Familienbande von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 13: Supersoldaten und Weihnachtselfen --------------------------------------------- XIII. Supersoldaten und Weihnachtselfen Brian stand am Eingang des Lofts. Es sah irgendwie aus wie immer, ein wenig leerer vielleicht, da sie einiges ins Haus hatten hinüber transportieren lassen. Die Küche war ausgeräumt, auf der Kleiderstange hing nichts mehr, das Bett war abgezogen. Er schaute sich um und fühlte sich merkwürdig deplatziert. Das war sein Leben gewesen. Und zum Teil auch Justins, seins und Justins. Hierhin hatte er Justin abgeschleppt und ihn entjungfert, hier hinein hatte sich Justin Stück für Stück eingeschlichen, hier hatte er selbst ihn gebeten, mit ihm zu leben. Und hier waren sie voneinander gegangen. Hier war er alleine aufgewacht. Und hier hatte er es alleine nicht mehr ausgehalten. Was war das Loft noch für ihn, für sie? Ihr Zuhause war es nicht mehr, war es nie vollends gewesen. Dazu hatte es zumeist zu wenig wir gegeben und zu viele Fremde zwischen den Laken, zu viel Unruhe, Angst und Misstrauen. Aber es hatte Momente gegeben… Er musste daran denken, wie Justin ihn auf der Chaiselongue mit Vanilleeis gefüttert hatte. Er hatte die leeren Kalorien völlig vergessen gehabt. War es das, eine sentimentale Erinnerung, sonst nichts? Staub tanzte im nachmittäglichen Sonnenlicht, das über die heranziehende Kälte draußen hinwegtäuschte. Hier waren sie… geworden. Hier lagen ihre Wurzeln, aber ihre Gegenwart und Zukunft entstanden an einem anderen Ort. Sollte er Jennifer anrufen? Er musterte unsicher den leeren Raum. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Hallo Justin.“ „Daph! Schön dich zu hören! Was verschafft mir die Ehre? Wie geht es der aufstrebenden Medizinerin?“ „Formvollendet, du Kavalier! Eigentlich wollte ich nur Bescheid sagen, dass ich um Weihnachten herum ein paar Tage nach Hause kommen – und ich wollte ein wenig Honig um den nichtvorhandenen Bart geschmiert bekommen.“ Normalerweise kommunizierten sie über Email. „Alles klar bei dir?“ fragte Justin besorgt. Daphnes Stimme klang ein wenig gequält: „Mmm, ja, stressig halt. Und Prof. Marisoll hat Ärger mit der Ethik-Komission, so dass wir bei unseren Versuchen aktuell auf Eis gelegt sind.“ „Mist. Wieso, was wollen die denn?“ „Ach, wir hatten so eine Testreihe zur Genetik laufen“, sagte Daphne etwas abwehrend, „und das fand irgend so ein Kleingeist unmoralisch.“ „Was habt ihr gemacht? Den Supersoldaten geklont? Frankensteins Braut zum Leben erweckt?“ „So in der Richtung… Und wie geht’s dir so?“ lenkte Daphne ab. „Ihr habt was? Daphne, erzähl keinen Mist, mit solchen Dingen ist echt nicht zu spaßen, auch wenn dein Forschergeist dich treibt!“ hakte Justin nach. „Ach, vergiss es einfach. War nur so eine Theorie, die wir in einer Testserie überprüfen wollten… Keine Panik, ich bin nicht der Bucklige an der Blitzmaschine! Aber es ist schon ziemlich scheiße – kaum angefangen, schon schaut man in die Röhre.“ „Was ist mit deinem Promotionsvorhaben?“ „Kann ich schon noch fortführen. Aber so bleibt es auf theoretischer Ebene, ich hätte lieber Beweise gehabt, die ich auch publizieren kann.“ „Beweise – wofür?“ bohrte Justin, dem die Sache nicht geheuer war. Daphne war hingerissen von ihrer Tätigkeit, so wie er vom Malen, das hatte er bemerkt und sich für sie gefreut – aber verlor sie etwas den Boden unter den Beinen? „Umpf, Kompatibilität menschlichen Erbmaterials. Damit könnte man z.B. Erbschäden bei Neugeborenen vermeiden, bestimmte Merkmale entfernen oder hinzufügen.