Betrayal von Evaleska (Gemeinsame Geschichte) ================================================================================ Teil II - Die Botschaft des Buches ---------------------------------- Dann allerdings verschoben sich die Linien erneut und Rufus konnte nicht anders, als mit vor Schrecken aufgerissenen Augen die nächsten Worte zu lesen... ~*~ „Aber morgen wird es zu spät sein“ formte sich die neue Botschaft. Rufus starrte auf den Einband, unfähig sich zu bewegen. Wenngleich diese Worte eine völlig andere Bedeutung haben mochten, paralysierten sie ihn wie eine ernstgemeinte Drohung. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu verdrängen. Als er erneut hinsah, waren die Linien an ihren Platz zurückgewichen, die Symbole formten wieder die Verzierung, mit der das Buch vorgefunden hatte. War alles nur Einbildung gewesen? Seine zitternde Hand näherte sich dem Fundstück, verharrte Millimeter vor dem ledernen Einband, bevor Rufus sich dazu durchringen konnte, ihn ein weiteres Mal zu berühren. Er hob das Buch in das spärliche Licht, welches durch die offene Tür hinter ihm drang. Dort stand definitiv nichts geschrieben. An seiner Wahrnehmung zweifelnd wollte der Junge das Buch beiseitelegen. Dabei streifte sein Handrücken den kleinen rostigen Schlüssel, der unverändert ihm Schloss steckte. Er stoppte in seiner Bewegung und griff danach. Verwirrt stellte er fest, dass er sich kein bisschen bewegte. Rufus hielt kurz inne und zerrte dann kräftig an dem Schlüssel. Dieser leistete vehement Widerstand, rührte sich nicht von der Stelle. Auch als der Junge ihn in verschiedene Richtungen drehte und erneut daran zog, waren seine Versuche nicht von Erfolg gekrönt. „Das kann doch nicht sein“, murmelte er skeptisch und legte den schweren Gegenstand diesmal bedeutend vorsichtiger auf die Dielen. Sein Blick glitt zu der Truhe. Ob es jemand bemerken würde, wenn er das Buch mitsamt Schlüssel zurücklegte? Vielleicht war das Glück auf seiner Seite und es sah niemand danach. Bevor er die Möglichkeit hatte, etwas zu tun, vernahm er hinter sich das Geräusch von Schritten. Erschrocken fuhr er herum, seine Muskeln verkrampften sich. Noch konnte er niemanden ausmachen, doch es näherte sich ihm zweifellos jemand. Schnell aber leise schloss er den Deckel der Truhe und wich an die nächste Wand zurück. Der Speicher stand voll mit altem Plunder, von dem er gedacht hatte, es würde ihn gar nicht mehr geben. So versteckte er sich hinter einem durch ein verstaubtes graues Tuch bedeckten Spiegel. Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Stille. Die Angst vor dem Buch von zuvor wich einer ausgewachsenen Panik vor dem, was dort auf ihn zukam. Moment! Rufus wurde schmerzlich bewusst, dass er etwas vergessen hatte. Das Buch! Sein Blick huschte zur Truhe. Davor lag das seltsame Buch unverändert an der Stelle, wo er es zuvor abgelegt hatte. Rufus stieß einen stummen Fluch aus. In diesem Moment erreichten die Schritte den Speicher. Der Dielenboden knarrte, als sich schwere Stiefel darauf stellten. Teil III - Flucht ----------------- Dem Jungen blieb fast das Herz stehen als der Mann kurz hinter dem Vorhang inne hielt, sich langsam umdrehte und seine Hand in die Richtung des Vorhangs streckte... ~*~ Reflexartig hielt Rufus den Atem an. Sein Herzschlag pochte in seinen Ohren, sodass er fürchtete, das Klopfen würde seine Position verraten. Tatsächlich näherte sich die Hand des Fremden weiter dem Vorhang, näherte sich seinem Auge. Der Junge drückte sich gegen die Wand, bis sein Rücken schmerzte. Gerade rechtzeitig riss der den Kopf zur Seite, als zwei Finger durch das Brandloch griffen. Panisch hoffte er, dass seine hektische Bewegung