Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 12: Schneeweiße Erinnerungen Teil 2 ------------------------------------------- 24.12.1994 Deutschland/irgendwo im Nirgendwo     Das „Etwas“, über das Siberu soeben gestolpert war, lag nun in den Armen Garys und wurde von beiden argwöhnisch beäugt: es handelte sich augenscheinlich um ein halb erfrorenes Mädchen. Das kleine Mädchen war zwar nicht bei Bewusstsein, aber sie schienen gerade noch rechtzeitig genug auf es gestoßen zu sein, um es vor dem Schlimmsten bewahren zu können. Wie lange es wohl schon in dieser Eiseskälte gelegen hatte? Und aus welchem Grund? Gary spürte einen Anflug von Neugierde, als er die Statur des kleinen Bündels in seinen Armen mit den Augen abfuhr. Obendrein war es auch noch spärlich bekleidet, überhaupt nicht für diese Jahreszeit geeignet; es trug einen knielangen, karierten Rock und dazu einen dunkelblauen Pullover, jedoch keine Jacke darüber. Seine Kleidung musste zudem eher als dünn eingestuft werden und Schuhe trug es ebenfalls nicht; ganz zu schweigen von einem Schal oder Handschuhen. Ziemlich unüberlegt … was machte so ein kleines Mädchen hier draußen? Es konnte unmöglich älter als fünf Jahre sein. „Hey. Ich hoffe dir ist klar, dass du das Gör nicht retten wirst. Das könnte schlimme Folgen haben! Noch nie so was in Filmen gesehen? Wenn man die Vergangenheit verändert, kann das schwerwiegende Schäden in der Zukunft haben!“, meldete Siberu sich nun auch zu Wort - allerdings wussten beide, dass Siberu einen anderen Beweggrund hatte, als sich Sorgen um die Zukunft zu machen; er hegte eine natürliche Abneigung gegen Kinder unter zehn Jahren, seitdem ein kleines Mädchen ihm im Schlaf den Zopf abgeschnitten hatte und er so sehr lange dazu gezwungen war, mit kurzen Haaren zu leben – zu lange für seinen Geschmack. „Silver - erstens wird dies wohl kaum den nächsten Elementarkrieg auslösen und außerdem gibt es noch einen weiteren Faktor, der dir sicherlich auffallen wird, wenn du dir das Mädchen genauer ansiehst.“ Der Angesprochene tat wie geheißen und betrachtete das Mädchen mit Skepsis in den Augen. Die hellbraunen Haare des bewusstlosen Mädchens waren zu Zöpfen geflochten, welche jedoch zerfleddert waren, denn die blauen Schleifen, die die Zöpfe zusammenhielten, lösten sich bereits. Nur einen kurzen Augenblick musste Siberu über die Worte seines Bruders nachdenken, ehe er verstand, worauf dieser hinauswollte: „Sag mir nicht … Das ist doch nicht etwa Green-chan?!“ „Blitzmerker“, zischte Gary, während er sich samt der kleinen Green aufrichtete und sich umsah, ob irgendwo Anzeichen von Menschen auszumachen waren. Die gleiche Frage, die Gary sich auch schon gestellt hatte - nämlich die, was Green hier draußen in dieser Kälte tat - stand nun auch Siberu ins Gesicht geschrieben. Doch anstatt diese zu stellen, widmete er sich einem anderen Thema: „Dann sollten wir sie doch aber liegen lassen. Denn das heißt ja, dass jemand kommen und sie retten wird … oder?“ Gary wandte sich nur kurz um zu seinem kleinen Bruder, der ihn verwirrt ansah, ehe er sich abwandte und zu gehen anfing.  „… Es … ist … so … kalt …“ Gary blieb stehen, als diese zerbrechliche Stimme plötzlich zu hören war; eine Handlung, die Siberu ihm sofort nachahmte. Zwar verstand nur Gary die deutschen Worte der kleinen Green, doch beide hielten den Atem an, aus Furcht, was wohl passieren würde, wenn Green ihre Stimmen in diesem Moment wahrnehmen würde und sie womöglich früher kennenlernen würde, als es eigentlich vorgesehen war – das würde nämlich auf jeden Fall die Zukunft verändern. Doch Green war nicht wieder bei Bewusstsein: Sie hatte nur im Traum gesprochen und drückte ihren zitternden Körper nun instinktiv an Gary auf der Suche nach der Wärme seines Körpers. Die beiden Brüder wechselten einen Blick aus, der Gary sagte, dass Siberu genau das gleiche gedacht hatte wie er: Sie sollten sich beeilen und die kleine Green schnell irgendwo unterbringen, ehe sie aufwachte und sie dann vor einem überaus schlechten Szenario stehen würden. Was würde geschehen, wenn Green sie bereits jetzt zum ersten Mal sah? Gary wandte sich von Siberu ab und ging entschlossen weiter in den Wald hinein, dicht gefolgt von seinem Bruder, der sich nun in Schweigen hüllte, obwohl ihm genauso viele Fragen durch den Kopf schossen wie Gary. Der Strom an Fragen verstummte jedoch plötzlich, nachdem sie mehrere Meter schweigend vorangegangen waren, denn wieder erklang Greens Stimme:  „…Nicht … lass das … ich will nicht …“ Dieses Mal verlangsamte Gary seine Schritte nicht, obwohl er bemerkte, dass Siberu ihn eindringlich ansah; anscheinend war er sehr erpicht darauf, die Übersetzung dieser Worte zu hören. Gary schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger auf seine Lippen, um Siberu zu verdeutlichen, dass er nicht vorhatte, irgendwie eine Konversation mit ihm zu führen und dass er wohl oder übel warten müsse. Obwohl Gary sich darauf konzentrierte, zügig voranzugehen, fragte er sich unweigerlich, ob Green nur einen schlechten Traum hatte oder ob die Worte tatsächlich an ihn gerichtet waren. Wenn Letzteres zutraf, stellte Gary sich die Frage, warum sie nicht gerettet werden wollte.   