“ Justin schluckte: „Das hört sich wirklich interessant an, könnte wahrscheinlich viel Leid verhindern. Aber kommt man damit nicht in Teufels Küche, wenn es nur noch perfekte Babys nach Wunsch gibt?“ „Das hat die Ethik-Kommission auch gesagt. Man müsste halt sehr verantwortungsvoll damit umgehen.“ „Daph, darin ist die Menschheit nicht besonders gut…“ Daphne seufzte: „Ich weiß. Das Leben wäre gruselig, wenn es nur noch Babys nach Wunsch gäbe. Die Vielfalt wäre ausgelöscht. Oder die Reichen würden ihren Super-Nachwuchs züchten, während der Rest der Menschheit nichts mehr zu sagen hätte… Aber, andererseits: es ist einfach unglaublich! Faszinierend!“ „Daph“, sagte Justin vorsichtig, „mach bloß keinen Scheiß‘…“ Daphne lachte merkwürdig belustigt auf: „Schlauer ist man immer hinterher.“ „Oder man lässt einfach die Finger davon…“ „Das sagt der Richtige.“ Justin schluckte, dann lachte er, obwohl ihm bei der Sache immer noch nichtganz wohl war. Aber Daphne war eine verantwortungsvolle junge Frau, sie würde ihre Bedenken nicht einfach in den Wind schießen. Hoffentlich sah das dieser Prof. Marissol genauso. „Erwischt!“ „Und wie läuft es bei dir so?“ fragte sie diesmal ernsthaft. „Gut. Während Gus im Kindergarten und Brian in seiner Spielgruppe bei Kinnetic ist, komme ich inzwischen prima zum Arbeiten. Ich konnte ein paar weitere Gemälde in die Galerie schicken und experimentiere jetzt ein wenig rum. Sind schon wieder Interessenten an der Angel, inzwischen kann ich beim Verkauf auch schon ein wenig pokern. Allerdings darf ich es nicht überstürzen und den Markt überfluten, haben meine Agenten gesagt, was Sinn macht. Stattdessen sehe ich zu, dass ich mich weiter entwickle. Ich bin am überlegen, ob ich mal was Dreidimensionales baue – den Kram, den die Futuristen damals gemacht habe, finde ich ziemlich inspirierend.“ „Diese abgedrehten Konstruktionen zwischen Architektur und Wahnsinn?“ „So ungefähr… Nach der ganzen Werkelei im Haus bin ich richtig fit im Hämmern und Sägen. Brian hat natürlich selbst bei der Schlagbohrmaschine auf das Design geachtet“, lachte er. „Brian im Baumarkt beim Kauf von schwerem Werkzeugen? Hat er das ohne Anzüglichkeiten hinbekommen? Auf jeden Fall eine verstörende Vorstellung. Wie geht’s denn deinem Göttergatten?“ „Kinnetic brummt, aber er hat sein Arbeitspensum runter geschraubt.“ „Bekommt der alte Workaholic davon keine Zitteranfälle?“ „Kinnetic ist Entspannung, die richtig harten Jobs erwarten ihn daheim. Schließlich habe ich jetzt nicht nur eine Schlagbohrmaschine, sondern auch einen Schwingschleifer und einen Drillbohrer.“ „Ferkel.“ „Immer wieder gern.“ „Und wie geht’s dem Nachwuchs?“ „Ganz gut. Es ist immer noch hart für ihn. Er vermisst Mel und Linds. Aber Brian wollte ihn zum Fußball-Training anmelden, da freut er sich schon drauf.“ „Oh, Entschuldigung, ich muss mich verwählt haben… Brian macht was?!“ „Fußball. Frag nicht, ich war anfänglich auch etwas… irritiert. Ist so eine Kinney-Familientradition. Oder vielmehr ein Erbe. Gus ist völlig irre nach diesem doofen kleinen Lederball. Und Brian wäre beinahe ein schwuler David Beckham geworden, wie’s aussieht.“ „Da tun sich ja Abgründe auf! Was kommt als nächstes – er hört auf, sich die Brusthaare zu rasieren? Er isst bei McDonalds?