Schattenfresser von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: Im Hexenhaus ----------------------- V. Im Hexenhaus Morgana lehnte mit überkreuzten Armen auf dem Tresen ihrer geräumigen Designer-Küche und ließ den Blick durch das breite Panoramafenster über das Waldstück gleiten, das ihr weitläufiges Grundstück weitestgehend bedeckte, sah man mal vom Kräutergarten und ihrer Wohlfühlecke mit den Blumenkübeln ab. Ein menschliches Auge hätte ihn nicht wahrgenommen, zu tief war er in die Schatten gesunken, aber ihr Blick machte die hochgewachsene Gestalt ihres Neffens ohne weiteres aus. Skiaphagos glitt zwischen den Stämmen hindurch, musterte die langen, morgendlichen Schatten, überlegte und suchte sich die vielversprechensten Häppchen heraus. Sein Haar hatte er gelöst, es bewegte sich tastend um ihn herum, bis es die anvisierte Beute schnappte und für ihn aufsog. Seine Essensgewohnheiten waren deutlich ästhetischer als die seines Vaters, da kam er wohl definitiv eher nach Loreley. Seufzend drehte sie sich um. Sollte er ruhig erst einmal ausgiebig frühstücken, einen festen Happen dürfte er aber auch noch brauchen, Schatten waren schließlich auch nicht alles. Und so ein junger Mann hatte schließlich ordentlich Hunger. Nach seinem Rausschmiss gestern war der Ärmste ziemlich erledigt gewesen. Er hatte lustlos ein paar späten Schlagschatten der Eichen vor der Haustür in sich hinein geschaufelt, dann hatte sie ihm sein Zimmer gezeigt, ganz oben, wo die Sonne der sommerlichen Tage ordentlich herein schien. Das dürfte ihm gefallen. Er hatte seine wenigen Habseligkeiten in das Regal geräumt, das sie ihm zur Verfügung gestellt hatte, dann hatte er sich benommen auf dem breiten Bett zusammen gerollt und den Fernseher angestellt. Er sah gerne fern, das wusste sie von ihrer Schwester, Bilder aus der fremden Welt der Menschen, deren Teil zu werden nun seine Aufgabe sein sollte. Sie hatte ihn in Ruhe gelassen, sollte er sich erst einmal ein wenig fangen. Als sie später nach ihm gesehen hatte, war er bereits eingeschlafen gewesen, während der Fernseher noch immer ohne Ton weiterlief. Vorsichtig hatte sie ihn ausgeschaltet und den Jungen zugedeckt, der in so tiefem Schlummer lag, dass er von alledem nichts bemerkt hatte. Nun hatte sie also ein Kind am Halse. Okay, eigentlich war er - rein physisch gesehen - erwachsen, aber was seine Birne anging, wohl eher nicht. Aus naheliegenden Gründen hatte sie nie eigene Kinder gehabt. Zwar war sie schon mal in Versuchung geraten, aber diese Scheißer Hänsel und Gretel hatten sie kuriert. Kinder waren die Pest, wer band sich so etwas schon freiwillig ans Bein? Wenn ihre Angst nicht so gut schmecken würde... Was hatte Hänsel für einen verdammten Riesenschiss gehabt, dass sie ihn fressen werde, dieser kleine Idiot. Elende, miese Rotznasen... fast zweihundert Jahre hatte sie gebraucht, um sich von dieser Pleite vollständig zu erholen. Ein Komplettregeneration war gar nicht witzig, aber eine gute Gelegenheit gewesen, ihr Äußeres auf Zack zu bringen. Jetzt war sie wieder jung und knackig, mit dichtem schwarzen Haar und einer schicken Wespentaille. Diese üblen Hosenscheißer hatten sie doch wirklich in ihren eigenen Ofen befördert, damit hatte sie nicht gerechnet. Gut dass es nicht in der Macht der Sterblichen lag, ihresgleichen wirklich ins Jenseits zu befördern. Übel wehtun oder das Leben zur Hölle machen konnten sie allerdings schon... Das war noch vor der Erfindung der Brille gewesen. Und noch viel, viel länger vor der dieser großartigen Kontaktlinsen. Viel einfacher