Traum vom Tod von Flordelis (Custos Mortis) ================================================================================ Prolog: Prolog: Kommandant -------------------------- Die vertrockneten Blumen auf dem Tresen gaben genau das wieder, was Nolan von diesem Gasthaus dachte: Bloß weg hier. So wie die braunen Blätter, die kraftlos auf der Erde im Blumentopf lagen und langsam zu faulen begannen, schienen sie ebenfalls am Liebsten weglaufen zu wollen und waren deprimiert darüber, dass man sie nicht einfach hinauswarf. Ein stechender, süßlicher Geruch stieg von den Pflanzen empor und kitzelte Nolan in der Nase. Am Liebsten hätte er das verwelkte Etwas selbst weggeworfen. Er musste dem Drang widerstehen, den Topf aus Versehen mit dem Arm vom Tresen zu fegen, damit zumindest einer von ihnen hier wieder herauskam. Irgendwo in diesem dunklen Raum, der nur von einer Petroleumlampe erleuchtet wurde, tickte eine Uhr stetig vor sich hin, aber er konnte sie nicht ausfindig machen, um herauszufinden, wie spät es war und wie lange er bereits wartete. Erkalteter Zigarettenrauch erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Fäulnisgeruch, der von der Pflanze emporstieg, eine übelerregende Mischung für Nolans leeren Magen. Eigentlich hatte er gehofft, hier etwas zu essen zu bekommen, aber offenbar gab es hier nicht einmal eine Küche für die Gäste – und noch dazu würde er nicht einmal etwas Essbares anfassen wollen, wenn der Vorraum schon so... misstrauenserweckend aussah. Also würde er einfach hungrig zu Bett gehen, das wäre immerhin auch nicht das erste Mal in seinem Leben. Inzwischen routiniert betätigte er noch einmal die Klingel, die auf dem Tresen stand. Der helle Ton durchbrach die Stille, verdrängte sogar das Ticken der Uhr und verklang nur langsam wieder. Je länger er hier stand und wartete desto mehr begann er selbst an dieser Sache zu zweifeln. Vielleicht hätte er auf Kenton hören sollen, als dieser ihn gewarnt hatte. Wenn er so darüber nachdachte, kam es ihm selbst für seine eigenen Verhältnisse idiotisch vor. Was erwartete er sich davon? Wollte er sich als Held aufspielen, weil er einen Serienmord aufdecken könnte? War er erpicht darauf, diesem selbst zum Opfer zu fallen? Wollte er nur seiner Verantwortung als neuer Kommandant der Kavallerie aus dem Weg gehen? Oder erwartete er wirklich, Landis auf diesem Weg wiederzusehen, wie auch immer das funktionieren sollte? Ein leises Seufzen entfuhr ihm, als er daran dachte, dass er sich einfach nur umdrehen und wieder die Treppe hinauf in die normale Welt zurückgehen müsste. Noch könnte er einfach wieder verschwinden, sich in ein normales Gasthaus zurückziehen, sich den Bauch vollschlagen und dann beruhigt schlafen. Allerdings behagte ihm der Gedanke, die knarrende Treppe im Dunkeln wieder hinaufzugehen, gar nicht. Möglicherweise würde er oben die Tür nach draußen nicht finden und dann ewig in diesem Gebäude herumirren – vielleicht war dies sogar die Mordmethode. Er rief sich wieder ins Gedächtnis, was er darüber wusste. In den letzten Wochen waren in dieser ansonsten eher ruhigen Stadt mitten in Király immer wieder Leichen aufgetaucht, deren Todesursache niemandem klar war. Ihre Herzen schienen einfach aufgehört haben zu schlagen, obwohl sie zuvor kerngesund gewesen waren. Die einzige Verbindung, die sie alle hatten, war dieses Gasthaus gewesen, in dem sie vor ihrem Verschwinden und dem darauf folgenden Tod übernachtet hatten – warum auch immer. Nolan konnte sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig hierherkam oder dieses Gasthaus überhaupt fand – außer man folgte den schwarzen Krähen auf dem Dach des Gebäudes. Ein wenig hatte ihn aber doch überrascht, dass niemand etwas von diesen Todesfällen zu wissen schien, außer diese Frau, die ihm überhaupt erst davon erzählt hatte. Andererseits war diese Stadt hier auch nicht sonderlich groß und sie lag äußerst abgelegen in Király, von daher war das möglicherweise auch nicht weiter verwunderlich. Diese Frau... wenn er darüber nachdachte, erinnerte er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht. Aber sie war hübsch gewesen, so viel wusste er noch, deswegen war seine Freude groß gewesen, als er von ihr angesprochen worden war – mindestens genauso groß wie seine Enttäuschung, als sie sich schließlich wieder verabschiedet hatte, ohne ihm ihren Namen zu verraten. Aber nun gut, Nadia wäre bestimmt nicht begeistert gewesen, sie warf ihm ja schon wütende Blicke zu, wenn er eine Frau nur zu lange ansah. „Eine Nacht?“ Die unerwartete Stimme riss ihn sogleich aus seinen Gedanken. Er sah sich um, versuchte, sich wieder daran zu erinnern, wo er war – schauderte, als es ihm wirklich bewusst wurde – und blickte die Person an, die hinter dem Tresen erschienen war. Das schmale Gesicht und das zu einem Pferdeschwanz gebundene dunkelbraune Haar erweckten in Nolan zuerst den Eindruck, dass es sich um eine Frau handelte. Doch die Stimme war eindeutig männlich gewesen. Die Brille des Mannes rutschte ein Stück nach unten, die violetten Augen musterten ihn aber nach wie vor mit einem amüsanten Glitzern. Nolan nickte schließlich. „Ja, eine Nacht.“ „Sie bleiben alle nur eine Nacht~“, flötete der Mann vergnügt, als ob ihm das alles Freude bereiten würde und die Verstorbenen nicht zuvor bei ihm übernachtet hätten. „Wenn Sie dann bitte Ihren Namen eintragen würden...“ Er schob Nolan ein dickes, unhandliches Buch zu, das bereits aufgeschlagen war. Unterschriften anderer Menschen, die nicht mehr lebten, waren auf der Seite zu sehen. Es fiel Nolan schwer, seinen Blick davon abzuwenden und seine eigene Signatur darunter zu setzen. Die lächerlich große Feder, die er in das bereitstehende Tintenfass tauchte, fühlte sich unangenehm schwer an in seiner Hand. Nach dem Beenden seines Vornamens zögerte er ein wenig. Sein Nachname war noch so ungewohnt, so neu, dass er einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielte, ihn einfach wegzulassen, doch schließlich setzte er ihn ebenfalls hinzu. Es war üblich in Király, dass Personen in hohen Positionen einen Nachnamen bekamen, der zu genau diesem Posten oder ihrem Verhalten passte. Bei seiner Beförderung zum Kommandanten der Kavallerie hatte er ebenfalls einen solchen bekommen: Lane. Er gefiel ihm ausgesprochen gut, da er quasi perfekt zu seinem Namen passte, aber manchmal war es ihm noch unangenehm, sich damit vorzustellen. Er fühlte sich wie ein Angeber, besonders wenn er an die ungläubigen Blicke derjenigen dachte, die als erstes von seiner Beförderung erfahren hatten. Jeder schien der festen Überzeugung zu sein, dass er es nicht verdient hatte und ihm dieser Posten nur von seinem Freund Kenton zugeschoben worden war. Immerhin war er dumm, kindisch, unzuverlässig und faul. Er wusste, was über ihn getuschelt wurde, hatte es von verschiedenen Seiten selbst gehört und war inzwischen ebenfalls der Überzeugung, dass er nie hätte Kommandant werden dürfen. Darum auch der Ausflug in dieses Gasthaus. Er wollte Abstand und er wollte beweisen, dass er mehr konnte als nur Witze zu reißen. Wenn er den Serienmörder überführte, würden alle einsehen, dass er zu mehr fähig war und wenn nicht... nun, als Todesopfer würde er mit Sicherheit keine derartigen Probleme mehr haben, möglicherweise würde er dann tatsächlich Landis wiedersehen können, nur um von diesem einen Schlag verpasst zu bekommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken. Er schob das Buch wieder zurück, der Mann musterte die Unterschrift. „Sir Nolan Lane, also~ Darf ich den Grund Eures Hierseins erfahren?“ Sollte er sagen, dass er nach einem Mörder suchte? Es bestand die Möglichkeit, dass dieser Mann der Gesuchte war, nein, es war sogar mehr als nur wahrscheinlich, außer es gab noch mehr Personen an diesem Ort, also wäre es nicht sonderlich klug, etwas zu sagen, das wurde selbst ihm klar. „Nichts Besonderes“, antwortete Nolan schließlich. „Nur eine Nacht schlafen.“ „Wir freuen uns über Euren Besuch“, sagte der Mann lächelnd. Er kam um den Tresen herum und winkte Nolan mit sich. Dieser folgte ihm nur allzugern, um der Dunkelheit und dem unangenehmen Geruch zu entfliehen. Leider funktionierte nichts von beiden. Der Gang, auf den sie traten, war genauso finster und wurde nur alle fünf Meter von einer düsteren Petroleumlampe erhellt, die alles außerhalb ihres Lichtscheins noch dunkler erscheinen ließen – und der Geruch folgte ihnen. Nolan lauschte, aber außer ihren Schritten war nichts zu hören, nein, genau genommen waren es nur seine und nicht die des anderen. Irritiert sah er auf die Füße des anderen hinunter, doch egal wie oft sie den Boden berührten, kein Ton erklang. Wie ist das möglich? Hätte er seine Kindheit nicht mit seinem Vater und Landis verbracht und nicht dessen Geschichte gehört, wären ihm nun Schauer über den Rücken gelaufen und er hätte eilig die Flucht ergriffen – doch so war ihm dieses Phänomen nur ein Stirnrunzeln wert. Vielleicht war dieser Mann ein Dämon und er ernährte sich von der Lebensenergie seiner Gäste. Er verwarf den Gedanken sofort wieder, egal wie sehr ihn dieser amüsierte. Der Gastwirt öffnete eines der Zimmer. „Hier, bitte sehr~ Hoffentlich habt Ihr eine angenehme Zeit bei uns.“ Sein süffisantes Lächeln verriet, dass er das nicht glaubte, aber Nolan kümmerte sich nicht weiter darum. Er bedankte sich murmelnd und betrat den Raum, hinter ihm wurde die Tür wieder geschlossen. Durch die hochgelegenen Fenster strömte das letzte Licht der untergehenden Sonne ein, so dass es überraschend hell im Zimmer war. Der Geruch, der ihm auf dem Gang so zugesetzt hatte, schien genau an der Tür Halt zu machen, der Duft von Lavendel stieg ihm in die Nase und obwohl er diesen nicht im Mindesten mochte, war er nun geradezu entspannend. Schrank, Tisch, Stühle und Bett bestanden einheitlich aus hellem Holz, das im Lichtschein golden zu leuchten schien und den Raum umso heller erscheinen ließ. Langsam begann ihm diese Sache wirklich zu gefallen. Er stellte seine Reisetasche auf dem frisch gemachten Bett ab. Die schneeweiße Decke verzog sich dabei, so dass er es fast schon wieder bereute, die Tasche überhaupt abgestellt zu haben. Er ging auf die Tür zu, die ins angrenzende Bad führte – und dabei fiel ihm ein Spiegel auf, der in einer dunklen Ecke zwischen Bad und Schrank stand und von der Tür aus nicht zu sehen gewesen war. Etwas daran lenkte sofort seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Ein kunstvoll geschnitzter Rahmen aus dunklem Holz fasste den Spiegel ein, zwei massive Füße dienten ihm als Stütze. Allein durch die Farbe des Rahmens schien er absolut nicht in diesen Raum zu passen, es wirkte als ob er sämtliches Licht aufsaugen würde. Einem Impuls folgend berührte er das kühle Glas. Nichts geschah, aber das hielt ihn nicht davon ab, weiter darüber zu streichen als würde dann etwas passieren. Huh, seltsam... He! Gibt es nicht diese Geschichten, in denen Menschen durch Spiegel in andere Welten kommen? Das wäre doch mal was. Er lachte laut über seinen eigenen Gedanken. Das Geräusch hallte laut von den Wänden wider, was ihm bewusst werden ließ, dass er vollkommen allein war und ihn wieder zum Verstummen brachte. Nachdem er das kleine Bad inspiziert hatte, setzte er sich auf das Bett. Als sein Magen zu knurren begann, wurde ihm bewusst, dass der Gastwirt ihm nicht mitgeteilt hatte, wie es mit dem Essen aussah, ob es überhaupt etwas gab und an wen er sich wenden sollte, falls es etwas gab. Allerdings fiel ihm auch gleich darauf wieder ein, dass er gar nichts essen wollte, was in diesem Gasthaus zubereitet worden war – wenn die Küche nur entfernt so aussah wie der Empfangsraum, war das Essen mit Sicherheit giftig... oder zumindest übelkeitserregend. Er öffnete seine Tasche, in der Hoffnung, dass er vielleicht geistesgegenwärtig etwas zu essen eingepackt hatte, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte. Er wusste selbst, dass er nicht zu jenen Menschen gehörte, die vorausplanten und organisierten, weswegen er oftmals ungewollt in Schwierigkeiten geriet. Mit Sicherheit hatte er daher nicht die Weitsicht gehabt, etwas zu essen einzupacken, dass er überhaupt suchte, war nur als Ablenkung von seinen tristen Gedanken gedacht – weswegen er umso überraschter war, als er tatsächlich in Wachspapier eingewickelte Brote entdeckte. Wie kommen die da rein? Bevor er New Kinging verlassen hatte, war er noch bei Oriana gewesen, um sich von ihr zu verabschieden – sie musste ihm das Essen heimlich zugesteckt haben, mit Sicherheit wusste sie, dass er nicht daran denken würde. Während er auf den Broten kaute, ließ er seine Gedanken schweifen. Er stellte sich vor, wie er gemeinsam mit Landis auf diesem Bett sitzen, wie sie sich über das Zimmer und den Gastwirt lustig machen würden und wie viel sie lachen würden. