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Familienbande

von

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Volltreffer

XVII. Volltreffer
 

Justin starrte ungläubig in Richtung des Wohnzimmertisches. Es war der 6. Dezember, Nikolaus, und Gus plünderte seinen mit Süßkram vollgestopften Strumpf. Angespitzt durch die Aufregung in seiner Kindergartengruppe hatte er mit absoluter Selbstverständlichkeit am Vorabend seine Wäscheschublade geplündert, bis er endlich nach langem Vergleichen das seines Erachtens größte Exemplar gefunden hatte. Brian hatte nicht schlecht geguckt, als sein Sohn damit an ihm vorbei Richtung Kamin getrabt war.
 

Aber das erklärte noch lange nicht das Objekt, das nun, mit einer dezenten Schleife versehen, mitten auf der Tischplatte lag.
 

„Was… was ist das denn?“ stotterte Justin paralysiert.
 

Brian lugte über die Schulter, an der Kaffeetasse nippend und sich standhaft gegen alle Angebote Gus‘ zur Wehr setzend, doch auch eine der Nougatpralinen zu verputzten. Fast hatte man das Gefühl, dass Gus seinen Vater absichtlich mit den Leckereien quälte, denn jedes Mal, wenn Brian ablehnte, stopfte er sich die Süßigkeit genüsslich selber in den Mund, rollte verzückt die Augen und murmelte: „Mmm, lecker, Papa, einfach nur superlecker!“ Brians Augen wurden immer größer. Bei Justins Anblick musste er jedoch ein Lachen unterdrücken.
 

„Was fragst du mich das? Hat dir schließlich der Nikolaus gebracht.“
 

„Habe ich etwas Besonderes angestellt, dass er mir gerade sowas bringt?“
 

„Vielleicht hat er gedacht, dass du schon genug Schokolade für dieses Jahr vertilgt hast?“
 

„Aber… eine Axt? Wofür hält der mich, für Jack Nicholson in Shining?“
 

Brian schüttelte den Kopf und meinte: „Entweder das oder er meint, dass deine Nagelpfeile recht ungeeignet dafür ist, einen Baum zu schlagen.“
 

„Ich soll damit einen Weihnachtsbaum umhauen?!“
 

„Entweder das – oder du verfolgst uns mit dem Ding in mörderischer Absicht durchs Haus. Ich wäre da ja eher für den Baum.“
 

„Das muss ich mir aber nochmal gut überlegen… Baum oder Axtmord, Baum oder Axtmord, was passt besser zu einem stimmungsvollen Weihnachten… mmm… unvergesslich wäre es in jedem Falle… aber beim Baumverkauf gibt es immer frische Schokoladenwaffeln… ich glaube da tendiere ich eher zu.“
 

„Das war ja Rettung in letzter Sekunde… Gus, gib Justin doch so ein Nougatding, der mag das bestimmt!“ versuchte Brian seinem Dilemma zu entkommen.
 

Justin schaute hoffnungsvoll, aber Gus warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Aber nur eine!“ stellte er energisch klar. Brian lachte, als er verfolgte, wie Gus dem leicht beleidigt ausschauenden Justin eine der Pralinen überreichte, genau darauf bedacht, zwischen seinem jungen Erziehungsberechtigten und seiner Beute einen sicheren Abstand zu bewahren.
 

„Mir scheint, Sonnenschein, dass Gus dir nicht so recht traut“, bemerkte er, „und das liegt nicht an der Axt.“
 

„Pah!“ grummelte Justin mit vollem Mund.
 

„Ich will bloß nicht, dass du dick wirst“, erklärte Gus unschuldig aus der Wäsche schauend. Da hatte er anscheinend von seinem Vater gelernt.
 

„Von wegen, ich werde nicht dick von dem bisschen Schokolade!“ protestierte Justin.
 

„Aber du isst doch immer alles auf!“ stellte Gus eifrig klar.
 

„Das stimmt!“ bestätigte Brian.
 

„Ich bejahe nur das Leben, indem ich genieße!“
 

„Du bist verfressen.“
 

„Kleingeister!“
 

„Du bekommst aber nicht mehr ab!“ beharrte Gus und wandte sich wieder an Brian. „Jetzt musst du aber auch eine essen, sonst ist das ungerecht!“
 

„Danke Gus, aber ich mag wirklich nicht!“ wehrte Brian ab, während seine Augen auf der Schokoladenkugel in Gus Hand klebten.
 