zu handhaben als ein Zauber. Die hatten sie wirklich übel verarscht... Damit sie dieses warnende Desaster niemals vergaß, stand noch immer ein Pfefferkuchenhäuschen klassischer Bauart im Atriumhof ihrer todschicken Villa im Bauhaus-Stil. Hohe Fensterfronten öffneten den elegant aus verfeinerten stereometrischen Formen zusammengesetzten Baukörper zum Sachsenwald hin, der sie dicht umgab. Die drei Geschosse boten reichlich Raum für jedes splenige Hobby dieser Welt, Krötenzucht, Squash... Ein großzügiges Untergeschoss hatte Platz für lichtscheues Gesindel jeder Art auf Verwandtenbesuch. Cousin Vlad bekam nun mal völlig die Krise, wenn ihn das Tageslicht erwischte, Anstellerei... War wahrscheinlich eine Psychose. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen. Sie kippte sich eine schöne heiße Tasse Kaffee ein und streckte sich. Es war Samstag, heute musste sie nicht zur Arbeit. Nicht dass sie auf die Kohle angewiesen gewesen wäre, aber der Job als Kindergärtnerin war ernährungstechnisch mehr als günstig. Am besten waren die Übernachtungs-Partys. Schön eine Gruselgeschichte erzählen... und yammi, wenn sie alle plärrten und sich Trost suchend an sie kuschelten! Hänsel und Gretel in der Die-Hexe-gewinnt-Version... Aber heute gab es keine heulenden Kleinkinder, sondern nur einen aus der Bahn geworfenen Neffen. Sie sah, dass er sich offensichtlich ausreichend vollgestopft hatte, die blonden Strähnen waren träge geworden und gehorchten allmählich wieder den Regeln der Physik. Er stakste langbeinig wieder zurück zum Haus. Die Bäume waren ja okay, die konnte man umhauen, verfeuern und neue pflanzen, aber wehe er vergriff sich am Inventar! Aber Loreley und Ugbert hatten ihn erzogen, da würde er schon keine Zicken machen. Er betrat die Küche und sah sich etwas schüchtern um. "Guten Morgen, Tante", grüßte er artig und puhlte sich ein paar Ästchen aus dem Schopf, die er rasch hinter sich durch die Verandatür nach draußen schmiss. "Guten Morgen, Skiaphagos", grüßte sie zurück und stand auf. "Noch ein festes Häppchen Menschenessen?" fragte sie in ihrem freundlichsten Ton. "Nein danke, Tante, wir dürfen doch keine Menschen essen!" erwiderte er entsetzt und sah sie aus riesigen, leicht rosa schillernden Augen an. "Menschenessen! Nicht Menschen essen! Denkst du, ich bin da, um dich erst recht reinzureiten? Und mich gleich mit?" setzte sie ihn auf den Pott. Er wurde leicht rot und sank ein wenig in sich zusammen. "Entschuldige bitte... Ich bin wahrscheinlich noch immer etwas von der Rolle. Was... was hast du denn so?" "Froot Loops? Die bunten?" bot sie ihm an. Kinder liebten die... "Die kenn' ich aus der Werbung!" erwiderte er erfreut und dadurch von seinem Elend etwas abgelenkt. "Du hast die echt da?" "Ja. Und Nutella. Hanuta. Fruchtzwerge. Was immer die willst", bot sie ihm an und öffnete den mit Leckereien vollgestopften Kühlschrank. Er trat hinter sie, sein immer noch offenes Haarinferno hinter sich her schleifend, und staunte. Er war echt ein ganz schön langer Lulatsch, wenn auch nicht so ein Klopper wie sein Vater. Wie hatte ihre Schwester den bloß aus sich raus bekommen? Okay, da war er ja auch noch kleiner gewesen. War bestimmt trotzdem beschissen gewesen. "Irre!" entfuhr ihm tief beeindruckt, während er ihre Vorräte studierte. "Was ist das denn, das mit dem Glibber?" fragte er und zeigte auf ihre Aufschnittsammlung. "Bauernsülze", klärte sie ihn auf und hielt ihm die Packung vor die Nase. "Was?! So wie Papa..." fragte er perplex und sah sie mit offenem Mund an. Er hatte keine Reißzähne, das war ja