den schweren Stoff nicht zu sehr in Wallungen versetzt hatte. Seine Augen waren gen Boden gerichtet, wo er die Stiefel des Fremden ausmachen konnte. "Komm schon. Hier entlang", brüllte eine Stimme durch den Salon. Die Finger verharrten noch einen Moment an Ort und Stelle, dann verschwanden sie aus dem Loch und der Fremde ging. Rufus blieb reglos stehen, obwohl sich die Schritte bereits von ihm entfernten. Erst als eine Tür geräuschvoll klirrend ins Schloss fiel, wagte er wieder zu atmen. Gierig sog er die Luft ein. Vorsichtig schob er den Vorhang beiseite. Der Raum war verlassen. Sein Blick glitt hinüber zu der verglasten Salontür. Sie war die wohl einzige im Haus, die er allein vom Klang des Schließens her erkennen und zuordnen konnte. Dennoch war es sein Glück gewesen, dass der Fremde von jemandem gerufen worden war. Vermutlich gehörte der dritte Mann ebenfalls zu dem Angreifer auf dem Speicher. Der Junge umklammerte das Buch an seiner Brust und trat einige Schritt vor, der Vorhang glitt leise in seine Ausgangsposition zurück. Ob sein Stiefvater den Kampf für sich hatte entscheiden können? Im selben Augenblick verkrampfte sich sein gesamter Körper. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde übermächtig. Fast schon wusste er, wer da seitlich hinter ihm stand, noch bevor derjenige das Wort erhob. "Hier steckst du." Sein Atem ging schwer, als Rufus hastig die gegenüberliegende Wand nach einem Fluchtweg absuchte. Dort jedoch gab es lediglich einen Ausweg, den er eigentlich vermeiden wollte. Ruckartig wandte er sich um. Vor ihm baute sich der Fremde vom Speicher auf. Die grünen Augen schienen ihn durchbohren zu wollen. "Wo ist mein Stiefvater?" In dieser Situation seine eigene Stimme zu hören, irritierte den Jungen, doch er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Stiefvater den Kampf verloren haben sollte. Das war unmöglich, dafür war er zu stark. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich wieder um und rannte los. Er rannte geradewegs auf die Wand, auf seinen Fluchtweg zu. Eine Hand löste er vom Buch, um sich damit am hölzernen Rahmen abzustützen. Feine Glassplitter schnitten ihm ins Fleisch, als er das Gewicht verlagerte und aus dem Fenster sprang. Für einen irrwitzigen Moment war er dem Fremden dankbar, der zuvor durch eben dieses in den Salon eingedrungen war. Seine Füße kamen hart auf der Grasfläche auf. Der Schmerz durchfuhr Rufus binnen Sekunden. Er ignorierte ihn und rannte weiter. Schließlich riskierte er einen Blick über die Schulter, nur um festzustellen, dass sich die Anzahl seiner Verfolger verdreifacht hatte - der Angreifer vom Speicher befand sich jedoch seltsamerweise nicht darunter. Rufus konnte nicht abschätzen, wie lange ihn seine Kondition diese Hetzjagd durchhalten ließ. Mit seiner bedeutend geringeren Körpergröße würde er allerdings ohnehin bald geschnappt werden. Nun bereute er, das Haus verlassen zu haben. Hier draußen gab es nahezu keine Möglichkeit sich zu verstecken oder die Fremden abzuschütteln. Das tiefe, unheimliche Knurren erklang so plötzlich, dass der Junge zusammenzuckte. Direkt vor ihm stand einer der Wachhunde, den Kopf erhoben mit funkelnden wilden Augen, die Lefzen zurückgezogen. Er knurrte erneut. Unfähig rechtzeitig anzuhalten, versuchte Rufus, dem Tier auszuweichen, wobei er sich den Fuß vertrat und der Länge nach ins Gras fiel. Dabei entglitt das Buch seinen Händen und rutschte von ihm fort. Auf allen Vieren krabbelte er darauf zu. Wenn der Hund, ein Wachhund seines Stiefvaters, der das Betrayal immerhin nicht den Fremden überlassen wollte, ihm nicht half, hätten die Eindringlinge ihre Beute gefasst. Das Knurren brach nicht ab. Dafür