Schattenfresser von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 16: Nicht gerade die Midgard-Schlange --------------------------------------------- XVI. Nicht gerade die Midgard-Schlange Es roch verflixt lecker, als er die Treppe hinab ging, zumindest nach gängigen Kriterien – also nicht nach billigem Plastik. Dennoch schien seinem Körper Nahrung nach zivilen Maßstäben nicht gänzlich egal zu sein, denn sein Magen knurrte gehörig bei diesem Duft. Er hörte die Stimmen seiner neuen Hausgenossen aus einem Zimmer des Erdgeschosses dringen, das er zuvor noch nicht betreten hatte. Aber er kannte große Teile der Villa auch noch nicht, bestimmt gab es auch hier Privatbereiche, in denen er nichts zu suchen hatte – oder Leviathans großer Bruder residierte im Keller, da besser nicht versehentlich die Nase reinsteckten. Die Tür zum Raum stand offen, Lichtschein und Bratengerüche drangen nach draußen. Vorsichtig lugte er um die Ecke – und erntete ein begeistertes Quietschen von Floffi. Der Hund strampelte, zu doof die Sinnlosigkeit seiner ins Leere laufenden Rennerei zu begreifen, in der Luft, da ihn Skia vorsorglich ein kleines Stück vom Erdboden hochgehoben hatte, damit er nicht Opfer seines ausgehungerten Herrchens würde. „Guten Abend“, grüßte er höflich. Eigentlich hätte er den Hund, der durch seinen Leerlauf bereits arg an der Welt zu zweifeln schien, schon ganz gerne kurz gekrault, aber er traute sich selber nicht ganz über den Weg. Die beiden grüßten freundlich zurück. „Setz dich doch“, lud ihn Skia ein und nickte in Richtung eines bereits eingedeckten Platzes. „Hungrig?“ Kai nickte. „Ja, das war ja schon… nicht unanstrengend. Danke für meine Sachen und die…Tür.“ „Kein Problem. Das Zimmer zur anderen Seite kannst du auch gern haben. Falls irgendetwas umgebaut werden muss, nur Bescheid sagen“, bot Morgana an und schaufelte ihm ein großes Stück Braten auf den Teller, dann hob sie einen weiteren Servierdeckel und enthüllte ein Platte Wackeldackel mit grellem Glitzer. Kai seufzte innerlich und bediente sich. Das Arrangement auf seinem Teller hatte wenig Chancen, für ein Kochmagazin abgelichtet zu werden. „Ähm“, räusperte sich und fühlte sich kurz schrecklich unbescheiden, dann besann er sich, dass das hier nicht nach den gängigen Regeln eines Hausbesuches oder der Untermiete lief. „Das Bad… ich passe kaum unter die Dusche mit den… Dingern. Und das Abtrocknen ist auch ziemlich anstrengend so“, beichtete er, den Braten schneidend, den nichtsahnend wackelnden Dackel fixierend, der gleich aus seinem entwürdigenden Dasein erlöst sein würde. Morgana nickte verständig. „Kein Problem“, meinte sie nur. „Du… zauberst das um?“ fragte er neugierig. Skia fütterte den Hund auf seinem Schoß mit Braten, was ihm einen indignierten Blick Morganas eintrug. „Das… oder die Homunculi… gar kein Problem. Wenn mir wirklich mal nach bauen ist, dann eher Pfefferkuchen. Aber damit habe ich böse Erfahrungen gemacht“, erklärte sie. „Verstehe“, murmelte Kai. Das irre Lachen wollte kurz wieder raus… er saß mit der Pfefferkuchenhexe beim Abendbrot und fraß Rinderbraten mit Wackeldackel… aber das war inzwischen so abgenutzt, dass es gleich wieder in sich zusammen brach. „Homunculi…?