„Quatsch! Klar mag Papa eine abhaben. Er hat nur Angst davor, dick zu werden“ spornte ihn Justin weiter an.
 

„Die Papas der anderen Kinder sind auch dick! Ich hab dich auch noch genauso lieb, wenn du dick wirst!“ versprach Gus strahlend, aber mit einem gewissen Schalk in den Augen, und hielt Brian die Süßigkeit lockend vor die Nase.
 

„Oh ja, ich auch!“ setzte Justin hinterher und sah Brians Mundwinkel bei der Vorstellung nach unten zucken.
 

Brian ließ sich hintenüber auf den Fußboden fallen und hielt sich beide Hände vor den Mund. „Auf gar keinen Fall werdet ihr mich fett mästen!“ stieß er hervor.
 

„Wir meinen es doch nur gut mit dir“, sagte Justin und zwinkerte dem grinsenden Gus verschwörerisch zu. „Aber da Papa die Praline nun nicht essen will, obwohl er sie essen will… Kann ich sie dann haben, wenn sie schon mal ausgepackt ist?“ fragte er hoffnungsvoll.
 

Gus zog die Augenbrauen hoch und sagte gebieterisch, Brians Tonfall imitierend: „Auf gar keinen Fall!“
 

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Es war wie an jedem Dienstag seit vielen Jahren. Nach der Schule war John in den überfüllten Bus gestiegen und war hinüber zum Sportverein gefahren. Er trainierte zweimal wöchentlich, dienstags und donnerstags, am Wochenende fanden während der Saison die Spiele statt. John gehörte zu den besseren Spielern ihres Teams, aber Hoffnungen auf pokalverdächtige Leistungen konnte er sich wohl nicht machen. Aber immerhin zählte er hier etwas.
 

Wütend biss er sich auf die Unterlippe. Mr. Svensson, sein Literaturlehrer, hatte ihn heute nach seiner schnarch langweiligen Stunde nach vorne gerufen und ihm mitgeteilt, dass er in Gefahr laufe, das Schuljahr nicht zu schaffen, wenn sich seine Leistungen nicht bald verbesserten. Als hätte er Lust und Zeit dazu, sich um diesen unwichtigen Scheiß zu kümmern, die die in der Schule versuchten, einem beizubringen. Das meiste brauchte doch kein Mensch im richtigen Leben.
 

Normalerweise brachte ihn das Fußballtraining auf angenehmere Gedanken, aber selbst das wurde ihm jetzt versalzen. In der Ferne sah er die Übungsgruppe der Kinder. Aus dem Augenwinkel hatte er in den Stunden davor bereits erhaschen können, dass sein Tunten-Cousin verflucht gut war. Trainer Williamson war total aus dem Häuschen. John hatte ihn mit den anderen Trainern darüber reden gehört, dass Gus Taylor-Kinney das größte Potential habe, das ihm seit Jahren oder gar jemals untergekommen sei. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Dieser Satansbraten, der eigentlich froh sein sollte, überhaupt zu leben, und schön die Klappe halten sollte wegen seiner abartigen Eltern, bekam einfach alles – alles!
 

John wärmte sich auf und spähte durch die Halle. Oben auf der Tribüne am anderen Ende erahnte er seinen Onkel, der ihn bisher aber Gott sei Dank noch nicht bemerkt zu haben schien. Gus flitzte gewandt durch die Halle, die anderen Kinder bestaunten ihn und jubelten ihm zu. John konnte erkennen, dass der kleine Junge glücklich lächelte, während er den Ball vor sich her schoss.
 

Gus mochte gut für sein Alter sein – aber John war ihm um Jahre des Trainings voraus. Ohne lange nachzudenken ließ er seiner Wut freien Lauf und trat seinen Übungsball mit aller Gewalt in die Richtung der kleinen Mistkrücke. Er hatte nicht gezielt, es war ein ganzes Stückchen weit weg. Wenn Gus nicht im Lauf versunken gewesen wäre, hätte er ihn um Meilen verfehlt.
 

Aber so traf der Ball mit voller Gewalt den Schädel des kleinen Jungen.
 

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Brian hatte mit den Armen auf die Brüstung gestützt das Geschehen unten verfolgt. Gus entwickelte sein Ballgefühl rasend schnell. Er war völlig versunken in den Anblick seines spielenden Sohnes, dass ihm im ersten Moment überhaupt nicht klar wurde, was geschehen war. Es tat einen lauten Schlag und Gus fiel ungebremst zu Boden. Und blieb liegen.
 