Garys Gedanken wurden von Siberu unterbrochen, der seinen Arm plötzlich ausstreckte und nach Westen zeigte. Sein großer Bruder folgte seinem Beispiel und sah in die von ihm gezeigte Richtung - und tatsächlich: zwischen den vielen verhangenen Tannen war Licht zu erkennen. Schnell durchquerten die beiden Halbdämonen die Ansammlung von schneeverhangenen Tannen und erblickten nun ein nett aussehendes Holzhaus, welches an einem zugefrorenen See ruhig und verschlafen dalag. Im Garten standen Spielgeräte, und als Gary einen verstohlenen Blick auf das Schild neben der Eingangstür warf, wurde sein Verdacht schnell bestätigt, dass es sich um ein Waisenhaus handelte; wahrscheinlich das Waisenhaus, in dem Green aufgewachsen war. Gary bedeutete seinem Bruder, dass er bei den Tannen versteckt bleiben sollte und er alleine zur Tür gehen würde. Die Antwort Siberus war ein beleidigter Blick, doch er verzog sich in die Schatten der Nadelbäume, während Gary sich auf den steinernen Gehweg teleportierte, der von der Auffahrt zur Haustür führte. Kurz vor der Tür überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl, was sich verstärkte, als er die kleine Green von sich lösen wollte, diese sich aber krampfhaft dagegen wehrte, indem sie sich verzweifelt - doch nach wie vor schlafend - an ihn klammerte. Im Endeffekt konnte Gary sich aus ihrem Griff befreien, doch das mulmige Gefühl verstärkte sich, als er sie behutsam gegen die Haustür lehnte und einen Blick auf die Holzfassade des Hauses warf. War dieser Ort etwa so schrecklich? Er wirkte sehr gemütlich auf ihn. Gary hatte keine Zeit, um andere Möglichkeiten und die damit verbundenen Konsequenzen für die Zukunft zu überdenken, denn Green schien kurz davor zu sein aufzuwachen und daher betätigte Gary schnell die Klingel. Daraufhin teleportierte er sich zurück zu Siberu und wurde ebenfalls eins mit den Schatten. Das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los, besonders als er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie jemand in der Tür erschien und Green mit hineinnahm, doch die Unruhe wurde schnell von etwas anderem verdrängt: Sein Bruder war kreidebleich, was sicherlich nicht von der Kälte kam.  „… Aniki, wir haben ein klitzekleines Problem …“ Er hielt eine zerbrochene Uhr in der Hand.     03.12.2005 Japan/Tokio     „Bist du sicher, dass es hier ist?“ Mit einem skeptischen Blick hob Kaira den Kopf und sah hinauf zu dem unspektakulären Wohnblock, zu dem ihre Freundin sie geführt hatte. Es hatte wieder aufgehört zu schneien, doch war nach wie vor recht kühl, was Kaira nicht beeinflussen konnte und ihre Begleiterin ebenfalls nicht: obwohl sie sich nichts übergezogen hatte, anders als Kaira, die ihren beigefarbenen Mantel trug, in dem Green sie bereits einmal gesehen hatte. „Ich bin mir absolut sicher!“, antwortete die Angesprochene und ging auch schon an ihr vorbei, die Arme verschränkt und mit einem selbstbewussten Grinsen. Anders als Kaira, die nicht besonders überzeugt war.  „Seit wann halten sich Dämonen in normalen Wohnblöcken auf?“ „Woher soll ich das wissen? Sehe ich so aus, als ob ich der Autor der „Dämonen Enzyklopädie“ wäre?“ Ein verärgertes Seufzen entglitt Kaira im gleichen Moment, in dem die gläserne Tür sich beiseiteschob und die Wächterin direkt auf die Treppe zusteuerte. Etwas was ihrer Begleiterin nicht zu gefallen schien, doch auf die Bemerkung, dass es doch einen Fahrstuhl gäbe, achtete Kaira nicht. Zu sehr war sie darauf erpicht, ihre Uhr zurückzuerhalten, als dass sie Lust hatte, auf das Kommen eines Fahrstuhls zu warten. „Hey, Ai-chan, nun warte doch! Du weißt doch gar nicht, um welches Stockwerk es sich handelt!“ Obwohl sie nicht danach aussah, war das blauhaarige Mädchen alles andere als sportlich, denn es verbrachte den größten Teil seines Alltages vor dem Bildschirm eines Computers und war es nicht gewohnt, sich sportlich zu betätigen; anders als Kaira, die sehr gut trainiert war und die Treppenstufen ohne Probleme hinter sich ließ. Auch der kluge Einwand ihrer Freundin brachte sie nicht zum Stillstand, denn sie fragte beim Rennen, welches Stockwerk es denn sei; darauf nicht auf andere Bewohner des Hauses achtend, die der fahrigen Kaira Platz machten.   „… sechstes!“, keuchte sie erschöpft und musste bereits bei der zweiten Treppe aufgeben, während Kaira vorauslief. Doch da diese nicht wusste, um welche Wohnungsnummer es sich handelte, musste sie wohl oder übel auf ihre Freundin warten, die einige Minuten später keuchend oben ankam und sich erst einmal am Treppengeländer abstützen musste. Darauf nahm Kaira keine Rücksicht und fragte sie barsch nach der gesuchten Wohnungsnummer. Ein oder zwei Mal keuchte die Angesprochene noch erschöpft, ehe sie diese Frage an ihren kleinen Mini-Laptop weitergab und sich dazu aufmachte, an den verschiedenen Türen vorbeizugehen, bis ein Piepen vor der Wohnungsnummer 121 zu hören war. Während Kaira zu eben dieser Tür stürmte, fand die Blauhaarige, dass die Tür des Nachbars viel interessanter war. Gerade als sich Kaira dazu bereit machte, die Tür mit Gewalt zu öffnen, unterbrach sie ihre Begleiterin: „Ai-chan, Ai-chan, es bringt dir nichts, die Tür aufzubrechen! Die Uhr ist momentan nicht da, sie ist in Benutzung.