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Ecke, in welcher der Spiegel stand. In diesem Winkel konnte er nur einen kleinen Teil davon sehen, als ob dieser sich keck hervorstrecken würde, um ihn zu beobachten. Ein Schauer fuhr über Nolans Rücken, als er das in Betracht zog. Landis würde jetzt lachen und anfangen, mir Schauermärchen zu erzählen, damit ich mich unter der Decke verstecke. Ich frage mich, warum er das so lustig fand. Wenn Nolan ihn erschreckt hatte, war das eher aus Versehen und immer ohne böse Absicht geschehen. Landis dagegen hatte es immer geliebt, ihm Angst einzujagen, indem er ihm derlei Geschichten erzählte. Er würde es wohl aber nie verstehen, dass ihm diese erfundenen Geschichten mehr Angst eingeflößt hatten als die Tatsache, dass sein bester Freund voraussehen konnte, wann jemand sterben würde. Möglicherweise weil die Geschichten wesentlich abstrakter als Landis' Fähigkeit gewesen war – mit seinem Freund hatte er immerhin darüber sprechen können, während die Geschehnisse in den Geschichten nie mit den Betroffenen besprechen werden konnten. Inzwischen fürchtete er sich auch nicht mehr vor Landis' damaliger Fähigkeit. Durch die Erzählung wusste er nun ja, dass es nur ein Erbe von Asterea gewesen war, nichts wovor man sich fürchten müsste. Er wünschte nur, er hätte noch einmal mit Landis reden können, um ihm zu sagen, dass er nicht mehr mit einem flauen Gefühl im Magen an so manchen Tag in ihrer gemeinsamen Vergangenheit zurückdachte. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er kaum merkte, dass die Sonne unterging. Erst als er den Spiegel, zu dem er wieder schielte, nicht mehr sehen konnte, wurde er der Dunkelheit um sich herum bewusst. „Wird wohl Zeit, ins Bett zu gehen~“ Er machte sich keine Mühe, sich umzuziehen oder überhaupt etwas auszuziehen. Er streifte nur die Schuhe ab und legte sich hin. Ob es die Aufregung war oder die Tatsache, dass er in den letzten Wochen kaum geschlafen hatte, wusste er nicht, aber kaum berührte sein Kopf das Kissen, war er bereits tief und fest eingeschlafen. Erster und zweiter Traum: Landis -------------------------------- Ich erinnere mich an diese eine Begegnung als wäre es gestern gewesen. Schon seit meiner Geburt lebte ich nur wenige Schritte von Landis' Haus entfernt, weswegen ich ihn schon kannte, noch bevor ich überhaupt denken konnte. Unsere Mütter wollten immer, dass wir miteinander spielen, aber damals schien es uns beiden nicht sonderlich recht zu sein. Wir saßen immer Rücken an Rücken, jeder mit seinem eigenen Spiel beschäftigt als wüssten wir genau, dass der jeweils andere kein Interesse an uns hatte. Als ich fünf Jahre alt war, endete das plötzlich. Es war die Zeit, in der mein Vater zu trinken begann. Meine Mutter, in einem Versuch, das nicht an die Außenwelt dringen zu lassen, hörte auf, sich mit Freunden zu treffen und schickte mich zum Spielen nach draußen. Meistens verbrachte ich meine Zeit allein, nur mit einem Ball, den ich gegen eine alte Mauer warf. Der einzige Vorteil, dass wir recht weit am Rand von Cherrygrove lebten: Es gab jede Menge Platz, um ungestört zu spielen. Doch eines Tages, ich war gerade sechs Jahre alt geworden, bemerkte ich, dass ich dabei beobachtet wurde. Es war Landis, der ungesund blass wirkte. So weiß wie er war, hielt ich ihn erst für einen Geist, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich den Jungen wieder, mit dem ich früher gespielt hatte. Manchmal hatte ich ihn noch gesehen, wenn er mit seiner Mutter unterwegs gewesen war, aber dies war das erste Mal, dass er jemand anderen zu beachten schien. Denke ich heute daran zurück, würde ich sagen, dass ich Neid und Sehnsucht in seinem Gesicht lesen konnte, damals allerdings fragte ich mich nur, warum er mich dauernd so anstarrte. Er kam wirklich jeden Tag, um mich zu beobachten, bis ich ihm irgendwann anbot, mitzuspielen, weil mir sein Starren zu unheimlich wurde. Ohne etwas zu sagen, nahm er mein Angebot an. Das war das erste Mal, dass wir wirklich gemeinsam spielten, statt nur nebeneinander – aber er sagte dabei kein einziges Wort. Ohne jede Absprache wiederholten wir das jeden Tag, wochenlang. Ich hörte, dass selbst an den Tagen, an denen meine Mutter mich nicht hinausließ, er bis abends an dieser Mauer stand und auf mich wartete, nur um dann unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, wenn ich nicht kam. Keine Spur von Enttäuschung auf dem Gesicht, keine Traurigkeit. Die Zeit verging, wir probierten andere Spiele aus und mit jedem Tag wurden wir ein Stück mehr zu Freunden, ohne dass wir je miteinander sprachen oder uns dessen bewusst wurden. Wir waren eben Kinder und es heißt doch immer, dass diese sich selbst ohne jedes Wort verstehen. Als wir uns an einem Tag am Ende des Herbstes voneinander verabschiedeten und ich meines Weges gehen wollte, lächelte er mich plötzlich an. Eine mir so unbekannte Mimik von ihm, dass ich es erst gar nicht als Lächeln erkannte und erschrak. „Alles okay?“, fragte ich ihn. Er nickte – und öffnete dann tatsächlich seinen Mund, um etwas zu sagen: „Jetzt ist alles bestens, danke, Nolan.“ Ich hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass er meinen Namen kannte, deswegen freuten mich seine Worte umso mehr. „Wir treffen uns morgen wieder hier, oder?“, fragte er hoffnungsvoll. „Klar doch“, antwortete ich direkt euphorisch. „Außer meine Mutter lässt mich nicht raus, aber das wird schon.“ Nachdenklich hielt ich einen Moment inne. Wenn ich ihr erzählen würde, dass ich mich mit Landis angefreundet hatte, würde sie mich bestimmt gehenlassen. Immerhin hatte sie bislang immer gesagt, dass sie es schade findet, dass er immer so traurig aussieht und allein ist. „Aber du musst doch nicht fragen, wir haben uns bislang immer getroffen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich sofort, ich glaubte schon, etwas Falsches gesagt zu haben, aber als er dann noch etwas sagte, war ich sicher, eher etwas Falsches gehört zu haben. „Vielleicht wirst du mich nicht mehr treffen wollen, wenn ich dir sage, dass ich voraussehen kann, wann und wie Menschen sterben.“ Ein unangenehmes, irrationales Gefühl der Angst ließ Nolan aus dem Schlaf erwachen. Hatte er sich zuvor noch sicher genug gefühlt, um einzuschlafen, füllte nun Eiswasser sein Innerstes, um ihm zu sagen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als ihm wieder bewusst wurde, wo er sich befand, begann sein Herz rascher zu schlagen. Mit aller Macht versuchte er, sich wieder zu beruhigen. Jede undurchdachte Handlung, für die er normalerweise so bekannt war, könnte ihm in diesem Fall das Leben kosten. Vorsichtig richtete er sich auf und ließ den Blick schweifen, die Hand nach seinem griffbereiten Schwert ausgestreckt – doch außer ihm war niemand im Raum. Dass er das trotz der Dunkelheit erkennen konnte, verdankte er vor allem dem Spiegel, der ein sanftes, überirdisches Licht verbreitete. Erleichtert atmete er aus, ehe ihm etwas bewusst wurde: Moment! Der Spiegel leuchtet? Er erinnerte sich wieder an seinen Gedanken zuvor, von Menschen, die durch Spiegel in andere Welten gerieten, und schmunzelte unwillkürlich. Obwohl er nicht daran glaubte, stand er auf, um das Leuchten genauer in Augenschein zu nehmen. Schon beim ersten Blick stellte er fest, dass die reflektierende Oberfläche genau das nun nicht mehr tat. Dafür konnte er eine Wiese voller Blumen sehen, die sich bis weit an den Horizont erstreckte. Die violetten Blüten waren geöffnet und gaben somit den Blick auf den Kern frei, der bei allen aus einem kleinen, golden glänzenden Kristall zu bestehen schien. Der blaue Himmel darüber war endlos, wirkte aber wie mit Ölfarbe gemalt. Die Konturen waren leicht verwischt, wie bei den Porträts, die Kenton so interessant fand. Fasziniert von dieser Schönheit, konnte er die Augen kaum noch abwenden, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder und auch die Furcht verschwand. Eine angenehme Wärme nahm deren Platz ein als ob er gerade nach Hause gekommen wäre. Diese Gedanken... und diese Blumen... Er erinnerte sich an Landis' Erzählung von der Heimat der Nymphen. Die dortigen Blumen sahen genauso aus, nur dass die Blüten geschlossen gewesen waren – zumindest hatte er sich das so vorgestellt –, aber Landis' Gefühl musste wohl so ähnlich gewesen sein wie jenes, das Nolan im Moment empfand. Eine solche Wärme, die einem willkommen hieß als wäre man gerade erst nach Hause gekommen... er wünschte sich, nie wieder weggehen zu müssen, genau wie Landis es erzählt hatte. Und wir haben noch etwas gemeinsam: Ich hätte auch nie gedacht, jemals solch einen Ort zu sehen. Begierig darauf, diesen Ort zu betreten, streckte er die Hand aus, die er bislang aufgrund der Furcht unten behalten hatte. Vergessen war die Frage nach der Mordserie, wegen der er angeblich hier war, dieser Spiegel war vielleicht seine Verbindung zu Landis, seine letzte Chance, seinen Freund noch einmal zu sehen und diese musste er ergreifen. Seine Hand berührte das Glas und glitt direkt hindurch als wäre es gar nicht vorhanden. Der Rest seines Körpers musste diesem Beispiel nur noch folgen, so schwer war das doch gar nicht. Mit einem tiefen Luftholen gab er sich noch einen Ruck, dann schritt er durch den Spiegel – und schloss seine Augen, als er vom gleißenden Licht geblendet wurde. Ich glaubte Landis nicht. So jung und naiv ich damals auch war, ich konnte nicht glauben, dass es jemandem möglich war, vorherzusehen, wann und wie jemand sterben würde. Das war einfach... zu verrückt. Aber er beharrte darauf, dass es der Wahrheit entsprach, er deswegen keinen Schlaf fand und stetig so blass war. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob mir Landis nicht doch lieber gewesen war als er noch nicht gesprochen hatte – aber meistens, wenn wir nicht gerade über dieses Thema sprachen, war er wirklich ein toller Kerl. Ein wenig unheimlich vielleicht, aber er scherzte gerne, brachte viele Anregungen bei unseren Spielen ein und er verstand es, ohne jede Scheu mit anderen zu sprechen als würde er sie schon länger kennen als er lebte. Meistens merkte ich daher nichts mehr von seiner unheimlichen Seite, die er zuvor so offen zur Schau getragen hatte. Die anderen Stadtbewohner waren äußerst angetan von ihm und seinem neuen Ich, was auch seinen Eltern nicht verborgen blieb. Sein Vater, Onkel Richard, bedankte sich sogar einmal bei mir, da es mein Verdienst wäre, dass Landis nun nicht mehr ausschließlich unheimlich sei, sondern eben auch eine derart offene und positive Art an den Tag legte. Dies war wohl der Grund, warum ich mich weiterhin mit ihm traf, auch wenn ich jedes Mal wieder nervös war deswegen. Ich hatte jeden Tag Angst, dass er wieder mit seinen Träumen kommen würde, auch wenn ich mir meistens umsonst Sorgen machte. Vielleicht war ich deswegen ein schlechter Freund, aber ich war ein Kind, ich wollte nichts von Menschen hören, die sterben würden, egal wann und warum. Ich wollte einfach spielen und mir einreden, dass Landis sich das nur ausgedacht hatte, um mich zu erschrecken. Doch an einen Tag erinnere ich mich genau, an diesem schien seine Geschichte selbst für mich tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Er erzählte mir von seinem letzten Traum, in dem eine Besucherin aus einer anderen Stadt, deren Namen wir nicht kannten, die wir allerdings bereits gesehen hatten, von einem durchgegangenen Pferd totgetrampelt wurde. Natürlich glaubte ich ihm nicht, weswegen es mich nicht weiter störte, dass unser Weg uns zu dieser Frau lenkte. Wir wussten, dass sie sich meist auf dem Dorfplatz aufhielt, um einzukaufen, offenbar war sie eine Händlerin oder so etwas, die sich bei uns wieder mit Waren eindeckte. Oder ihr Urlaub bestand darin, den ganzen Tag Geld auszugeben, ich weiß es bis heute nicht. Zwar hatten wir, neugierig wie wir gewesen waren, versucht, mit ihr zu sprechen, aber ihre einzige Reaktion war es gewesen, uns verärgert fortzuscheuchen und dann den Rest des Nachmittags über dumme Kinder klagen. Ich wurde ein wenig nervös, als ich tatsächlich ein Pferd auf dem Platz entdeckte. Ich weiß noch genau, dass das Tier aufgeregt war – wenngleich ich nicht wusste, weswegen eigentlich – und immer wieder schnaubend den Kopf zurückwarf, während es ungeduldig zu tänzeln schien. Ich wollte vorschlagen, das Tier oder die Frau wegzubringen, doch der Pferdeführer war jemand, der uns – Kinder im Allgemeinen eigentlich – nicht leiden konnte und die Fremde reagierte schon patzig, wenn jemand anderes es wagte, sie beim Einkaufen zu stören, bei Kindern kannten sie – wie zuvor schon erwähnt – kein Erbarmen. Landis und ich betrachteten die Szenerie von einer sicheren Stelle aus – zumindest er bezeichnete es als sicher und da uns nichts geschah, muss das wohl so gewesen sein. Zwar glaubte ich Landis immer noch nicht, aber die Furcht, dass er vielleicht doch im Recht war, rumorte kalt in meinem Inneren und ließ mich nervös werden. Bei dieser Anspannung verlor ich sämtliches Zeitgefühl, aber es kam wir wie ein ganzer Tag vor, bis schließlich etwas geschah. Doch die Ereignisse an sich gingen erstaunlich schnell vonstatten. Das Pferd wurde aus Gründen, die ich von unserem Platz aus nicht sehen konnte, immer nervöser und bäumte sich immer öfter auf, worauf sein Halter es immer lauter zur Ruhe anzuhalten versuchte, was natürlich nicht funktionierte. Mit einem heftigen Ruck riss sich das Pferd schließlich los und fegte über den Platz davon. Menschen schrien durcheinander, teilweise in Panik, teilweise um das Tier zum Anhalten zu bewegen, was natürlich nicht funktionierte. Erst schien es als würde nichts weiter geschehen. Das Pferd preschte über den Platz davon, ich wollte bereits aufatmen, als die Fremde sich aufrichtete, um dem Tier nachzusehen – doch plötzlich änderte sich seine Bahn. Scheinbar grundlos warf sich das Pferd herum und stürmte nun genau auf die Fremde zu. Es war als ob irgendjemand sich ihm in den Weg gestellt hätte, obwohl niemand zu sehen war. Im nächsten Moment begrub es die Frau bereits unter seinen Hufen. Schockiert blickte ich auf die aufgewirbelte Staubwolke, in deren Inneren sich die sterbende Fremde befinden musste. Seufzend wandte Landis den Blick ab und ging davon, ohne noch einmal hinzusehen. Ich riss mich von dem bedrückenden Anblick los und folgte ihm sofort. „He, Landis!“ Er hielt nicht inne, wandte mir aber sein Gesicht zu. Erst in diesem Moment bemerkte ich die dunklen Ringe unter seinen Augen, aber der Anblick von zuvor überschattete diese Erkenntnis. „Warum hast du es nicht verhindert!? Du wusstest, was passiert, warum hast du nichts getan!?“ Er blieb stehen, antwortete aber erst, als ich noch einmal fragte: „Man darf das nicht tun. Wenn man es verhindert, sterben zwei andere dafür.“ Ich fragte ihn, woher er das wissen wollte, doch er presste nur die Lippen aufeinander, fuhr herum und lief weiter, den Oberkörper leicht vornübergebeugt als würde er etwas Schweres auf seinen Schultern tragen. In diesem Moment ahnte ich nicht einmal, wie sehr dies der Wahrheit entsprach. Dritter Traum: Mutter --------------------- Er blinzelte, während er versuchte, sich aufzurichten, was gar nicht so einfach war. Die Atmosphäre um ihn herum hatte sich verändert, sie war so machtvoll, dass sie ihn wieder zurück auf den Boden drückte. Am Liebsten hätte er sich auch einfach hingelegt und weitergeschlafen, am besten für immer, doch er spürte genau, dass er das nicht durfte. Etwas tief in seinem Inneren sagte ihm, dass er möglicherweise nicht überleben würde, wenn er das tat. Mit aller Macht, die er aufbringen konnte, setzte er sich schließlich aufrecht hin. Schmerzen fuhren durch seinen ganzen Körper, als dieser gegen das Aufrichten protestierte, doch Nolan hielt wartend inne, bis das Brennen abgeklungen war und sein Kopf aufhörte, sich zu drehen, dann blickte er sich eingehend um. Alles sah genauso aus wie er es im Spiegel gesehen hatte – doch selbst ein Teil davon zu sein, war ein erstaunliches Gefühl. Unwillkürlich fragte er sich, wo genau er sich hier eigentlich befand. War es der Wohnort eines Naturgeistes? Eine Welt, die tief in den Herzen der Menschen existierte? Oder träumte er das möglicherweise doch nur? Nein, dafür war dieses Gefühl viel zu intensiv, es konnte nicht nur ein Traum sein. Ehrfürchtig berührte er eine der Blumen. Die Blüte füllte sich seidig an, fast schon unecht, doch war darin pulsierendes Leben zu spüren, genau wie in dem goldenen, kristallinen Kern. Energie pulsierte im Inneren, die Nolans Körper vollständig zu regenerieren schien. Jedenfalls fühlte er sich danach wieder stark genug, um sich endlich aufzurichten. Jede Blume, auf der er zuvor gelegen haben musste, richtete sich augenblicklich wieder auf als ob sie nie zuvor geknickt worden wäre. Sein Blick ging in die Entfernung, über die Hügel hinweg, auf denen sich diese Blumen erstreckten. In weiter Ferne waren Ruinen zu sehen, aber Nolans Interesse wurde erstaunlicherweise nicht davon geweckt. Stattdessen konzentrierte er sich auf die leuchtenden Partikel, die in der Luft schwebten. Im ersten Moment hatte er diese für Glühwürmchen gehalten, aber bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass sie keines organischen Ursprungs waren. Kenton hätte sich mit Sicherheit mehr dafür interessiert... Er berührte eines der weiß leuchtenden Lichter, doch es fühlte sich nicht anders an als würde er in die Luft greifen. Möglicherweise existierten sie auch nur in seiner Vorstellung. Ohne sein eigenes Zutun begannen seine Beine plötzlich, sich zu bewegen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und legte so einen nicht sichtbaren Weg zurück, von dem er nicht wusste, wohin er ihn führen würde. Während er lief, gab er sich seinen Gedanken und Überlegungen hin. Wäre die Erzählung von Landis nicht gewesen und das intensive Gefühl, hätte er geglaubt, das hier nur zu träumen. Diese Welt wirkte zu anders, fast zu perfekt, wenn man von der absoluten Stille absah, als dass er sie als Realität hätte wahrnehmen können. War dies hier das Jenseits? Wenn ja, lag ihm nun noch weniger daran, früh zu sterben. Zwar war die Atmosphäre atemberaubend, doch das Leben nach dem Tod schien ihm bei weitem langweiliger als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Offenbar gab es nicht einmal jemanden, der über all diese Seelen wachte, sie waren ganz sich selbst überlassen – und furchtbar leise. Vielleicht würde es ihn nicht stören, wenn er ebenfalls einer dieser kristallinen Kerne war, doch er wollte das nicht wirklich ausprobieren. Erst in jenem Moment der Stille fiel ihm auf, wie viele Geräusche normalerweise existierten, selbst wenn man glaubte, dass alles ruhig war. An diesem Ort war absolut gar nichts zu hören, nicht einmal seine Schritte, wenn er genau lauschte, so dass es ihm vorkam als würde er sich gar nicht bewegen. Lediglich ein fester Punkt, den er fixierte und der stetig näherkam, sagte ihm, dass er vorwärts kam. Erst als er bei dem steinernen Monument angekommen war und die Worte darauf gelesen hatte, erkannte er, was es darstellen sollte. Mit ungläubigem Blick ging er davor in die Knie. „Das kann nicht...“ Landis' Verhalten irritierte mich in der letzten Zeit immer mehr. Nicht nur, dass er gegen meinen Willen darauf bestand, zu mir nach Hause zu kommen, er schien auch sehr an meiner Mutter zu hängen, fragte mich sogar jeden Tag, wie es ihr gehen würde, ehe er wieder zu mir kam. Jedes Mal versuchte ich, ihn an unserem Wohnzimmer vorbeizuschmuggeln, ohne dass er einen Blick auf meinen Vater werfen konnte, der bereits früh morgens inmitten einer Sammlung an leeren Alkoholflaschen auf dem Sofa lag – wenn ich ihn nicht spät nachts immer die Treppe heraufpoltern hören würde, wäre ich davon überzeugt, dass er sich gar nicht vom Fleck bewegte. Landis verbrachte den ganzen Tag bei mir, bis er sich abends vor dem Essen von meiner Mutter verabschiedete und dann schließlich wieder nach Hause ging. Doch an diesem einen Abend, den ich für immer im Gedächtnis behalten würde, war alles ein wenig anders. Statt vor dem Abendessen zu gehen, bat Landis, mitessen zu dürfen, was meine Mutter ihm natürlich erlaubte. Sie konnte ihm aus irgendeinem Grund einfach keinen Wunsch abschlagen. Wie üblich verlief das Essen schweigend, aber sowohl meine Mutter als auch ich spürten, dass Landis über alle Maßen bedrückt war – mein Vater aß wie üblich nicht mit, wofür ich äußerst dankbar war. „Fehlt dir etwas, mein Junge?“ Landis schüttelte schweigend mit dem Kopf und aß weiter. Da er offensichtlich nicht nach Hause wollte und auffallend viel Interesse an meiner Mutter zeigte, dachte ich mir, dass er sich mal wieder mit seiner eigenen Mutter gestritten hatte und deswegen nicht gehen wollte. Früher schon hatte Landis oft gesagt, dass Tante Asterea ihn hasste, aber ich hatte es stets als seine übermäßige Fantasie abgetan. Doch in den letzten Wochen kam es selbst mir vor, dass etwas daran stimmen musste. Tante Asterea behandelte ihn stets betont kühl und kochte auch absichtlich nur Dinge, die er nicht mochte – für mich war so etwas schlimm. Meine Mutter kochte glücklicherweise immer, was ich mochte und vermied es, mir anderes aufzuzwingen. Warum Tante Asterea das aber tat, konnte ich mir nicht erklären und Landis schwieg auch dazu – vermutlich wusste er es auch nicht oder aber er hatte sich dieses Mal dermaßen mit ihr gestritten, dass sie noch immer schmollte, das traute ich ihr durchaus zu. Nach dem Essen schließlich drängte meine Mutter ihn dazu, nach Hause zu gehen – als Landis plötzlich in Tränen ausbrach. Erschrocken und unwissend, was nun zu tun war, sahen wir ihn beide an, während er schluchzend zu erklären versuchte, weswegen er nicht gehen konnte. Noch nie zuvor hatte ich ihn weinen gesehen, nicht einmal, als wir noch ganz klein gewesen waren. Was war nur geschehen, was ihn so aus der Fassung brachte? Meine Mutter überwand ihre Überraschung schließlich und nahm ihn vorsichtig in den Arm, um ihn zu trösten. Dabei fiel mir erstmals auf, wie dünn meine Mutter geworden war, wie kraftlos ihr Haar und wie blass ihr Gesicht. Mir schien, sie hätte am Liebsten direkt mitgeweint. Mir war direkt klar, warum sie so aussah und es hatte mit meinem Vater zu tun, den ich mit einemmal noch mehr zu hassen lernte. Allerdings verwarf ich diese Gedanken. Ich beobachtete die beiden vor mir nur schweigend, wahrscheinlich fast schon genervt, da ich immer noch nicht verstand, was eigentlich mit Landis los war. Erst als meine Mutter, die seine Worte offenbar verstand, darauf antwortete, wurde mir auch klar, worum es ging – und zwar mit aller Härte. „Ich kann die Nacht nicht woanders verbringen, mein Lieber“, erwiderte sie sanft. „Mach dir keine Sorgen, das war nur ein Albtraum.