In Brians Hirn setzte etwas aus. Oh Gott… Justin… Das Bild, wie Justin, eben noch voller Leben und lachend, durch Chris Hobbs Schlag zu Boden gegangen war wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte und sich in ein lebloses… Etwas verwandelt hatte, dem er nicht hatte helfen können, blitzte kurz in ihm auf. Aber das war nicht Justin, das war Gus. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, hechte er über das Geländer. Unten lag eine Trainingsmatte, die seinen Fall abbremsen würde. Dennoch jagte ihm der Aufprall die Luft aus den Lungenflügeln. Irgendetwas in seiner Wade zog bedrohlich. Er ignorierte es und lief hinüber zu Gus, über dem bereits Trainer Williams kniete.
 

„Was ist geschehen?“ schrie Brian.
 

„Er hat einen Ball mit voller Wucht an den Kopf bekommen. Sie sind sein Vater?“
 

„Ja! Oh Gott, was ist mit ihm!?!“ Brian lehnte sich über Gus und tastete nach dem Puls.
 

„Ganz ruhig. Warten Sie, wir sollten ihn nicht bewegen… so bekommt er Luft… Wir müssen sofort einen Krankenwagen rufen, haben Sie ein Handy?“
 

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John beobachtete gebannt, wie sein Onkel ohne mit der Wimper zu zucken die Tribüne hinunter sprang und ziemlich unsanft aufschlug. Er konnte durch die ganze Halle hören, wie er auf Trainer Williamson ein brüllte und zuckte zusammen. Trainer Liams raste von der benachbarten Gruppe ebenfalls heran und scheuchte die herumstehenden Kinder in die Umkleideräume. Gus lag immer noch bewegungslos auf dem Boden.
 

Johns Herz flatterte. War er etwa… tot? Hatte er ihn etwa umgebracht? Aber es war ein Unfall gewesen… ein Versehen.
 

„Kinney!“ wurde er angebrüllt und ziemlich unsanft am Oberarm gepackt. „Hast du den Verstand verloren, einfach quer durch die Halle zu ballern? Sieh, was du angerichtet hast!“ Es war Coach Paulis, der ihn bereits seit Jahren trainierte.
 

„Ich wollte nicht… ich weiß nicht…“ stammelte John.
 

„Bete, dass dem kleinen Jungen nichts Ernsthaftes passiert ist! Hämmere ich dir nicht seit Jahren ein, dass das oberste Gebot beim Hallentraining Vorsicht ist? Ist das die Art und Weise, wie du Verantwortung übernimmst und dich an die Trainingsregeln hältst?! So jemanden kann ich nicht im Team gebrauchen! Du ziehst dich jetzt an. Ich werde deine Mutter darüber informieren, was du hier getan hast! Und du wirst dich bei dem Jungen und seiner Familie entschuldigen!“
 

Johns Mannschaftskameraden starrten ihn betreten an. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Er fühlte, wie er zitterte. Sich bei Onkel Brian entschuldigen… Wenn Oma Joan das erfahren würde… Und er war aus dem Team…
 

Was musste dieses bescheuerte Balg auch direkt in seinen Ball rennen?
 

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Genervt hob Justin den Telefonhörer ab. Er war mitten in einer seiner Schaffensphasen gewesen, in der die Welt um ihn herum versank. Die Holzstreben seiner neuen Skulptur fügten sich nach und nach zu einem vielschichtigen Geflecht zusammen, das seiner ganz eigenen Logik folgte. Er hatte keine Ahnung, wie lange das dämliche Telefon bereits geklingelt hatte, bis das Geräusch in sein Bewusstsein vorgedrungen war. Er hatte es weiterhin zu verdrängen versucht, aber es hatte einfach nicht aufgehört. Welche impertinente Person war das bloß?
 

„Taylor-Kinney“, meldete er sich widerwillig.
 

„Justin, na endlich!“ schrie ihn Brian durchs Telefon an.
 

Justin zuckte zusammen: „Brian? Was… was ist los?“ Ihm schwante nichts Gutes.
 

„Gus hatte einen Unfall, wir sind im Krankenhaus…“
 

„Oh Gott! Was…!?“ entfuhr jetzt Justin, der das Gefühl hatte, dass sein Herz stehen blieb.
 