“ Anscheinend war die Angesprochene von diesen Worten nicht gerade überzeugt, denn sie hatte weiterhin das Bein angehoben; jeden Moment dazu bereit, die besagte Tür aufzubrechen. „In Benutzung?“, fragte Kaira skeptisch und fuhr genauso giftig fort: „Wie kann das sein? Ich dachte, Dämonen können unsere Artefakte nicht benutzen, geschweige denn berühren?“ „Das ist falsch; Dämonen können unsere Waffen nicht berühren, da sie mit unseren Ich und unserem Element verbunden sind … aber unsere Artefakte, wozu deine Uhr gehört, besitzen nicht dieselbe Bindung zum Besitzer und können somit von jedem anderen benutzt werden.“ Kaira ließ das Bein herunter und sagte: „Wenn meine Uhr in Benutzung ist, vermindert das auch unsere Chancen, den Dieb zu erwischen. Er wird schlau genug sein, die Zeit zu manipulieren.“ „Ah, das bezweifle ich! Ich kann auf die Uhr zugreifen - und wie es scheint, ist sie beschädigt.“ „Soll das heißen, der Dieb hängt in irgendeiner Zeit fest? Hat er verdient; ich hole ihn gewiss nicht da raus!“, erwiderte Kaira mit einem schadenfrohen Grinsen. „Das kann ich so nicht beurteilen, da sie eben beschädigt ist. Aber wir sollten warten; wenigstens, bis ich das nächste Signal erhalte.“ Mit diesen Worten ließ die Blauhaarige sich auf dem Boden nieder und stützte den kleinen Laptop auf ihren Knien ab. Kaira brannten einige Fragen auf der Zunge, zum Beispiel wie es ihrer Freundin gelang, ein Signal quer über die Zeit zu empfangen, aber sie schwieg lieber, denn sie wollte keine lange, komplizierte Erklärung für dieses Phänomen erhalten und sich wieder dumm fühlen, wenn sie nur die Hälfte davon verstand. Die Zeitwächterin seufzte ärgerlich und setzte sich nun ebenfalls auf den Boden neben ihre Freundin, die fleißig auf ihrem Laptop tippte. Nach ein paar Sekunden fragte Kaira sie, was oder an wen sie schrieb. Die Angesprochene sah nicht auf, doch wieder breitete sich ein Grinsen auf ihrem braungebrannten Gesicht aus. „Es würde dir nicht gefallen, wenn ich dir sage, an wen ich schreibe, Ai-chan …“ „Deine Geheimnistuerei gefällt mir nicht! Raus mit der Sprache, Asuka!“ Die Blauhaarige sah erst jetzt auf und linste sie neckisch an. „Ich schreibe an deinen Schwarm!“ Kaira himmelte genervt mit den Augen, als sie dies sagte und erwiderte, dass er das ganz sicherlich nicht sei. Dennoch war ihr natürlich sofort klar, von wem sie sprach, weshalb sie den Einwand brachte, dass er doch gar nicht mit einem Computer umgehen könne. „Er kann nicht mal einen Computer einschalten; geschweige denn ein Emailpostfach öffnen! Nein, ich hab die Mail an Ryô-kun geschickt, der wird ihm schon Bescheid geben.“ „Worum geht es eigentlich in dieser Mail?“ Das Grinsen der Angesprochenen wurde zu einem schelmischen Lächeln, als sie ihr antwortete: „Konzentrier dich, Ai-chan. Dann spürst du eine kleine, schwache, beinahe nicht spürbare Aura. Gleichzeitig wird dir klar werden, wer die Uhr gestohlen hat … und du wirst auch die Antwort auf deine Frage erhalten.“     24.12.1994 Deutschland/irgendwo im Nirgendwo     „Lass mich raten. Du Trottel hast die Uhr kaputtgemacht und wir sitzen hier fest.“ Siberu sah seinen großen Bruder zutiefst beleidigt an, obwohl er nach wie vor blass war wegen der zerbrochenen Uhr in seinen Händen. Warum bekam eigentlich immer er die Schuld für alles? Egal was? Gary tat wirklich immer so, als wäre Silver der absolute Volltrottel, der alles nur noch schlimmer machte. „Nein, ich war es nicht! Warum gibst du mir ständig die Schuld für alles? Aber … ja, wir sitzen hier fest. Was tun wir?“ „Erstens liegt es wohl daran, dass es immer, oder meistens, deine Schuld ist, dass wir in mühseligen Situationen landen. Zweitens … was wir tun? Schritt eins: Wir geraten nicht in Panik, sondern betrachten das Problem logisch. Schritt zwei: … den muss ich erst entwerfen.“ Sein Bruder sah ihn verzweifelt an und sprang auf die Beine, als Gary Letzteres über die Lippen brachte: „Bei diesen Aussichten soll ich ruhig bleiben?! Aniki, überleg dir was, aber schnell! Ich hab nicht die geringste Lust, hier zur Eisstatue zu erstarren!“ Während er diese Worte panisch über seine Lippen brachte, schüttelte er Gary mehrmals durch, wohl in der Hoffnung, dass dies seinen Denkprozess beschleunigen würde. „Beruhige dich, Silver!“ „Nein! Ich habe keine Lust, mich zu beruhigen! Irgendwann in der Zeit feststecken ist nicht meine Sache! Daran kann man nämlich nichts ändern, indem man die Umgebung in die Luft sprengt! Verdammte Uhr!“ Und ehe Gary etwas tun konnte, wurde die Uhr auch bereits brutal zu Boden geworfen und zu deren Bedauern traf sie dabei einen noch nicht im Schnee ertrunkenen Fels, wodurch das Glas der Digitalanzeige der Uhr nun völlig zerbrach. Im gleichen Moment, in dem Siberu die fatalen Folgen seiner übereiligen Tat begriff, war es bereits zu spät: Die Uhr schien verrückt zu spielen, und bevor die Brüder sich irgendwie wehren konnten, wurden sie beide wieder vom Strom der Zeit verschluckt.     ???     Gary wagte es nicht, die Augen zu öffnen - aus Furcht vor dem, was er erblicken würde, wenn er diese öffnen würde, denn er konnte nicht im Entferntesten erahnen, wo sie sich nun befanden oder wie lange sie dies tun würden, immerhin war die Uhr kaputt und konnte ihren momentanen Aufenthaltsort schnell ändern. Und wieder einmal fragte Gary sich, womit er so einen chaotischen Bruder verdient hatte. „Wehe dir, wenn wir jetzt irgendwann im Jahre 3000 oder so gelandet sind, Silver, dann bring ich dich echt um!“ Da er keine Antwort bekam, war er gezwungen, langsam die Augen zu öffnen und sich nach seinem Bruder umzusehen. Der Schnee war verschwunden; also befanden sie sich mindestens ein Jahr früher oder später, schwer zu beurteilen, denn Gary konnte nichts ausmachen, das irgendwie auf eine bestimmte Zeit schließen ließ. Zwar hatte sich die Jahreszeit geändert, doch sie schienen im gleichen Wald zu sein wie auch schon bei ihrer letzten Reise. Seinen Bruder machte Gary in einem Busch aus, einige Meter von ihm entfernt, sich wieder über seine Haare beschwerend, aus welchen er nun laut vor sich hin fluchend Blätter rupfte. Als ob sie jetzt keine anderen Probleme hatten als seine Haare! „Hey … wollen wir nicht Freundinnen sein?“ Gary schreckte hoch, wie es auch Siberu tat, welcher sich aus dem Busch befreit hatte. Der Rotschopf fand den Ursprung als Erstes und zeigte tonlos in die Richtung, woraufhin Gary hinter den Büschen einen kleinen Spielplatz entdeckte. Somit wusste er nun endlich, in welcher Zeit sie sich befanden, denn er erblickte das gleiche Holzhaus und allzu weit in der Zeit vorangegangen sein konnten sie ebenfalls nicht, denn Gary bemerkte die kleine Green, die er eben noch aus dem Schnee gerettet hatte, obwohl sie ihm den Rücken zugekehrt hatte. Nach wie vor trug sie die gleichen Zöpfe und die gleiche Kleidung, doch war sie ein wenig größer geworden. Wahrscheinlich waren die beiden Halbdämonen nur ein Jahr weitergereist – das magische Artefakt hatte sie noch vergleichsweise glimpflich davonkommen lassen, wie Blue mit einem Anflug von Erleichterung bemerkte. Das Mädchen, welches Green angesprochen hatte, saß einsam auf der Schaukel und sah Green dabei zu, wie sie mit einem in die Jahre gekommenen Basketball Körbe warf. Scheinbar war Green bereits in jungen Jahren gut koordiniert, denn kaum ein Wurf ging daneben. Siberu gesellte sich neben Gary und zischte ihm zu, dass er doch bitte übersetzen möge. „Das ist garantiert das Mädchen, das Green-chan Briefe schreibt.“ „Kann sein“, antwortete Gary nachdenklich, während er es noch einmal ansah. Es war ein kleines Mädchen, sicherlich zwei, drei Jahre jünger als Green, mit einer gewissen kindlichen Lebensfreude in den Augen - ein sanftes Leuchten war in dem Braun seiner Augen eingebettet; es war der gleiche Braunton, wie auch seine Haare, die zu herunterhängenden Zöpfen gebunden waren. Die Kleine sah aus wie ein ganz normales, liebes Kind, welches in einem Waisenhaus garantiert schnell neue Eltern finden würde. Niemand würde solch ein Kind freiwillig weggeben, sie hatte garantiert ihre Eltern auf unnatürliche Weise verloren … Garys Gedankengänge wurden unterbrochen, in dem Moment, wo das Mädchen weiterbohrte, von dem Gedanken beseelt, Green zu ihrer Freundin zu machen: „…Willst du etwa nicht meine Freundin sein?“ Wieder kam keine Antwort. Der Ball wurde nach oben geworfen, berührte den Korb, drehte sich langsam und fiel schlussendlich hinein. Im gleichen Moment, in dem das dumpfe Geräusch des Aufpralls zu hören war, fing das kleine Mädchen auf der Schaukel an zu weinen. Gary wandte den Kopf zu Green, um herauszufinden, wie sie auf die Entwicklung reagieren würde – doch weiterhin versuchte Green sie zu ignorieren, indem sie den Ball aufhob und ihn wieder werfen wollte, als sei nichts geschehen. Doch anstatt dies zu tun, wandte sie den Kopf zu ihr herum und Gary und Siberu konnten nun die Augen Greens sehen; vollkommen anders als die, die sie von ihr kannten. Das Blau ihrer Augen war kaum zu sehen, sie wirkten stattdessen beinahe vollkommen schwarz und ihr Blick war ausdruckslos, vollkommen von jeglichen Gefühlen befreit. Das weinende Mädchen löste kein Mitleid und auch keine Reue aus. Die Lebensfreude, die Gary und Siberu von Green kannten, war nirgends zu sehen und wieder stellte Gary sich die Frage, warum sie in den Wald gelaufen war: Warum? Warum waren ihre Augen so leer? Doch plötzlich tat Green doch etwas, um die Tränen des Mädchens zum Stillstand zu bringen. Sie sammelte einen Teddy, der neben dem Korb gelegen hatte, auf und drückte ihn kurzerhand dem Mädchen in die Arme. Zuerst sah dieses schweigend das kleine Plüschtierchen an, bis es den Kopf hob und Green hoffnungsvoll ansah; doch ihr Gesichtsausdruck blieb eisern und unnachgiebig. Dies schien das Mädchen nicht zu kümmern und von neuer Hoffnung beflügelt streckte es die Hand aus und schüttelte Greens damit. Anstatt diese jedoch gleich wieder loszulassen, drückte es sie fest und rief: „Lass uns Schwestern sein!