“ Justin lachte: „Wenn er anfängt, Flanellhemden zu tragen, Elchjagd zu seinem neuen Hobby zu küren und die Republikaner zu wählen, muss ich mich dann wohl leider scheiden lassen…“ Daphne prustete, dann sagte sie: „Mach das bloß nicht! Egal, welchen Irrsinn er an den Tag legen mag, er liebt dich! Obwohl du auch nicht gerade eine Ausgeburt der reinen Vernunft bist.“ „Was soll das denn heißen?“ „Ach nichts…“ sagte Daphne mit einem schelmischen Unterton. „Pah, jetzt bin ich beleidigt! Aber bis Weihnachten verzeihe ich dir eventuell, das erspart mir das Geschenk.“ „Habt ihr schon Pläne?“ „Mmm, nicht wirklich. Brian ist, was die Kirche angeht, ein Opfer seiner irisch-katholischen Erziehung, ich glaube nicht, dass er wild auf Ringelpietz unterm Christbaum ist. Aber mit Gus... Ich werde nochmal mit ihm darüber sprechen müssen.“ „Sag ihm einfach, dass der Weihnachtsmann keine Unterwäsche trägt.“ „Brian steht nicht auf ältere Männer mit Bart.“ „Als hätte ihn das Gesicht je interessiert.“ „Auch wahr, er hat mich nur wegen meiner… inneren Werte geheiratet.“ „Ferkel!“ „Was denn nun schon wieder – du fantasierst in jede meiner Äußerungen etwas Schmutziges hinein!“ „Völlig grundlos natürlich.“ „Und was ist mit dir? Wie geht es deinem Liebesleben – aber bitte keine Details?“ „Bist du vielleicht verklemmt… Aber bei dir durfte ich mir ständig die pikanten Kleinigkeiten anhören! Momentan staubt es in meinem Höschen, falls das plastisch genug ist.“ „Nicht das schönste Bild, das ich heute vor meinem inneren Auge hatte… Aber verkalke bitte nicht völlig über diesem Genetik-Kram. Denk an mich in New York. Nur mit Malen wäre ich wahrscheinlich irgendwann eingegangen, wie du mir doch klar gemacht hattest!“ „Du hast ja Recht. Aber bisher ist mir keiner über den Weg gelaufen, der für mehr infrage gekommen wäre. Und bloß um rum zu ficken ist mir meine Zeit doch zu schade.“ „Versteh einer die Frauen.“ „Du hast ja keine Ahnung! Ein Kerl, der durch die Gegend fickt, gilt als ganz großer Held – mach das Mal als Frau! Da erfährst du ganz fix, wie es um die Emanzipation steht! Außerdem sind die meisten Heten-Kerle nicht gerade bombig im Bett, wenn sie dich abschleppen, um ihren Spaß zu haben. Da schaust du meist in die Röhre. Da kann ich gleich zu Hause bleiben und mich allein amüsieren… beim Fischefüttern, versteht sich…“ „Scheiß-Doppelmoral, entschuldige.“ „Schon gut. Aber glaubt nicht, dass ihr Schwulen die Einzigen sind, die Ärger mit Männern haben oder von der Gesellschaft verarscht werden. Da befindet ihr euch in guter Gesellschaft.“ „Willst du denn nicht auch irgendwann Familie haben?“ „Klar, wer will schon auf ewig allein bleiben. Aber man kann es nicht erzwingen. Und Familie kann so Vieles bedeuten, rein äußerlich betrachtet, sieh dich an.“ „Da hast du wohl recht… Hast du Lust, an einem der Weihnachtsfeiertage bei uns vorbei zu schauen?“ „Ja, gerne. Ich platze beinahe vor Neugierde auf euer Haus.“ ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… John lag bäuchlings auf seinem Bett in dem kleinen Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilte. Brians altes Zimmer. Er starrte in sein Comic-Heft, aber die Bilder verschwammen vor seinen Augen. Sein Schwuchtelonkel hatte ein Balg in die Welt gesetzt mit irgend so einer toten Schlampe, die genauso pervers gewesen war, wie er. Der hatte es garantiert nie einer richtig besorgt. Und dieses Balg, Gus, sollte alles bekommen, wenn Onkel Brian endlich an AIDS krepierte. Er und diese fiese blonde Tunte, die ihm damals wegen des Armbandes aufgelauert hatte. Aber der machte garantiert