnelte dem monotonen Blick Ryôs zwar, aber dies nur zum Schein, denn hinter der augenscheinlichen Ausdruckslosigkeit verbarg sich etwas, was Green bei Ryô nicht entdeckt hatte: ein kritischer, abschätzender Blick. Obwohl Green es nicht kommentiert hatte, hatte sie sofort bemerkt, wie Itzumi das Aussehen ihrer Herrin einem prüfenden Blick unterzogen hatte und dass es ihr auch nicht entfallen war, dass Green seit letzter Woche keinen Staub mehr gewischt hatte. Das Geräusch der Zimmertür Pinks ließen beide zusammenfahren, als diese sich wortlos wieder in ihr Zimmer verzogen hatte – etwas, um das Green sie in diesem Moment beneidete. Doch obwohl ihr danach absolut nicht der Sinn war, sagte sie, dass sie sich nur noch anziehen würde und dann könnten sie von ihr aus los. Gerade wollte Green sich umdrehen, als sie bemerkte, dass Itzumi dazu ansetzte, ihr zu folgen.  „Ehm, entschuldige mal. Ich bin in der Lage mich selbst anzuziehen, ohne, dass mir jemand die Hand dabei hält.“ Es war kein besonders glorreiches erstes Treffen der beiden überaus unterschiedlichen Wächter – und genau dies berichtete Green auch sofort, als sie eine halbe Stunde später mit ihrem Bruder an einem wahrlich pompösen, runden Frühstückstisch saß, welcher gedeckt war mit Köstlichkeiten aller Art. Grey entschuldige diese übertriebene Tischdeckung, aber er wusste ja nicht, was Green mochte, also hatte er von allem etwas bestellt und nun stand sie vor der Qual der Wahl. „Du musst lernen, mit Itzumi-san zurechtzukommen. Ich würde dir ja sagen, dass du dir auch eine andere Tempelwächterin aussuchen kannst, wenn du nicht mit ihren Fertigkeiten zufrieden bist, aber Itzumi-san ist die qualifizierteste Tempelwächterin, die man im Wächtertum finden kann.“ Mit einem Lächeln fügte er jedoch hinzu, dass er allerdings gewiss nicht tauschen würde. „Ich bin mir sicher, dass du in ihr eine genauso gute Freundin finden wirst wie ich in Ryô.  Obwohl Ryô und ich schon lange bevor er mein Tempelwächter wurde befreundet waren.“ Green, welche gerne mal Neues kostete, füllte eine ihr unbekannte Speise auf den Teller und setzte gerade mit einer goldenen Gabel dazu an, es zu probieren, als sie ihrem Bruder antwortete: „Darum geht es doch gar nicht: Mit Sympathie oder nicht hat das gar nichts zu tun, sondern nur damit, dass ich keinen Diener brauche. Ich komme ausgezeichnet allein zurecht.“ „Oh, ich zweifle nicht an deiner Selbstständigkeit.“ „Ich kann sehr gut kochen und …“ „Du kannst kochen? Überaus beeindruckend! Ryô hat mir einmal die Küche gezeigt, ich war sehr imponiert von diesem künstlerischen Schauspiel.“ Daraufhin sah Green ihn an, als hätte ihr Bruder nicht mehr alle Tassen im Schrank und das, wo er sie mit einer schier unschuldigen Freude anstrahlte. In dem Moment, wo Green ihm gerade antworten wollte, öffnete sich die Tür zum Speisesaal und geräuschlos kam Ryô herein, ausgerüstet mit einem Tablett, welches er neben Grey abstellte und worauf sich ein einzelnes Glas mit einer graugrünen Flüssigkeit befand, welches Green sofort unappetitlich fand und Grey scheinbar ebenfalls, denn beinahe angeekelt griff er nach dem Glas. „Was ist das?“, fragte Green, während sie Ryô dieses Mal ein wenig intensiver betrachtete und sofort bemerkte sie, dass er auf sie um einiges sympathischer wirkte als Itzumi. Hinter den goldenen, ausdruckslosen Augen, verbarg sich etwas vollkommen anderes als bei Itzumi: Es war eine aufrichtige Freundlichkeit und Sorge um seinen Herren, als dieser das Getränk in zwei großen Schlucken herunterwürgte. „Meine Medizin, Green, auf welche ich leider nicht verzichten kann. Ich leide unter einem schlechten Immunsystem, das ich von unserer Mutter geerbt habe. Ich bin daher sehr anfällig für Krankheiten.