“ wollte er wissen. „Ja… extrem praktisches Haushaltsgerät, die halten den Laden in Schuss, diskret, optimal und ohne Gewerkschaft. Nein, im Ernst: sie sind keine Lebewesen, nur verzauberter Lehm. Wir mögen zwar Zeit haben, ab er so toll ist putzen nun auch wieder nicht. Nur Skia muss, der hat Magie-Verbot“, führte sie aus. Skia grollte leise vor sich hin. Aber das waren doch mal gute Neuigkeiten: nie wieder putzen! Man musste nehmen, was man kriegen konnte… „Das mit der Krankschreibung hat Rumpel gut hinbekommen, auch das Ausräumen deiner Wohnung ist professionell-diskret gelaufen. Dennoch ist das wohl nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen schon überlegen, wie du erklären kannst und willst, dass du dich für… einen alternativen Lebensstil entschieden hast“, machte sie weiter. Inzwischen war Floffi doch ausgebüchst und auf seinen Schoß gesprungen, aber jetzt war er schon genug vollgedackelt, als dass er das nicht hinbekäme. Immerhin Floffi war ihm geblieben… Floffi war es egal, dass er aussah wie eine von Heidi Klum designt Birkenstocksandale. Mmm, lecker… „Irgendwie“, murmelte er geknickt. „Muss ich mich verabschieden. Vielleicht bin ich… psychisch krank? Burn out? Depressionen? Und möchte daher mein Leben nach einer längeren Zeit des Hadern und Leidens in eine andere Richtung lenken… als Aussteiger in Tibet oder so…?“ spann er sich zurecht. „Super!“ gratulierte Skia und lächelte ihn breit an. „In der Tat, das hört sich plausibel an!“ stimmte Morgana kaum weniger angetan zu. „Und ab und an kannst du dich ja mal blicken lassen… unter Zauber und großer Vorsicht… mal anrufen oder so… das bekommen wir hin!“ „Mmm“, murmelte Kai, der diese Aussichten eigentlich eher schrecklich fand. Jetzt ging er auch schon unter die Tigertrauma-Inderschweden. Sein ganzes Leben… ein komplette Lüge? Nein, da waren noch Sachen… und er ja auch, wenn auch total verhunzt. „Und da ist noch etwas“, sagte Morgana, jetzt deutlich ernster. „Was denn?“ fragte Kai etwas alarmiert. „Der Rat möchte, dass du persönlich vorstellig wirst. So viel Aktivität hätte ich denen gar nicht zugetraut, aber manchmal überkommt es sie… Genau genommen wollen sie, dass wir alle drei da antanzen“, erklärte sie. Kai beschlich ein ungutes Gefühl, als er sah, dass Skia förmlich zu schrumpfen schien. „Muss das sein?“ würgte letzterer hervor. „Sieht so aus“, seufzte Morgana. „Ich kann mir auch Schöneres vorstellen. Es liegt noch keine offizielle „Einladung“ vor, aber Leila hat was aufgeschnappt, die ist ja vor Ort, auch wenn sie nur die Häppchen servieren darf.“ „Scheiße!“ murmelte Skia, dem plötzlich der Appetit verloren gegangen schien. „Scheiße?“ stimmte Kai prophylaktisch zu. Morgana winkte ab. „Die kochen auch nur mit Wasser. Keine Angst, Skia, es geht nicht um dich, du hast ja nichts verbockt, aber wahrscheinlich wollen sie uns als Zeugen und gerade für Kai Verantwortliche da haben. Jetzt mach dir mal nicht in den Lendenschurz!“ „Ich trage Designer-Unterwäsche“, protestierte Skia leise. „Und ich war noch nie allein da… Ich will nicht zu den Fischen…“ „Fische?“ fragte Kai erneut alarmiert. „Wenn ich das hier verbocke, werde ich für hundert Jahre am Meeresgrund festgekettet“, informierte ihn der ziemlich bleiche Skia. „Was?!“ entfuhr Kai entsetzt. „Was sind das denn für Rechtspraktiken?“ „Skias Ausraster war ein immenser Verstoß – denk an deine Ex-Kollegin! Wie geht es der jetzt? Und ihrem Mann? Stellen die keine Fragen? Rennen die nicht zu den Ärzten? Solange sie leben, muss immer ein Auge auf sie gehabt werden, notfalls wird magisch eingegriffen, aber was wir einmal verdaut haben, bleibt auch weg. Und die Fisch-Strafe… das ist sehr relativ, auch wenn es sich in deinen Ohren brutal anhören mag. Wäre eher wie… strengster Hausarrest für ein Jahr ohne Fernsehen für Skia – also schlimm, aber nicht tödlich. Er wäre nicht mal allein da, seine Mutter und andere von uns mit Affinität zum Wasser hätten ihm Gesellschaft leisten können“, meinte sie. „Stell dir das vor!