“ Ich spürte fast, wie ich selbst blass wurde. Landis hatte gesehen, wie meine Mutter sterben würde? Nein, das konnte einfach nicht sein! Und wenn doch, warum hatte er mir nichts davon gesagt!? Es war eine Weile her, seit er mir zuletzt von einer Vision erzählt hatte, weswegen ich bereits gehofft hatte, dass diese Phase bei ihm endlich vorbei war. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass so etwas geschehen würde. Er versuchte weiterhin, meine Mutter davon zu überzeugen, woanders zu übernachten, doch sie wehrte immer wieder sanft, aber bestimmt ab und brachte ihn schließlich dazu, nach Hause zu gehen. Ehe er ging, blickte er mir noch einmal in die Augen, so intensiv und durchdringend, dass mir ohne jedes Wort bewusst wurde, was er mir sagen wollte: Pass auf sie auf. Ich nickte nur knapp und das veranlasste ihn schließlich wirklich, zu gehen. Später am Abend zog ich mich in mein Zimmer zurück und öffnete das Fenster, um die kühle Luft hereinzulassen, die mich wachhalten sollte. Eingewickelt in meine Decke saß ich schließlich vor dem offenen Fenster und blickte hinaus, während ich auf alle verdächtigen Geräusche lauschte. Wie üblich hörte ich irgendwann die schweren Schritte meines Vaters und das Ächzen des Geländers, während er sich leise murrend die Treppe hocharbeitete – ungeachtet der Tatsache, dass es möglicherweise besser wäre, wenn er einfach auf dem Sofa liegenbleiben würde. Zumindest wenn man mich fragte, aber das tat er ja ohnehin nie. Als er die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte, wurden die von ihm verursachten Geräusche leiser, so dass ich mich wieder auf alles andere konzentrieren konnte. Doch irgendwann siegte die Müdigkeit schließlich und trotz der kühlen Nachtluft schlief ich schließlich ein. Zumindest musste das passiert sein, denn als ein überraschend lautes Poltern erklang, schrak ich auf und blickte mich desorientiert um. Als mir bewusst wurde, weswegen ich nicht in meinem Bett lag, sprang ich hastig auf und trat auf den dunklen Gang hinaus. Ein Gefühl sagte mir, dass ich den Blick wenden und die Treppe hinabsehen sollte, die direkt neben meiner Tür hinunterging, doch ein anderer Impuls riet mir, lieber nicht hinunterzusehen und mich stattdessen einfach in eine Ecke zu setzen. Doch stattdessen hörte ich auf mein Gefühl und trat an den oberen Treppenabsatz. Mein Blick wanderte langsam die einzelnen Stufen hinunter, bis ich die reglosen Füße entdeckte. Ich konnte mich nicht mehr abwenden, obwohl alles in meinem Inneren dagegen protestierte, doch meine Augen setzten sich gegen meinen Willen durch und richteten meinen Blick direkt auf das Gesicht meiner Mutter. Es wirkte blass und emotionslos, in ihren sonst so von Liebe erfüllten Augen, war nun keinerlei Emotion mehr zu sehen – nein, das war nicht ganz wahr. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass sie mich direkt ansah, anklagend, vorwurfsvoll, dafür, dass ich eingeschlafen war, statt wachzubleiben, um auf sie aufzupassen – auch wenn ich selbst nicht weiß, wie ich ihr hätte helfen sollen. Als ich mich wieder rühren konnte, sprang ich hastig die Treppe hinunter, ohne mich darum zu kümmern, dass ich ebenfalls stürzen könnte. Unten angekommen, kniete ich mich neben den leblosen Körper meiner Mutter, der sich bereits erschreckend kalt anfühlte. „Mama... Mama!“ Natürlich reagierte sie nicht darauf, trotzdem saß ich neben ihr und rief immer wieder nach ihr, während mir die Tränen über den das Gesicht liefen. Ich habe versagt, fuhr es mir immer wieder durch den Kopf. Wegen mir ist sie jetzt tot! Es wurde Morgen, ohne dass ich mich auch nur von der Stelle gerührt hatte. Immer und immer wieder sagte ich mir, dass es meine Schuld war, dass ich sie nicht hatte beschützen können und dann versiegten die Tränen irgendwann. Wie konnte ich mir denn das Recht herauszunehmen, zu weinen, wenn das doch erst durch meine Unfähigkeit geschehen war? Ich konnte hören, wie mein Vater oben das Schlafzimmer verließ und – da es noch früh war – mit leisen Schritten zur Treppe lief. Am oberen Absatz blieb er stehen und blickte auf mich herunter. Nur widerwillig hob ich den Kopf, um seinen Blick zu erwidern. Ich weiß noch genau, wie überraschend klar er wirkte, ganz anders als sonst. In diesem Moment war er wieder mein Vater, wie ich ihn noch als ganz unklare Erinnerung in meinem Gedächtnis hatte. Scheinbar gefasst kam er die Treppe herunter, erst als er sich ebenfalls hinkniete und meine Mutter berührte, konnte ich sehen, wie sehr seine Hände zitterten. „Aydeen...“, sagte er leise als könne er noch gar nicht glauben, was er da sah. In seiner Stimme klang so viel Zärtlichkeit, wie ich noch nie zuvor gehört hatte – doch im nächsten Moment riss das bereits wieder ab. Er hob den Blick wieder und sah mich wütend an. „Worauf wartest du, Nichtsnutz!? Hol eine der Stadtwachen!“ Ich schluckte meine gereizte Erwiderung hinunter und sprang auf. Ich verließ das Haus, lief aber nicht zum Wachtposten, wo ich um diese Zeit mit Sicherheit Kommandant Helton angetroffen hätte, sondern direkt zu Landis – sein Vater gehörte zur Wache und das Haus war immerhin viel näher. Dort angekommen, klopfte ich hektisch gegen die Tür, so laut ich konnte. Es war noch früh, möglicherweise war noch keiner von ihnen wach. Ich ärgerte mich, dass ich derart wenig über meinen besten Freund und dessen Familie wusste, dass ich nicht einmal sagen konnte, wann sie normalerweise aufstanden. Doch in diesem Moment wurde mir bereits die Tür geöffnet. Onkel Richard blickte mich fragend an. „Guten Morgen, Nolan. Du bist ziemlich früh dran.“ Ich wollte ihm sagen, was passiert war, doch ich brachte keinen einzigen Ton hervor. Ich konnte ihn nur stumm ansehen. „Ist etwas passiert?“, fragte er schließlich. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er bald die Geduld verlieren und mich dann ignorieren würde, weswegen es mir wie eine Rettung vorkam, als Landis plötzlich neben ihn trat. „Es ist deine Mutter, nicht?“, fragte er tonlos. Ich konnte nur nicken und glücklicherweise antwortete er auch an meiner Stelle, als Onkel Richard nachhakte, was das bedeuten sollte: „Du solltest nach Tante Aydeen sehen.“ Die ernste Stimme seines Sohnes überzeugte ihn offenbar davon, das wirklich zu machen, wenn er auch nicht sonderlich begeistert aussah. Er nickte zustimmend und schob sich an mir vorbei, um zu meinem Haus zu kommen. Da er mir nicht sagte, dass ich mitgehen sollte, blieb ich stehen und wandte mich wieder Landis zu. Ich erwartete, dass er mich ebenfalls vorwurfsvoll ansehen würde, so wie meine Mutter. Immerhin hatte ich an seiner Stelle auf sie aufpassen wollen. Doch stattdessen blieb sein Blick sowohl voller Mitleid als auch Trauer. Natürlich, ihn musste es ebenso bedrücken, immerhin hatte er es ja vorhergesehen und dann hatte er versucht, ihr zu helfen. Er war genauso gescheitert wie ich. Schweigend nahm er meine Hand und zog mich ins Haus hinein. Wir hatten uns oft darüber unterhalten und es schon immer als gegeben betrachtet, aber in diesem Moment, in dem wir beide am selben Ziel gescheitert waren und einen schmerzhaften Verlust erlitten hatten – ich war mir sicher, dass Landis meine Mutter ebenfalls wie eine solche geliebt hatte – wurde mir erst richtig bewusst, dass wir wirklich die besten Freunde waren. Intermezzo #1: Totenwächter --------------------------- Es war wie ein Lichtblitz, der ihn wieder in die Wirklichkeit entließ. Wenn man diese Gegend als Wirklichkeit bezeichnen konnte. Verwirrt griff er sich an die Stirn. Was immer dieser seltsame Träume sollten, er empfand sie weder als sonderlich lustig noch als angenehm. Wenn es wenigstens ein paar schöne Erinnerungen wären... Dass er wieder an den Tod seiner Mutter erinnert wurde, gefiel ihm ganz und gar nicht. Zwar war dieses Ereignis eines von denen gewesen, dass ihn und Landis derart zusammengeschweißt hatte, doch auch so viele Jahre danach spürte er dieses Gefühl des Versagens, das er in dieser Nacht empfunden hatte, während er neben der Leiche seiner Mutter saß. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf das steinerne Monument, auf dem Aydeen eingraviert war, der Name seiner Mutter. Es musste ein Grabstein sein. Vorsichtig berührte er den Stein, die Oberfläche war glatt und kalt, weswegen er mühelos die eingravierten Buchstaben nachfahren konnte. „Mama...“ Er hatte nie erfahren, was genau geschehen war, dass sie die Treppe hinabgestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte, nicht einmal Landis wusste die Antwort darauf. „Ah, manchmal ist das Schicksal unergründlich~“ Die unerwartete Stimme ließ ihn aufspringen und herumfahren. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er den braunhaarigen Mann, dem er im Gasthaus begegnet war. Eigentlich hätte ich es mir auch denken können. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er sich wiederholt von diesem Mann erschrecken ließ, doch er war einfach zu gut in dieser Sache, schien es Nolan – und bislang hatte er nicht damit gerechnet, dass sich außer ihm noch jemand hier befinden würde. Misstrauisch blickte er den vermeintlichen Gastwirt an. „Wer bist du? ... Und wo bin ich?“ „Zwei sehr exzellente Fragen“, lobte der Fremde ihn und Nolan ärgerte sich sofort, dass er sich im ersten Moment darüber freute. „Ich werde sie dir auch beide beantworten, wenn du sie schon stellst.“ Er legte sich eine Hand auf die Brust und verneigte sich leicht. „Mein Name ist Charon.“ Nolan atmete erschrocken ein. „Nein, das kann nicht sein.“ „Oh, du hast schon von mir gehört?“ „Natürlich!“ Jeder in Király – davon war Nolan überzeugt – kannte diesen Namen. Seine Großmutter hatte ihn stets gewarnt, dass Charon ihn holen kommen würde, falls er sein Gemüse nicht aufessen würde. Als er älter geworden war, hatte er das zwar stets als finsteres Ammenmärchen abgetan, aber offenbar... „Ich träume das alles, richtig? Dich kann es gar nicht geben!“ Charon verzog gekränkt sein Gesicht. „Oh, du verletzt mich. Ich bin so echt wie ein Totenwächter nur sein kann. Aber in einem hast du recht~ Du träumst das hier.“ Nolan blinzelte verwirrt, was Charon wieder zu amüsieren schien. Er hob eine Hand, worauf zwischen ihnen ein Bild in der Luft erschien. Es zeigte einen dunklen Raum in diesem Gasthaus – und auf dem Bett konnte Nolan deutlich sichtbar einen Körper liegen sehen. Es war seltsam für ihn, sich selbst so zu sehen, die Augen geschlossen, das Gesicht ausdruckslos, die Brust mit nur kaum merkbaren Regungen... Er vermisste die angebliche Friedfertigkeit, die man Schlafenden immer unterstellte. Er selbst kam sich in diesem Moment nur schutzlos und verletzlich vor. Nolan schluckte schwer, das Bild verblasste wieder. „Aber nur, weil es ein Traum ist,“, fuhr Charon fort, „heißt das nicht, dass die Ereignisse hier nicht real sind. Du könntest sterben, wenn du nicht vorsichtig bist.“ Er lachte wieder, obwohl Nolan gar nicht danach zumute war. Es war nicht die Aussicht, sterben zu können, die ihm nicht behagte, es war eher die Tatsache, dass es ihn gar nicht so sehr störte, wie es eigentlich sollte. Würde er sterben, wären seine Probleme immerhin vorbei, aber vorher... „Heißt das, die anderen Todesopfer waren auch hier... und waren nicht vorsichtig?“ Die Frage, wo er war, hatte sich mit Charons Vorstellung längst erledigt. Da er der Totenwächter war, musste dies das Jenseits sein und die goldenen Kerne der Blumen waren dann die Seelen Verstorbener, genau wie seine Großmutter ihm immer erzählt hatte. Ob eine davon möglicherweise Landis gehörte? Charon nickte zustimmend. „Die anderen haben ihr Leben aufgegeben und es damit verwirkt. Du wirst das aber nicht tun, oder?