“ Grey wischte sich mit einer kunstvollen Serviette die Lippen ab, legte sein goldenes Geschirr, wie es sich gehörte, auf seinen beinahe komplett sauberen Teller und richtete sich daraufhin auf, als er bemerkte, dass Green ebenfalls fertig war mit dem Essen. „Und nun lass uns über andere Dinge sprechen. Ich möchte dir gerne etwas in unserer Bibliothek zeigen.“ Unbemerkt verzog Green das Gesicht, halb grinsend, halb sich selbst bemitleidend, denn sie war alles andere als ein Bücherfan. Jedoch grinste sie darüber, dass sie nun die Bibliothek des Tempels würde sehen können, denn das war eine der ersten Sachen, die Gary über den Tempel gesagt hatte: dass er eine ganz außergewöhnliche Bibliothek besaß. Doch ehe sie den Speisesaal verließen, wandte Green sich noch einmal an Ryô, der sich bereits dazu aufgemacht hatte, den Tisch abzudecken: „Sag mal, Ryô: Du und Itzumi, ihr seid Zwillinge, oder?“ Kurz sah er sie verwundert an, ehe er lächelnd antwortete: „In der Tat, Hikari-sama, das habt Ihr gut beobachtet.“ „Wusste ich’s doch!“, daraufhin folgte sie ihrem Bruder grinsend aus der Tür, wo sie es nun war, die eine Frage beantworten musste: „Woher stammt eigentlich diese Verletzung?“, Grey zeigte auf Greens rechten Arm, um seine Frage zu unterstreichen. „Nicht der Rede wert. Ich wurde von einem Dämon verletzt.“ „Von einem Dämon?! Etwa von …“ „Nicht das, was du jetzt denkst! Es geschah in einem Kampf und ich war ungeschickt, das war alles. Es tut auch nicht weh.“ Grey versank in Gedanken, während die beiden Geschwister den hohen Korridor entlang gingen und Green sich immer wieder dabei erwischte, wie sie ihre Schritte verlangsamte, um die vielen Kunstwerke zu bestaunen: friedliche Landschaftsbilder, zerstörerische Kriegsmalereien, heroische Portraits. „Wie ich sehe, gehört auch Erste Hilfe zu deinen Fähigkeiten“, unterbrach Grey und machte abermals einen Wink zu ihrem Arm, welcher nach allen Regeln der Erste-Hilfe-Kunst verbunden war. Die Angesprochene lächelte über diese Worte und antwortete ebenso feixend: „Das war ich nicht: Gary hat darauf bestanden, meinen Arm zu verbinden, obwohl ich nur eine Schürfwunde hatte.“ Sofort verdunkelte sich das Gesicht ihres Bruders, als er diesen Namen hörte und ihm klar wurde, dass sie von einem der beiden Halbdämonen sprach. „Also, Green, ich finde …“ Als wüsste seine kleine Schwester, was er sagen wollte, unterbrach sie ihn, ehe er den Satz beenden konnte: „Das Thema ist durch. Ich weiß, dass du sie nicht magst, aber sie gehören zu mir.“ „Green, ich sage das doch nicht, um dich zu verstimmen. Ich sage es aus Sorge um dich!“ „Das weiß ich, aber ich sage es noch einmal: Das musst du nicht. Ich vertraue ihnen, sie sind meine Freunde. Also finde ich, dass – oh mein Gott!“ Gerade war Green an Grey vorbei gegangen, der ihr natürlich wie ein Gentleman den Vortritt gelassen hatte und nun stockte ihr der Atem bei diesem Anblick: So viele Bücher hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen! Die Regale erstreckten sich vom Boden bis hin zur enorm weit entfernten Decke, waren randvoll mit fein geordneten Büchern, die alle sehr alt, aber in einem guten Zustand waren. Der Großteil der stabilen Regale war mit Büchern gefüllt; andere mit Schriftrollen. Der weiße Marmor unter ihren Füßen war nicht nur mit Bildern verziert, sondern wirkte auch durch dessen vier mit kristallklarem Wasser gefüllte Kanäle einzigartig, die sich zur Mitte des Raumes schlängelten, in dessen Zentrum ein Springbrunnen das Wasser sammelte. Von dort aus plätscherte es aus den Händen einer lesenden Engelsstatue und erfüllte den enorm großen Saal mit einem sanften Geräusch. Das Licht, welches die Bibliothek erhellte, stammte von zwei enormen Fenstern, die den Bücherregalen in Sachen Größe Konkurrenz machten, denn auch sie ragten vom Boden bis zur Decke und zeigten einen wunderschönen Mittagshimmel. „Dies sind mehr als 250.000 Bücher; viele von ihnen sind Unikate und handgeschrieben. Sie sind überaus wertvolle Kulturschätze des Wächtertums.