“ verdeutlichte Skia. „Du bist festgebunden und deine Mutter oder dein Cousin können nonstop auf dich einreden! Das und die Fische! Und sonst nichts! Das ist viel schlimmer als Hausarrest!“ „Äh… in der Tat… Deine Mutter ist eine Nixe… oder ein Oktopus…?“ fragte Kai schlingernd. „Meine Mutter ist die Lorelei!“ verkündete Skia stolz. „Die Menschen erzählen doch Geschichten über sie?“ Kai sah ihn ein wenig fassungslos an, obwohl er bei Skias Haarpflegeaktion ja schon in die Richtung assoziiert hatte. Und sein komisches, altertümliches Gesinge… ach du Schande… „Die, die die Fischer…?“ stammelte er. „Ja“, erwiderte Skia und zog einen leichten Flunsch. „Aber damals war das noch nicht verboten. Immer noch besser als Papa.“ „Papa?“ widerholte Kai dumpf. „Mein Schwager Ugbert war ein bauerfressender Riese“, erläuterte Morgana. Na dann… „Und was isst der jetzt?“ fragte Kai und schlürfte schnell noch einen Dackel als Übersprunghandlung. „Das willst du gar nicht wissen!“ kam die Antwort im Chor. Das glaubte Kai ihnen sofort. Skia war also der Sohn einer Fischer ertränkenden Meerjungfrau und eines bauernfressenden Riesen – dafür war er allerdings recht umgänglich, musste man zugeben. Aber vielleicht waren seine Eltern ja auch liebreizend nett, wenn es um Ihresgleichen ging… Hoffentlich. Der Lehrer in Kai erwachte kurz und dankte auf den Knien, dass er es während seiner Karriere nie mit solchen Eltern zu tun bekommen hatte. „Äh… und wo wohnst du Normalerweise?“ fragte er weiter. Er war eine wandelnde Bildungslücke, wie grauenhaft, da musste er jetzt ein wenig rumnerven. „In einer Höhle an der Elbe. Meiner Mutter hing der Rhein zum Hals raus“, erwiderte Skia und nahm sich, immer noch ein wenig unwohl aussehen, noch ein Stück Braten, zerhackte den Schatten, saute sich dabei die Haare mit Bratensaft voll und verdrückte dann den Rest in barbarisch großen Stücken. Da kam wohl der Papa durch… „Aber ich darf nicht wieder nach Hause, bevor der Rat meine Strafe aussetzt.“ Skia hatte es also wie ihn aus seinem gewohnten Leben gekegelt, wenn auch nur auf Zeit – und mit den Fischen im Nacken. Aber wer wusste schon, was die mit ihm anstellen würden, wenn er versehentlich in Daniela Katzenberger hinein liefe… oder flatterte. Er sollte einen großen Bogen um Mallorca machen. Aber die Geschmacklosigkeit lauerte überall, das war ja das Grauenhafte – aber zumindest würde er niemals hungern müssen. „Und dieser Rat, wer sind die?“ wollte er wissen. Floffi machte Männchen auf seinem Schoss und wollte ihm liebevoll das Kinn ablecken. Vielleicht hing aber nur noch Bratensaft dran. Blöderweise war der Hund zu kurz, so dass er in seinem Drängen ein gnadenloses Trommelkonzert auf Kais Brust veranstaltete, bis dieser ihn hochhob, um sich angewidert abschlabbern zu lassen. Ansonsten würde Floffi damit weiter machen, bis er einen Herzkasper bekam – oder Kai sein einziges passendes Hemd vergessen konnte. „Die Ältesten von uns – die dazu Lust hatten“, erwiderte Morgana. „Die Sphinx höchstpersönlich?“ bohrte Kai zwischen Wissensdurst und Hirnbeneblung. „Nein, die kocht nur den Kaffee. Apropos, könnte ich jetzt auch vertragen“, murmelte Morgana und erhob sich Richtung Küche. „Noch wer?“ fragte sie. Beim Kaffeekochen traute sie nur sich selbst wirklich über den Weg, so schlau war Kai schon geworden. Skia und er meldeten sich beide. Während Morgana in ihrer Luxus-Hexenküche werkelte, wandte sich Kai an Skia. „Wie alt… sind denn die Ältesten?