“ Als er das fragte, wirkte er überraschend nervös, sein Lächeln erlosch und machte einem besorgten Ausdruck Platz, der Nolan fast schon ein schlechtes Gewissen machte. „Warum interessiert dich das? Du bist doch hier der Wächter... willst du mich etwa nicht hier haben?“ Das wäre was. Nolan Lane – vom Tod unerwünscht. Er lachte innerlich trocken über diesen unlustigen Scherz. Charon schüttelte den Kopf. „Darum geht es nicht. Es ist nur... ah, du solltest vielleicht erst mit deinen Erinnerungen fortfahren. Ich bin sicher, dass du darin die Antwort finden wirst.“ Nolan seufzte schwer. Noch mehr solcher Erinnerungen und er würde sich freiwillig in den nächsten Fluss werfen – falls er einen fand. Ein bedrückendes Schweigen herrschte zwischen ihnen, während Nolan gedanklich alle schlimmen Erinnerungen durchging, die noch auftauchen könnten. Glücklicherweise fielen ihm nicht mehr viele ein – aber jene, die ihm wieder ins Gedächtnis kamen, ließen ihn erschauern und erweckten in ihm den Wunsch, sich einfach hinzulegen und zu sterben, genau wie damals. Aber die Neugier, welche Antwort er denn finden sollte, wenn Charon doch so sicher war, dass er es dann wieder ganz anders sehen würde, sorgte dafür, dass er all dem ein wenig zuversichtlicher entgegensah. Aber nur ein winziges kleines Bisschen. „Dann komm, ich bring dich zu der nächsten Stelle.“ Charon bedeutete Nolan, ihm zu folgen und lief dann summend voran. Während der Kommandant ihm hinterherlief, ließ er wieder den Blick schweifen. Je mehr Zeit er an diesem Ort verbrachte desto langweiliger erschien er ihm. Immer hier leben, so wie dieser Wächter? Nein, danke. Wie hielt Charon das nur aus? Der Totenwächter lachte leise als hätte er Nolans Gedanken gelesen. „Oh, ich bin hier nicht alleine. Eigentlich bin ich nur der... wie nennt man das in eurer Welt?“ Er überlegte einen kurzen Moment, dann erinnerte er sich vergnügt daran, wie man es nannte: „Oh ja, Assistent! Ich bin der Assistent der jungen Dame, die über all das hier wacht.“ „Oh ja?“, fragte Nolan überrascht. „Also... meine Oma hat mir immer nur von dir erzählt.“ Charon blieb abrupt stehen und wandte sich ihm mit leuchtenden Augen zu. Für einen Augenblick war der Kommandant der festen Überzeugung, etwas Falsches gesagt zu haben, doch die Stimme des Wächters klang eher äußerst aufgeregt: „Sie hat dir von mir erzählt, wirklich?“ Nolan nickte zögernd. „Ja. Ich glaube aber nicht, dass dir das gefallen würde. Sie hat mir immer gesagt, dass du meine Seele stehlen würdest, wenn ich nicht brav wäre.“ Die Freude verschwand augenblicklich aus seinem Gesicht, enttäuscht ließ Charon den Oberkörper sinken. „Owww, wie gemein. Ich will zwar Mittelpunkt eines Märchens sein – aber nicht eines Schauermärchens.“ Nolan lächelte entschuldigend, aber der Wächter winkte sofort ab. „Lass gut sein. Wenn man Totenwächter ist, muss man damit wohl... leben.“ Er lachte leise als hätte er gerade einen gelungenen Scherz gemacht, der allerdings am Kommandanten vorbeigegangen war. „Und eigentlich gefällt mir mein Beruf~ Man hat mit jeder Gesellschaftsschicht zu tun, kommt viel herum... Eigentlich ist alles perfekt.“ „Wenigstens du kannst deinen Beruf positiv sehen.“ Nolan lächelte bitter, wofür er einen neutralen Blick von Charon erntete. Der Totenwächter setzte seinen Weg fort, worauf der Kommandant ihm sofort folgte. Doch das Gespräch schien doch noch nicht beendet, denn kaum liefen sie wieder, sprach Charon weiter: „Dein Beruf gefällt dir wohl nicht, hm?“ Nolan überlegte einen Moment, was er darauf antworten sollte. Früher hätte er spontan geantwortet, dass er den besten Beruf von allen hatte, aber inzwischen waren so viele Dinge in seinem Leben geschehen, dass er sich nicht mehr so sicher war. „Kavallerist zu sein ist ja ganz okay... aber Kommandant...?“ „Ist es nicht schön? Immerhin bedeutet es doch, dass Kenton genug Vertrauen in dich hat, um dir einen so wichtigen Posten zu überlassen.“ Nolan neigte den Kopf. „Vielleicht hat er das auch nur gemacht, weil wir Freunde sind...“ Auch wenn ihre Freundschaft in den letzten Jahren schwer gelitten hatte. Nolan hatte Kenton offen misstraut und ihm immer vorgeworfen, dass er sich zu gut mit Frediano verstehen würde. Inzwischen wusste er natürlich, dass das alles nur dem Plan gedient hatte, den letzten Kommandanten näher zu überwachen. Sonderlich nahe gestanden waren er und Kenton sich ohnehin nie, aber seit dieser Sache schien ihre Freundschaft einen unheilbaren Knacks davongetragen zu haben. Deswegen war er immer noch überrascht, dass Kenton ihn als Kommandanten der Kavallerie vorgeschlagen und nach dem Einverständnis der Königin auch als solchen eingesetzt hatte. Dabei war er sich noch bei Landis' Beerdigung sicher gewesen, dass Kenton ihn nicht einmal mehr als fernen Bekannten betrachten würde. Aber er hatte ihn schon immer schwer einschätzen können. „Ich denke nicht, dass es so ist“, erwiderte Charon schließlich. „Zufälligerweise kenne ich Kenton ein wenig und ich weiß, dass niemandem einen solch verantwortungsvollen Posten überlassen würde, der dafür nicht geeignet ist.“ „Ja, vielleicht...“ Eigentlich war sich Nolan darüber auch sicher, aber im Moment beschäftigte ihn schon wieder etwas anderes: „Wie kommt es, dass du Kenton zufälligerweise kennst?“ Er war Totenwächter, also wäre es wohl verständlicher gewesen, wenn er nur über die Toten Bescheid wüsste. Aber auch über die Lebenden? Charon lachte leise. „Oh~ Ich weiß nicht viel von den Lebenden, nur von jenen, die ihren Namen in mein Gästebuch setzen – und von denen aus Landis' Leben.“ Nolans Augen weiteten sich überrascht, der Mund blieb ihm offen stehen, was den Totenwächter erneut zum Lachen brachte. „Ach, es ist so angenehm~ Normalerweise bekomme ich nicht so viel zu lachen. Aber um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Du erinnerst dich sicherlich daran, dass Landis dir sagte, er dürfe sich nicht in seine Visionen einmischen, nicht? Was denkst du denn, woher er das wusste?“ „Du hast ihm das gesagt?“, hauchte Nolan. Charon nickte zustimmend, auf seinen Lippen wieder das leichte Lächeln, das er offenbar stets trug. „Dann kannst du mir sagen, warum er diese Visionen hatte?“ „Im Prinzip weißt du es schon. Seine Mutter Asterea konnte in die Zukunft sehen, er war ein halber Naturgeist, bla bla.“ Charon vollführe eine wegwerfende Handbewegung als wäre ihm die Erklärung selbst zu kompliziert und Nolan war ganz froh darum, dass er sich nicht in solchen Dingen erging – immerhin war er nicht unbedingt für seine Aufnahmefähigkeit bekannt. „Er verlor die Fähigkeit schließlich, weil er zu alt wurde – männliche Nachkommen verlieren ihre Fähigkeiten im Gegensatz zu den Mädchen.“ Nolan konnte in dem Moment nicht anders als an Nadia zu denken, an deren Arbeitsplatz er sich immerhin oft aufhielt, da sie Kellnerin in seinem Stammlokal war. Laut Landis' Geschichte war sie die Tochter eines Naturgeistes. Über welche Fähigkeiten sie wohl verfügte? „Und dass er es vergessen hat war ein reiner Verdrängungsmechanismus. Landis war ein Weltmeister im Verdrängen – genau wie du.“ Er warf Nolan einen Seitenblick zu, den dieser schaudern ließ. „Noch ein Grund, warum ihr so gute Freunde seid, meinst du nicht? Landis hat verdrängt, dass er Todesfälle vorhersehen kann und jemanden umbrachte – und du hast verdrängt, was dein Vater dir angetan hat.“ Der Kommandant wurde augenblicklich bleich. Er wollte es abwehren, darüber lachen und dann nach dem nächsten Witz fragen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. „Alles, was von eurer Kindheit blieb, ist der Wunsch, ein Held zu werden...“ Charons Miene verhärtete sich bei diesen Worten, seine Stimme blieb tonlos. War dieser Wunsch für ihn etwas Schlimmes? Oder bedauerte er, dass der Traum nie hatte erfüllt werden können? Abrupt blieb er stehen. „Wir sind da.“ Nolan hielt ebenfalls inne. Bislang hatte er wegen des Gesprächs nicht mehr auf den Weg geachtet – weswegen er sofort zurückzuckte, als er sah, wo sie angekommen waren. Direkt vor ihnen tat sich eine Treppe hinauf – genau dieselbe Treppe, die Nolan von seinem alten Zuhause kannte. Jene, die er jeden Tag hoch- und runtergelaufen war und die ihm seine Eltern genommen hatte... in gewisser Weise. Die Stufen führten in die Dunkelheit hinab, zumindest glaubte Nolan das. Er wagte nicht, hinabzusehen, aus Angst vor dem, was er dort erblicken könnte... oder dass etwas seinen Blick erwiderte. Was machte sie nur an diesem Ort? War sie lediglich da, um ihn zu quälen? Womit habe ich das nur verdient? War ich nicht immer ein guter Kerl? Er seufzte schwer bei diesem Gedanken. „Du solltest hinabsehen“, sagte Charon. „Du glaubst gar nicht, wie viele Antworten man am Fuß einer Treppe finden kann.“ Da der Totenwächter mit verschränkten Armen dastand und bereits hinuntersah, konnte Nolan direkt sagen, dass er nichts anderes mehr zu hören bekomme würde. Vermutlich könnte er betteln und flehen und er würde diesen Ort dennoch nicht verlassen dürfen. Also war es wohl besser, sich dem Unausweichlichen zu stellen. Er atmete tief durch und trat einen Schritt vor. Sein Blick wanderte langsam die Treppenstufen hinab und wurde schließlich von dem inzwischen vertrauten weißen Licht überschattet. Vierter Traum: Vater -------------------- Ich wusste nie, wie Landis es machte, besonders da ich mein Versteck als sehr sicher empfand, aber doch fand er mich immer wieder zum richtigen Zeitpunkt. Glücklicherweise wusste er aber auch, dass es im Moment besser war, mich nicht anzusprechen. Schweigend starrten wir in den Regen hinaus, während wir mit angezogenen Knien in dieser kleinen Höhle saßen, die kaum mehr genug Platz bot, dass wir aufrecht sitzen konnten. Ich würde mir wohl bald ein neues Versteck suchen müssen, wenn das so weiterging und ich nicht zu wachsen aufhörte. Ich versuchte, meinen schmerzenden Rücken auszublenden und an etwas anderes zu denken, doch die Schmerzen holten mich immer wieder zurück und erinnerten mich wieder an meinen Vater. Laut ihm war ich ein schlechter Sohn, ein Nichtsnutz und ein Bastard... Ich verstand nichts davon, immerhin tat ich alles, was er wollte, so gut ich konnte. Aber er fand trotzdem immer einen Grund, mich zu beschimpfen und... „Er hat es wieder getan, oder?“, seufzte Landis. Ich nickte immer noch still. Bevor er seine Arbeit verloren hatte, war er immer ein guter Vater gewesen. Gut, ich hatte ihn kaum gesehen, aber wenn er dann mal zu Hause war, war er sehr nett gewesen und hatte sogar gelächelt. Dann war er arbeitslos geworden, hatte zu trinken begonnen – aber selbst das war besser gewesen. Immerhin war ich von ihm lediglich ignoriert worden, damit konnte ich gut leben. Nach Mamas Tod allerdings war er wohl gezwungen gewesen, mich doch zu beachten und das schien ihn derart zu stören, dass er mich bei quasi jeder Gelegenheit beschimpfte – und wenn er sich selbst eine einfallen lassen musste. Nun, auch daran hatte ich mich gewöhnt, was ihn allerdings zu stören schien, weswegen er im letzten Jahr dazu übergegangen war, mich... nun... die Narben auf meinem Rücken erzählten wohl die Geschichte von allein, ich dachte nicht einmal gerne daran. „Du darfst dir das nicht mehr gefallen lassen!“, verlangte Landis. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass du zu meinem Vater oder Onkel Josh gehen sollst!“ Nicht nur hatte er das gesagt, er war sogar einmal mit Onkel Richard vorbeigekommen, um meinen Vater deswegen auszufragen – aber sowohl er als auch ich hatten alles verneint und am Ende war ich es gewesen, der natürlich wieder Prügel kassiert hatte. Warum ich es verneint hatte? Nun... „Ich kann das nicht tun...