Kirschblütenschauer von PenAmour ([Sorato/Koumi/Kenyako]) ================================================================================ Kapitel 3: Dritter Blütenakt ---------------------------- Dritter Blütenakt *** Der Klang des Herzens „Ich weiß noch nicht, wann ich mich bei dir melden kann…“, erklärte er entschuldigend, doch Taichi klopfte ihm nur freundschaftlich auf die Schulter. Sein Freund wusste um die Chance, die sich den Teenage Wolves bot. Eine Chance, die sein Herz zum Rasen brachte und ihm nervöse Schweißperlen auf die Stirn trieb. Dabei war die Möglichkeit auf einen Plattenvertrag völlig unerwartet eingetrudelt. Anscheinend hatten sich die letzten Jahren doch ausgezahlt, in denen er unzählige Stunden in stickigen Probenräumen und provisorischen Tonstudios verbracht hatte. Das Demotape, für das er eigene Lieder komponiert und sich mit passenden Worten für die Songtexte herumgeschlagen hatte, schien beeindruckt zu haben und zumindest bei einigen Indie-Labels das Interesse zu wecken. Und so fand sich vor gut zwei Wochen ein weißer Briefumschlag in seinem Postkasten wieder, indem sie – die Teenage Wolves – zu einem Vorspielen eingeladen wurden. „Und falls es wirklich klappen sollte, werde ich wohl eine Weile in Osaka bleiben…“, fuhr er fort und besah seinen Freund misstrauisch aus den Augenwinkeln, doch dieser lachte lauthals. „Ihr zwei glaubt auch wirklich, dass ich ohne euch nicht überleben kann, was?!“ Kopfschüttelnd warf Taichi einen Blick auf die untergehende Sonne, deren Strahlen es sich zwischen den farbigen Blüten der Yoshino-Bäume gemütlich machten. „Das ist doch gar nicht wahr…“, murmelte Sora, doch ihr Blick strafte sie Lügen. „Glaubt ihr, ich warte Däumchen drehend auf ein Lebenszeichen von euch? Oder dass ich vereinsame und mich in meinem Zimmer verkrieche, während du die Pariser Modewelt revolutionierst und du Osaka eroberst? Ihr überschätzt euch maßlos.“ Taichi verschränkte gelassen die Arme hinter dem kurz geschorenen Kopf. „Wahrscheinlich bin ich sowieso schon bald in Kyoto und studiere Wirtschaftsingenieurwesen…“ Während er sprach verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. „Hast du denn schon eine Antwort auf deine Bewerbung erhalten?“, fragte er vorsichtig, doch Taichi schüttelte stumm den Kopf. Er wusste, dass er diesen Weg einschlug, um seinen Eltern einen Gefallen zu tun. Ingenieure würden doch immer gebraucht, hatte Taichi gemeint und betont unbekümmert gewirkt, als er ihm von seinen Plänen berichtete. Doch weder Taichi selbst, noch er konnten sich vorstellen, wie der Junge, der gegen all die bösen Mächte gekämpft und ein Abenteuer nach dem nächsten erlebt hatte, in einen Anzug passte und mit einer Aktentasche unter dem Arm tagein, tagaus ins Büro tigerte. Unvermittelte streckte Taichi seine Hand aus. „Zeig es ihnen, Alter. Und sag mir Bescheid, sobald ihr die ersten Groupies an Land ziehen konntet, dann bin ich in Windeseile in Osaka und nehme dir gerne diese Last ab.“ Dafür stieß ihm Sora mit dem Ellenbogen in die Rippen, während er lachend nach der Hand seines Freundes griff. Schweigend nickte er ihm zu. Sie hatten sich alles gesagt, was es zu sagen gab. Sein Blick fiel auf das Mädchen mit den feuerroten Haaren, das Taichi abermals mit ernster Miene ermahnte, hart zu arbeiten. „Wenn du Hilfe brauchst, wende dich an meinen Vater, er hat mir versprochen auf dich aufzupassen!“ „Ich werde doch nicht bei jedem Wehwehchen zu meinem Professor rennen, Sora!“ Sein Herz wurde schwer, wenn er daran dachte, sich von ihr verabschieden zu müssen. 