Nimm mich an der Hand und geh mit mir ins Licht von Seaglass (...denn ich weiß, dass du die Richtige bist.) ================================================================================ Kapitel 1: ___ Narben --------------------- „Das fahle Licht des Mondscheins drang nur spärlich durch das bedeckte Fenster in den Gemeinschaftsraum. So hell dieser Ort auch sonst wirkte, aber nun schien er einfach nur duster und trostlos. Mittendrin saß ein Junge. Die Beine hochgezogen und mit dem Armen umschlungen, blickte er in das schwache Feuer vor ihm.“, Kevin brach ab und blickte zur Seite, direkt in diese kühlen, blauen Augen. Sie blickten ihn fast schon auffordernd an, so als wolle sie mehr und würde jedes Wort, das seine Lippen verließ, genüsslich aufsaugen. „Und dann?“ „Er starrte hinein in das Feuer und wusste nicht so recht, was nun passieren würde.“ „Wieso?“ „Das fragst du? Ernsthaft Sethmin, kannst du dir das nicht denken? Er hat gerade die Nachricht erhalten, dass sein Vater im Krankenhaus ins Koma versetzt wurde und dass er gerade eine riesige Firma samt Vermögen vererbt bekommen hat. Wie würdest du dich fühlen, wenn du gerade einmal sechzehn bist und die Verantwortung für deine Familie übernehmen musst, obwohl du noch nicht einmal volljährig bist?“, er atmete leise durch die Nase aus und wandte den Blick ab, schlug das Buch in seinen Händen zu und erhob sich. „Es ist spät.“, murmelte er, als er auf die Uhr blickte und feststellte, dass er sich in der Zeit deutlich verschätzt hatte. Es war schon elf durch und auch wenn das normalerweise kein Grund wäre, ins Bett zu gehen, so zog die Müdigkeit seine Augenlieder mit jeder Minute ein Stückchen kräftiger nach unten. „Schlaf gut, ja?“, er blieb nur kurz am Türrahmen stehen und blickte zu ihr. Sie saß da, engelsgleich und es war schwer gewesen, den Blick auch nur für einen Moment abzuwenden. Ihre blonden Locken fielen ihre Schultern hinab und ihre blasse Haut… Sie machte sie so zerbrechlich und gleichzeitig wunderschön. Ihre rötlichen Lippen, ihre geschwungenen Wimpern, Kevin konnte einfach nicht wegschauen und war für einen Moment gebannt. Erst als sie ihre sanfte Stimme hob, kehrte er in die Realität zurück. „Ich… weiß es nicht. Aber Kevin?“, sie erhob sich, blieb aber an Ort und Stelle stehen, „Der Junge war ziemlich mutig, dass er das Ganze auf sich genommen hat. Bewundernswert, wirklich.“, ein schwaches Lächeln war aus der Entfernung zu erkennen und irgendwie hatte dieses Lächeln dafür gesorgt, dass in ihm ein warmes Gefühl hochwallte. Es tat gut zu wissen, dass sie ihn doch irgendwo verstand und nicht dafür verurteilte, dass er letztendlich doch vom rechten Weg abgekommen war. Denn das Ende der Geschichte war sicherlich keines, das man in ein Märchenbuch schrieb. „Gute Nacht.“, das schwache Flüstern drang noch in sein Gehör, als er sich abgewandt hatte und die Treppen zu seinem Raum hinaufstieg. Kevins Miene war undurchdringlich, eisern, emotionslos. Doch in seinen Augen sah man den Schmerz, den er nicht nach draußen dringen lassen wollte. Auch wenn er es nicht zugab, aber seine Vergangenheit schmerzte, sogar so sehr, dass er noch nicht einmal so darüber reden konnte, als wäre es seine Vergangenheit. Es war mehr so, als ob er von einem anderen Jungen sprach, jemandem, der ansonsten nichts mit ihm zu tun hatte. Und Sethmin? Sie verstand, dass er schlichtweg nicht darüber reden konnte, was alles passiert war, schließlich war ihre Vergangenheit genauso