“, erwiderte ich leise. „Warum denn nicht?“, fragte Landis ungeduldig. Bislang hatte ich ihm nie auf diese Frage geantwortet, egal wie oft sie von ihm gestellt worden war. Aber langsam wurde es wohl wirklich Zeit, vielleicht würde er mich dann verstehen. „Wenn ich zur Stadtwache gehe und es ihnen sage, dann werden sie Papa festnehmen – und ich muss weggehen! Sie werden mich zu meinen Großeltern schicken!“ Die liebte ich zwar sehr, aber sie wohnten am anderen Ende von Király in Jenkan, dort kam man nicht mal eben hin, es dauerte mindestens einen Tag. „Ich müsste die Ausbildung beenden und würde dich nicht mehr sehen.“ Dann würde er mich vergessen, dafür kannte ich ihn gut genug... Allein der Gedanke, dass er mich vergessen könnte, versetzte mir einen Stich. Wir waren beste Freunde, wir taten immer alles zusammen, redeten über alles und wir wollten gemeinsam Helden werden. Welchen Sinn würde dieser Traum noch haben, wenn wir voneinander getrennt wären? „No...“ Ich zuckte überrascht zusammen, als Landis mich plötzlich umarmte. Es störte mich nicht, aber es kam unerwartet und eigentlich taten wir so etwas auch nie. Das machte mich schon misstrauisch. „Aber wenn das so weitergeht, wirst du sterben.“ Sein Flüstern war kaum hörbar, ich verstand es dennoch. Da er seit fünf Jahren, seit dem Tod meiner Mutter, nicht mehr von seinen Visionen erzählt hatte, dachte ich in diesem Moment, dass er das nur aus Sorge dahergesagt hatte. Wäre ich doch nur aufmerksamer gewesen... Wie so oft in den letzten Monaten lag ich abends zusammengerollt in meinem Bett und wartete darauf, dass ich einschlief. In der unteren Etage hörte ich meinen Vater rumoren, offenbar hatte er wieder zuviel getrunken – wie jeden Abend eigentlich. Mit dem Tod meiner Mutter schien das immer schlimmer geworden zu sein. Laut eigenen Aussagen betrachtete er mich nicht als seinen Sohn, aber sowohl er als auch meine Großeltern schwiegen dazu. Aber selbst wenn ich nicht sein leiblicher Sohn war, gab es keinen Grund, mich... so zu behandeln. Ja, ich war nicht unbedingt ein Traumsohn, ich sorgte mit meinen gut gemeinten Aktionen oft für Ärger und war nicht der Schlaueste – aber das waren doch keine Gründe. Immerhin bemühte ich mich doch, Gutes zu tun, ich tat zu Hause alles, was mein Vater wollte und ich gab mir auch alle erdenkliche Mühe bei der Ausbildung. In meinen Augen war ich ein guter Sohn. Warum also...? Sollte ich jemals Kinder haben, so beschloss ich, würde ich mich niemals so verhalten, selbst wenn das Kind meiner Frau nicht mein eigenes sein sollte. Aber eine Familiengründung lag noch in weiter Zukunft, falls es je zu einer kommen sollte. Das Knarren der Treppe riss mich unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück, das genervte Brummen meines Vaters verhieß mir bereits die düsteren Minuten, die mich erwarteten, sobald er in meinem Zimmer angekommen war. Allein beim Gedanken daran fing mein Rücken wieder an zu schmerzen. Ich bemühte mich, ähnlich einer Katze, mich weiter zusammenzurollen, um weniger Angriffsfläche zu bieten und zog mir die Decke über den Kopf, ehe ich mir die Hände auf die Ohren presste. Vor meiner Tür hielten die Schritte wieder inne, das Brummen verstummte, ich hielt die Luft an. Die eingetretene Pause beunruhigte mich. Irgendetwas war anders, ich konnte es an der angespannten Atmosphäre spüren, die mich sogar unter meiner Bettdecke erfasste und mich hervorzulocken versuchte. Doch stattdessen lag ich reglos da, in der irrigen Hoffnung, dass dieses Etwas das Interesse an mir verlieren und mich allein lassen würde. „Was willst du hier!?“ Die wütende Stimme meines Vaters durchschnitt die eingetretene Stille wie ein scharfes Messer, ich zuckte darunter zusammen – aber mit wem sprach er da überhaupt? War etwa wirklich noch jemand hier? Aber wer? Falls eine Antwort kam, so verstand ich sie nicht, aber mein Vater schnaubte. „Was willst du mit dem Messer!?“ Erneut verstand ich die Antwort nicht, doch ich hörte sehr deutlich, wie mein Vater in einen Kampf verwickelt wurde. Wollte uns etwa jemand ausrauben? Aber weswegen denn? Wir besaßen doch gar nichts... Während ich näher mit dem Rücken an die Wand rutschte, schielte ich vorsichtig unter der Decke hervor zur Tür, um sicherzugehen, dass ich diesen Einbrecher früh genug entdecken würde. Ein lautes Poltern, das genauso klang wie in jener verhängnisvollen Nacht, die mir meine Mutter genommen hatte, ließ mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Die direkt danach eintretende Stille ließ mich trotz meiner warmen Decke frösteln. Was war geschehen? Am Liebsten hätte ich mich tiefer in meinem Bett verkrochen und gehofft, dass nichts mehr geschehen würde, doch plötzlich meldete sich mein Heldeninstinkt zu Wort. Ich konnte nicht einfach herumliegen und so tun als wäre nichts, ich musste aufstehen und nachsehen, was geschehen war, wie es meinem Vater ging. Vielleicht hatte der Einbrecher ihn ja umgebracht oder mein Vater ihn. Ich trommelte meinen ganzen Mut zusammen und verließ das Bett, um vorsichtig und so leise wie möglich zu meiner Tür zu kommen. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet an alle Naturgeister, die ich kannte – zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es damals nur eine einzige war, weil sie genau wie Tante Asti hieß –, ehe ich die Tür so vorsichtig wie auch nur irgendwie möglich öffnete, ohne ein Geräusch zu erzeugen. Durch einen winzigen Spalt spähte ich in den Gang hinaus – und schaffte es gerade noch, mir die Hand vor den Mund zu halten, damit mein überraschtes Einatmen nicht hörbar wurde. Ich hatte ja so einiges erwartet, dort draußen vorzufinden. Irgendeinen Fremden, der sich gerade von der Rangelei mit meinem Vater erholte, mein Vater selbst, der sich nach einem Schwindelanfall erst wieder erholen musste – von mir aus auch irgendein wildes Tier, das Schlösser knacken konnte! Aber die Person, die dort im Gang stand, raubte mir geradezu den Atem. Ich wollte hinausstürmen und ihn zur Rede stellen, doch etwas an ihm ließ mich eher vor Angst zittern. In diesem Moment wirkte er nicht wie mein bester Freund. So bleich wie Landis in diesem Augenblick aussah und so kalt und gefühllos er mit hängenden Schultern die Treppe hinabsah, sah er nur aus wie ein Dämon, der seine Gestalt angenommen hatte. Aber wenn es wirklich Landis war, was tat er dann hier um diese Zeit? Und war er derjenige gewesen, der gegen meinen Vater gekämpft hatte? Einige Sekunden lang befürchtete ich, dass Landis mich bemerken und mich ebenfalls angreifen würde, doch stattdessen lief er nach endlos erscheinenden Sekunden schließlich langsam die Treppe hinunter. Mit wild klopfendem Herz lauschte ich seinen Schritten und dem knirschenden Holz, was sich beides von mir entfernte. Erst als ich hören konnte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schaffte ich es, die Starre von mir abzuschütteln und mein Zimmer zu verlassen. Mein Blick fiel sofort auf den Fuß der Treppe, wo ich glaubte, ein Deja vu zu erleben. Wie schon fünf Jahre zuvor lag dort ein regloser Körper, doch die Flüssigkeit, die sich rasch unter ihm ausbreitete, formte ein neues Bild für meine Erinnerungen. Ich lief die Treppe hinab, wesentlich langsamer als damals und machte mir nicht einmal die Mühe, mich neben ihn zu knien, um herauszufinden, ob er noch lebte oder nicht. Das Messer in seiner absolut reglosen Brust und die sich ausbreitende Blutlache waren die besten Beweise dafür, dass er tot war. Für Außenstehende mag es in diesem Moment kaltherzig gewesen sein, aber ich war unendlich erleichtert, zahllose Felsen fielen von meinem Herzen – immerhin bedeutete dieser Anblick, dass er mich nie wieder schlagen oder anschreien würde. Aber andererseits... Kurzerhand beschloss ich, meine Zukunftsängste fortzuschieben und lieber nach einer Wache zu rufen. Ich brauchte keine Zeit, um zu trauern, nicht um meinen Vater, der in den letzten Jahren ohnehin nicht wie einer gewesen war. Statt zu Landis führte mein Weg mich dieses Mal doch zur Wachstation. Immerhin war es mitten in der Nacht und ich wusste, dass Onkel Richard recht ungehalten war, wenn man ihn da störte. Doch zu meiner seeeehr großen Überraschung traf ich auf der Wachstation ihn und Tante Asterea an. Beide blickten mich nicht minder überrascht an. „Was tust du denn mitten in der Nacht hier?“ „Uhm... Das würde ich auch gern bei dir wissen“, erwiderte ich perplex. Tante Asterea lächelte. „Ich habe Ardy was zu essen gebracht~“ „Und ich habe immer gesagt, dass das überflüssig ist“, erwiderte Richard mit rollenden Augen, ehe er mich wieder ansah. „Und was kann ich für dich tun?“ Schlagartig fiel mir wieder ein, weswegen ich eigentlich hier war und erzählte – ziemlich emotionsarm, wie ich zugeben musste –, was geschehen war, nur dass ich Landis natürlich raushielt und durch einen Fremden, den ich nicht hatte sehen können, ersetzte. Onkel Richard lauschte mir mit gerunzelter Stirn, während Tante Astereas Gesicht Besorgnis zeigte. Schließlich stand er von seinem Stuhl auf. „Ich werde mich bei dir umsehen. Asterea, bring Nolan solange zu uns, ja?“ Kaum wurde sie von ihm angesprochen, leuchtete ihr Gesicht quasi wieder auf. „Natürlich~“ Sie stand ebenfalls auf und zog mich hastig mit sich, hinaus aus der Wachstation und in Richtung ihres Hauses. Ich hielt den Blick gesenkt, als mir ein finsterer Gedanke kam: Was, wenn Onkel Richard glauben würde, dass ich der Mörder war? Ich konnte ihm kaum sagen, dass es Landis war. Hastig sah ich an mir herunter, nur um sicherzugehen, dass an mir kein Blut zu sehen war – glücklicherweise hatte ich die Leiche nicht angefasst. Bei ihr zu Hause angekommen, setzte Tante Asterea mich in der Küche auf einen Stuhl und stellte mir einen Teller mit Keksen hin. Sie war quasi perfekt organisiert – wie immer. Mit einem mitleidigen Blick setzte sie sich mir gegenüber, während ich ohne großen Appetit an einem Keks knabberte. Er war zu trocken, das weiß ich noch genau... Tante Astereas Kekse waren immer zu trocken, das Backen beherrschte sie einfach nicht so gut wie meine Mutter. „Wo ist Landis?“, fragte ich plötzlich leise. Die Atmosphäre gefiel mir nicht, ich wollte ihr Mitleid nicht, ich wollte ihre Kekse nicht, ich wollte, dass alles wieder wie früher werden würde, lange bevor meine Leben diese schreckliche Wendung genommen hatte – und Landis war die beste Verbindung dazu. „Er wird in seinem Bett liegen und schlafen“, antwortete sie prompt. „Zumindest habe ich nichts mehr aus seinem Zimmer gehört, bevor ich zur Wachstation gegangen bin.“ Also hatte sie offenbar nicht nachgesehen, ob er da gewesen war oder nicht. Konnte es wirklich sein, dass er da im Gang gestanden hatte? Oder war das nur meine Einbildung gewesen? Oder möglicherweise doch ein Dämon? „Kann ich auch hoch?“ Sie schien etwas darauf erwidern zu wollen, doch überlegte sie es sich im letzten Moment anders und nickte zustimmend. „Natürlich, kannst du das. Lan hat bestimmt nichts dagegen.“ Schweigend legte ich den angebissenen Keks beiseite und stand auf, ging ohne eine Verabschiedung die Treppe hinauf und betrat lautlos das Zimmer von Landis, das im Dunkeln lag. Das Bett stand direkt gegenüber der Tür, so dass ich schon nach dem ersten Blick erkennen konnte, dass jemand darin lag. Doch schon nach wenigen Schritten in den Raum hinein, spürte ich etwas an meinem Fuß. Als ich den Blick nach unten wandte, entdeckte ich die Kleidungsstücke, die Landis vorhin getragen hatte. Wie üblich lagen die einfach mitten im Raum, wo Asterea sie irgendwann einsammeln würde, wie ich wusste – mein Vater hätte mich längst dafür umgebracht. Aber für mich kam das gerade wie gerufen. Ich musste einfach sichergehen. Ich kniete mich hin und betrachtete die Kleidungsstücke, auch wenn mein Magen dabei vor Angst wild rumorte, als ich die ersten Flecken darauf sehen konnte. In der Dunkelheit konnte ich die Flecken nicht wirklich erkennen, aber der Geruch war eindeutig – es war Blut. Ungläubig konnte ich nur darauf starren und mir vorstellen, wie Landis meinen Vater umbrachte. Aber warum hatte er das getan? Warum...? „Aber wenn das so weitergeht, wirst du sterben.