17 Uhr und 57 Minuten. Ihnen blieb kaum noch Zeit übrig, stellte er fest und legte rasch einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens, dessen traurige Augen ebenfalls an den Zeigen der Armbanduhr klebten. „Macht’s gut!“ Taichi verstand und schob sie Richtung Parkausgang. „Agumon und ich genießen noch eine Weile das Frühlingswetter, also haut schon ab und stürzt euch ins Leben!“ Das Digimon nickte bekräftigend und winkte ihnen zum Abschied zu. „Glaubst du, er wird das Studium durchziehen?“, fragte sie zweifelnd, während sie das Eingangstor passierten, flankiert von ihren Digimon, die sich die Kirschblüten aus Fell und Federn schüttelten, und warf einen Blick zurück zu dem Jungen, der immer kleiner wurde bis er schließlich zwischen all den Kirschblüten verschwand. „Nein“, lachte er. „In spätestens zwei Monaten wird er bei mir in Osaka auftauchen, ohne einen Yen in der Hosentasche und mich anbetteln, als mein Rowdy zu arbeiten.“ Sie stimmte in sein Lachen ein und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während sie die Straße entlang schlenderten und das Tosen der Großstadt über sie hereinbrach. Die U-Bahn war gefüllt mit dicht aneinander gedrängten Menschen, die von der Arbeit heimkehrten und mit müden Gesichtern ins Leere starrten. Gabumon klammerte sich an seinem Hosenbein fest und duckte sich vor den scharfkantigen Aktenkoffern, während Piymon zwischen Soras Füßen saß. Schützend stellte er sich vor sie, damit sie nicht von den Menschenmassen erdrückt wurde, während ihr Kopf auf seiner Brust ruhte und seinen Herzschlag in die Höhe trieb. Sie hielt die Augen geschlossen und ein kleines glückliches Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht gestohlen. Sanft strich er eine verirrte Haarsträhne von der porzellanfarbenen Wange und für einen kurzen Augenblick existierten nur sie beide in dem Bahnabteil und im ganzen Universum. Die knarrenden Lautsprecher verkündeten die Haltestelle, die Türen glitten zischend zur Seite und zusammen ließen sie sich im Menschenstrom treiben, während ihre warme Hand in seiner lag und es sich anfühlte, als gehörte sie dorthin, schon immer. Von der U-Bahn-Station war es nicht mehr weit bis zu Soras Familiensitz, der in einer der besseren Gegenden Odaibas lag und besonders durch den eigenwilligen Architekturstil auffiel, in dem die meisten Einfamilienhäuser gebaut waren. Es waren verwinkelte Häuser. Konstruktionen aus Holz, Metal und Stein. Er gab Gabumon ein Zeichen und das Digimon hakte sich geschwind bei Piyomon unter und zog es in die Einfahrt des Takenouchi-Haushaltes, während er auf dem Bürgersteig stehen blieb und sie zu sich heran zog. Mit verdutzter Miene blickte sie zu ihm hinauf, während sich seine Arme um ihre Taille schlangen und sich der Abstand zwischen ihnen zunehmend verringerte. Das Licht der Abenddämmerung ließ ihre Augen rostrot erstrahlen, mit denen sie ihn abwartend musterte. Langsam bewegten sich seine Füße zu einer unhörbaren Melodie und sein Gesicht streifte ihre Haare, die nach süßen Pfirsichen dufteten. Let's start running, not for anyone else, but because it's better than stopping. Leise summend strichen seine Hände über ihren Rücken, während ihre Arme sich um seinen Hals schlangen und er ein leises Seufzen hören konnte. Cutting through the clear air, turning towards the bright ocean. Bestimmt hatte sie ihn schon besser singen gehört, doch es schien sie nicht sonderlich zu stören, während sich ihre Körper im Takt der Melodie bewegten und der Gehsteig in gleißendes Abendrot getaucht wurde. Sanft streiften seine Lippen ihr Ohr und flüsterten die Worte, die aus seinem Herzen an die Oberfläche drangen. Oh keep on