verstummten die dumpfen Schritte der Männer. Unsicher drehte sich der Junge auf die Seite, um die Situation zu überblicken. Sein Herz rutschte ihm augenblicklich in die Hose. Teil VI - Die Frau und der Rabe ------------------------------- Er versuchte, die Person zu erkennen – eine Frau, gekleidet in schwarz und violett, eisblaue Augen, die ihm trotz des fremdartigen amüsierten Funkelns darin, bekannt vorkamen – aber zumindest im ersten Moment wusste er nicht, wen er da vor sich hatte. Erst als sie wieder den Mund öffnete und etwas sagte, erkannte er in ihr seine Retterin von zuvor wieder. Aber das, was sie sagte, verschlug ihm, trotz des leicht spöttischen Untertons in ihrer Stimme, regelrecht die Sprache: „Sei gegrüßt, Hüter von Betrayal.“ ~*~ „Wer sind Sie?“, stieß Rufus hervor, nachdem er sich gesammelt hatte, und verurteilte sich zeitgleich für die geistlose Idee, einen Fremden vor allem anderen nach seinem Namen zu fragen. Damit würde er nun wirklich rein gar nichts anfangen können. Die Frau legte den Kopf schief. Ihre Augen verweilten lange auf dem Buch in seinen Armen, bevor ihr Blick den seinen suchte. „Wer ich bin spielt keine Rolle“, antwortete sie entschieden und fuhr rasch fort, um jeden Protest zu unterbinden. „Wichtiger ist, wer du bist und was du durch deine Taten bereits bewirkt hast.“ Ihre letzten Worte klangen fast wie ein Vorwurf. Der Junge starrte sie haltlos verwirrt an. „Wo bin ich?“, startete er dann einen erneuten Versuch, der Unbekannten Informationen zu entlocken, die ihn vorrangig interessierten. „Belanglos“, erwiderte die Frau jedoch. „Das Buch- Du bist hier in Sicherheit. Zumindest vorerst.“ Ihr war das Buch also in der Tat wichtig, wichtiger als er selbst, den sie zuvor noch als Hüter bezeichnet hatte. Womöglich konnte er von ihr nur solange Hilfe erwarten, wie sich das Betrayal in seinem Besitz befand. Obwohl… Bei genauerer Betrachtung konnte er auf ihre Hilfe durchaus verzichten! Rufus verzog genervt das Gesicht. Diese Unterhaltung brachte ihn kein Stück weiter. „Wer waren diese Männer?“, wollte der Junge wissen, felsenfest davon überzeugt, wieder keine eindeutige Antwort zu erhalten. Die Unbekannte legte die Finger ihrer linken Hand auf den Tisch und fuhr vorsichtig über das Holz, ihr Blick folgte den Bewegungen. „Um dir das zu erklären, müsste ich weit zurückgehen. Und für derartige Ausführungen habe ich weder Zeit noch Geduld“, sagte sie schließlich und sah schlagartig auf, ihre blauen Augen schienen zu glühen. „Diese Männer suchen das Buch. Sie haben erfahren, dass es sich im Besitz deines Stiefvaters befindet, und wollten es sich zu Eigen machen. Nun, das ging schief, wie du mitbekommen haben dürftest. Folglich sind sie auf der Jagd nach dir. Du verstehst also, dass du für mich ein enormes Sicherheitsrisiko darstellst.“ Rufus klappte der Mund auf. Sicherheitsrisiko? „Und wiederum als Folge daraus wäre es für alle Beteiligten das Beste, wenn ich das Buch an mich nehme und du diesen Ort schnellstmöglich verlässt“, fuhr die Frau ungehindert fort. „Die Männer werden dir folgen, in dem Glauben, du hättest das Betrayal, und mir bleibt ausreichend Zeit, es dorthin zu bringen, wo sie es niemals werden erreichen können.“ Die Unbekannte kam näher und streckte die Hand nach dem Jungen aus. „Gib es mir.