“ Seine Worte vom Nachmittag zuckten mir wieder durch den Kopf. Was, wenn es nicht nur so dahergesagt worden war, sondern er tatsächlich in seinen Träumen vorhergesehen hatte, dass das geschehen würde? Was, wenn er eingegriffen hatte, damit mir nichts geschah? Aber... würden dann nicht zwei andere sterben müssen? „Landis...“, murmelte ich leise. Die Gestalt im Bett fuhr herum und als ich den Kopf hob, konnte ich erkennen, dass Landis mich blinzelnd ansah. „No? Was machst du denn hier?“ So verschlafen wie er dalag, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er das wirklich getan hatte. Ich musste mich geirrt haben und diese blutbefleckte Kleidung... nun, sie würde weg sein, sobald Asterea wieder wusch, also warum sollte ich mir Gedanken machen? Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich ließ die Kleidung wieder fallen, ging hinüber zum Bett und setzte mich darauf, so dass er nur noch meinen Rücken sehen konnte. „Mein Vater ist tot.“ Ich war selbst über meine tonlose Stimme überrascht als hätte ich von jemand ganz anderem gesprochen und wäre nicht im Mindesten betroffen. Sofort setzte er sich auf, so dass er mir wieder ins Gesicht sehen konnte. Mir schien, er versuchte daran abzulesen, wie es mir im Moment ging. Das Verrückte war nur, dass es mir gut ging, sehr gut sogar. Es gab nur zwei Sachen, die mir Sorgen bereiteten: Würde man mich für seinen Tod verantwortlich machen? Und würde ich nun zu meinen Großeltern ziehen müssen? Landis spürte, wie so oft, dass ich so voller Sorgen war, dass man mich nicht mehr ansprechen konnte und glücklicherweise ließ er das auch sein. Stattdessen legte er schweigend einen Arm um meine Schultern, um mir stillen Trost zu spenden – und ich war ihm noch nie so dankbar gewesen wie in diesem Moment. Intermezzo #2: Alternativ ------------------------- Seufzend starrte Nolan die Treppe hinab, nachdem die Erinnerung ihn wieder in diese Wirklichkeit entließ. Das waren jetzt hoffentlich alle schlimmen Erinnerungen, die ich hatte... Er saß auf dem obersten Treppenabsatz, den Blick direkt in die Dunkelheit jenseits der letzten Stufe gerichtet. Glücklicherweise tauchten dort inzwischen keine Bilder jener Nacht mehr auf. „Wie ging es dann weiter?“, fragte Charon. Nolan überlegte nicht lange: „Alle Wachen in der Stadt waren sich bald einig, dass ich wirklich für seinen Tod verantwortlich war, aber weil sie auf Notwehr tippten, wurde es unter den Teppich gekehrt und ich kam straffrei raus.“ Er erinnerte sich noch gut an all die Diskussionen, die Wortgefechte, die er und Landis durch das Fenster der Wachstation belauscht hatten. Richard hatte – für Nolan sehr überraschend – Partei für ihn ergriffen und gegenüber all seiner Kollegen immer wieder betont, dass ihn keine Schuld treffen und Kieran selbst für sein Schicksal verantwortlich gewesen wäre und man ihn nun nicht bestrafen sollte. Zu guter Letzt, als die endgültige Entscheidung von Joshua, Orianas Vater, fällig gewesen war, hatte auch dieser ihn überrascht. Sein ganzes Leben hatte Nolan immer den Eindruck gehabt, dass er dem Kommandanten der Wachstation ein Dorn im Auge gewesen war, doch seine Entscheidung war es gewesen, dass Nolan in Cherrygrove bleiben und stattdessen die Unterstützung aller Wachen erhalten sollte. Allein beim Gedanken daran musste er wieder lächeln. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Erleichterung, die ihn in dem Moment durchströmt hatte und an die Umarmung von Landis, der sich über diese Nachricht mindestens genauso sehr gefreut hatte. Charon lächelte. „Und so wurdet ihr dennoch nicht getrennt und du durftest allein leben.“ „Genau. Aber ich hab bis ich 16 war trotzdem die meiste Zeit bei Landis und seiner Familie verbracht – selbst wenn er gar nicht da war.“ Immerhin war Landis in dem Alter auch stark damit beschäftigt gewesen, Oriana für sich zu gewinnen, auch wenn er im Nachhinein gescheitert war. Aber Nolan war von Asterea und Richard oft wie ein zweiter Sohn behandelt worden und hatte ein- und ausgehen dürfen, wie er wollte. „Hat es dich nicht gestört, dass alle dachten, du hättest Kieran umgebracht?“ „Ein wenig. Aber ich konnte auch nicht sagen, dass es eigentlich Landis gewesen war. Stattdessen...“ Seufzend neigte er den Kopf. „Es ist wohl lächerlich, aber Landis' Aktion, die Tatsache, dass er sich dieser Regel widersetzte, sorgte dafür, dass ich unter allen Umständen ein Held werden wollte, noch mehr als zuvor. Ich wollte in der Lage sein, mich bei ihm zu revanchieren und ihn zu beschützen, so wie er es bei mir getan hatte.“ Aber am Ende... habe ich es nicht geschafft. Landis war tot, gestorben ohne dass jemand ihn hätte beschützen können, am Allerwenigsten Nolan. Dabei hatte er selbst diesen Tod doch eigentlich gar nicht vorhergesehen gehabt, obwohl sein eigenes Ableben seine allerletzte Vision gewesen war. „Und was war davor deine Motivation gewesen, Held zu werden?“ Nolan dachte nicht daran, dass Charon das eigentlich wissen müsste, sondern antwortete direkt: „Das hatte gaaanz viele Gründe~ Ich wollte anderen helfen, die Hilfe brauchen, weil ich selbst weiß, wie es ist, sich hilflos zu fühlen – und manchmal braucht man einfach einen Helden, nicht wahr?“ Später waren zwar noch andere Gründe, wie die Beliebtheit bei Frauen dazugekommen, aber daran dachte er im Moment nicht, da ihm etwas Bitteres bewusst wurde: „Ich war damals so naiv, dass ich dachte, ich könnte die Welt verändern.“ Inzwischen fühlte er sich nur noch dumm, dass er das wirklich einmal gedacht, nein, sogar fest davon überzeugt gewesen war, dass er das wirklich könnte. Dabei verfügte er im Gegensatz zu Landis oder einigen anderen Menschen, die er kannte, über keinerlei spezielle Fähigkeiten und er war auch nichts Besonderes. Er erinnerte sich noch genau daran, dass während ihrer Ausbildung alle immer ganz begeistert von Landis gewesen waren und ihn stets als einen ganz besonderen Jungen bezeichnet hatten. Kein Wunder, immerhin war Landis mit den Jahren strebsam, gelehrig und auch um einiges vernünftiger geworden – es sei denn, es war um Frediano und Oriana gegangen. Er dagegen war nur als Anhängsel angesehen worden und als der Junge ohne Eltern. Manchmal war Nolan... ziemlich neidisch deswegen gewesen. Er war von ihnen immerhin der Ältere gewesen, derjenige mit der schlimmen Vergangenheit, der sich trotz allem ein positives Gemüt bewahrt hatte und dennoch war er nur der Zaungast gewesen und nie die Hauptperson. Ja, manchmal hatte er sowohl Frediano als auch Kenton nur zu gut verstehen können, wenn sie beim Gedanken an Landis mal wieder die Gesichter verzogen. Aber er war für ihn da gewesen, hatte jede Menge Zeit mit ihm verbracht und ihn stets als etwas Besonderes bezeichnet, auch wenn Nolan das nie hatte nachvollziehen können und manchmal sogar an einen üblen Scherz glauben wollte. Doch man selbst sah das wohl immer ein wenig anders. „Ich denke, es wird Zeit, dass du jemand wirklich Besonderen triffst“, sagte Charon plötzlich. „Meine Chefin, die Herrscherin über dieses Reich, möchte dich gerne sehen und dir etwas zeigen. Vielleicht siehst du einiges dann mit anderen Augen.“ Es fiel Nolan schwer, sich etwas vorzustellen, was das schaffen sollte, aber dennoch stand er vorsichtig auf und folgte dem bereits vorausgelaufenen Charon. Der Wächter führte ihn zielsicher zu einer der Ruinen, die er bereits zuvor gesehen hatte. Kein guter Platz für eine Herrscherin wie er fand. Während sie sich dem näherten, fragte er sich, wie diese Herrscherin wohl aussehen würde. Er stellte sich vor, dass es eine groß-gewachsene, zierliche Frau mit blasser Haut war, die sich mit ihren schlanken Fingern stets durch das schwarze, seidige Haar fuhr. Ihr elegantes Kleid schmiegte sich perfekt an ihre Gestalt... ja, so musste die perfekte Herrscherin des Totenreichs aussehen. Er ahnte ja noch nicht, welch Enttäuschung er durch diese Vorstellung gleich erleben würde. Ein Wasserrinnsal floss durch die Ruine, es glitzerte eigenartig als ob es gar kein echtes Wasser wäre, sondern nur ein kleiner Strom aus Leuchtpartikeln. Vor einem Thron blieb Charon wieder stehen, strahlend wandte er sich Nolan zu. „Darf ich dir meine Chefin, die Herrin dieser Welt vorstellen? Meisterin Orphne.“ Erwartungsvoll blickte Nolan hinüber – und hob verwundert eine Augenbraue, als er das Mädchen sah, das auf dem Thron saß und es innerlich mit seiner Vorstellung verglich. Ihr Körperbau war der einer Zehnjährigen und sie trug ein schwarzes Oberteil mit dem passenden Rock, der allerdings ihre knubbeligen Knie freigab. Allerdings hatte er mit zwei Dingen recht behalten: Sie war ein wenig blass und ihr Haar war lang, schwarz und seidig – allerdings war es zu zwei abstehenden Pferdeschwänzen gebunden. Diese Frisur und ihre großen blauen Augen passten perfekt zu ihrem Körper und erweckten in Nolan den Eindruck, dass es ein Irrtum sein musste. Dieses Kind konnte doch nicht die Herrscherin dieses Reichs sein, oder? Orphne stieß Luft durch ihre geschlossenen Lippen. „Können wir es bald hinter uns bringen? Ich weiß, du bist sehr erstaunt, aber die Phase hält langsam lange genug an.“ Er entschuldigte sich hastig. „Es ist nur... ich hätte nicht erwartet, dass du so jung bist.“ „Ich sehe nur so jung aus.“ „Oder das. Ich hätte eher erwartet, dass die Herrscherin dieses Reiches... anders ist.“ Orphne neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Ich kann es dir nachfühlen, ich bin auch sehr enttäuscht.“ „S-so meinte ich das nicht...“ Er hob die Hände, um sie zu trösten und zu beruhigen, doch sie winkte direkt ab. „Schon gut. Ich bin ja schon froh, dass du kein Skelett mit Umhang und Sense erwartet hast.“ Nolan konnte sich nicht entsinnen, dass er irgendwann einmal eine solche Vorstellung des Todes gehört hatte, zumindest nicht von seiner Mutter und auch nicht von seiner Großmutter. Eigentlich war ihm aber auch nie von Orphne erzählt worden, sondern nur von Charon. Er beschloss, lieber das Thema zu wechseln: „Oh ja, Charon sagte, du wolltest mir etwas zeigen.“ Sie wirkte so jung, dass er sie einfach nicht so respektvoll ansprechen konnte, wie er es wohl hätte sollen, aber sie schien sich auch nicht daran zu stören, sondern nickte direkt. „Genau. Wie du weißt, rufe ich hier derzeit Leute zu mir, die den Willen verloren haben, zu leben.“ Nolan gab es nicht gern zu, aber je mehr Erinnerungen er hier durchlebte desto mehr verlor auch er diesen Willen und desto größer wurde seine Sehnsucht nach Landis. Würde dieser noch leben... Immerhin brauchte ihn niemand, vielleicht wäre es sogar besser, wenn er nicht mehr leben würde. Dann wäre der Posten des Kommandanten für jemanden offen, der wirklich etwas konnte und möglicherweise würde jemand an seiner Stelle die Welt verändern können – er hatte immerhin darin versagt. „Ich denke, das liegt daran, weil du glaubst, dass deine Anwesenheit ohnehin nichts ändert“, fuhr Orphne fort. „Du fühlst dich unwichtig und denkst, dass jeder auf dich verzichten kann, nun da Landis nicht mehr da ist.“ Getroffen zuckte er zusammen. War das etwa so deutlich? „Eigentlich leidest du damit genau an dem, was sooo viele Leute haben, die hierherkommen“, seufzte Orphne. „Und jedes Mal frage ich mich, warum ihr nicht mal vier Meter weiterdenkt.“ „Was soll das denn heißen?