“ Zwar waren Bücher nicht gerade das Interessengebiet Greens, dennoch war sie beeindruckt von dieser kolossalen Büchersammlung und der Schönheit dieses Saales. „So viele Bücher …“, gedankenverloren schritt sie an eines der Regale heran und ließ ihre Hand über die alten Einbände gleiten. „In was für einer Sprache sind sie geschrieben?“, fragte die Hikari, als sie bemerkte, dass es sich nicht um Schriftzeichen handelte, die sie von irgendwoher kannte. „Sie sind in unserer Sprache geschrieben; der Sprache der Wächter. Du solltest in der Lage sein, sie zu lesen.“ Green, welche sich gerade von den Büchern abgewandt hatte, um zu sehen, was Grey tat, wandte sich mit einem verwunderten Blick wieder von ihm ab und zurück zu den Büchern, die sie angeblich mit Leichtigkeit lesen sollte. Sie hatte diese Schriftzeichen noch nie zuvor gelesen, wie sollte sie sie da lesen … Überrascht weiteten sich Greens Augen, als sich herausstellte, dass Grey recht hatte: Der Sinn des Buchtitels war plötzlich vollkommen klar und auch, als sie es überhastig aus dem Regal zog und eine beliebige Seite aufschlug, hatte sie keine Probleme, die Sätze zu verstehen. „Wie zur Hölle ist das möglich!?“ „Green … deine Sprache. Versuch bitte, dich gewählter auszudrücken.“ „Ich habe diese Schriftzeichen noch nie gesehen, warum verstehe ich sie?!“ „Das Lesen und Verstehen unserer Sprache ist, anders als bei den Menschen, kein erlernbarer Prozess, sondern ein Teil unseres angeborenen Elementes. Sobald wir ein gewisses Alter erreicht haben, was individuell unterschiedlich ist, sind wir in der Lage, unsere Sprache zu verstehen, auch wenn wir sie, wie in deinem Fall, noch nie zuvor gehört haben. Dies wiederum trennt uns von den Dämonen, die ihre eigene Sprache sprechen.“ Sofort musste Green an das Treffen mit Kaira denken; dann war das also die Erklärung dafür, dass sie Kaira sofort verstanden hatte? Doch sie wollte jetzt nicht an Kaira denken. Sie stellte das Buch mit einem Kopfschütteln zurück in die Lücke, wo sie es herausgezogen hatte, und lief zu ihrem Bruder hinüber, welcher sich auf der anderen Seite der Bibliothek in die Hocke hinabbegeben hatte, um eine Schublade zu öffnen, die sich unter den Büchern befand. Erst da bemerkte Green, dass alle Bücherregale eine solche Schublade besaßen, ausgerüstet mit Jahreszahlen, die eine enorm weit zurückreichende Familiengeschichte offenbarten. Grey hatte sich vor der aktuellsten Schublade heruntergebeugt und öffnete diese mit einem entschlossenen Ruck. Das Schubfach enthüllte eine Schriftrolle, welche sich in einer Glashülle befand, verbunden mit einem weißen, glöckchenbehangenen Band.  „Das, Green … ist unser Stammbaum“, antwortete er auf Greens fragenden Blick und reichte ihr das wertvolle Kulturobjekt, womit sie in die Mitte des Raumes ging und sich an den Rand des Springbrunnens setzte, was Grey besorgt beobachtete. Den Anfang überflog die Hikari hastig, ohne ihren Vorfahren weitere Beachtung zu schenken. Ihr Herz beschleunigte sich plötzlich und schlug ihr bis zum Hals, je weiter ihr Blick auf dem enorm großen Stammbaum nach unten wanderte: Sie würde ihre Eltern sehen, wie lange hatte sie auf diesen Tag gewartet … wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie wohl aussehen mochten, ob sie ihr ähnlich sahen … Ganz unten fand sie das Bild eines jung aussehenden Grey, seinen Geburtstag, womit sie auch herausfand, dass er sieben Jahre älter war als sie, damit 24 Jahre alt war und gleich darüber ihre Mutter. Ihre Mutter. Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White, geboren am 19. Juli 1965. Mit den Fingerspitzen strich Green über das Bild ihrer Mutter, starrte auf das kleine Bild und war für einen Moment gänzlich von der Außenwelt abgeschirmt, bemerkte nicht, wie Grey hinter sie gegangen war, um über ihre Schultern zu sehen. Das Bild zeigte eine Frau in jungen Jahren, nicht viel älter als Green jetzt war; eine hübsche, aber kränklich aussehende junge Frau, mit blasser, beinahe weißer Haut, welche sich kaum von ihren ebenfalls weißen Haaren abhob. Ein barmherziges Lächeln blickte ihr entgegen: Ein Lächeln, welches in Green nicht das Gefühl weckte, dass sie eine Mutter ansah, sondern eher das Bildnis einer Heiligen. „Ist … ist das unsere Mutter?“, fragte Green beinahe flüsternd, ohne ihren Blick von White abwenden zu können. „Das ist sie. Du wirst sie bald kennenlernen, sie freut sich bereits auf euer erstes Treffen.“ „Aber sie … da steht doch, dass sie kurz nach meinem Geburtstag gestorben ist? Am 02.06.1989. Einen Tag später …“, entgegnete Green und zeigte auf das Sterbedatum. „Ja, das ist korrekt. Unsere Mutter ist tot, allerdings … Den Hikari ist als einziger Elementarfamilie ein Leben nach dem Tode vergönnt. Ihre Seelen existieren weiter im Jenseits, von wo aus sie uns mit ihrer Weisheit und Güte leiten.“ „Das heißt …“ Green wandte sich zu Grey herum und die Gefühle, die Erwartung, ja, Sehnsucht in ihren Augen, erfreute Greys Herz. „… ich kann sie sehen?“ „Ja, das wirst du bald können. Momentan bietet sich noch keine Gelegenheit, aber bald“, entgegnete ihr Bruder mit einem warmen Lächeln; ein Lächeln, welches Green erwiderte, denn obwohl ihr die gesamte Sache mit den Hikari spanisch vorkam und sie sich immer noch kein genaues Bild davon machen konnte, fühlte sie plötzlich ein unbeschreibliches Glücksgefühl in sich bei der Vorstellung, endlich ihre Mutter kennenzulernen. „Und was ist mit meinem …“, Green wandte sich von Grey ab und bemerkte damit nicht, dass sein Lächeln in sich zusammengefallen war, sondern blickte nur auf das Bild neben dem ihrer Mutter, wo ein Mann namens Eien Kaze Kanori mit einem freundlichen Lächeln dem Betrachter entgegenguckte. Er sah Grey ähnlich; die gleichen himmelblauen Augen, die gleichen dunklen Haare. Aber mit Green besaß er keine Ähnlichkeit und schnell fand sie auch heraus, warum: Er war nicht ihr Vater, denn er war viele Jahre vor ihrer Geburt gestorben.  Sofort schenkte Green dem Stammbaum keinerlei Beachtung mehr, sondern sah ihren Bruder verwundert an: „Grey, sind wir nur Halbgeschwister?“  Er nickte und schien über diese Tatsache betrübt zu sein: „Ja, wir haben unterschiedliche Väter. Mein Vater ist bereits vor meiner Geburt gestorben.“ Diese Worte ließen das Glück in Green verpuffen; zwar hatte sie bereits anhand der Daten ausgerechnet, dass Greys Vater vor der Geburt seines Sohnes gestorben war, es aber von Grey zu hören, mit einer ernsten Stimme, versucht, die Trauer über diese Tatsache dahinter zu verbergen, berührte Green. Sie musste zugeben, dass es sie ein wenig überraschte, aber zur gleichen Zeit auch erfreute, denn als sie nickend seine Hand nahm, war es, als wäre sie einen großen Schritt auf ihn zugegangen. Lächelnd sah sie den verwunderten Grey an, der zuerst erstaunt die Hand Greens anstarrte, die seine hielt, ehe er seine verwunderten, himmelblauen Augen auf Green selbst richtete, welche ihn anlächelte: „Er war ein Windwächter, wie du, nicht wahr, Onii-chan?