“ wollte er wissen. „Haben die selber längst vergessen“, meinte Skia ungerührt und warf dem schmusenden Hund verliebte Blicke zu. Kai griff ihn sich und reichte ihn Skia, der ihn entgegen nahm wie den heiligen Gral. Floffi freute sich ganz offensichtlich einen zweiten Puschelschwanz, so im Zentrum des Interesses zu stehen. „Sind die… menschlich aussehend?“ fragte Kai weiter. Skia nagte an seiner Oberlippe. „Geht so. Teilweise… und zwar jeder von Ihnen teilweise. Ich habe echt Schiss vor denen… je älter wir werden, desto stärker werden wir… auch durch Kenntnis, aber auch physisch. Die haben nicht nur das Sagen, weil sie so weise und allwissend sind, sondern weil sie auch den Rest von uns ohne weiteres platt machen könnten. Tun sie nicht, haben sie selbst verboten. Wir regenerieren zwar, aber platt zu sein ist dennoch nicht witzig… Und ihre Magie… Wenn einer danebenschießt und sie am Halse hat, dann will man nicht mit dem tauschen“, flüsterte Skia schließlich. „Na, super“, stöhnte Kai. „In deren Augen bin ich wahrscheinlich ein Regenwurm.“ Ihm wurde ziemlich flau. Was zum Geier erwartete ihn denn da… bestimmt keine fröhlich grinsenden Lokalpolitiker. „Das bin ich auch“, seufzte Skia. „Aber die wollen dir ja nicht ans Leder. Und mir auch nicht! Die wollen bestimmt nur wissen, wer und was du bist – und warum du jetzt erst aufgetaucht bist und woher…“ „Bestimmt?“ hakte Kai mit einem Anflug von Panik nach. „Ganz bestimmt!“ nickte Skia eifrig, vielleicht etwas zu eifrig. „Die wollen bestimmt kein Leberorakel von dir…“ „Was?!“ fuhr Kai auf. „Nicht aufregen! Das kommt nur bei wiederholten Kapitalverbrechen, dient der Wahrheitsfindung… die Leber lügt nicht, wenn man die Zeichen kennt… oder so… ich bin da nicht so der Crack“, beruhigte ihn Skia mit sehr mäßigem Erfolg. „Die rupfen einem die Leber raus, um darin zu lesen?!“ wiederholte Kai entgeistert. „Äh… die wollen bestimmt nur reden! Echt!“ beteuerte Skia. „Na dann ist ja gut“, stöhnte Kai. Da wollte eine Horde uralter Fantasy-Monster mit ihm Inquisition spielen – und was war er?! Nicht gerade die Midgard-Schlange. Morgana kam wieder herein mit einem Tablett voll dampfender Tassen. Sie erkannte die Lage auf einen Blick. „Was ist denn mit euch los?“ fragte sie misstrauisch. „Ich habe Kai nur ein wenig vom Rat erzählt“, beichtete Skia. Morgana verdrehte die Augen. „Jetzt hör doch mal auf, deine Panik auf andere zu übertragen, du Schisser. Kai hat schon genug um die Antennen, ohne dass du ihm irgendwelche Horror-Stories erzählst. Aber es wird schon nichts Großartiges sein, warum auch? Also ruhig Blut. Kai. Die wollen und können dir gar nichts. Du hast überhaupt nichts getan, bist ein Baby in deren Augen – eins von unseren, kein menschliches. Also mach dir bloß nicht ins Hemd, weil Skiaphagos Muffensausen hat.“ „Ich tu mein Bestes“, würgte Kai heraus, obwohl ihm bei der Aussicht auf einen unsterblichen Ältestenrat mit ziemlich drakonischer Gerechtigkeitsauffassung ganz anders wurde. Wer saß darin, Zeus höchstpersönlich? Wollte er jetzt wirklich nicht wissen. Er wollte lieber Floffi zurück, der ihm klar machte, dass die Welt nach wie vor so doof war wie eh und je. Er streckte den Arm aus und Skia reichte ihm zuvorkommend den wohlig fiepsenden Hund zurück. „Scheiße“, murmelte er, mehr zu sich selbst. „Antennen hoch, Kai“, empfahl Skia. „Das wird schon…“ „Das sagst du so leicht. Freitag wäre das Schlimmste, was mir bei Fehlverhalten geblüht hätte, ein Anschiss vom Direx oder gar der Bildungsbehörde gewesen. Jetzt sind es eher Mittelalterstrafen von Seiten irgendwelcher Uralt-Supermonster…“, jammerte er. „Nenn die bloß nicht Monster!“ fuhr Morgana ihn an. „Das mögen die gar nicht!