“ Okay, dachte Gary, das Mädchen war wirklich sehr naiv. Da hatte sie einen indirekten Korb bekommen, jemals mit Green befreundet zu sein und nun wollte sie Green zu ihrer Schwester erklären? Weil sie ihr einen Teddy gegeben hatte? „Mein Name ist Kari!“, brabbelte sie weiter von Euphorie überkommen: „Ich bin gerade erst hergekommen und ich kenne noch niemanden und … und … ich mag Märchen! Kannst du lesen? Ich kann nur ein paar Buchstaben und … kannst du mir welche vorlesen? Ah! Wie heißt du eigentlich?“ „Green …“, antwortete sie und es war offensichtlich, dass sie genauso vom plötzlichen Wortschwall Karis überrumpelt wurde wie Gary, dem es schwerfiel, die Worte so schnell zu übersetzen, wie sie aus dem Munde des Mädchens heraussprudelten. Kari sabbelte munter weiter und schuf so einen Wortschwall, in dem Green hoffnungslos unterging und Gary wählte nicht weiter zu übersetzen, worauf Siberu nun auch ohne Murren verzichtete, denn dieser hatte sich wieder dem Uhrenartefakt gewidmet. „Glaubst du, ich muss sie einfach nochmal auf den Boden schmeißen und dann wird es schon klappen?“ „Nein, das glaub ich nicht!“, raunte Gary ihm zu und wollte gerade die Uhr an sich reißen, als das Gesicht des Rotschopfes sich erhellte. „Hey, klasse! Ich glaub, ich hab was hinbekommen!“ Gary wollte gerade sagen, dass es ihn schwer wundern würde, wenn das tatsächlich wahr sein sollte, doch schon gingen seine Worte wieder im Zeitstrom verloren.     03.01.????   Ein weiteres Mal folgte eine harte Bruchlandung für die zwei Halbdämonen und so langsam konnte Siberu mit ruhigem Gewissen behaupten, dass er die Nase gestrichen voll hatte: Diese dämliche Uhr war entweder darauf programmiert, solcherlei Landungen zu verursachen oder sie hatte etwas gegen Dämonen – was bei einem Wächterartefakt auch nicht allzu verwunderlich wäre. Zum Glück konnte er sich dieses Mal an einem Ast festklammern und sich geschickt auf diesen schwingen, bevor er sich von hier aus erst einmal umsah. Sein Bruder lag gut fünf Meter unter ihm und rieb sich den Kopf, ebenfalls nicht von der unbarmherzigen Landung beeindruckt. „Von wegen du hast es „hinbekommen“ “, hörte er Gary von unten zu ihm hoch maulen, als dieser sich aufrichtete und sich nun ebenfalls umsah. „Ich weiß aber jetzt, was los ist!“ Oh toll; darauf konnte man sich wirklich verlassen, dachte Gary, während er sich den Schnee von seinem Pullover abklopfte und damit auch feststellte, dass die Uhr sie abermals in den Winter geschickt hatte. Siberu achtete nicht auf das genervte Gesicht seines Bruders und fuhr munter fort: „Bevor wir aufgebrochen sind, habe ich nämlich eine Auswahl an Ort- und Zeitdaten eingegeben! Ich schätze mal, die Uhr wird die jetzt der Reihe nach durchgehen bis zum Ende der Liste.“ Langsam, in der festen Überzeugung, dass er sich wohl verhört hatte, hob Gary den Kopf und sein Blick zeugte von vielem, aber gewiss nicht von positiven Gefühlen, daher klang seine Stimme auch nicht sonderlich erfreut, als er den Mund öffnete: „… Silver?“ „Ja, Aniki?“, antwortete der Rotschopf mit seiner unschuldigsten Stimme. „Du bist ein verdammter … Blitzmerker! Das hätte dir auch schon früher einfallen können!“, brüllte er von unten herauf, doch der Angesprochene stellte seine Ohren auf Durchzug und tat damit erfolgreich so als hätte er nichts gehört, während er mit den Beinen wippte. Gerade als Gary ein zweites Mal ausholte, um ihn noch weiter zurechtzuweisen, sichtete Siberu plötzlich etwas, was seine Haut sicherlich erst einmal retten würde. „Ey, Aniki, ich kann Green-chan sehen!“ Das war wahrlich der entscheidende Funke, der Gary das vorige Thema vergessen ließ und schon tauchte er neben Siberu auf dessen Ast auf und sah in die Richtung, in die sein kleiner Bruder zeigte - womit er Green nun ebenfalls erblicken konnte. Ein dicker Schal verdeckte die Hälfte ihres Gesichtes und es war nur allzu deutlich, dass sie ihn doppelt und dreifach herumgewickelt hatte, denn der Schal war eindeutig zu lang für das kleine Mädchen. Anhand ihrer Körpergröße war zu erkennen, dass sie einige Jahre bereits hinter sich gelassen haben mussten, doch obwohl ihr Körper gewachsen war, hatte sich ihr Äußeres kaum verändert; nach wie vor trug sie geflochtene Zöpfe und auch die leeren blauen Augen waren unverändert; genauso unverändert schien auch die Bekanntschaft mit dem Mädchen zu sein, welches die Hand Greens fest in seiner hielt und weiterhin munter auf sie einredete; scheinbar ohne eine Antwort zu erwarten. Die zwei Mädchen schienen auf dem Weg zu einem See zu sein, den Gary am Ende des Weges ausmachen konnte und kaum, dass er diesen gesichtet hatte, sprang er auch schon vom Baum herunter. „Lass uns mal hinterher, Silver. Wir haben ja sowieso nichts Besseres zu tun.