“ Völlig überrumpelt tat Rufus erst einmal gar nichts. Er stand stocksteif da, das Buch im eisernen Griff, und sah sein Gegenüber stillschweigend an. Er wusste nicht, ob die Frau verrückt genug war, um ihm gefährlich zu werden, oder einfach nur in einem Anflug geistiger Umnachtung sinnlos vor sich hin brabbelte. Fakt war, er selbst interessierte sie überhaupt nicht. Für alle Beteiligten - ja von wegen! Sie würde ihn ins offene Messer laufen lassen und sich mit dem Buch aus dem Staub machen! Er würde ihr Betrayal niemals überlassen. Prompt stahl sich ein Gedanke in seine Überlegungen, den er zuvor verdrängt hatte. Wenn sie das Buch wollte, warum hatte sie es sich nicht genommen, als sie die Gelegenheit dazu hatte? Eben diese Frage sprach er sogleich laut aus. Der ausgestreckte Arm der Unbekannten verkrampfte sich und ihr Blick wurde eisig. Offenbar haderte sie mit sich, ob sie darauf antworten sollte. Rufus überlegte bereits, das Gesagte noch einmal zu wiederholen. „Weil der Hüter es von sich aus - freiwillig - herausgeben muss.“ Das war in der Tat eine Information, mit der Rufus etwas anfangen konnte und die ihn zugleich begeisterte und in tiefe Sorge versetzte. Betrayal war für ihn eine Art Lebensversicherung, allerdings wagte er sich nicht auszumalen, was die Männer oder auch diese Frau ihm antun würden, um ihn zu überreden, das Buch zu überreichen. „Wo wollen Sie es hinbringen?“, nahm er den Faden wieder auf, um die Unbekannte weiter in ein Gespräch zu verwickeln, damit sie nicht auf dumme Ideen kam. „Sie sprachen von einem Ort, an dem es für die Männer unerreichbar sein würde.“ Der Zorn im Blick der Frau schien förmlich zu explodieren. Sie zog den Arm zurück und ballte die Hände zu Fäusten. „Ebenso sagte ich, dass ich es hinbringen werde!“, schrie sie ihn an. „Ein kleiner Junge, ein Kind wie du, wird nie dorthin gelangen!“ Im nächsten Moment wandelte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht um 180 Grad. „Es ist eine lange Reise. Du kannst sie unmöglich alleine antreten, zumal du nicht einmal den Weg kennst.“ War Rufus zunächst erschrocken zurückgewichen, musterte er die Frau nun wieder verwirrt. „Versteh doch, die Männer dürfen das Buch nicht bekommen, auf gar keinen Fall“, beharrte sie. Allmählich wirkte sie sogar verzweifelt. „Es muss an diesen Ort gebracht werden. Dort ist es sicher, dort ist sein angestammter Platz.“ Der Junge überlegte fieberhaft, ob irgendetwas von dem, was diese seltsame Frau da von sich gab, der Wahrheit entsprechen konnte. Ein sicherer Ort klang durchaus verlockend, vor allem nach der Hektik der letzten Stunden. Jedoch zweifelte er stark an der geistigen Verfassung der Unbekannten. Gehetzt wanderten seine Augen zwischen dieser und der Tür hin und her. Einem spontanen Impuls folgend, entschied er sich für Letztere. Mit wenigen Schritten hastete er zur Tür, riss sie auf und - wäre fast vornüber gekippt. Die Hand der Frau, die urplötzlich hinter ihm stand, schloss sich um seinen Oberarm und bewahrte ihn vor einem Fall ins Bodenlose. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er in den finsteren Abgrund, der sich jenseits der Tür vor ihm auftat. Der Rabe auf dem Bücherregal begann zu krächzen. Es klang gehässig, wie ein animalisches Lachen. Der Vogel machte sich über ihn lustig. Ein Blick über seine Schulter verriet Rufus, dass das Tier soeben auf den Tisch geflogen war. Das schwarzes Gefieder glänzte im Schein der Laterne und in seinen dunklen kleinen Augen lag ein undefinierbares Leuchten. Sein Abbild wurde durch das Licht ins Unendliche vergrößert und bedeckte als bedrohlicher Schatten die gesamte Wand. Mit einem Ruck zog die Frau den Jungen in den Raum zurück. Sie schloss die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. „Genau das wollte ich vermeiden“, meinte sie seufzend und schüttelte den Kopf. Bevor Rufus nachfragen konnte, zog eine rasche Bewegung des Raben, seine volle Aufmerksamkeit auf das Tier auf dem Tisch. Was er dort sah, ließ ihn regelrecht vom Glauben abfallen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)