running, keep on running, Find out your reality. Alles um sie herum löste sich im kaminroten Schleier der Abendsonne in Nichtigkeiten auf, während seine Stimme sich über die Zeit hinwegsetzte. There's no time to hesitate in front of the new door. Just run up, jump out there, and kick the door open. Vorsichtig lösten sich die Hände von ihrem Rücken, fanden ihr Gesicht und strichen über die warmen Wangen, während er sich langsam herabbeugte. If it's you, you can definitely do it. Because you'll surely find your way. Seine Lippen pressten sich auf ihre. Die Finger verknoteten sich leidenschaftlich im seidigen Haar. Stürmisch erwiderte sie den Kuss. Ihre Handflächen berührten seine Brust, nur Zentimeter entfernt von seinem Herzen. Es glich einem rasanten Flug über die Welt hinweg, fühlte sich an, wie eine Blumenwiese auf der man sich bettete, um einen Moment innezuhalten. Spritzte wie ein Sprung ins Wasser und blieb doch so sanft wie ein Stoffballen aus fließender Seide. Und als sie sich voneinander lösten, schwer atmend und mit geröteten Wangen, einem feurigen Brennen auf den Lippen und einer schmerzhaften Sehnsucht im Herzen, hallte das Lied für einen strahlenden Moment nach, bevor der ewige Lärm der Stadt sie wieder einholte. Die Zeiger der Uhren tickten mahnend und in der Ferne blinkten die Lichter des Fuji-Fernsehturms penetrant auf. „Davon kann ich eine Zeit lang zehren“, flüsterte er leise und Soras dünne Finger fanden sein Gesicht. „…und träumen.“ Das Ticken der Zeit drängte, er räusperte sich und versuchte den Schmerz herunter zu schlucken. „Ich werde stark sein“, versprach sie. „Wir werden unsere Träume leben. Jeden Tag. Wir werden nicht aufgeben, sondern immer weitergehen. Und dann, eines Tages…“ Sie geriet ins Stocken und eine einzelne Träne hangelte sich an ihrer Wimper herab. Er küsste die Träne beiseite, atmete ihre Gegenwart ein. „Eines Tages…“, hauchte sie abermals und das süße Versprechen verhallte. „Und ich soll dich sicher nicht zum Flughafen begleiten?“ Sie hatten all das schon zig mal durchgesprochen, und doch nagte die Angst an ihm, ein Feigling zu sein, der es nicht schaffte, sie bis zur letzten Sekunde zu begleiten. Doch sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht, dass unsere letzte gemeinsame Erinnerung ein Winken zum Abschied an irgendeinem Gate ist, Yamato.“ Sie umarmte ihn, drückte sich an sein Herz. „Ich möchte dich so in Erinnerung behalten.“ Ihre Finger streiften über seine Wangen. „Und so.“ Sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. „Und so“ Ihre Stimme versiegte, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre zarten Lippen auf seine legte. Vage nahm er wahr, wie Gabumon sich im näherte. Das Digimon schien bedrückt und unsicher, während es unschlüssig auf dem Gehweg stand und auf den Bordstein starrte, wartend, zum Aufbruch bereit. „Es wird Zeit.“ Er nickte, doch es kostete ihm alles, sich von ihr zu lösen. Ihre Hände loszulassen, den Blick von ihr abzuwenden und den Schmerz, mit dem sein Herz sich verzweifelt gegen ihn auflehnte, zu unterdrücken. Er trat einen Schritt zurück und seine Finger griffen ins Leere. Blindlings drehte er sich herum, versagte sich einen weiteren Blick auf sie und rannte. Seine Fußschritte hallten matt auf dem Stein wieder, die Straßenbeleuchtung flimmerte auf, während ihn die kühle Brise des Abends erfasste und brennende Tränen über sein Gesicht liefen. *** Aus eigener Kraft Die Türen der Yamanote-Liene schlossen sich leise zischen, während ein schrilles Warnsignal ertönte und die U-Bahn sich erneut in Bewegung setzte und vom Gleis entfernte. In der