“ Schon klar. Ich bin ja jetzt auch ein Monster. Wenn auch nicht gerade ein Super-Monster“, gestand er ein. "Ist nicht gesagt. Du bist ja gerade erst… frisch. Vielleicht wirst du auch mal ein Super-Monster“, tröstete Skia ihn. „Ich sehe die Welt schon erbeben“, stöhnte Kai. „Uns wann geht’s los auf diese Tour jenseits meiner Vorstellungskraft?“ wollte er wissen. „Gemach, Gemach. Die melden sich schon, ist ja noch gar nicht offiziell. Derweil können wir ja im Programm fortfahren“, beruhigte Morgana. „Und das wäre…?“ fragte Kai. „Wir müssen so viel über deine Fähigkeiten herausbekommen wie möglich. Vieles ist Übungssache, aber der Rest auch Begabung und Neigung. Wir üben Magie“, machte Morgana ihm klar und streckte sich dabei wohlig über ihrem Kaffee. Skia verzog das Gesicht. „Wer sind „wir“?“ wollte er wissen. „Ihr“, entgegnete sie. „Du kannst auch durchaus ein wenig Übung vertragen. Deine Mutter meint zwar, du seist ein hoffnungsloser Fall ganz wie dein Vater, lediglich auf instinktivem Niveau – aber ein wenig Training kann dir dennoch gewiss nicht schaden. Ich darf dir zwar nicht magisch helfen, aber dir haben sie das Zaubern nicht verboten, hielten sie wahrscheinlich für überflüssig. Oder willst du lieber in deinem Zimmer hocken und schon wieder „Buffy – the vampire slayer“ gucken? Vlad wäre nicht begeistert… außerdem ist das unrealistisch, anders als deine Lücken. Wenn du schon nicht zur Schule kannst, kannst du wenigstens hier die Schulbank drücken!“ Skia wirkte nur mäßig begeistert, aber hielt vorerst weise – oder fatalistisch – den Mund. „Und… wie funktioniert das bitte?“ erkundigte sich Kai. „Brauche ich jetzt einen Zauberstab oder was?“ Die beiden anderen legten ein herzhaftes Gelächter bei dem Gedanken hin. „Könnte praktisch sein“, spekulierte Skia, „wenn es einem mal ganz tief im Ohr tierisch kratzt… eine Phönixfeder wirkt da bestimmt Wunder. Allerdings ist das den Aufwand nicht wert, sich mit so einem Biest anzulegen.“ Kai schaute etwas bescheiden. „Schon gut“, tröstete Morgana ihn halbherzig. „Aber derartige Vorstellungen sind für uns Slapstick vom Feinsten. Nimm es uns nicht übel, du kannst es ja nicht wissen… aber der Kram ist echt ein running gag für uns. Nein, keine Panik, es kommt nicht gleich eine Eule durch den Kamin.“ „Wie dann?“ fragte Kai leicht beleidigt. Es war pädagogisch nicht sinnvoll, den ahnungslosen Schüler auszulachen, aber die beiden hier hatten auch nicht das Lehrerdiplom – und er war auch kein Sextaner. „Ganz unterschiedlich, das müssen wir testen. Das Potential ist da – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger… Doch jeder hat so seine Art, es in die physische Welt zu ziehen. Ich zum Beispiel arbeite meist mit Tränken oder Salben, die ich stationsweise zubereite, so dass die Magie hinein fließt. Meine Schwester, Skias Mutter, erledigt das mit ihrem Gesang. Aber es gibt auch solche, die dichten, daher das Gerücht von „Zaubersprüchen“, oder schnitzen oder grimassieren oder sonst etwas.“ „Hoffentlich muss ich nicht tanzen“, gruselte sich Kai. „Das gibt es natürlich auch“, grinste Skia, doch Kai war sich nicht sicher, ob das wirklich so freundlich-naiv war, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte. „So, Skia“, wandte sich Morgana an ihn. „Du bist dran. Verwandele die Bratenreste auf deinem Teller mal in etwas Nettes.“ Skia verzog entsetzt das Gesicht. „Das kriege ich doch nie hin!“ protestierte er. „Na los!“ forderte Morgana gnadenlos. Skia seufzte, dann zog er tief Luft ein und begann aus voller Kehle zu singen. Wirklich sehr einnehmend, der Text war es indes weniger: „Ach, des Eutertieres Braten, werde ne Blume aus dem Garten!