“ Es war eine vollkommen belanglose Frage und diese war es auch nicht, welche dafür sorgte, dass Greys Augen glasig wurden: sondern das letzte Wort, mit dem Green ihn zum ersten Mal als Bruder ansprach. Statt sich seinen Gefühlen hinzugeben, überschattete er diese mit einem erfreuten Lächeln und stimmte seiner kleinen Schwester zu. Erneut wandte sich Green dem Stammbaum zu, nun mit der Absicht, ihren eigenen Vater zu finden, doch dies stellte sich als unmöglich heraus, denn Grey war der letzte Eintrag gewesen und neben White war kein weiterer Mann zu sehen. Verwundert dreinblickend drehte Green ihren Kopf herum und sah hoch zu ihrem Bruder. Die Frage, warum sie und ihr Vater nicht in dem Stammbaum eingetragen standen, schien ihr deutlich ins Gesicht geschrieben zu sein, denn er antwortete darauf, dass der Stammbaum noch unvollständig wäre. Doch dies beantwortete nicht alle Fragen, die in Greens Gesicht geschrieben standen. Eine weitere war deutlich zu sehen: „Grey, was ist damals eigentlich geschehen? Warum bin ich in einem Waisenhaus großgeworden, wenn ich doch bei dir hätte aufwachsen können?“ Die Worte waren zögerlich ausgesprochen und wieder beschleunigte sich Greens Herz, als sie es sich endlich traute, diese Frage zu stellen: die Frage, die ihr, seitdem sie erfahren hatte, dass sie einen Bruder hatte, nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, ihr aber auch bange Vorahnungen verlieh, denn sie spürte förmlich, dass die Wahrheit keine Angenehme war. Grey löste sich von seiner Schwester und drehte sich zum großen Fenster, womit Green sein Gesicht nicht sehen konnte, da sie selbst mit dem Stammbaum in der Hand sitzen geblieben war, während Grey die Glasrolle im Arm hielt und seine Finger am Band der Glöckchen nestelten. „Nach dem Ausgang des letzten großen Krieges gegen die Dämonen, in dem auch unsere Mutter starb, hatten die Dämonen es auf dein Leben abgesehen, also beschlossen die Hikari, das Element des Lichtes in dir zu versiegeln, nachdem unsere Mutter es durch ihren Tod an dich abgab und deine Identität als Lichterbin so geheim zu halten - bis zu dem Tag, an dem du reif sein würdest; der Tag, der nun gekommen ist.“ Es war eine Lüge. Vom ersten bis zum letzten Wort hatte Grey gelogen. Es tat ihm weh, so weh: Jedes einzelne Wort auf seiner Zunge hatte sich wie Gift angefühlt. Immer wieder sagte er sich, dass es besser so wäre, dass er ihr unmöglich die grausame Wahrheit beichten konnte. Vielleicht müsste er das auch nie. Vielleicht würde sie die Wahrheit nie erfahren müssen. Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden. Green witterte nicht, dass es sich um eine Lüge handelte; sie glaubte ihm und erwiderte sein Lächeln, als er sich zu ihr umwandte. „Aber das alles hat nun ein Ende, Green. Am 31.12 dieses Jahres bist du zu einem Familientreffen im Jenseits eingeladen, wo du endlich in die Familie aufgenommen wirst.“ „Muss ich dafür Selbstmord begehen?“, fragte Green und verengte skeptisch ihre Augen. „In Lights Namen! Natürlich nicht. Wir, die direkt von den Hikari abstammen, können das Jenseits betreten und verlassen, wie es uns beliebt.“ „Und das ist wirklich ein normales Familientreffen? Und keine Prüfung oder so?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete Grey, wobei er versucht war, so sicher wie möglich zu wirken, damit er auch überzeugend lügen konnte: „Es wäre dennoch von Vorteil, wenn du dir ein Allgemeinwissen über unsere Familie aneignest.“ „Sag ich doch. Eine Prüfung.“ „Nein. Nur du solltest schon wissen, mit wem du sprichst, nicht wahr?