Tamachi-Station herrschte reges Treiben und der Geruch von Fisch lag in der Luft, während er auf den Ausgang zusteuerte, stets begleitet von unzähligen Schritten und dem Grummeln der Großstadt. Rasch bahnte er sich einen Weg über die große Kreuzung und wechselte die Straßenseite, während Wormon es sich in seinen Armen gemütlich machte und doch tatsächlich ein leises Schnarchen von sich ließ. Der Minato-Bezirk war für das Digimon längst alltäglich, so dass es ihn nicht sonderlich verwunderte, dass Wormon seinen grünen Raupenkopf nicht mehr vor Aufregung nach links und rechts ausstreckte. Der Convenience-Store an der Ecke, der einen schrecklichen senfgelben Anstrich besaß, und vor dem sich klapprige Fahrräder türmten, oder die vielen Autos, die über die mehrspurige Straße rollten, konnten es längst nicht mehr beeindrucken, genauso wenig wie die Leuchtreklametafeln, die an den Wänden der Wolkenkratzer flackerten. Nur unlängst entfernt wartete auch schon sein Zuhause auf sie. Mühsam balancierte er das schlafende Digimon auf dem einen Arm, während er mit dem anderen nach dem Haustürschlüssel suchte und die Tür öffnete. Das Treppenhaus breitete sich in unnatürlicher Stille vor ihm aus, während von draußen der Stadtlärm dumpf an die Fenster klopfte und um Einlass bat. Das Schloss der Wohnungstür gab mit einem leisen Klicken nach und schon strömte der Duft von gebratenem Gemüse durch den kleinen Flur, aus der Küche heraus, aus der ein Lichtstreifen drang und quer über den Boden verlief. Seine Mutter streckte den Kopf zur Tür heraus und lächelte, als sie ihn sah. „Da bist du ja, Ken. Hattet ihr einen schönen Nachmittag?“ Er trat zu ihr in die Küche und nickte, während das Bratenfett in der Pfanne laut brutzelte und seine Mutter dem gebratenen Gemüse mit dem Pfannenwender zu Leibe rückte. Sie warf einen kurzen Blick auf die Küchenuhr – 18.07 Uhr – und hantierte einen Moment an der Abzugshaube. „Wir können in einer halben Stunde zu Abend essen, dann dürfte dein Vater auch heimkommen.“ Vorsichtig legte er Wormon auf sein Bett, wo es sich genüsslich seufzend zusammenrollte und er ein leises Schmatzen vernehmen konnte. Spätestens in einer halben Stunde würde es wieder hellwach sein, da war er sich sicher. Anschließend trat er noch einmal auf den Flur und schälte sich aus der Winterjacke, die er dem ganzen Tag über nicht hatte tragen müssen. Erst als die Sonne sich für diesen Tag langsam verabschiedete, wurde es merklich kühler und eine frische Brise wehte über Tokio hinweg. „Ach, bevor ich es vergesse“, rief seine Mutter aus der Küche. „Da ist ein Brief für dich angekommen…“ Überrascht wanderte sein Blick zur Kommode, auf der neben der der Telefonstation einige Briefumschläge lagen, darunter auch ein schneeweißer, an ihn adressierter Umschlag. Das Papier knisterte in seiner Hand, während er es aus dem weißen Mantel zog und entfaltete. Er überflog die Zeilen mit klopfendem Herzen. Sehr geehrter Ichijouji-san…ihr Essay über Schuld und Wiedergutmachung… sehr beeindruckt…fundierte psychologische Kenntnisse…der treffende Vergleich zu Freuds Über-Ich…aus diesem Grunde können wir ihnen mitteilen…ihr Essay einen Platz in der nächsten Ausgabe von „Psychology Today“…Anbei finden sie einen Check über…Mit freundlichen Grüßen… „Unfassbar…“, flüsterte er und saugte abermals die Zeilen in sich auf, während er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen ließ. Seine Finger berührten wie von selbst die Tasten und als das Freizeichen ertönte, schien es, als erwachte er aus einer Trance. Es knackte, dann ertönte ihr Stimme. „Hallo?“ „Miyako, du wirst nicht glauben, was ich in meinen Händen hallte!