„Er hat einen Fußball an den Kopf bekommen. Er ist immer noch bewusstlos, sie wissen noch nicht… Pack seine Sachen zusammen und für mich etwas zum Wechseln, Gus hat mich vollgekotzt, als er vorhin kurz aufgewacht ist, und dann komm gefälligst her!“
 

„Wo seid ihr?“
 

„St. Andrews, ich bin im Wartebereich der Kinderstation im dritten Stock. Gus wird gerade untersucht.“
 

„Wissen sie schon…?“
 

„Nein. Komm her. Ich warte.“
 

Justin rannte los.
 

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„Kinney.“
 

„Paulis. Ich bin der Fußballtrainer von John. Spreche ich mit seiner Mutter?“
 

„Nein. Ich bin seine Großmutter. Was hat er angestellt?“
 

„Eigentlich würde ich das lieber mit seiner Mutter…“
 

„Seine Mutter ist berufstätig. Sie hat keine Zeit für die Belange ihrer Kinder“, sagte Joan eiskalt.
 

„Äh… nun gut. Ich rufe an, weil John sich nicht an unsere Trainingsregeln gehalten hat und deswegen ein anderes Kind verletzt hat. Der Kleine ist im Krankenhaus, es sah gar nicht gut aus. John ist bis auf Weiteres vom Training ausgeschlossen. Es wäre gut, wenn sich seine Familie mit ihm über sein Verhalten auch noch einmal intensiv unterhalten würde. Und er sollte sich bei den Betroffenen entschuldigen. Ich hoffe, das Ausmaß des Angerichteten lässt das zu.“
 

Joan zog die Stirn in Falten. Immer dasselbe mit John. Hielt sich nicht an Regeln, aber beklagte sich, wenn andere das auch taten.
 

„Wie heißt das Kind, dem er wehgetan hat?“ fragte sie. Über die Kirchengemeinde kannte sie zahlreiche Familien, die ihre Kinder zum Fußballtraining brachten, vielleicht ließe sich das Ganze so direkt regeln.
 

„Moment, Kollege Williams hat den Namen notiert… ach hier… nanu? Gus Taylor-Kinney? Ist John mit ihm verwand?“
 

In Joan bildete sich ein eisiger Vulkan. „Ja“, sagte sie, „die beiden sind Cousins. Ich regele das. Wissen Sie, in welches Krankenhaus sie meinen Enkel gebracht haben?“
 

„St. Andrews“, antwortete Paulis in leicht irritiertem Tonfall. „Sein Vater ist bei ihm.“
 

„Gut“, sagte Joan. „Ich kümmere mich um meine Enkel.“
 

Sie klang nicht besonders fürsorglich.
 

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John saß auf einer Bank nahe der katholischen Kirche im Park.
 

Überall lag Schnee, seine Füße waren nass und eiskalt. Er fror jämmerlich.
 

Scheiße.
 

Scheiße, scheiße, scheiße.
 

Sie würden ihn umbringen.
 

Onkel Brian, Oma Joan, wer auch immer. Und seine Mutter… die kam gegen die beiden nicht an.
 

Sie würden denken, dass er das mit Absicht gemacht hatte. Aber es war doch keine Absicht gewesen… jedenfalls nicht wirklich, oder? Er hatte ihn doch eigentlich nicht treffen wollen. Er war nur so wütend gewesen, das konnte man doch verstehen?
 

Wo sollte er denn jetzt hin?
 

Er konnte nicht nach Hause, auf gar keinen Fall.
 

Aber vielleicht… sein Vater? Der würde ihn bestimmt verstehen. Sein Vater war ein richtiger Mann gewesen, sofern er sich an ihn erinnern konnte. Mama hatte gesagt, dass er jetzt mit seiner neuen Frau in Florida lebe.
 

Aber wie sollte er nach Florida kommen? Florida war ziemlich weit weg. Weit weg von zuhause, von Oma und ihrem beschissenen Sohn und der Schule und Trainer Paulis und Gus und…
 

Ein bisschen Geld hatte er von seiner Kommunion noch auf dem Konto. Und er sah älter aus, als er war.
 

Vielleicht würde er es schaffen.
 

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Brian saß zusammengesunken und bleich auf einem der orangenen Plastikschalensitze des großen Wartezimmers, als Justin schließlich keuchend ankam. Er trug eine hastig gepackte Tasche auf dem Arm und starrte Brian mit schreckensgeweiteten Augen an.
 

Brian stand auf und drückte ihn an sich, die neugierigen Blicke zweier ebenfalls wartender Frauen ignorierend.
 