immerhin etwas. "Nein! Von Bauern - nicht aus Bauern! In Fruchtzwergen sind auch keine Zwerge! Und in Kinderschokolade keine Kinder!" versuchte sie ihm klar zu machen und trat einen Schritt zurück, um ihn besser anvisieren zu können. Genau wie ihre Schwester war sie recht zierlich, in Menschenmaßen vielleicht einen Meter fünfzig. "Aber Fruchtzwerge werden dann von Zwergen hergestellt?" folgerte er und nahm sinnierend die quietschebunte Plastikverpackung, die er infolge seines Fernsehkonsums richtig identifizierte, in seine langen Finger. Sonderlich viel schien er nicht verstanden zu haben. Eine Horde Comicfrüchte mit Zipfelmützen grinsten ihn verführerisch an. "Nein. Dazu sind Zwerge viel zu fantasielos. Denk an Großonkel Hat-einen-langen-Bart-und-schläft-und-isst! Fruchtzwerge heißen Fruchtzwerge, weil sie nach Frucht schmecken sollen und klein sind", klärte sie ihn auf. Ihr dämmerte, dass wirklich ein großer Haufen Arbeit auf sie zu kam. "Das... das ist ja... Und Kinderschokolade sieht dann aus wie...", hangelte er sich voran und schaute fragend zu ihr hinunter. "Nein. Die heißt so, weil sie für Kinder ist", machte sie weiter. "Das ist ja total unlogisch!" empörte er sich. "Totaler Beschiss!" "So sind die Menschen. Gewöhn dich lieber schon mal an den Gedanken. Und was willst du jetzt?" wollte sie wissen und sah erneut zu ihm noch. Sie würde auf die Dauer garantiert Nackenstarre bekommen mit ihm - vielleicht sollte sie ab heute nur noch auf zehn Zentimeter hohen Stöckelschuhen rum laufen, das könnte helfen. "Ich will welche von den Froot Loops in bunt, einen Fruchtzwerg ohne Zwerg und ein Stück von der verlogenen Schokolade. Mit den Bauern gehe ich lieber kein Risiko ein", beschloss er. "Obwohl ich schon etwas Rohes vertragen könnte..." "Etwas Rohes?! Wie was wo - etwas Rohes?!" fragte sie, obwohl ihr die Antwort schon schwante. Sie überreichte ihm die gewünschten Fressalien und schob ihn hinüber zum gläsernen Esstisch. Ihr Kessel in der hinteren Ecke blubberte fröhlich vor sich hin. High Tech hin oder her, einige Dinge gingen auf die gute alte Art nun mal einfach besser. Aber dennoch ein Hoch auf die Erfindung des Gefrierfaches. Frische Käferaugen waren einfach schlichtweg besser als dieser getrocknete Murks. "Naja", meinte er, während er die Froot Loops andachtsvoll vor sich auf die Tischplatte kippte und begann, sie nach Farben zu sortieren. "Mama bringt ja immer Fisch mit..." "Ich hab' keinen rohen Fisch da", stellte sie klar und setzte sich, ihren langen, weiten Rock raffend, neben ihn auf einen Hocker. "Und was ist mit denen in dem Tümpel dahinten im Wald?" fragte er, den Fruchtzwerg von allen Seiten beäugend. "Das sind meine japanischen Zierkarpfen. Wenn du die frißt, bekommen wir beiden Hübschen ein Problem, kapiert?" wurde sie deutlich. "Kapiert!" erwiderte er erschrocken. Er nahm den Fruchtzwerg erneut in die Hand. "Wie isst man das? Pellt man das nicht vorher oder so?" wollte er wissen. "Richtig, mein Junge. Beim Fruchtzwerg isst man die Verpackung nicht mit", erläuterte sie in ihrer besten Kindergärtnerinnen-Stimme. "Und bei den Froot Loops?" bohrte er weiter. "Auch nicht. Aber du darfst den Schatten der Verpackung essen, wenn du magst. Aber pass bitte auf, dass du mir nicht die Küche vollhaarst", erlaubte sie gnädig. "Versprochen!" nickte er ernsthaft, während eine Strähne seines wieder erwachten Haares sich genüsslich um die Pappschachtel wickelte. ........................................................................................................................................................................................................................................... Nach