“ Dies musste er dem Jüngeren nicht zweimal sagen; denn schon als sein Bruder seinen Satz beendet hatte, war Siberu bereits auf dem Weg zum See. Mit einem breiten Grinsen ihm zugewandt rief er: „Wetten ich bin schneller als du!?“ Gary verdrehte die Augen, doch obwohl er genervt tat von Siberus kindlichem Verhalten, war er es nicht, wie das Schmunzeln in seinem Gesicht verriet; nein, er freute sich insgeheim darüber. Fast, aber nur fast, wie früher … „Kommst du nun oder bist du schon festgefroren?!“ Kaum dass Siberu ihm dies zugerufen hatte, stand Gary auch schon neben seinem Bruder, der einige Meter weiter auf ihn gewartet hatte und nun ein beleidigtes Schmollen aufsetzte.  „Hey, teleportieren ist nicht fair.“ „Man sollte nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus sitzt“, antworte Gary neckisch, doch anstatt ihm eine Antwort zu geben, flitze Siberu bereits los. Gary folgte seinem Beispiel, doch hatte schon verloren, ehe er zu laufen begonnen hatte, denn Siberus Spezialgebiet war schon immer die Schnelligkeit gewesen: Gary hatte ihn noch nie eingeholt, egal wie oft sie gegeneinander angetreten waren. Vielleicht gefiel es ihm auch deswegen so sehr, gegen seinen großen Bruder anzutreten; um immer wieder als Sieger hervorzugehen. Das Einzige, was dieses Wettrennen von den tausend anderen unterschied, war der Umstand, dass Siberu so schnell war, dass er beinahe in den Fluss gefallen wäre, denn dieser war nicht zugefroren. Davon ließ er sich nicht beeinflussen und sagte mit vor Stolz geschwellter Brust: „Muhahahaha! Ich war mal wieder schneller als du, Blue! Du bist einfach viel zu langsam, Aniki!“ „Irgendetwas musst du ja können“, entgegnete Gary mit einem angedeuteten Grinsen, doch ehe die beiden Brüder sich einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen widmen konnten, dem Streiten, hörten sie plötzlich einen spitzen Schrei, der vom See her kam. Es handelte sich eindeutig um die Stimme eines Mädchens und Siberu und Gary hatten genau den gleichen Gedanken. Sie sahen sich kurz an, ehe sie sich herumdrehten und auf den See zusteuerten, wo sie sich, ohne bemerkt zu werden, hinter ein paar zugeschneiten Büschen versteckten, ungefähr 30 Meter vom See entfernt, um nicht entdeckt zu werden. Sehen konnten sie jedoch wunderbar und entdeckten so, dass ihr Bauchgefühl sie nicht getäuscht hatte; der Schrei war tatsächlich von Green gekommen, welche sich an Karis Arm klammerte. Die beiden Mädchen standen zusammen mit einer Handvoll anderer Kinder auf dem See, der mit einer dichten Eisschicht bedeckt zu sein schien. Anscheinend war die Eisschicht allerdings nicht so dick, wie es den Anschein hatte, denn einige Meter von den Kindern entfernt befand sich ein Loch im Eis und es war unschwer zu erkennen, dass Greens nasses Bein daher rührte; was auch ihren geschockten Gesichtsausdruck erklärte. Obendrein fiel Gary auf, dass sie das einzige Kind war, welches keine Schlittschuhe dabeihatte. „Was ist da los?“, fragte Siberu, in der Hoffnung, eine Übersetzung von seinem Bruder zu erhalten. „Sie streiten sich.“ Und Kari war ganz vornean dabei; anscheinend konnte sie nicht nur nutzloses Zeug herunterrattern, sondern nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund und scheute sich nicht, Partei für Green zu ergreifen, obwohl so viele gegen sie waren: „Warum habt ihr Schwester Green geschubst?!“ „Wir?! Ist doch nicht unsere Schuld, dass die zu blöd zum Schlittschuhlaufen ist!“, antwortete einer der Jungen - von der Größe zu urteilen war er scheinbar der Älteste und wohl auch der Anführer, denn die anderen Kinder sammelten sich hinter ihm und gegen Kari und Green. „Wie feige! Sieben gegen zwei Mädchen!“, sagte Siberu mit Abscheu in der Stimme. Es war deutlich, dass er am liebsten zu ihnen gehen würde, um ihnen zu zeigen, wo es lang ging; und der richtige Weg war ganz sicher nicht, Green ins eiskalte Wasser zu schubsen. „Denkst du das Gleiche wie ich?“ Siberu hatte den Kopf zu Gary gewandt, als er dies fragte, doch obwohl sein Bruder seinen Gedanken teilte, antwortete er: „Ja – aber du wirst schön hier bleiben: Green darf uns nicht sehen! Haben wir uns verstanden?“ Beleidigt und auch ein wenig wütend grummelte der Angesprochene und wandte sich wieder dem erhitzten Geschehen zu, dem auch Gary nachdenklich folgte. War das der Grund für Greens leere Augen? Der Grund dafür, dass sie als fünfjähriges Mädchen in den Wald geflohen war? Ordinäres Mobbing? Nein, so etwas wie „ordinäres Mobbing“ gab es nicht. Ganz gleich wie man es nannte - ärgern, hänseln, Mobbing - es war niemals ordinär, es war niemals harmlos. Was das anging, dachte Gary mit einem ironischen Lächeln, standen die Menschen den Dämonen in nichts nach. Sie waren immer gut darin, genau den Schwachpunkt ihrer Mitmenschen herauszufinden, der am meisten schmerzte und an dem das Opfer schlussendlich zugrunde gehen konnte: Mobbing war eine stille Art zu sterben und damit alles andere als „ordinär“. Eben dieser Punkt war bei Green offensichtlich die Kälte und alles, was damit zu tun hatte und scheinbar waren diese Kinder Experten darin, diesen wunden Punkt auszuspielen. Doch Green war nicht alleine. Zwar hatte Gary Kari bereits als ein kleines, nerviges Mädchen abgestempelt, doch ihre Augen strahlten vor Selbstbewusstsein, und obwohl sie sicherlich mehr als zwei Jahre jünger war als Green, beschützte diese ihre „Schwester“ mit einer Entschlossenheit, die wahrlich beeindruckend war.  „Ihr lügt! Ich habe genau gesehen, wie ihr Schwester Green geschubst habt! Immerhin war es auch nicht das erste Mal!“, übersetzte Gary für seinen kleinen Bruder und schon ging es weiter mit der Antwort des Ältesten: „Dann soll die eben nicht hier aufkreuzen, soll sie doch in ihrem Zimmer bleiben, wo sie niemand sehen kann. Hier hat sie nichts zu suchen; am besten sie geht gleich ganz! Aber wer will schon so ein Mädchen haben. Nicht wahr, Green? Du bist doch von uns allen schon am längsten hier – woher kommt das wohl?“ Doch gerade als Kari zurück fauchen wollte, meldete sich Green auch mal zu Wort; ihre Stimme klang allerdings um einiges kläglicher als die ihrer „Schwester“: „Kari … Lass gut sein … Mir ist kalt … Ich will zurück … “ „Gute Idee, Schwester Green! Dann melden wir das auch gleich mal!“ Sie wandte sich an die Gruppe und mit giftigen Augen sagte sie abfällig: „Dann bekommt ihr eure gerechte Strafe!“ Der Junge sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und erwiderte: „Ach. Wie sonst auch, was?“ Dies quittierte Kari mit einem finsteren Blick, während sie Green an die Hand nahm und sie davonzerrte. Kaum dass sie außer Hörweite waren, begann die Gruppe zu lachen - ein boshaftes, schadenfrohes Lachen und Gary war sich sicher, dass sie wahrlich noch nie ihre gerechte Strafe erhalten hatten. „Denen stopf ich jetzt das Maul! So behandelt niemand meine Green-chan!“ Siberu war bereits dabei sich aufzurichten, doch Gary zog ihn zurück in den Schnee, mit den mahnenden Worten, dass sie die Zukunft nicht verändern dürften: „So schwer es dir auch fallen mag, bleib auf dem Teppich. Sonst veränderst du womöglich noch irgendetwas an Greens Charakter – und das willst du doch nicht, oder?“ Der Rotschopf biss die Zähne zusammen, grummelte und setzte sich wieder hin. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er Gary leider recht geben und somit tatenlos bleiben musste. Doch ehe er etwas sagen konnte, was seinen Widerwillen würde ausdrücken können, verlangte die Uhr seine Aufmerksamkeit.     Beide Halbdämonen hofften in diesem Moment wohl dasselbe; dass es sich hoffentlich um die letzte Bruchhandlung handeln würde und sie endlich wieder in Tokio waren, doch leider wurden sie schnell enttäuscht, denn wieder vernahmen sie beklemmende, nasse Kälte um sich herum und spürten die Schneeflocken auf ihrer Haut. Doch noch bevor sie die Augen öffneten hörten sie beide etwas in der Ferne. Zuerst konnten sie es nicht definieren, doch dann wurde ihnen klar, was das Geräusch war, welches ihre empfindlichen Ohren berührte. Es war das klägliche Weinen eines Mädchens. Beide öffneten ihre Augen und fanden sich mitten in der Nacht umgeben von Schnee wieder, keine 20 Meter von dem Waisenhaus entfernt. Dieses Mal sahen sie jedoch auf die Rückseite des Hauses, ganz in der Nähe des zugefrorenen Sees, von wo auch die Stimme kam. Zwar waren sie nicht allzu weit weg vom See, doch konnten nicht sehen, wem die Stimme gehörte und wenn sie aufstehen würden, würde man sie wahrscheinlich sehen können, denn auf der zugeschneiten Wiese befand sich nichts, wohinter man sich verstecken könnte. „Aniki!“ Von dem Flüsterton seines Bruders dazu aufgefordert sah er nach rechts, wo er einige hohe Bäume am Waldesrand ausmachte. Er verstand den Wink Siberus und nickte. Kurzerhand teleportierten sich beide auf den Baum, der am höchsten war und dessen Äste nicht aufgrund des Gewichtes der beiden Halbdämonen womöglich noch nachgeben würden. Man konnte zwar nicht gerade behaupten, dass sie einen Logenplatz ergattert hatten, aber wenigstens konnten sie nun auf die Oberfläche des Sees heruntersehen und die einsame Person ausmachen, die so kläglich mitten auf dem See in sich zusammengekauert wie eine kleine Kugel hockte und qualvoll weinte. Es war Green, die sich selbst in dieser Kälte umarmte und deren Hände sich hoch und runter bewegten, im Versuch ihre Arme zu wärmen. Sie zitterte am ganzen Körper, doch war Gary sich nicht sicher, ob das nur wegen der Kälte kam, oder ob es dafür nicht noch einen anderen Grund gab … Jetzt jedenfalls verstand Gary, warum sie Angst vor Schnee und Kälte hatte; es war wohl, weil sie als Kind beinahe erfroren wäre und weil sie mit dem Heranwachsen immer und immer wieder damit gepeinigt wurde - nichts als schlechte Erinnerungen damit verband. Der Schnee und die Kälte riefen diese Erinnerungen jedes Mal aufs Neue wieder in ihr hoch … „Das war das letzte Datum … lass uns zurückzukehren, in unsere Zeit.“ Gary sah zur Seite, wo Siberu dies eben gesagt hatte und bemerkte, dass ihm alles andere als wohl dabei war, Green so zu sehen. „Ich habe das dringende Bedürfnis, Green-chan ganz doll zu drücken.