auch nicht lange. Vielleicht hatten sie die kleine Missgeburt ja auch damit angesteckt. Oma Joan machte vielleicht ein Aufheben um den verkackten Bettnässer. Als hätte sie sonst keine Enkel. Er und sein – zugegebenermaßen beschissener – kleiner Bruder waren schließlich auch noch da. Oder waren es die ganze Zeit gewesen. Aber sie bekamen von der alten Giftziege nur kalte Blicke und ab und an einen Anschiss, der sie erzittern ließ. Sie musste weder laut werden noch drohen, dass ihnen das Herz in die Hose rutschte, anders als bei ihrer Mutter. Und jetzt fing die runzlige Kuh jedes Mal an zu lächeln, wenn sie von… Gus redete. Als wäre sie besoffen. Andererseits lächelte sie normalerweise auch dann nicht, wenn sie besoffen war. Was in letzter Zeit immer seltener vorgekommen war. Seine Mutter hatte immer gesagt, dass sie, er und Jack alles bekommen würden, wenn Brian endlich ins Gras biss. Sie würden reich sein. Dann konnten sich seine blöden Lehrer gehackt legen, die ihm ständig sagten, dass mit dieser Einstellung nie etwas aus ihm würde. Als würde ihn die Scheiße interessieren, die die vor sich hin blubberten. Wozu brauchte ein richtiger Mann Wissen über Geschichte oder Literatur? Das war was für Mädchen – oder Schwuchteln. Wenn es denn sein musste, würde er lieber etwas Handwerkliches machen. Kfz-Mechaniker wäre cool. Oder auf den Bau gehen, wie sein Vater, bevor er abgehauen war. Aber Erben wäre deutlich besser gewesen. Als erstes hätte er sich eine fette Karre gekauft. Und die Mädchen standen garantiert auch voll auf einen, wenn man reich war. Davon konnte er mit seinem pickeligen Teenager-Gesicht aktuell nur träumen. Aber jetzt war sein Kinderficker-Onkel mit seiner ganzen abartigen Familie hier aufgekreuzt und Oma hatte sie nicht zur Hölle gewünscht. John hätte heulen können. Warum war das Leben so ungerecht? Seine schöne Kohle, alles floss diesem verkackten Zwerg in den Rachen. Der war garantiert genauso pervers wie sein Alter. Hoffentlich erstickte er daran. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Taylor-Kinney!“ „Taylor… äh, Mr. Kinney?“ „Am Apparat.“ Craig musste – er wusste nicht zum wievielten Male, seitdem diese Geschichte angefangen hatte – hart schlucken. Tief durchatmen, sagte er sich, nicht aufregen… „Sie… sie heißen jetzt auch Taylor?“ fragte er und hoffte, dabei nicht ganz so neben der Spur zu klingen, wie er sich fühlte. „Ja“, antwortete Brian kurz angebunden, „wir haben uns für einen gemeinsamen Familiennamen entschieden, wenn unsere Ehe hier auch – noch nicht – anerkannt wird.“ Craig wusste haargenau, worauf diese Äußerung zielte, hatte er sich damals doch gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare stark gemacht. „Aha“, antwortete er lahm. „Äh… nun… Mr. Kinney… äh… Taylor-Kinney…“ verhaspelte er sich. „Wenn Ihnen davon nicht die Zunge abfällt, können Sie mich auch Brian nennen – schließlich bin ich ja in Kanada, verschiedenen Bundesstaaten der USA und einigen anderen Ländern weltweit, die keine menschenverachtenden Terror-Regime sind, und vielleicht eines Tages auch hier per Gesetz ihr Schwiegersohn.“ Kinney hörte sich unbeteiligt an, aber Craig meinte, einen lauernden Unterton zu hören. Er hatte völlig verdrängt, dass er ja bei einem Anruf bei Justin auch einen anderen der Hausbewohner erwischen konnte, und fühlte sich leicht überfordert. Er riss sich zusammen. Er hatte sich für diesen Weg entschieden, da musste er wohl jetzt durch, auch wenn sich seine Nackenhaare immer noch leicht aufstellten. „In Ordnung. Ich bin Craig.