dem Frühstück folgte ihr Skiaphagos artig ins geräumige, von morgendlichem Licht durchflutete Wohnzimmer. Seine Augen glänzten jetzt hellgrau, fast farblos. Auch seine Gesichtsfarbe erschien deutlich gesünder, die Augenringe waren fast völlig verschwunden. Der war sauber abgefüttert, na bitte. Sie beförderte ihn in einen ihrer Le Corbusier-Sessel und baute sich vor ihm auf. "Okay. Ich gebe dir jetzt erst mal ein paar Informationen, wie das hier läuft. Dann machen wir uns an die Arbeit", eröffnete sie ihm. "Okay, Tante Morgana", nickte er tapfer, während er sich neugierig umsah. Zueinander passende Möbelstücke dürfte er nicht gewohnt sein. Ebenso wenig wie überirdisches Wohnen. Aber dafür hielt er sich recht wacker. "Der Rat hat mich abkommandiert, dir zur Seite zu stehen, das ist sehr großzügig und zeigt, dass man dir - oder vielmehr deinen Eltern - gewogen ist. Bei mir bin ich mir in dieser Hinsicht nicht so sicher, nun ja. Ich soll dir mit Rat und Tat zur Seite helfen und dir in den Hintern treten, wenn du Mist baust. Aber ich darf dich nicht direkt auf Arten unterstützen, die Menschen nicht zur Verfügung stehen, es dir nicht zu einfach machen, verstanden?" "Keine Zauberei", schlussfolgerte er richtig. Er schien nicht recht zu wissen wohin mit seinen elend langen Beine auf dem zierlichen Möbelstück, das eher für ihre Körpergröße konstruiert war. "Richtig", bestätigte sie und verpasste ihm seinen sanften Tritt mit der Zehenspitze, damit er aufhörte rumzuzappeln. Das half sofort. "Wir werden es wohl eine ganze Weile miteinander aushalten müssen. Erster Punkt: Ich fresse nicht deine Angst, du nicht meinen Schatten. Zweiter Punkt: Du futterst nur das, was ich dir ausdrücklich erlaube. Dritter Punkt: Du benimmst dich so, wie deine Eltern es dir eingetrichtert haben, räumst fein dein Zimmer auf und kämmst dich bitte draußen. Vierter Punkt: Ich bin jederzeit dazu berechtigt, diese Liste zu erweitern, falls mir das notwendig erscheint zu unser beider Wohlergehen." Skiaphagos nickte wieder brav. Ein besonders rebellischer Charakter schien er nicht zu sein. Aber was wollte man schon erwarten von jemandem, der sich ständig im Schatten herum drückte und gerade vom Rat und seinen Eltern zur Minna gemacht worden war. Loreley hatte immer ein wenig damit angegeben, wie missraten ihr Sohn doch sei und es deshalb viel leichter als die hemmunglose Brut anderer haben werde, in den neuen Zeiten zurecht zu kommen. Na, das hatte wohl nicht so ganz hingehauen. "Und nun", meinte sie und setzte sich ihm gegenüber auf die Couch, "denken wir mal nach. Du musst dich bewähren, zeigen, dass du dich inmitten der Menschen bewegen und beherrschen kannst. Schon eine Idee?" Skiaphagos biss sich auf die Lippe und starrte auf seine nackten Füße, die jetzt hübsch parallel zueinander auf dem Parkett ruhten. "Naja", murmelte er, "ich könnte ja... zur Schule gehen?" "Schule", sinnierte sie und kratzte sich am Kinn. "Das ist gar nicht mal blöde, da passt du optisch - und inhaltlich - noch am ehesten hin. Aber einfach wird das nicht, da ist alles voll mit Menschenkindern, das ist kein Zuckerschlecken, glaube mir... Aber taktisch wäre es auch gut. Die Frau, die du abgenagt hast, war eine Lehrerin, wenn du deine Aufgabe an einer Schule beginnst, zeigt das die Aufrichtigkeit deines Bestrebens. Vielleicht gehst du am besten in der Schule, an der sie unterrichtet hat, da wird die Botschaft ganz klar. Wiedererkennen wird sie dich