“ Green grummelte etwas als Antwort, doch auch wenn dies kaum hörbar war, meinte Grey, eine Zustimmung erahnen zu können. Er sah Green dabei zu, wie sie den Stammbaum zusammenrollte und diesen zurück in die Glasrolle legte, verschloss und die Schublade zuschob, nachdem sie den unter Glas wohlbehüteten Stammbaum zurückgelegt hatte. Mit hastigen Schritten eilte sie auf ihren Bruder zu, welcher auf sie wartete und nun für seine kleine Schwester die Tür offen hielt. Kaum hatten sie die Bibliothek verlassen, stellte Green grinsend noch eine letzte Frage, was den Stammbaum betraf:  „Sag mal, Grey: Auf dem Stammbaum habe ich gesehen, dass es mehrere verheiratete Geschwister gibt. Ist Inzest unter den Wächtern etwa erlaubt?“ Völlig überrumpelt blickte Grey Green verwundert an und antwortete nach kurzem Zögern: „Inzest? Ach, die Menschen haben für eine eheliche Bindung zwischen Bruder und Schwester einen Begriff?“ Zögerlich, durch die Antwort Greys verwirrt, nickte Green und hörte ihrem Bruder weiterhin zu: „Aber ja, solche Beziehungen sind in unserer Gesellschaft völlig normal; denn wenn zwei gleiche Elemente zusammenkommen, stärkt das das jeweilige Element.“ Wiederum nickte die Angesprochene nur, sich dabei fragend, wie unterschiedlich die Wächter und die Menschen eigentlich waren. Der einzige Unterschied, den sie bis zum jetzigen Zeitpunkt bemerkt hatte, war die Tatsache, dass sie ohne geblendet zu werden in die Sonne sehen konnte. Aber waren Wächter und Menschen wirklich so unterschiedlich voneinander? „Green, wenn du noch Zeit hast, würde ich vorschlagen, dass du sofort Tinami-san aufsuchst wegen deines Glöckchens.“ Zuerst verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel sah Green ihren Bruder verdutzt an, bis sie verstand, dass er von ihrem Problem mit dem Glöckchen sprach, wovon sie ihm gleich zu Beginn ihres Treffens erzählt hatte. Seine Reaktion hatte sie beruhigt, denn er hatte gemeint, dass es ihn nicht wunderte, dass das Glöckchen seinen Dienst verweigerte – im gleichen Atemzug hatte er allerdings auch gemeint, dass er nicht gerade ein Experte auf diesem Gebiet war und dass Green dafür Tinami aufsuchen müsse. Begeistert von der Vorstellung, dass Itzumi sie zu Tinami bringen sollte, war sie nicht gerade, doch es blieb ihr keine andere Wahl, denn Grey hatte keine Zeit mehr zur Verfügung, um sie zu der Klimawächterin zu bringen – ein Umstand, den er offensichtlich sehr bedauerte. Bevor Itzumi sich und ihre Hikari allerdings irgendwo hinteleportieren konnte, nahm Grey Green noch einmal beiseite.  „Green, ich muss dich noch etwas fragen …“ „Ja?“ Er sah sie ernst an, zögerte einen Moment und sagte dann: „Ich bin der Meinung, dass du hier leben solltest. Der Tempel ist dein Zuhause und wir beide sind immerhin eine Familie; wir haben so viel nachzuholen! Auf diese Weise hättest du auch bessere Trainingsmöglichkeiten und könntest den Kontakt zu unserer Familie ebenfalls pflegen. Was hältst du von diesem Vorschlag, Green?“ Green hatte erwartet, dass er diese Frage früher oder später stellen würde; eine verständliche Frage, immerhin waren sie so lange voneinander getrennt gewesen und, wie er auch selbst gesagt hatte, hatten sie als Familie einiges nachzuholen. Trotzdem kannte Green ihre Antwort und sagte diese auch, wobei sie allerdings versuchte, auf die Gefühle, welche sie so deutlich in seinen Augen sehen konnte, Rücksicht zu nehmen:  „Es tut mir leid, Onii-chan. Aber das kann ich nicht: Ich habe bereits ein Zuhause, wo eine Familie auf mich wartet.“ Sie wusste nicht, ob ihr Bruder verstanden hatte, wen sie meinte, es war ihr auch egal. Solange sie selbst wusste, wo ihr Herz zuhause war.     Fertiggestellt: 30.08.11   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)