“ „Okay, Craig“, sagte Brian, „rufen Sie wegen Justin an? Er ist momentan nicht Zuhause, aber ich kann Ihnen die Handy-Nummer geben.“ „Eigentlich wollte ich nur Bescheid geben wegen der Sachen, die Justin über mich bestellt hatte… Ich kann sie liefern lassen oder kurz vorbei kommen und alles fix einbauen, das ist am einfachsten.“ Er fühlte sich etwas blöde, mit einem so fadenscheinigen Vorwand um Einlass zu bitten, schließlich machte er schon lange keine Hausbesuche mehr, und hielt die Luft an. „Das Angebot ist sehr freundlich. Allerdings fährt Justin Morgen für ein paar Tage nach New York. Er muss in seiner Wohnung nach dem Rechten sehen und sein Gesicht bei einer Vernissage bei Katlin’s blicken lassen. Sie können bis nächste Woche warten – oder Sie müssen mit mir und Gus vorlieb nehmen.“ Craig setzte schon an, den Termin auf die kommende Woche zu setzten, dann hielt er inne. Wenn er ein Teil von Justins Leben sein sollte, musste er wohl oder übel auch mit dem Rest seiner neuen Sippschaft zu Rande kommen. Ob rechtens oder nicht – Justin sah das so. Und er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er von Craig zumindest erwartete, dass er das stillschweigend akzeptierte. Niemand erwartete von ihm, dass er in Freudentänze ausbrach. Kinney lieferte ihm hier eine Möglichkeit… Garantiert nicht ohne entsprechende Hintergedanken. „Okay, ich kann am Samstagvormittag vorbei kommen, wenn Ihnen das passt.“ „Wir sind zu Hause.“ „Gut, dann bis Samstag – Brian.“ „Bis Samstag – Craig.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Ted lugte vorsichtig durch den Türspalt. Es kostete ihm jegliche Willensanstrengung, nicht loszulachen. Brian saß vor dem Bildschirm, starrte, dann schob er sich eine elegante Lesebrille auf die Nase und starrte erneut, nahm sie ab, zwinkerte, setzte sie wieder auf, las ein Stück, dann raste er los in Richtung Badezimmer zum Spiegel. Ted hatte schon länger den Verdacht gehabt, dass Brian von einer leichten Weitsichtigkeit heimgesucht wurde, aber hatte, aus reinem Selbsterhaltungstrieb, besser geschwiegen. Offensichtlich hatte es sich sein Boss inzwischen irgendwie eingestehen können. Und eigentlich sah er damit auch ziemlich gut aus. Kein draufgängerischer Twen mehr, sondern ein souveräner Mittdreißiger in seinem teuren Anzug. In Freizeitkluft wirkte er fast wie ein anderer Mensch. Nicht zu jedem waren die Jahre so freundlich. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Emmet starrte das Telefon an. Drew hatte angerufen. Mehrfach während der letzten paar Wochen, seitdem sie sich zufällig wieder getroffen hatten. Sie hatten ein wenig geplaudert, nicht über die Vergangenheit. Emmet war damals ziemlich in Drew verknallt gewesen. Am Anfang war es nur so eine Fick-Geschichte gewesen, Drew war ja auch sowas von heiß. Aber irgendwie… war es mehr geworden. Drew hatte ihm vertraut und den Schritt gewagt. Emmet wusste, was das für einen professionellen Football-Spieler, Inbegriff des weißen heterosexuellen Amerikas bedeutete. Aber er hatte es getan. Und dafür spürte Emmet tiefe Bewunderung. Es gab viele wie Drew, die das niemals gewagt hatten und niemals wagen würden. Vielleicht waren es dadurch ein paar weniger geworden. Aber es hatte nicht sein sollen. Drew war erst dabei, seine Sexualität zu ergründen. Gewissermaßen war er wie ein Teenager. Auf sowas ließ sich, bei aller Zuneigung, nichts bauen. Emmet