wohl kaum, wenn du sie zu dir in den Schatten gezogen hast. Das müsste sich heraus bekommen lassen. Was weisst du denn über Schule?" "Öh", grübelte Skiaphagos und legte den Kopf schief, dass seine Haarflut nach rechts gen Boden donnerte, "man geht da hin, um zu lernen und mit seinen Freunden rumzuhängen. Es gibt verschiedene Fächer und Lehrer und Ferien und Schulfeste. Man bekommt Noten. Wenn man etwas gut macht, bekommt man eine Eins. Wenn man etwas gar nicht gut macht oder sich aufführt wie ein Troll, eine Sechs. Wenn man am Ende viele gute Noten gesammelt hat, wird man Arzt oder Anwalt oder Pathologe. Wenn man ganz viele schlechte Noten hat, wird man kriminell oder depressiv oder schwanger oder alles gleichzeitig. Aber daran sind dann meist saufende Eltern schuld. Es gibt hochnäsige Mädchen, die sich immer für etwas Besseres halten, aber am Schluss dann den tollen Jungen aus dem Sportteam doch nicht abbekommen, weil der nämlich lieber mit der schlauen Außenseiterin zusammen sein möchte, die, wenn sie sich ausnahmsweise mal Mühe gibt, viel besser aussieht. Es gibt Typen mit Strickpullis, die im Schachclub sind und mit denen die Beliebten nichts zu tun haben wollen, es sei denn, sie wollen von ihnen abschreiben. Und bei den Lehrern... da gibt es welche, die total gemein sind, einfach nur so. Dann welche, die sehr streng sind, aber gerecht. Und solche, die von allen Schülern gemocht werden, weil sie total verständnisvoll sind und trotzdem voll cool. Es gibt einen Direktor, der meistens heimlich in die Englischlehrerin mit den kurzen Röcken verliebt ist..." "Das ist ja schon mal ein Anfang", seufzte Morgana. ................................................................................................................................................................................................................................................. "Was ist das denn?" fragte Skiaphagos mit halb offen stehendem Mund. Sie hatte ihn erst mal durch das ganze Haus geführt, das von nun an ja auch sein Daheim sein sollte. Das Beste hatte sie sich für ganz zum Schluss aufgehoben. Stolz grinste sie. "Darf ich vorstellen, das ist Leviathan - Leviathan, dass ist mein Neffe Skiaphagos." Leviathan setzte sich auf seinen kleinen Hintern und musterte, kleine Rachwölken durch die Nüstern ausatmend, ihren neuen Hausgenossen. Skiaphagos glotzte ihn immer noch völlig irritiert an. "Was...?" stammelte er. "Er ist ein Lindwurm", informierte ihn Morgana voll Stolz. Skiaphagos räusperte sich benommen. "Eher ein Lindwürmchen", murmelte er, während er den winzigen Drachen weiterhin ungläubig musterte. Leviathan war gerade mal so groß wie eine Amsel, das war nicht zu leugnen. Aber er hatte Charakter. "Er ist eben etwas kleinwüchsig - niemand ist perfekt. Hast du etwa ein Problem damit?" verteidigte sie ihren kleinen Liebling. Leviathan spähte sie mit seinen violetten Kulleraugen an, dann flatterte er mit seinen ledigrigen giftgrünen Flügeln hinauf auf ihre Schulter und machte sich dort mit einem zufriedenen Rülpsgeräusch breit. "Nein! Keinesfalls! Ich bin nur... überrascht", wand sich Skiaphagos hinaus. "Ich wusste nicht, dass du ein Haustier hast..." "Er ist auch neu", erklärte Morgana ihm und streichelte mit den Fingerspitzen die kleinen Schuppen, was sich der Drachen wohlig knurrend gefallen ließ. Sonderlich beeindruckend war sein Knurren allerdings nicht, ihm fehlte es etwas an Stimmvolumen. "Cousine Calypso hatte sich ihn angeschafft, die Schweine waren ihr langweilig geworden... aber dann hat sich heraus gestellt, dass