trist und dunkel gewesen wie seine. Nur die Tatsache, dass die beiden im vergangenen Jahr zufällig kennengelernt hatten, hatte deren Schicksal zum Bessern gewendet. Ihres, als sie sich dazu entschlossen hatte, ihrem Vater den Rücken zuzukehren. Und Kevin, als er sich dazu entschloss, so früh auszuziehen und sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Zumindest den Teil, den er zurücklassen konnte. Die müden Gliedmaßen des Siebzehnjährigen sanken nach einigen Minuten auf das weiche Bett im benachbarten Raum. Die Stille tat gut, wenngleich er schon den gesamten Tag von ihr umgeben war: Wenn er unten im großen Esszimmer frühstückte und wenn er später an seinem Klavier saß und es stumm betrachtete. Egal wann, immerzu war er von Ruhe umgeben und irgendwie war diese Ruhe auch genau das, was der ehemalige Hufflepuff brauchte. Aber… Wann hörte dieser Ruhe auf? * * * * * * * Es ist jetzt genau zwei Tage her, seitdem ich ihr davon erzählt habe. Seit diesem Tag haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Immerzu hat sie mich schweigend angesehen und gewartet. Sie hat wirklich viel Geduld, kein einziges Mal hat sie mich gefragt, was damals noch passiert ist. Was genau passiert ist vor Ethans Tod. Aber mit jedem Blick werde ich mir immer sicherer, dass ich sie aufrichtig liebe. Dass sie die einzige ist, mit der ich mir ein Leben vorstellen kann…. Leise drangen Töne durch die Wand und ließen ihn aufblicken. Es waren ganz klar die Töne einer Gitarre, die diese leisen, aber doch stimmigen Töne von sich gab. Kevin blickte zur Seite, verharrte einen Moment lang, ehe er die Feder beiseite legte und die Türe öffnete. Sethmin saß im Wohnzimmer, die Gitarre in ihren dünnen Händen und zupfte an den Saiten. Für einen Moment bemerkte sie Kevin gar nicht, summte leise, ehe sie aufblickte und innehielt. Ihr Blick sprach Bände, doch das einzige, was Kevin darauf erwiderte, war ein müder Blick. „Stör ich dich?“, fragte sie schließlich leise. „Nein. Ich wusste nicht, dass du sie noch hast. Die… Gitarre.“ „Ich wollte sie eigentlich auch gar nicht haben. Sie ist von Dad. Aber ich hab‘ es nicht über’s Herz gebracht, sie wegzugeben. Es ist wie ein Stückchen Seele. Und sie erinnert mich an Mum.“ „Hmm…“ „Ich sollte dann sowieso noch rasch in mein Zimmer…“ „Nein.“, sein Blick glitt zur Seite und er starrte auf den Flügel, der im hinteren Eck des Raums stand. Kevin erinnerte sich noch gut daran, wie er das letzte Mal auf diesem Flügel gespielt hatte. Damals war er zehn Jahre alt gewesen. Die Blicke auf ihn gerichtet. Die seines erwartungsvollen Vaters, die seiner schwachen Mutter, die gerade seine kleine Schwester an der Hand hielt. Und zuletzt die seines Bruders. Seines Zwillingsbruders Ethan. Und er hatte stumm die weißen und schwarzen Tasten angesehen, darauf gewartet, dass ihm die Melodie wieder in den Sinn kam. Und das tat sie letztendlich auch. „Nein, nein. So beginnt man doch nicht! Was unterrichtet man dich eigentlich? Merkst dir ja doch nichts!“, das Schnauben seines Vaters schlug jäh in Wut um und er schüttelte erzürnt den Kopf. „Morgen kannst du das. Und wenn du die ganze Nacht übst!“ „Kevin?“ „Hm?“ „Du siehst blass aus, gehst dir nicht gut?“ Er schüttelte schweigend den Kopf und wandte den Blick ab. Das unangenehme Gefühl stieg wieder in ihm hoch und hinterließ seine Spuren. Es tat weh, den Flügel anzublicken, so weh, dass er sich wirklich zusammennehmen musste, um nicht wieder wütend zu werden. Denn auf solche Erinnerungen folgte eigentlich immer Wut. Wut und Ärger darüber, dass er damals so hilflos war. „Der Junge..