“ „Ken?“ „Sie wollen meinen Essay in der nächsten Ausgabe veröffentlichen, Miyako! Meinen Essay!“ Für einen Moment herrschte Stille auf der anderen Seite der Leitung, doch dann hörte er ihren wohlbekannten Freudeschrei, der einen bis ins Mark erschüttern konnte. „Ich hab’s dir doch gesagt, dass sie ihn gut finden würden. Hab ich es nicht gesagt?“ Triumphierend lachte sie und er konnte wetten, dass ihr die Brille wieder einmal fast von der Nase gerutscht war. „Es schien nur so unwirklich. Seit die Saat aus meinem Körper verschwunden ist, war ich mir einfach nicht sicher, wie viel ich wirklich selber geschafft habe und was ich dem Einfluss der Saat zu verdanken habe. Was mich ausmacht und wie stark ich wirklich bin…“ Sein Blick war immer noch auf das Stück Papier geheftet, während Miyako auf der anderen Seite lautlos den Kopf schüttelte. „Ach was. Hab ein bisschen Selbstvertrauen, Ken! Was haben denn deine Eltern dazu gesagt? Sicherlich sind sie ganz aus dem Häuschen…“ „Ich…“, er geriet ins Stocken. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, es ihnen zu erzählen. Ich wollte erst dir Bescheid geben…“ „Oh.“ Das war alles, was er von ihr zu hören bekam. „Und ich habe direkt einen Check bekommen“, begann er zu erzählen, um die peinliche Stille zu überbrücken. „Ich dachte mir, ich lade dich zu einem Eis ein. Als Dank für, na ja, du weißt schon…“ „Aber nur wenn es ein richtig großer Eisbecher ist. Mit einer Kirsche auf dem Sahnehäubchen.“ Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Das war Miyako, wie er sie kannte und… „Übrigens hast du heute eine Freundschaft gerettet“, unterbrach sie seine Gedanken. „Bitte?“ Verwirrt strich er sich über die linke Augenbraue und wartete auf eine Erklärung, die auch prompt folgte. „Das ist eine lange Geschichte…“ *** In der Hand Mit zitternden Knien hievte er die schwere Holzkiste auf das Regalbrett und ließ sich stöhnend auf den Boden sinken. Eine Schweißperle tropfte von seiner Nase und sickerte in den mintgrünen Stoff des T-Shirts, welches er während der Arbeitszeit tragen musste und ihn aussehen ließ, wie ein leicht lädiertes Pfefferminzbonbon. Vorsichtig rappelte er sich auf und wankte auf den Seitenausgang zu. Der rostige Kleintransporter war nicht einmal zur Hälfte ausgeladen und wartete ungeduldig im Hinterhof auf ihn. Mühsam hangelte er sich auf die Ladefläche, die bedrohlich wankte, und griff zur nächsten Kiste. Die Arbeit war schlecht bezahlt und mühsam, doch er brauchte das Geld mehr denn je. Schließlich hatten seine Brüder es ihm vorgelebt. Man schließt die Oberschule ab, ergattert einen Studienplatz und nimmt sein Leben selbst in die Hand. So war das bei der Familie Kido. Und Klagen darüber waren ihm nie zu Ohren gekommen. Shuu hatte sogar zwei Jobs neben dem Studium gehabt, während Shin in so rasender Geschwindigkeit sein Studium abgeschlossen hatte, dass er bereits als Assistenzarzt seinen Lebensunterhalt bestritt. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass die Familie von ihm nun nicht weniger erwartete. Also hatte er vor wenigen Monaten in ein kleines Appartement in Hongo bezogen und versuchte genau das; sein Leben zu meistern. Und genau aus diesem Grund sah er aus, wie ein Pfefferminzbonbon, schleppte Kisten und übernahm etliche Nachtschichten in dem kleinen 24-Stunden-Laden an der Ecke. Der Weg zur Arbeit war kurz und die Arbeitszeiten kollidierten nicht mit seinen wichtigen Vorlesungen, die er, über den ganzen Tag verteilt, besuchte. Im Gegenzug dafür verzichtete er auf einige Stunden Schlaf und ein ausgedehntes Privatleben. Es