Ohne Einleitung sagte er: „Er kommt in Ordnung.“
 

„Gott sei Dank!“ entfuhr es Justin. „Aber was hat er denn?!“
 

„Eine ziemliche Gehirnerschütterung. Er muss erst mal hierbleiben und wird viel Ruhe brauchen. Aber er wird keine bleibenden Schäden davontragen. Sie hatten erst befürchtet, dass auch etwas gebrochen sein könnte… der Schädel… das Genick…“
 

Justin schnappte nach Luft. Oh Gott.
 

„Können wir zu ihm?“ fragte er schließlich.
 

„Sie müssten bald mit der Untersuchung fertig sein, dann können wir zu ihm.“
 

„Ich habe die Sorgerechtsunterlagen aus dem Safe mitgebracht, falls sie sich quer stellen.“
 

„Gut.“
 

„Und hier sind deine Klamotten drin“, sagte Justin und reichte Brian ein Bündel aus der Tasche.
 

„Ja, gut. Das meiste ist auf dem Sakko gelandet. Ich ziehe mich kurz um. Ruf mich, falls der Arzt kommen sollte.“
 

„Mache ich.“
 

Brian entschwand in Richtung Waschraum, während Justin nun seinerseits auf einem der unbequemen Stühle zusammen brach. Das Zittern, das ihn seit der Nachricht heimgesucht hatte, begann sich langsam zu verflüchtigen. Gus würde wieder gesund werden, sagte er sich. Er schloss die Augen und versucht den Gedanken daran loszuwerden, was gewesen wäre, wenn dem nicht so gewesen wäre. Gus, sein kleiner Junge, sein Kind… undenkbar. Es war undenkbar. Wie hielten Eltern das aus, die so eine Nachricht erhielten? Wahrscheinlich gar nicht.
 

Brian kehrte zurück. Justin hatte ihm geistesgegenwärtig eine Kombination eingepackt, die zwischen legere und offiziell lag. Eine etwas weiter geschnittene dunkelgraue Anzugshose und ein passendes helles Hemd, aber keine Krawatte. Brian ließ sich wieder neben ihn fallen. Justin sah ihn an, dann legte er seine Hand auf Brians, die dieser unruhig in seinen Oberschenkel gekrallt hatte. Nach einem kurzen Moment ließ er locker und drehte die Handfläche, um Justins warme Hand zu ergreifen. Still blieben sie sitzen, die Zeit verrann.
 

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Joan betrat unbemerkt den Raum. Es war spät, schon fast halb zwölf. Auf der Kinderstation herrschte Nachtbetrieb, kaum jemand bewegte sich noch in den Gängen. John war nicht nach Hause gekommen. Falls er sich aus Scham versteckte – nun gut, verständlich, aber feige. Claire war am Ende ihrer Nerven. John war schließlich erst fünfzehn Jahre alt. Und es sei schließlich ein Unfall gewesen. Joan hatte Zweifel. Ein sehr merkwürdiger Unfall, in der Tat. John mochte zwar ihr Enkel sein, aber sie machte sich keine Illusionen über seinen Charakter. Er hatte diese typische Kombination aus Anmaßung und Schwäche, die so viele Männer ihrer Familie ausgezeichnet hatte. Hart zu anderen, aber weich zu sich selbst. Claire hatte schließlich bei der Polizei angerufen, die ihr jedoch nur hatten sagen können, dass es zu früh sei für eine Vermisstenanzeige. Sie sollten Freunde und Bekannte anrufen, ob er dort irgendwo aufgetaucht sei, so sei es meistens.
 

In der hinteren Ecke des Raumes saß ihr Sohn. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, während er an die kleinere Gestalt seines… Partners gelehnt war, als würde der ihm die Kraft geben, aufrecht zu bleiben. Ihre Hände lagen einander umklammernd auf Brians Schenkel. Justins Blick war gesenkt, er strich sachte mit dem Daumen über Brians Handrücken. Es lag so viel Intimität in ihrem Miteinander, dass Joan hart schlucken musste. War es das? Tat Brian das aus… Liebe? Sie verstand zu wenig davon.
 

Sie räusperte sich und trat zu den beiden. Brian schreckte bei dem vertrauten Geräusch hoch.
 

„Was machst du denn hier?“ fragte er scharf, ohne Justins Hand loszulassen. Der jüngere Mann musterte sie aufmerksam.
 

„Es war John“, sagte sie nur.
 

„Was?“ fragte Brian verständnislos.
 

„Der Ball. John hat ihn geschossen. Sein Trainer hat mich informiert“, erklärte sie.
 