sie allergisch auf seine Schwefelausdünstungen ist." "Oh, das ist natürlich Mist. Dann hat... Leviathan ja Glück gehabt, dass du ihn aufgenommen hast", erwiderte Skiaphagos etwas lahm. "Allerdings!" strahlte sie. "Ist er nicht süß... ja, du bist süß... mmm... was für ein kleines süßes Bäuchlein, ja..." "Äh... ja, total süß", stimmte Skiaphagos ihr zu. "Spuckt der auch Feuer?" wollte er wissen. "Klar doch. Also komm bloß nicht auf die Idee, ihn zu ärgern, wenn dir deine blonden Zotteln lieb sind, wenn du ihn fütterst", warnte sie ihn und ließ Leviathan auf ihre Hand umsteigen. Die Krallenfüße waren ganz schön warm auf der Haut. "Ich..?!" protestierte Skiaphagos halbherzig und linste hinüber zu Leviathans luxeriösem Vogelbauer. Neben den Fressnäpfen und den Sitzstangen hatte sie ihn mit ein paar Hühnerfüßen und einer mumifizierten Katze ausgestattet, damit ihr Liebling etwas zur Unterhaltung hatte. Die Katze hatte er inzwischen auch ganz schön gefleddert, die Hühnerfüße mochte er nicht so. Wählerischer kleiner Kerl... "Ja, du", stellte sie klar. "Du bist jetzt ein Mitglied dieses Haushaltes, da hast du Rechte und Pflichten." "Okay... Was wären denn dann meine Rechte?" hakte er nach. "Dich von mir rumkommandieren zu lassen. Und ausstaffieren. Womit wir beim nächsten Programmpunkt wären", meinte sie und setzte Leviathan wieder zurück in seinen Bauer. "So, wie du aktuell rumläufst, lassen die dich in der Schule nicht mal in den Schachclub." Betreten zog Skiaphagos den Kopf ein. Der Gedanke schien ihm nicht zu behagen. Was erwartete er bitteschön? Dass man ihn gleich zum Schulsprecher wählen würde? Wohl weniger. "Meine Haare", meinte er und zupfte etwas zweifelnd an seiner Matte, "was soll ich denn damit machen?" "Mmm", murmelte sie und schritt ein Mal um ihn herum. "Du siehst echt aus wie Rapunzel - ohne damit Rapunzel zu nahe treten zu wollen. Ein modischer Kurzhaarschnitt ist was anderes." Skiaphagos erbleichte und raffte seine Mähne an sich. "Bloß nicht!" entfuhr ihm entsetzt. "Keine Panik, ich will dich nicht abschlachten. Wir müssen sie wohl irgendwie... zusammenbinden. Dann kommst du auch nicht so schnell in Versuchung, was weg zu fressen, wenn die fest geknotet sind. Ich bin ja nun wirklich kein Coiffeur, aber vielleicht fällt dem Internet etwas Praktikables ein." Sein Gesicht erhellte sich. "Internet! Das kenne ich!" sagte er. "Echt? Du hast Internet zu Hause?" fragte sie ihn erstaunt. "Nee", gestand er. "Das war Mama und Papa dann doch zu suspekt. Aber ich kenn das aus..." "...dem Fernsehen, jaja", unterbrach sie ihn stöhnend. "Na, dann komm mal mit ins Arbeitszimmer, höchste Zeit, dass du das lernst, in der Schule wirst du es auch brauchen." ....................................................................................................................................................................................................................................................... Drei Stunden später waren sie nicht nur schlauer, sondern auch erfolgreich gewesen. Skiaphagos hatte sich auf die neue Wissensquelle gestürzt wie auf einen besonders fetten Schatten. Er begriff schnell, das war ja schon mal was. Aber das neu erworbene Wissen interpretierte er zuweilen recht... kreativ. Er kittete Einzelinformationen mit seiner ureigensten Logik zusammen, die sich auf ihre Welt bezog und nicht die der Menschen, das wurde dabei recht deutlich. Was dabei heraus kam, war teilweise ziemlich irre. Auf jeden Fall würde er in der Schule einen Idiotenbonus brauchen, aber dafür langte vielleicht auch