fühlte sich nach wie vor ungewohnt an, nachts in die stille Wohnung zurückzukehren, zwischen den Vorlesungssälen zu pendeln, ohne ein bekanntes Gesicht in der Nähe zu wissen. Ihm fehlte die Zeit, um neue Kontakte zu knüpfen und die einsamen Momente brachten ihm Verschnaufpausen, um seine Gedanken zu ordnen. Der heutige Tag bildete ein starkes Kontrastprogramm zu seinem neuen Leben als Medizinstudent der Universität Tokio. Zwar würde er den anderen nie etwas davon erzählen, aber er vermisste sie. Obwohl sie allesamt schrecklich laut, unstet und unkontrolliert waren, so hatte er sein halbes Leben mit ihnen verbracht. Auf den Schulfluren hatte sich immer jemand gefunden, mit dem er reden konnte, die freien Nachmittage hatte er in abenteuerlichen Welten verbracht, was nicht selten mit dem Bangen um sein Leben geendet hatte. Diese schönen Erinnerungen fanden ihren Weg zunehmend in sein Gedächtnis. In den einsamen Stunden am Schreibtisch, während die Stille auf seine Schultern drückte. Dabei war er sich sicher, dass die anderen nicht minder eingeschüchtert vom Erwachsenwerden waren. Koushiros Gesicht hatte am heutigen Nachmittag Bände gesprochen. Darauf waren die Überforderung und Verwirrungen deutlich abzulesen gewesen, deren Ursache ein ganz besonders lautes und unkontrollierbares Mädchen war. Oder Yamato, der ein Studium kategorisch ausschloss und stattdessen sein Glück mit der Musik versuchen wollte. Er für seinen Teil empfand diese Entscheidung als beinahe wahnsinnig. Wie wollte ein junger Mann in der heutigen Welt ohne die Grundlagen einer vernünftigen Schulbildung sein Leben meistern? Aber Yamato hatte ihm das Wort abgeschnitten, als er ihm davon erzählte. „Ich weiß, dass du meine Entscheidung nicht nachvollziehen kannst, Jyou. Ich weiß, aber ich muss es einfach versuchen, um glücklich zu werden.“ Das hatte der Junge mit den langen, blonden Haaren zu ihm gesagt, und er hatte geschwiegen. Wie hätte er sich dem Glück eines Freundes in den Weg stellen können? Letztendlich würden sie alle ihren eigenen Weg gehen müssen. Sora in Frankreich und Yamato in Osaka. Selbst Taichi schien dies eingesehen zu haben. Er war sich ziemlich sicher, dass der Anführer der ersten Stunde mit den wilden Gedanken, seine Entscheidung ein Studium in Kyoto zu beginnen, nicht bereuen würde. All das gehörte zum Erwachsensein dazu. Und auch wenn er sich manchmal fragte, ob all die Mühen es wert waren, so wusste er doch, dass die Kindheitserinnerungen nicht ewig andauern konnten, dass die Zukunft auf sie wartete… Ein lautes Ringen unterbrach seine Gedanken, die Kiste rutschte ihm aus der Hand und krachte laut scheppernd auf den Boden. Rasch griff er nach seinem Mobiltelefon und warf einen Blick zum Seiteneingang. „Hallo?“ Der Lärm schien niemanden aufgeschreckt zu haben, stellte er erleichtert fest. „Jyou-kun!“, meldete sich eine vergnügte Stimme. „Wo bist du denn?“ „Ich arbeite“, raunte er schnaufend und versuchte die Kiste einhändig durch den Eingang zu tragen. „Das hatte ich dir doch gesagt…“ Das Holz schnitt in seine Haut, während das Regal bedrohlich wankte, als er die Kiste auf den Regalboden schob und sich einen Holzsplitter aus dem Daumen zog. „Ach, wirklich? Wie schade… Dann bin ich ganz umsonst hergekommen…“ Enttäuschung auf der anderen Seite der Leitung, während sein Blick den anliegenden Ladenraum prüfte. Das Telefonieren, während der Arbeitszeit war ihm strengstens untersagt worden. Er seufzte lautlos. Wo war sie nur immer mit ihren Gedanken? Dabei hatte er ihr seine Arbeitszeiten mehrmals aufgezählt. Mehrmals! „Sachiko-san… Meine Schicht endet erst gegen Mitternacht und dann werde ich noch einige Stunden an einem Vortrag arbeiten müssen. Ich befürchte…“ Doch bevor er seine Ausführungen beenden konnte, unterbrach sie ihn in gewohnt überrumpelnder Art. „Dann warte ich so lange auf dich, Jyou-kun. Ich mag es, dir bei der Arbeit zuzusehen. Wenn du dich in deine Hausarbeiten vertiefst, bist du immer so süß!