„Diese elende Kanalratte!“ fuhr Brian auf. „Ich hätte ihn damals wirklich im Klo ersäufen sollen!“
 

„Wirklich? So wie dein Vater dich?“ antwortete sie hart.
 

Brian schnappte nach Luft. Justin legte ihm bremsend die Hand auf die Brust.
 

„Wie geht es Gus?“ fragte sie.
 

„Er wird wieder gesund werden. Wir warten jetzt auf die Ärzte“, antwortete Justin an Brians statt, der sie mit flammendem Blick anstarrte.
 

„Gut“, sagte sie. „Ich werde wieder kommen. John ist verschwunden. Ich werde mich darum kümmern.“
 

„Mach das“, sagte Brian, „aber sorge dafür, dass ich ihn nicht vor dir finde.“
 

Joan nickte stumm. Dann wandte sie sich zum Gehen.
 

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Sie schwiegen.
 

„Dein Vater hat dich kopfüber ins Klo getunkt?“ fragte Justin schließlich.
 

„Immer wieder gerne, besonders wenn er besoffen und frustriert war.“
 

„Und du hast das mit John gemacht?“
 

„Ich war scheißwütend. Er hat mich beklaut.“
 

„Dein Vater dachte wahrscheinlich auch, dass das Recht auf seiner Seite war.“
 

„Nicht wirklich. Ich glaube, er wusste, wie erbärmlich es war. Und das hat ihm noch zusätzlichen Zunder gegeben.“
 

„Und dir?“
 

Brian senkte den Kopf. Dann sagte er: „Ich bin nicht mein Vater.“
 

„Nein, das bist du nicht.“
 

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„Mr. Taylor-Kinney?“
 

„Ja!“ erschallte es zweifach.
 

Der Arzt im grünen Kittel trat auf sie zu, während sie aufstanden, und blickte sie verwirrt an.
 

„Wir haben beide das Sorgerecht. Die juristischen Unterlagen haben wir dabei, falls das nötig sein sollte“, sagte Brian kurz angebunden.
 

Justin hielt sie ihm kommentarlos unter die Nase. Der Arzt, er mochte in seinen Dreißigern sein, dunkelhaarig und leicht angedickt, musterte sie nur kurz, dann nickte er.
 

„Würden Sie uns jetzt freundlicherweise mitteilen, wie es unserem Sohn geht?“ fragte Brian entnervt.
 

„Den Umständen entsprechend gut. Er wird ein paar Tage hier bleiben müssen, um weiterhin unter Beobachtung stehen zu können, sicherheitshalber. Danach kann er nach Hause, wird aber noch viel Ruhe brauchen. Jemand muss dann ständig bei ihm sein.“
 

Brian und Justin nickten beide. Das würden sie schon irgendwie hin bekommen, wenn es auch nicht einfach werden würde. Das Weihnachtsgeschäft bei Kinnetic brummte, und Justin arbeitete eine Reihe ausgewählter Auftragsarbeiten ab. Er würde vor den Feiertagen noch einmal nach New York fahren müssen, um sich mit den Galeristen und den Kunden zu treffen.
 

„Wir haben dafür gesorgt, dass Gus eine Weile schläft. Er war zwischenzeitlich immer wieder bei Bewusstsein, ist aber noch desorientiert. Er hat ziemliche Schmerzen und kann sich nicht recht erinnern, was mit ihm geschehen ist.“
 

„Können wir zu ihm?“ fragte Justin.
 

„Ja, das können Sie. Er schläft, aber ihre Gegenwart wird ihm gut tun. Es wäre wohl günstig, wenn einer von Ihnen bei ihm bliebe, damit er nicht alleine aufwacht.“
 

„Wir bleiben“, beschloss Brian. „Können Sie dafür sorgen, dass wir Besuchersessel in das Zimmer gestellt bekommen?“
 

„Selbstverständlich“, erwiderte der Arzt geflissentlich. Was eine üppige Krankenversicherung so alles ermöglichte…
 

„Was ist mit deiner Präsentation Morgen?“ fragte Justin. Brian hatte sie von langer Hand vorbereitet, ein neuer Kunde, Bettenhersteller, der Hotelketten belieferte und nun auch in den Einzelhandel drängte.
 