schon seine neue Frisur. Mit vereinten Kräften hatten sie im Wohnzimmer sein Haar zu einem Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammen gezurrt, es dann geteilt und geflochten. Zwei oberarmdicke Zöpfe baumelten nun an seinem Rücken hinab bis knapp über den Boden. Für Notfälle ließen die sich auch noch ineinander knoten. Fertig. Naja... immerhin sah er ordentlich aus. Erwartungsvoll drehte der frisch Bezopfte sich zu ihr um. "Und was sage ich, wenn mich jemand fragt, warum ich so rumrenne?" wollte er wissen. Eine berechtigte Frage. "Äh", grübelte sie, "sage... dein Vater sei ein Sikh und ihm zuliebe willst du deine Haare nicht schneiden!" "Was ist denn ein Sikh?" fragte er ratlos. "Ein Angehöriger einer Religion in Indien. Die schneiden ihre Haare nicht", erklärte sie, sehr angetan von ihrer Eingebung. "Inder? Sind die nicht eher klein und dunkel...?" gab er zu bedenken. "Äh... deine Mutter ist Schwedin! Nach der kommst du!" kittete sie die Lücke. "Und wenn die einer sehen will? Die Lehrer oder so?" hakte er berechtigterweise nach. "Öh... sie sind tot? Genau! Sie wurden von Tigern gefressen! In Indien! Und daher musst du bei deiner lieben Tante wohnen." War doch ganz einfach. Die Sterblichen glaubten eigentlich jeden Scheiß, wenn man ihnen ihn gut präsentierte. Siehe Werbung. Das würden sie schon hin bekommen. Wahrscheinlich würden sich die meisten Menschen bei Skiaphagos Anblick eher fragen, was zur Hölle er für ein irres Haarpflegemittel verwendete. Skiaphagos nickte bedächtig. "Sikh. Alles klar. Sehe ich mir alles im Internet an. Meine Eltern sind ein toter Sikh und eine tote Schwedin. Sie wurden in Indien von Tigern gefressen. Super, danke Tante Morgana!" Der sah echt zuviele schlechte Serien... oder er war doch menschlicher, als es seine lieben Eltern wahrhaben wollten. "Gut... dann können wir auch gleich Nägel mit Köpfen machen. Du kannst dich schlecht überall fröhlich als Skiaphagos vorstellen. Erstens heißt so kein Mensch - und zweitens kommt eventuell doch einer auf die Bedeutung und zählt eins und eins zusammen... In der Menschenwelt heißt du... Skia, das ist aus irgendeiner indischen Sprache, garantiert, das kann kein Schwein hier überprüfen... Skia... äh... was ist denn ein schöner schwedischer Name...?" "Nils Holgerson, flog mit den Gänsen davon", sang Skiaphagos - und das ziemlich gut. War ja auch kein Wunder bei seiner Mutter. "Holgerson! Skia Holgerson, perfekt!" lobte sie und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Er grinste ein wenig stolz. "Freu dich nicht zu früh... Das Schlimmste kommt nämlich noch", warnte sie ihn. "Was denn?" fragte er und guckte bedröbbelt. "Wir gehen shoppen!" eröffnete ihm Morgana im Kommandoton. Er nickte. "Klar. Ich habe ja auch gar nichts menschenmäßiges anzuziehen. Ich brauche... Jeans! Und... und... T-Shirts! Möglichst von den coolen Marken..." "Auch noch Ansprüche stellen!" stampfte sie ihn, um in Übung zu bleiben. Ihrethalben konnte er sich in Gucci und Prada hüllen, die Aus-Scheiße-Gold-zaubern-Sache machte die Finanzierung ziemlich unproblematisch. Aber das wäre für einen Schüler wohl nicht angebracht. Sie würden das schon hin bekommen, Skiaphagos konnte garantiert sämtliche Marken runterleiern, die seine Serienhelden so am Leibe trugen. Blieb nur noch ein Problem. "Als erstes brauchst du allerdings Schuhe", verkündete sie ihm die Unheilsbotschaft. Jetzt kam doch mal Leben in ihn. "Nein!!!" fuhr er auf, dass die Zöpfe nur so wippten. Keine Chance, das konnte er vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)