“     03.12.2005 Japan / Tokio   Auch die letzte Landung konnte nicht gerade als bequem bezeichnet werden, denn wieder einmal war sie schmerzhaft: Doch sie waren in ihren eigenen vier Wänden angelangt. Doch selbige vier Wände waren nicht so verlassen, wie sie eigentlich sein sollten. Siberus ach so toller Plan war nach hinten losgegangen, wie Gary schnell bemerkte; nicht nur anhand der Frauenschuhe vor seinen Augen, sondern auch anhand zweier Auren - die eine fremd, die andere merklich bekannt und beunruhigend. „Willkommen zurück im Jahre 2005!“, sagte eine fremde Stimme im gleichen Moment, wo Gary und Siberu aufsprangen und Rücken an Rücken Angriffspositionen einnahmen, so dass sie jeder einem der beiden Gegner entgegenstanden: Siberu Kaira und Gary dem ihm unbekannten Mädchen. Doch von eben diesen beiden Eindringlingen war es nur Kaira, die mehr als angriffsbereit aussah; die andere hatte es sich auf der Küchentheke bequem gemacht und rührte in ihrem Kaffee herum.  „Wer seid ihr und was wollt ihr von uns?“, fragte Gary, den Blick auf das Mädchen ihm gegenüber gerichtet. Doch die Antwort kam von Kaira hinter ihm: „Ich will nur zurück, was ihr mir gestohlen habt!“ Alle Blicke wanderten zum Rotschopf, welcher ein unschuldiges Grinsen aufgesetzt hatte. „Ich hab nix gemac-“ Doch weiter kam er nicht, denn als hätte das blauhaarige Mädchen Siberu erst jetzt bemerkt, sprang sie plötzlich von der Theke herunter und die Angriffsposition der beiden Halbdämonen zerbrach in dem Moment, wo das Mädchen den Rotschopf stürmisch an ihre recht vorteilhafte Brust drückte und somit beinahe erstickte. „O wie niedlich! Was für ein knuffiges Exemplar! Du siehst in echt ja noch viel süßer aus!“ Von diesem Anblick geschockt sahen Gary und Kaira gleichermaßen fassungslos aus; beiden hatte es die Sprache verschlagen. Klar hatte Gary schon öfter erlebt, dass irgendwelche Mädchen sich stürmisch an seinen Bruder warfen, aber dass es eine potentielle Feindin tat, war ihm neu.  „Und diese Haare! Ist das naturrot?“ „Asuka! Du spinnst wohl! Das ist ein DÄMON!“, mischte sich nun auch Kaira ein, die vor Wut ganz rot geworden war. „Aber, er ist so süß …“ „Seit wann stehst du auf Jüngere!? Darf ich dich daran erinnern, dass du 18 bist?! Benimm dich gefälligst auch so! Wo ist deine Ausbildung, in Lights Namen?!“ „Was zur Hölle ist denn hier los?“ Alle Blicke wandten sich zur Tür, wo Green aufgetaucht war, zusammen mit Pink, die auf und ab sprang, um über Greens Schultern blicken zu können. Da alle Augenpaare sie fragend ansahen, erklärte Green: „Pink hat fremde Auren gespürt, daher hat sie mich aus dem Bett geworfen und …“ Das blauhaarige Mädchen ließ ihre Hände von Siberu fallen, warf Kaira die Uhr zu, die sie dem Rotschopf während der Umarmung abgenommen hatte, und schritt vor, sodass sie nur noch einige Meter vor Green stand. Green war diejenige, die am überraschtesten aussah, als das Mädchen plötzlich grinsend eine elegante Verbeugung vor Green ausführte und die Hand zu ihrer Brust führte, als sie sagte: „Mein Name ist Tinami Kikou Asuka, Elementarwächterin des Klimas, Rang eins. Mein Gehirn steht Euch zur Verfügung, Hikari-sama!“ Green wich einen Schritt zurück, als Tinami dies mit geschwollener Brust verkündete und ihr Blick verriet, dass sie alles andere war als geehrt: Sie verstand nur Bahnhof und konnte mit der Vorstellung nichts anfangen. „Ich hab selbst eins, aber danke.“ Grinsend richtete sich Tinami wieder auf und antwortete: „Daran zweifle ich nicht, Hikari-sama.“ Green runzelte die Stirn, als die Wächterin sie ein zweites Mal so nannte, was ihrem Gegenüber scheinbar auffiel, denn sie fragte: „Ich nenne Euch gerne anders, denn ich mag Spitznamen! Was haltet Ihr von „Ee-chan““? „“Ee-chan“?“ „Ja, von Green, das doppelte „E“.“ „Ehm, okay?“ Green warf einen verwirrten Blick an Gary und Siberu, die beide ebenso verwirrt mit den Schultern zuckten. „Asuka, kommst du gefälligst mal in die Hufe? Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“, sagte Kaira ruppig und gesellte sich nun neben Tinami, die Arme verschränkt und die Stirn in genervte Falten gelegt. „Hast du dich überhaupt vorgestellt, Ai-chan?“ Ein verächtliches Schnauben war die Antwort auf diese Frage, sodass Tinami fortfuhr: „Anscheinend darf ich vorstellen: Das ist Kaira Toki Kitayima, Elementarwächterin der Zeit, Rang eins. Eine ausgezeichnete Kriegerin, die Eu-, ich meine, dir sicherlich gute Dienste leisten wird im Krieg.“ Green hob skeptisch die Augenbraue und wiederholte das letzte Wort fragend, wieder einen Blick an ihre beiden Halbdämonen richtend. „Ja, Krieg, gegen unsere Feinde, Najotake“, antwortete Kaira mit einem fast schon schadenfrohen Lächeln, und während sie das Wort „Feinde“ langsam ausgesprochen hatte, hatte sie merkwürdigerweise zu Siberu und Gary geguckt. „Aber wir sind nicht die Richtigen, es dir zu erklären, Ee-chan! Das wird dein großer Bruder tun.“ Green, die eben noch gereizt protestieren wollte, sah sie nun beide verblüfft an. „Mein … großer Bruder?“     Fertiggestellt: 20.01.11 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)