“ Sie kicherte und er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Sachiko…“ „Ich hole dich dann von der Arbeit ab, Jyou-kun…“, verkündigte sie und unterbrach ihn abermals beunruhigend unbekümmert.. Er strich sich mit den Fingerspitzen über die schmerzenden Schläfen und holte tief Luft. „Unter der Fußmatte findest du einen Ersatzschlüssel.“ Wenn sich dieses Mädchen einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es niemanden, der es davon abholten konnte. „Bitte warte in der Wohnung auf mich. Ich möchte nicht, dass du so spät noch auf Straßen herum irrst…“ Allein die Vorstellung, wie sie durch die dunklen Gassen streifte, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken fahren. Sachiko schaffte es ständig, sich von einer Katastrophe in die nächste zu stürzen, nicht auszudenken, was passierte, wenn sie auf eine Jugendgang stieße… „Kido!“ Eine schnarrende Stimme hallte durch den Lagerraum. Ein bärtiger, runder Mann baute sich mit verschränkten Armen vor dem Regal auf. „Der Transporter ist ja noch nicht mal zur Hälfte ausgeräumt!“ „Entschuldigen sie, Mizuki-bucho“, hastig verbeugte er sich und ließ das Mobiltelefon in seiner Hosentasche verschwinden. Sachiko manövrierte nicht nur sich, sondern auch immer wieder ihn in unmögliche Situationen! *** Author’s Note: Da bin ich wieder. Das Kapitel wartet schon ein Weilchen auf meinem PC, aber ich musste noch etwas umstellen und umbasteln, nachdem ich feststellte, dass Ioris Platz noch nicht in diesem Kapitel war. Dafür geht es nun im dritten Akt um Beziehung, Beziehungen, Beziehungen! Verschiedene Stadien, verschiedene Arten… Wir haben das Freunde, die sich voneinander verabschieden. Ein großes Liebespaar, dass beschließt, seine individuellen Träume zu leben, ein anbahnendes Liebespaar und ein ungleiches Liebespaar.^^ Sora und Yamato – ach, welch Herzschmerz. Ich hoffe, ich bin den beiden gerecht geworden. Und wieder konnte ich direkt einen Songtext einbauen. Diesmal singt Yamato. Dabei handelt es sich um „Tobira~Door“, das Lied der Teenage Wolves, welches auch in der Serie zu hören war. (in der unsäglichen Weihnachtsfolge, die mein Herz brach!) Ich hab die englische Übersetzung gewählt, weil es sonst niemand verstanden hätte… Das Lied wurde in den verschiedenen Dubs komplett verändert, deshalb wundert euch nicht, wenn ihr es nicht gleich erkennt. Kens Part war ein wenig schwierig. Ich wusste direkt, dass er etwas veröffentlicht hat, bzw. Feedback bekommen sollte, wodurch seine Zweifel endlich beseitigt werden sollten. Die Schuldfrage und all das verschwinden ja nicht so plötzlich. Gleichzeitig wollte ich Kenyako in ganz kleinen zarten Gesten darstellen. Wir haben den Schal im Schneegestöber und das Telefonat jetzt. Kens erster Instinkt sie anzurufen, signalisiert wohl alles. Der Rest ist eine Mischung aus euren Ideen, was wohl Off-Screen stattgefunden hat und wird. Jyou dagegen befindet sich in einer wirklich zuckrigen Beziehung mit Sachiko. Die Dame hatte ihren ersten Auftritt im Schneegestöber und ich liebe sie. Und mehr kann ich nicht sagen, weil die Liebe eine Frage der Imagination ist. Ihr könnt also selbst entscheiden, während der letzte Akt auf mich wartet, bis dahin PenAmour Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)