“, fing er schließlich an und näherte sich ihr ein paar Schritte, „…er hat Klavier gespielt. Er hat es geliebt. Bis es seine Pflicht wurde, Klavier zu spielen.“, seine Stimme brach ab und er senkte den Blick, „Als er erkannt hatte, dass es eine Pflicht war, wollte er nicht mehr.“, murmelnd ließ er sich auf den nahestehenden Sessel nieder und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Wieder kehrte diese Ruhe ein, die für einen Moment unterbrochen wurde, als Sethmin die Gitarre sanft auf den Boden legte und sich neben Kevin setzte. „Ich wette, der Junge spielt gut Klavier.“ „Wieso?“ „Weil er es nicht als Pflicht angesehen hat. Er hat offenbar mit dem Herzen gespielt und nicht mit dem Verstand. Meistens sind es genau solche Menschen, die im Endeffekt mehr Mut zeigen, als andere. Weil sie wissen, wann es richtig ist und wann nicht.“ „Aber heute hasst er Klaviere. Es erinnert ihn immer daran, wie ihn sein Vater nächtelang wach gehalten hat, damit er ein Stück richtig spielen konnte.“ „Hat er denn keine guten Erinnerungen mehr daran? Wenn er wirklich mit dem Herzen gespielt hat, dann hat er doch sicher auch gute Erinnerungen daran. Und sei es nur eine Melodie, die in seinem Herzen schlummert und darauf wartet, an die Oberfläche zu kommen.“ „Sethmin?“ „Ja?“ „Kannst du darüber reden? Über deinen Vater…?“ Eine Pause. Man hörte deutlich, wie sie kurz die Luft anhielt und dann langsam ausatmete, die Augen schloss, nachdachte, um sie nach kurzem Zögern zu öffnen und die Stimme zu heben. „Ja und nein. Ja, weil ich mir nicht mehr einrede, die Dinge seien nie passiert. Und nein…“, sie blickte ihn direkt ins Gesicht und Kevin erwiderte den Blick, als er den Kopf hob und den ihn zu ihr drehte, „…weil ich glaube, dass das alles für dich schwerer macht. Ich habe damit abgeschlossen. Die Wunden sind verheilt, sowohl die innerlichen, als auch die äußerlichen. Die Narben bleiben, aber das ist auch gut so. Ich will nicht vergessen, was damals passiert ist, ich will nur damit abschließen. Und das habe ich. Genau aus diesem Grund bin ich dir auch ewig dankbar. Dass du mich aus der Lage geholt hast. Dass du mich wachgerüttelt hast. Wenn du nicht wärst, dann…“ „…würdest du jetzt mit blauen Flecken und vielleicht sogar Knochenbrüchen in deinem Bett liegen.“, beendete er für sie den Satz, „Wie hast du damit abgeschlossen? Damals, als ich dich weinend auf den Tribünen gesehen habe, sah es so aus, als ob du es akzeptiert hättest. Dieses Leben akzeptiert hättest.“ „Damals wusste ich nicht, was ich tun sollte. Damals dachte ich, ich wäre alleine. Keiner wusste davon. Keiner wusste, dass mein Vater so aggressiv und handgreiflich war. Du warst der einzige, dem ich es erzählt habe. Weil du nicht weggeschaut hast, als es mir dreckig ging. Weil du mir vertraut hast. Weil du mir von Ethan erzählt hast, obwohl es ihn offiziell doch gar nicht gab. Mein Herz hat gespürt, dass du der Richtige warst. Und ich bereue nichts.“, nur ganz sanft strich sie mit ihren Fingern über seinen Handrücken. Da war es wieder, dieses warme Gefühl in Kevin, das er nicht zu beschreiben vermochte. Dieses vertraute Gefühl. Aber mit jedem Blick werde ich mir immer sicherer, dass ich sie aufrichtig liebe... Nur, wieso kann ich es nicht aussprechen? Wieso kann ich es ihr nicht sagen? Wieso…? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)