„Ist alles fertig geplant. Ich fahre morgen früh kurz nach Hause, ziehe mich um, reiße mir den Auftrag unter den Nagel und komme wieder her.“
 

„Nein. Ich hätte daran denken müssen. Ich habe Morgen Zeit und brauche meine Kräfte nicht für berufliche Dinge. Ich fahre gleich noch einmal, du sagst mir, was du brauchst.“
 

„In Ordnung. Aber lass uns jetzt zu Gus gehen, danach können wir uns um alles andere kümmern.“
 

Eine Schwester begleitete sie durch die im Nachtlicht liegenden Gänge. Ihnen rutschte das Herz in die Hose, als sie in das Krankenzimmer traten. Gus lag da, bleich, eine winzige Gestalt inmitten riesiger Kissen, von der ein Bündel Drähte zu verschiedenen Überwachungsmaschinen ausging. Sein Herzschlag war eine Linie auf einem Monitor. Selbst im Dunklen konnte man erkennen, dass seine linke Gesichtshälfte grün und blau war. Das Auge war fast völlig zugeschwollen. Leise traten sie an das Bett. Gus atmete ruhig. Vorsichtig berührten sie ihn, streichelten beruhigend über den warmen Kinderkörper, murmelten irgendwelchen Unsinn, den Gus nicht hören konnte.
 

Aber vielleicht spürte er in seinem Schlummer, dass sie da waren.
 

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Justin kehrte gegen halb Drei Uhr nachts mit einer weiteren Tasche zurück.
 

Brian schreckte aus seinem Zustand zwischen Wachsein und Schlummer auf. Er griff nach Justins Gesicht, das er über sich gebeugt wahr nahm, fühlte die feinen hellen Bartstoppeln, die sich auf Justins weicher Haut breit gemacht hatten. Aber es war gut so.
 

Gus murmelte unruhig im Schlaf. Sie beugten sich nach vorne.
 

„Papa? Justin?“ flüsterte Gus.
 

„Wir sind da. Es ist gut, Gus. Wir sind bei dir.“
 

Der Junge entspannte sich wieder und verfiel erneut in tiefen Schlummer.
 

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Johns Herz klopfte bis zum Hals.
 

Er hatte es getan. Er saß an Bord eines Überlandbusses. Er würde erst nach New York müssen und von dort würde er einen Weg weiter finden. Sein Vater lebte in Miami, mehr wusste er nicht. Es würde nicht leicht werden, ihn zu finden.
 

Aber er musste es schaffen.
 

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„Oh Gott!“ heulte Claire. „Mein armer kleiner Junge!”
 

Joan starrte sie an. Keine Spur von John, sie hatten jeden abtelefoniert, den sie kannten, alle Treffpunkte abgegrast, an denen sich John normalerweise herum trieb. So wütend sie auf John war – auch er war ihr Enkel. Und auch er war im Schatten der Kinneyschen Familienmisere aufgewachsen. Aber das entschuldigte auch nicht alles. Aus Brian war schließlich auch etwas geworden, trotz… allem. Aber John konnte Brian nicht das Wasser reichen, er hatte keinen Biss, überlegte Joan gnadenlos. Genauso wenig wie Claire. Fehler immer erst mal bei anderen zu suchen und sich selbst aus der Verantwortung zu drücken, ja, das konnten sie prima. Da waren sie selbst und Brian doch anders. Sie konnte darauf wetten, dass John mit Absicht, vielleicht aus spontaner Wut, weswegen auch immer, auf Gus geschossen hatte. Wahrscheinlich hatte er ihn keineswegs treffen wollen. Aber er hatte nicht daran gedacht, dass das trotzdem passieren könne. Und jetzt rannte er davon, statt sich der Sache zu stellen. Sicher, er war noch ein Kind, oder vielmehr ein Teenager – aber dennoch. Als Brian damals die Wurfhand des Quarterbacks mutwillig zerquetscht hatte, hatte er sich der Sache gestellt, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber dennoch… er war auch ihr Enkel, sie mussten ihn finden, bevor er sich in noch mehr Schwierigkeiten begab.
 

Jack stand im Schlafanzug in der Tür. „Ich kann nicht schlafen!“ sagte er. Seine Augen waren gerändert, auch für ihn war es ein harter Tag gewesen.
 

„Ich mache dir eine heiße Milch mit Honig“, beschloss Joan.
 

Jack setzte sich artig neben seine heulende Mutter an den Küchentisch. Er war ein stiller Junge, immer irgendwie im Windschatten seines lärmenden Bruders versunken. Auch sein Äußeres war unscheinbar, da ging er stark nach seiner Mutter. Es war doch eine Ironie des Schicksals, dass die Schönheit, der Joan das Leben geschenkt hatte, keinesfalls ihre Tochter war. Und Brian… sein… Partner… war jedenfalls nicht so eine Lusche wie Claires geschiedener Mann und die Nullen, mit denen sie sonst so ausging. Sie fand es schwer, Justin einzuschätzen. Auf den ersten Blick… aber auf den zweiten… Nein, das war keine schwache Person. Brian hatte sich, seine… Orientierung hin oder her, kein erbärmliches Anhängsel gesucht. Justin hatte Haare auf den Zähnen, das ahnte sie.
 