konnte es verstehen, er hatte es ja selber gelebt – aber er stand inzwischen nicht mehr an demselben Punkt. Und heulend daneben zu stehen, während Drew durch die Betten tobte, das hatte nicht sein müssen. Egal, wie offen und tolerant man war, egal wie sehr man sich sagte, es sei doch nur Sex, rein körperlich – es ließ sich nicht auslöschen, das Gefühl, dass der andere Intimität und Nähe an Fremde verschenkte, die eigentlich ihm gehören sollte. Sex war nun mal etwas anderes als Pinkeln – man machte es nicht allein, es berührte immer auch mehr als nur das Physische. Nicht umsonst sagte man, dass der beste Sex im Kopf entstehe. Das konnte kurzfristig sein – Flirt, Verführung, Fantasien – oder auch etwas sehr Tiefes. Und er konnte letzteres nicht mit jemandem teilen, der auch auf der Jagd nach ersterem war. Justin hatte es versucht. Aber letztlich war er gescheitert. Drew mochte anrufen, er würde zuhören. Aber mehr auch nicht. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Wir müssen reden!“ „Warum wird mir nur so kotzübel, wenn du sowas sagst?“ Justin rollte die Augen und schlang seine Arme um Brian, der auf einem Küchenschemel saß und die Tageszeitung abwechselnd mit und ohne Brille anvisierte. Er hatte sich arg zusammenreißen müssen, um Brian nicht zu sagen, wie niedlich er das fand. Spieglein, Spieglein an der Wand… bin ich immer noch der geilste Hengst im ganzen Land? „Keine Panik“, flüsterte er in Brians bebrilltes Ohr, „es geht bloß um Weihnachten.“ Justin fühlte, wie Brian sich versteifte. „Das Fest der Hiebe… nein danke, da fröne ich lieber eines gepflegten Atheismus.“ „Du glaubst nicht an Gott?“ „Arg, jetzt geht’s aber ans Eingemachte. Den Typen, den sie mir in Joans Bibel-Terror-Kommando eingetrichtert haben, hasse ich derart, dass ich einfach nicht an ihn glauben kann. Denn wenn es ihn gäbe, dann wäre die Welt exakt das Jammertal, das meine Mutter sich immer eingeredet hat und jedes Fitzelchen Glück nur eitle Sünde. Und das kann ich einfach nicht glauben. Aber sonst… wer weiß? Vielleicht ist da etwas, das unser Verständnis überschreitet. Das wir auch nicht verstehen müssen. Das keine kleingeistigen Listen über unsere Verfehlungen führt, um uns zu verdammen. Keine Ahnung. Aber es fällt mir schwer an etwas zu glauben, das so diffus braucht. Ich kann nur hoffen, dass es so ist.“ Justin schaute ihn nachdenklich an: „Meine Familie war nie super-religiös. Zu Feiertagen Mal in die Kirche, das war’s. Wir sind ja auch nicht katholisch, sondern reformiert. Bin sogar getauft. Aber es war nie so das Thema. Es war immer irgendwie da. Mehr so eine kulturelle Geschichte. Und ich glaube auch, dass da… mehr ist. Auch wenn ich es auch nicht verstehe. Aber das muss man vielleicht auch nicht, wahrscheinlich geht es auch darum, dass man es versucht.“ „Was versucht?“ „Dinge… richtig zu machen. Liebe statt Hass… du weißt schon…“ „Dem Feind auch die andere Wange hinhalten?“ „Soweit würde ich nicht gehen. Aber ich bin auch kein Heiliger.“ „Gott sei Dank nicht!“ „Siehst du – und schon preist du den Herren…“ Brian seufzte und zog Justin an sich: „Du solltest unter die Theologen gehen bei deinen raffinierten Gottesbeweisen. Du sähest bestimmt scharf aus in so ‘nem Priesterornat…“ „Ui, da kommen ja ganz finstere Fantasien zutage. Wer bist du dann – der lüsterne Chorknabe, der zügellose Beichtstuhlbesucher oder der wollüstige Organist?“ „Treib’s nicht zu weit, Sonnenschein.“ „Wie wäre es mit einem tabulosen Elf?