“ Nichts geschah. „Komm schon, höre auf mich Nulpe – und werd gefälligst eine Tulpe!“ intonierte Skia und starrte wütend flehend die Reste auf seinem Teller an. Kai war sich nicht sicher, aber er meinte, dass das Zeug irgendwie zu zucken begann. Ein ziemlich ekelhafter Anblick. „Auch, wenn ich das gar nicht kann – werd ne blöde Blume, Mann!“ fuhr Skia singend seine Essensreste an. Der Kram begann zu brutzeln und zu blinken, als würde er irgendwie mit Säure übergossen dahin schmelzen, und sah dabei auch nicht appetitlicher aus. Ein braungrünlicher Schleim, der auch ganz schön übel roch. Kurz meinte Kai zu sehen, wie sich ein paar grauenhaft hässliche organische Formen bildeten, dann fiel die ganze Sauerei in sich zusammen, blubberte kurz nach, und explodierte direkt in Skias angestrengt verzogenes Gesicht. „Wah!“ schrie Skia auf. „Siehst du, was passiert! Immer dasselbe! Der Kram fällt mich an, igitt!“ Morgana reichte ihm eine Serviette, mit der er sich würgend den Schleim aus dem Gesicht wischte, der inzwischen überhaupt keine Ähnlichkeiten mit irgendetwas mehr hatte. Aber Kai meinte, zumindest einen leichten Kompostgeruch wahrnehmen zu können. Skia stand auf und flitzte in die Küche, kurz darauf hörte man Wasser gurgeln. „Dann bist jetzt du dran“, wandte sich Morgana jetzt an Kai. „Also ich weiß nicht…“, brachte Kai seine Bedenken zur Sprache. „Ach was – entweder passiert gar nichts, oder du scheiterst, aber schlimmer als Skia wohl kaum“, motivierte ihn Morgana stilecht. Skia kam wieder angetrabt, sich mit einem karierten Küchenhandtuch das Gesicht wischend. Seine Haare dürften nach diesem Abendmahl wohl auch eine Wäsche verdient haben, aber er sah nicht so aus, als wolle er deswegen Kais erste Übungseinheit versäumen. Kai stellte Floffi vorsichtshalber ab, der das ganze Geschehen mit einem innigen Ausdruck des Nichtverstehens verfolgt hatte, lediglich bei der Explosion war er in Deckung gegangen ohne auszuflippen, eventuell härtete auch der ab. Kai starrte auf seinen Teller. Eine Blume? Da raus? Nie im Leben. „Öhm“, räusperte er sich. Singen konnte er nun gar nicht, also ließ er es mal besser. Er konzentrierte sich und murmelte. „Bevor ich hier noch blöd rumturn, sei so gut und werd ein Wurm“, versuchte er sein Glück. Es tat sich rein gar nichts, welch Wunder. „Das mag vielleicht nicht so gut riechen, aber Würmer können kriechen!“ machte er sinnentleert weiter, ohne dass sich irgendetwas getan hätte. „Vielleicht brauchst du Werkzeug?“ überlegte Morgana. „Einen Zauber-Schraubenzieher?“ grummelte Kai. „Könnte durchaus sein“, erwiderte sie nüchtern. „Zu was für Werkzeugen hattest du denn in deinem vermeidlichen Menschenleben eine Affinität?“ „Bügeleisen schon mal nicht. Wäre ja noch schöner – statt Zauberstab so ein Ding“, murmelte er. „Aber ich bin ja Kunstlehrer… Stifte? Farben?“ „Ich hol mal meine Malsachen!“ beschloss Skia voll Feuereifer und raste los. Kai nahm noch einen tiefen Schluck von seinem Kaffee. Es war Sonntagabend und statt mit Floffi auf dem Schoß „Tatort“ zu gucken, versuchte er die Reste seines Abendbrotes mutieren zu lassen. Das war zwar auch nicht direkt langweilig, aber hatte so nicht in seinem Time-Planer gestanden. Skia kam wieder rein gebraust, er hatte ja auch ein ziemliches Tempo drauf, wenn er sich nicht zurück nahm, und reichte Kai seinen Stiftbeutel und seinen Tuschkasten. Kai angelte sich einen blauen Buntstift heraus, verbot sich, darüber nachzudenken, wie das alles von außen betrachtet wirken mochte, und schwenkte damit ein wenig unkoordiniert durch die Gegend. „Bitte keinen Obergau – Bratenreste werdet Blau!