Jack riss sie aus ihren Überlegungen: „Vielleicht ist John ja zu Papa?“
 

„Wie…?“ fragte Claire.
 

„Hat er immer gesagt. Wenn er hier die Nase voll hat, dann fährt er nach Florida und lebt bei Papa.“
 

„Pah!“ heulte seine Mutter auf. „Warum ist euer Vater denn abgehauen? Weil er so gerne mit uns zusammen war? Da wird John aber sein blaues Wunder erleben!“
 

Jack fuhr zusammen.
 

Joan überlegte. Das war möglich. Sinnlos. Aber möglich.
 

Was machte man mit so einem Kind?
 

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Brian stand auf, um sich ein Glas Wasser aus dem Ständer zu holen. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein, er konnte sich mehr schlecht als recht gerade noch eben an der Sessellehne abfangen.
 

„Brian, alles in Ordnung mit dir?“ fragte Justin besorgt.
 

„Verdammt. Ich bin, als Gus gestürzt ist, die Tribüne über die Brüstung runter, da hat irgendwas kurz scheißweh getan. Ich dachte, es sei weg…“
 

„Du warst so auf Adrenalin, wahrscheinlich hast du es nicht bemerkt?“
 

„Kann sein. Verdammt!“
 

„Ich rufe eine Schwester, die dich runter in die Ambulanz bringt“, sagte Justin und stand auf.
 

„Nein, ich…“
 

„… will dringend ein Holzbein bekommen, um noch wilder und verwegener rüber zu kommen als sonst?“
 

„Blöder…“
 

„Abmarsch… oder –kriech, wie auch immer. Lass dir das verarzten, ich bleibe bei Gus.“
 

Brian stöhnte, halb aus Schmerz halb in der Erkenntnis, dass ihm, wenn Justin diesen Tonfall anschlug, nichts anderes übrig blieb. Das hatte er spätestens seit seiner Krebserkrankung begriffen. Der Jüngere hatte ihn nicht verlassen, hatte ihm gezeigt, dass es schon lange nicht mehr seine glanzvolle Fassade gewesen war, die ihn an Brian band. Er musste nicht perfekt sein, um von Justin geliebt zu werden. Und Justin war bereit und in der Lage, ihm kompromisslos in den Hintern zu treten, wenn seine Füße sich auf den Weg der Selbstzerstörung begaben. Oder der Aufgabe. Er erinnerte sich an die Schmerzen, an das Gefühl der Demütigung, als sein wohlgepflegter Körper ihn einfach so im Stich zu lassen drohte. Seine Identität bröckelte, sein Lebensinhalt floss dahin. Aber das war nicht wahr gewesen, nicht wirklich. Das Wesentliche war nach wie vor da gewesen. Vielleicht sogar mehr davon. Justin hatte ihn nicht losgelassen, als er, halb ohnmächtig von stundenlangen Würgkrämpfen während der Chemotherapie, auf dem Badezimmerflur hatte zusammenbrechen wollen und einfach sterben. Er hatte ihn aufgefangen, ihm das Gesicht abgewischt und ihn gnadenlos dazu angetrieben, weiter zu kämpfen, wie er selbst um Brian gekämpft hatte. Das war er, ein Kämpfer, für sich selbst, für andere.
 

Und jetzt ruhte Justins entschlossener Blick wiederum auf ihm.
 

„Okay“, sagte er schicksalsergeben, „ich bin schon unterwegs.“
 

Justin lächelte und nickte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-08-26T15:02:34+00:00 26.08.2011 17:02
John kommt einfach zu sehr nach seinem Großvater und dann noch der schlechte einfluss seiner mutter, da konnte ja eigentlich nichts bei rum kommen. obwaohl jake ja ganz in ordnung zu seien schent und ich glaubedas Joan so etwas wie partei für Brian ergreift (oder eher für Justin^^)
der arme Brian das muss der zweit schlimmste monent in seinem leben gewesen sein.das erste mal sieht er seinen Justin zu boden gehen und dann seinen Gus und das "trauma" von damals ist wieder ja


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