“ „Also dieser Gedankensprung überfordert mich jetzt leicht… Aber hört sich interessant an, also erzähl weiter.“ „Mmm, wenn du dich nicht quer stellst, wenn ich hier einen Weihnachtsbaum aufstelle, mache ich dir die nicht jugendfreie Version jeder Weihnachtsfigur deiner Wünsche.“ Brian begann zu lachen: „Das ist dreiste Bestechung! Du würdest ernsthaft in einem Weihnachtselfen-Kostüm durch die Gegend hopsen, um einen Weihnachtsbaum zu bekommen?“ „Ob ich hopse, muss ich mir noch überlegen. Und ich fänd einen Weihnachtsbaum schon irgendwie schön, aber er wäre doch eher für Gus.“ „Warum?“ „Warum? Weil für ein Kind Weihnachten neben dem Geburtstag das Allergrößte ist?“ „Aber Weihnachten ist nicht nur Konsumterror, auch wenn mein zynischer Geist mir das eingibt…“ „Nein, es ist ein christliches Fest. Und es mag dir übel aufstoßen, aber wir sind beide in diesen Traditionen groß geworden, es ist Teil von uns, ob wir wollen oder nicht.“ „Aber müssen wir das an Gus weitergeben?“ „Wir müssen ihm nichts Schlechtes weitergeben. Es liegt in unserer Hand. Aber wir können nicht vor dem weg laufen, was wir nun mal sind: weiße, christliche Amerikaner.“ „Igitt!“ „Es ist ein Teil jeder Existenz. Wir können ihm das nicht vorenthalten, das ist unmöglich und würde ihm langfristig wahrscheinlich nur Schmerz verursachen, da ihm etwas fehlt. Aber wir können das Beste daraus machen. Wir müssen ihn nicht kleingeistig indoktrinieren.“ „Identität, meinst du?“ „Ja, jeder muss sie für sich selbst finden. Aber ohne… Füllmasse geht das nicht.“ „Weise Worte, Mr. Versauter-Weihnachtself.“ „Du bestehst da wirklich drauf?“ „Du hast es angeboten. Ich hätte mich wahrscheinlich auch so breitschlagen lassen, aber gesagt ist gesagt.“ „Dir ist klar, dass das nicht ungesühnt bleiben wird?“ „Das verdränge ich erst mal, bis es soweit ist. Und was sieht deine Weihnachtsplanung außer einem Bling-bling-Baum so vor?“ „Gus kommt mit meiner Mutter, Molly und mir – und wahrscheinlich den Petersons – mit in den Weihnachtsgottesdienst. Die führen da immer ein Krippenspiel extra für Kinder auf, das wird ihm gefallen. Und wir laden die leiblichen und aufgelesenen Verwandten und Freunde am zweiten Weihnachtstag zu einem besinnlichen Beisammensein unterm Christbaum ein.“ „Buah, normalerweise mag ich es ja, wenn du fordernd wirst…“ „Denk an den Weihnachtself!“ „Ich tu mein Bestes. Ich baue darauf, dass er wirklich derart hemmungslos ist, dass sich ich den Schmerz überlebe. Darf ich was in die Bowle kippen?“ „Denk dran, vielleicht kommt mein Vater – und deine Mutter?“ „Oh Gott! Dann gibt’s nur Mineralwasser! Meine Mutter?“ „Sie würde sich freuen.“ „Na und…“ „Gus.“ „Du machst mich fertig.“ „Versuch es einfach zu genießen.“ „Ohne Drogen?“ „Berausche dich an der Liebe, die diese Räume durchströmen wird.“ „Da denke ich lieber an den Weihnachtself im Sling.“ „Wir haben keinen Sling.“ „Apropos, wünschst du dir eigentlich was zu diesem harmonischen Familienfest?“ „Nicht wirklich. Da würde ich dir Recht geben, es hat keinen Sinn, sich auf Krampf etwas zu schenken. Das tun wir jeden Tag.“ Brian fühlte Wärme in sich aufsteigen: „Du Kitschbold!“ Er küsste Justin schnell auf die Lippen. „Ich weiß, ich bin das Weichei und du der gefühlskalte Macho.“ „Schön, dass wir das geklärt haben.“ „Aber du darfst dennoch gerne deinen Konsumrausch an Gus austoben.“ „Weihnachten ist gerettet…“ „Sicher. Ich bin schließlich ein Weihnachtself.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)