“ orderte er und piekte sie mit der Miene an. Fassungslos verfolgte er, wie der abgenagte Kram die Farbe des Stiftes annahm. Sah ziemlich widerlich aus, aber immerhin. „Glückwunsch!“ gratulierte Morgana zufrieden. Ja, er war ja so ein Obergenie, er konnte das Abendessen umfärben. Er war der reinste Kampfmagier. „Versuch mal die Tusche! Ohne zu reden!“ empfahl Skia gebannt. Kai schnappte sich wahllos den Goldton, zerbröselte ihn ein wenig in der Hand und sah zu, seine ganze Konzentration auf die Farbe zu richten. ‚Gold! Gold! Gold!‘ mantrate er vor sich hin, bis ihm ein wenig übel wurde, dann warf er den Kram einfach mal von sich. Floffi jaulte entsetzt auf, er selber öffnete panisch die Augen. Uff, der Hund lebte noch – nur hatte er blöderweise schwanzwedelnd vom Boden aus verfolgt, was Herrchen so trieb, und konnte sich jetzt den Besuch beim Hundefriseur sparen. Morgana und Skia klatschten anerkennend, als er hektisch den abscheulich glänzenden Hund hoch zog, der sich Trost suchend an ihn kuschelte. Armer Floffi… und er hatte immer gedacht, der Hund könne gar nicht beschissener aussehen… Fehleinschätzung… Gut, dass noch Wackel-Dackel in Reichweite waren…. „Mist, wie kriege wir den jetzt wieder normal?“ keuchte Kai. „Deckweiß“, erwiderte Morgana lakonisch. Kai kramte hektisch danach, schloss die Augen und drückte auf die Tube. So strahlend war Floffi noch nie gewesen, der sich völlig konfus in alle Richtungen umsah, zu recht nicht blickend, woher das alles kam. „Na, das ist ja wunderbar“, seufzte Kai. „Ich kann also die Welt ganz dolle bunt machen.“ „Immerhin kannst du etwas und hast offenbar Talent. Wahrscheinlich kannst du noch deutlich mehr, aber das hier ist doch schon ein guter Anfang“, lobte ihn Morgana. „Mit der Zeit wirkst du deine Möglichkeiten schon noch ausloten können. Aber sei vorsichtig, zaubern strengt ganz schön an, verbraucht viel Energie. Deine Flügel haben schon wieder die Farbe eines Zoo-Flamingos.“ „Kann ich die nicht auch umfärben?“ machte sich Kai Hoffnungen. „Wahrscheinlich – aber davon ist aktuell eher abzuraten, sonst übersehen wir noch, wenn du Hunger hast, und du startest eine spontane Fressorgie mit ungewissem Ausgang. Außerdem – du bist, was du bist, dass deine Flügel so sind, wie sie sind, hat ja auch seinen Sinn“, wies sie ihn zurecht. Kai konnte sich dieser Auffassung nur bedingt anschließen, beließ es aber erst einmal dabei. Schwarze Flügel wären definitiv erträglicher… aber dann sah er auf einmal aus wie eine Motte, auch nicht gut. „Ich mach jetzt mein Wellness-Programm“, verkündete die Hexe und stand auf. „Im Keller ist eine Höhlensauna und ein Pool, kannst du auch gerne benutzen, aber jetzt will ich erst einmal meine wohlverdiente Ruhe von euch. Ihr könnt ja Kais Zimmer einrichten, aber macht bloß keinen Blödsinn.“ Kai konnte sich Skias leicht genervtem Augenrollen nur anschließen. Sie waren schließlich nicht drei! Jedenfalls nicht nach eigenem Empfinden. Morgana stiefelte davon, und Skia wandte sich ihm erwartungsvoll zu. Seine Augen hatten einen ganz leichten Rosastich, Kai fühle einen Hauch von Neid auf diese Dezenz. „Kann ich dir denn helfen?“ fragte Skia ein wenig schüchtern. Kai überlegte kurz. Einerseits lockte ihn die Einsamkeit, um ein wenig den Kopf frei bekommen zu können – andererseits war er sich nicht sicher, ob er dabei nicht nur noch konfuser werden würde. „Na gut“, sagte er langsam. „Wahrscheinlich schon.“ ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Erschöpft ließ sich Skia ins Bett sinken. Himmel, hatte Kai viel Krempel, aber das war er eigentlich von zu Hause gewohnt. Seine Eltern konnten auch nichts wegschmeißen. Fort kam nur, was aus Altersschwäche zusammen brach oder sich von selbst in Staub auflöste. Den meisten Platz unter Kais Inventar nahmen die Bücher ein. Er hatte Sachbücher zu allen möglichen Themen, natürlich besonders zu Kunst und Geschichte, aber auch vieles andere, Romane hatte es auch massig gegeben – und Comics! Es war recht anstrengend gewesen, Kai zu den vielen Themen, die da durch seine Hände gingen, keine Löcher in den Bauch zu fragen, aber er hatte es geschafft, sich zusammen zu reißen. Es war schon etwas merkwürdig, dass sein Lehrer Herr Wiesenblum jetzt Kai sein sollte, der unter einem Dach mit ihm lebte und der eben kein Mensch war. Der Blick in Kais Augen war, während sie geräumt hatten, ein wenig weggetreten gewesen, als würde sein Hirn nur so rotieren. Kein Wunder, wirklich. Ab und an hatte er etwas gefragt, was ihre Welt anging, und Skia hatte sich bemüht, die Informationen einigermaßen menschengerecht zu verpacken, so es denn ging. Kai hatte etwas verstört reagiert, als eine Horde Homunculi wohl auf Morganas Order hin – der Homunculi-Lagerraum lag auch im Keller – hinein gerauscht war und sich an die Umbauarbeiten gemacht hatte. Kai besaß jetzt eine Dreizimmerwohnung mit Bad und wundervollem Blick über den Wald im Obergeschoss nahe seines eigenen Zimmers. Er selber brauchte ja nicht so viel Platz, auch war er es, anders als Kai, nicht gewohnt, allein zu leben in einer eigenen Wohnung. Und das hatte Kai, so wie es aussah, zusammen mit Floffi. War er immer allein gewesen? Die Menschen in Kais Alter hatten doch häufig Partner oder hatten bereits geheiratet. In der Schule war Kai eben der Lehrer gewesen, aber er musste doch auch ein Leben außerhalb gehabt haben? Doch er hatte nur Freunde, Kollegen und seine Familie erwähnt. Unter Kais Büchern hatten sich auch solche befunden, die sich mit Homosexualität befassten, aber das konnte auch reiner Wissensdurst sein. In Ihrer Welt spielte das sowieso keine Rolle, seine eigenen spärlichen Informationen darüber, dass Menschen da Unterschiede machten, hatte er nur aus den Fernsehserien bezogen. Doch war Kai als Mensch so gewesen? Konnte man ihn das fragen – oder wäre das ungehörig? Er dachte an Morganas Warnungen. Vielleicht sollte er Kai damit nicht gleich auf die Nerven gehen, denn streng genommen war das irrelevant geworden für ihn. Sie alle waren sowieso so andersartig und so verschieden auch voneinander, dass das im Rahmen ihrer langen Lebenszeiten schlichtweg unbedeutend war. Aber was wusste er schon, von der Liebe, ob seelisch oder körperlich, verstand er herzlich wenig, das war in ihm noch nicht ausgelöst worden. Ihm graute auch ein wenig davor, wenn er daran dachte, wie es Ihresgleichen erging, wenn die Lawine erst einmal losgetreten war. Ein beruhigendes Beispiel waren seine Eltern, aber es gab auch abschreckende Alternativen, wenn man da zum Beispiel an Calypso und ihren Schweinegatten dachte oder an Narziss... puh, nein danke! Es gab auch Ausnahmen wie Tante Morgana, aber vielleicht hatte die bisher nur Glück gehabt oder etwas war bei ihr schief gelaufen. Da waren die Menschen sogar ein wenig zu beneiden, das schien ihm alles so viel einfacher als bei ihnen. Aber eventuell war der Klee in Nachbars Garten nur über den Zaun betrachtet grüner. Es galt es erst mal, Kai über die Runden zu helfen. Eventuell machte der Rat ja auch gar nicht ernst, und sie konnten einfach in Ruhe weitermachen, das langte doch eigentlich schon. Hosted by Animexx e.V. 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