“, fragte Nolan irritiert. Sie seufzte erneut als ob sie wirklich mit der sämtlichen Dummheit der Welt konfrontiert wäre, was seine Stimmung noch tiefer sinken ließ. Vielleicht sollte sie ihn besser gleich umbringen. Sie hob ihre Hände und vollführte damit einige komplizierte Muster, womit sie ein wunderbares Geflecht aus blauem Licht vor sich webte. Während er es noch bewunderte, glaubte er plötzlich, Bilder darin zu sehen, die sich bewegten und seine Augen automatisch auf sich zogen. Es erforderte ein wenig Fantasie, doch schließlich konnte er tatsächlich nicht nur sich selbst, sondern auch Landis darin erkennen. „Was denkst du, wäre aus Landis geworden, wenn es dich nie gegeben hätte – oder du einfach nicht in Cherrygrove aufgewachsen wärst?“ Er verkniff sich die Gegenfrage, wo er denn sonst hätte aufwachsen sollen, sondern antwortete seufzend: „Er hätte bestimmt ein tolles Leben gehabt, mit Ken und Ria... und vielleicht hätte sie dann nie Fredi geheiratet und er wäre geblieben und das alles wäre nie geschehen.“ Er war sogar fest davon überzeugt, doch Orphne schüttelte langsam ihren Kopf. „Dich selbst als Übeltäter anzusehen, ist nicht der richtige Weg.“ Die Figur, die ihn darstellte, verschwand, die von Landis veränderte sich dafür, während Orphnes Worte das Geschehen begleiteten: „Nehmen wir an, du wärst nie da gewesen, um Landis' Freund zu werden, wäre er für immer ein sehr unheimlicher Junge geblieben, der nie einen Ton sagt. Und damit wäre er auch ein sehr unglücklicher Junge gewesen – und mit Sicherheit eines Tages im Irrenhaus von Jenkan gelandet oder früh gestorben.“ Die Figur zerfiel langsam zu glitzerndem Staub, Nolan erinnerte sich deutlich wieder an den unheimlichen kleinen Jungen von damals zurück und auch, dass alle immer gesagt hatten, dass es sein Verdienst gewesen war, dass Landis sich derart verändert hatte. Vielleicht entsprach es wirklich der Wahrheit. Aus dem Staub entstand wieder eine Gestalt, die dieses Mal einen älteren Landis darstellte, Orphne fuhr fort: „In einer Vision sah Landis, dass du sterben würdest, falls dein Vater dich weiter misshandelte, weswegen er sich entschied, es zu beenden, mit der einzigen Möglichkeit, die ihm noch geblieben war. Aber was, wenn du doch gestorben wärst?“ Sie schmunzelte leicht, als Landis plötzlich äußerst deutlich in diesem Licht zu erkennen war, Nolan musste dennoch genauer hinsehen. Dieses verbitterte Gesicht, das streng zurückgekämmte Haar und die Kavallerieuniform wirkten so unpassend an Landis, dass er ihn so nie wiedererkannt hätte. „Wärst du als Jugendlicher gestorben, hätte dein Freund seinen Traum begraben, ein Held zu werden – und er hätte sich mit Frediano zusammengerauft. Oh und erinnerst du dich an diesen einen Angriff auf Király, kurz nach der Geburt von Orianas kleiner Tochter?“ Nolan verzog sein Gesicht, immerhin erinnerte er sich noch äußerst gut daran. Das Ziel war die Königsfamilie von Király gewesen, weswegen die Kavallerie frühzeitig versucht hatte, die Attentäter aufzuhalten. „Ich stand dabei aber ziemlich im Weg, Frediano musste mir das Leben retten.“ Die Attentäter waren zu Nolans Überraschung fast noch Kinder gewesen, weswegen er es nicht über's Herz gebracht hatte, sein Schwert gegen sie zu erheben – Frediano war es gewesen, der Nolans Gegenüber davon abgehalten hatte, ihm einfach die Kehle durchzuschneiden. Zwar hatte der Kommandant ihm nie einen Vorwurf deswegen gemacht, doch damit war Nolan schon selbst beschäftigt gewesen. Orphne lachte leise. „Du hast das wohl während des Kampfes nicht mitbekommen, aber als er dir das Leben gerettet hatte, wich er gleichzeitig einem Angriff aus, der ihn das eigene Leben gekostet hätte. Im Fall von Landis dagegen...“ Er konnte sehen, wie erst Frediano und gleich im Anschluss Landis zu Boden fielen. Erschrocken sog er die Luft ein, als er seinen Freund zum zweiten Mal sterben sah. Erneut schien ihm als würde gerade ein Teil in seinem Inneren mit ihm sterben. Doch er schluckte die Tränen hinunter – seit dem Tod seiner Mutter hatte er nicht mehr geweint, damals hatte er geschworen, es nie wieder zu tun... und er würde das auch nicht aufgeben. Orphne sah ihn erwartungsvoll an, doch Nolan schüttelte den Kopf. „Selbst wenn – jetzt sind sie trotzdem beide tot.“ Egal, wie sehr seine Anwesenheit etwas verändert hatte – im Endeffekt lief es doch auf das Selbe hinaus, also machte es keinen Unterschied. „Du stellst dich nur blöd, oder?“, fragte sie leicht genervt. „Dass sie einen frühen Tod sterben würden, war seit ihrer Geburt an klar, nein, schon vorher. Die Hauptsache ist doch, dass du beiden in gewisser Weise ein guter Freund gewesen bist und ihr Leben erhellt hast – denkst du nicht?“ Nun, es stimmte, dass Nolan sich Frediano aufgrund ihrer komplizierten Familienverhältnisse immer recht nahe gefühlt hatte, aber bislang war er nicht der Meinung gewesen, dass sie befreundet gewesen waren oder er sein Leben erhellt hatte. „Aber warum mussten sie überhaupt sterben?“, erwiderte er mit einer bedrückten Gegenfrage. „Es ist schwer zu erklären“, antwortete Orphne nach kurzem Zögern. „Vielleicht hilft es dir, wenn ich sage, dass es die Bestimmung eines... höheren Wesens war, mit ein wenig Einmischung anderer hohen Wesen.“ Nolan verstand rein gar nichts, aber da Orphne offenbar auch keine weiteren Erklärungen liefern wollte, blieb ihm nichts anderes übrig als es einfach zu akzeptieren. Das blaue Licht war noch nicht erloschen, allerdings waren keinerlei Muster mehr darin zu erkennen, stattdessen zuckten die Linien wild umher, darauf wartend, dass eine neue Vision folgen würde. „Also gut“, sagte Orphne schließlich. „Kommen wir zum letzten Traum. Vielleicht lernst du daraus ja endlich mal was. Wenn nicht, gebe ich es auf.“ Sie klang müde und ausgezehrt als ob sie an ihm geradezu verzweifeln würde. Nolan ließ bedrückt den Kopf hängen, auch als Charon ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. Selbst sie bringe ich zum Verzweifeln. Ich bin wohl hoffnungslos. Das blaue Leuchten nahm wieder zu, die Linien verästelten sich zu einem neuen Muster, das Nolan noch ganz genau kannte. Immerhin waren seit diesem Ereignis erst einige Monate vergangen... Letzter Traum: Abschied ----------------------- Bei allen Beerdigungen, die ich bislang besucht hatte, war mir noch nie eine untergekommen, bei der die Stimmung so gelöst und entspannt war wie bei dieser – und ich konnte es nicht im Mindesten verstehen. Nur weil er sieben Jahre fortgewesen war, bedeutete das ja nicht, dass es nicht Landis war, der da im Sarg lag, so friedlich als würde er einfach nur schlafen und gleich aufwachen, um uns allen lächelnd zu erzählen, was er Verrücktes geträumt hatte. Allerdings musste ich zugeben, dass ich ihn in all den Jahren, in denen ich ihn gekannt hatte, noch nie derart entspannt gesehen hatte. Immer, in jeder Nacht, war ein angespannter Zug auf seinem Gesicht zu sehen gewesen als ob er äußerst schlecht träumen würde. So traurig ich auch über seinen Tod war, in Anbetracht dieser Tatsache, freute ich mich auch irgendwie für ihn... immerhin hatte er nun seinen Frieden, wie er ihn sich heimlich immer gewünscht haben musste. Erst als jemand meinen Arm ergriff, wandte ich meinen Blick von Landis' Gesicht ab. Oriana stand neben mir und sah, statt in den Sarg, direkt in meine Augen. So sehr ich sie auch mochte, ich hatte nie wirklich verstanden, warum sowohl Landis als auch Frediano derart verrückt nach ihr gewesen waren – selbst wenn sie mich mitleidig ansah, hatte ich das Gefühl, dass ihre Augen mich vorwurfsvoll anblickten. So war es immer... „Alles in Ordnung mit dir, No?“ Ich lachte leise und versuchte, das erdrückende Gefühl abzuschütteln. „Das sollte ich wohl eher dich fragen. Du weißt doch, dass bei mir immer alles bestens ist.“ Statt etwas zu erwidern, seufzte sie leise. Offenbar stand ihr nicht der Sinn nach einer Diskussion mit mir, vielleicht wollte sie einfach nur mit mir reden... mit den anderen ging wohl auch schlecht. Die inzwischen stets erwachsene Aurora hing kokett lächelnd an Kentons Arm und erzählte jedem, der es wissen wollte – oder auch nicht – dass sie bald heiraten würden; Richard und Orianas Eltern erklärten der kleinen Milly, was genau bei einer Beerdigung vor sich ging, wahrscheinlich, um sich selbst davon abzulenken, dass nun Landis der Tote war; Nadia, Aidan und Kureha standen ein wenig abseits und zeigten damit deutlich ihre Außenseiterpositionen, so dass sich kaum jemand traute, sie anzusprechen – obwohl ich zumindest gern mit Nadia geplaudert hätte, immerhin war sie die Bedienung in meinem Stammlokal und wir verstanden uns recht gut, sie hätte mich vielleicht ablenken können – ; der Prinz war ebenfalls da. Ansonsten war niemand hier, teilweise wohl aus zeitlichen Gründen und weil Richard nicht zu viele Gäste haben wollte. Tante Astis Beerdigung war ihm bereits viel zu anstrengend gewesen, wie ich noch in Erinnerung hatte. „Wo ist eigentlich diese Puppenspielerin?“, fragte ich leise. Sie war mir bislang nur einmal im Palast, kurz nach Landis' Tod begegnet, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Trauer und Zufriedenheit, was ich damals nicht hatte verstehen können – jetzt eigentlich auch noch nicht. Warum sollte sie Landis' Tod so zufrieden stellen? „Sie hat New Kinging schon vor ein paar Tagen verlassen“, erklärte Oriana mir. „Sie blieb nicht einmal lange genug für die Audienz bei der Königin.“ Dabei hätte ich nach Landis' Erzählung gerade von ihr erwartet, dass sie sich diese Beerdigung nicht entgehen lassen würde. Anscheinend hatte ich mich geirrt. „No, sag schon“, drängte Oriana. „Ich seh' doch, dass es dir schlecht geht.“ „Warum fragst du dann überhaupt?“ Ich befürchtete, bei dieser Gegenfrage genervt zu klingen, doch stattdessen war meine Stimme kraftlos – es kam mir tatsächlich vor als wäre ich selbst gestorben. Leise seufzend zog Oriana mich von dem Sarg weg. „Du weißt, dass du demnächst noch einer anderen Beerdigung beiwohnen darfst, oder?“ Sie versuchte, das Thema von Landis abzulenken, aber auch an Frediano dachte ich im Moment äußerst ungern, denn er brachte mich auch wieder zu Landis zurück, was Oriana mit einem tiefen Seufzen quittierte. „Schon gut, tut mir Leid. Aber ich könnte da mit Sicherheit auch deine Unterstützung brauchen.“ „Natürlich...“ Zwar wusste ich nicht, was sie da von mir erwarten würde, aber ich könnte es ja versuchen – noch mehr versagen war wohl ohnehin nicht möglich. Ein wenig abseits beobachteten wir schweigend wie Richard schließlich Milly ihren Großeltern überließ und selbst zum Sarg hinüberging. Ich konnte lediglich seinen Rücken sehen – aber das genügte durchaus, um mitzubekommen, wie er plötzlich in den Sarg hineingriff und etwas herausholte. Oriana sog erschrocken die Luft ein, als sie das Schwert erkannte, das Richard herausgezogen hatte. In Király war es immerhin üblich, Kavalleristen mit ihrer Klinge zu beerdigen. Gut, Landis war möglicherweise kein echter Kavallerist, aber es ging immerhin um's Prinzip. Noch größer war unsere Überraschung allerdings, als Richard direkt auf mich zukam und mir das Schwert reichte. Sein Gesicht war unbewegt, wie immer, aber in seinen Augen konnte ich die Trauer sehen, die sich in seinem Inneren verbarg. „Nimm du es, Nolan. Landis würde sicherlich wollen, dass du es bekommst.“ Auf den ersten Blick konnte ich direkt sehen, dass es kein Kavalleristenschwert war, doch meine Gedanken waren zu durcheinander, um selbst zu wissen, was das bedeutete. „A-aber er war ein Kavallerist, wir können ihn nicht ohne sein Schwert beerdigen.“ Richard drückte mir das Schwert sanft in die Hand und sagte mir dann etwas, was sowohl Oriana als auch mich überraschte: „Landis war kein Kavallerist – er ist nie bei der praktischen Prüfung aufgetaucht und daher durchgefallen.“ Verwundert hielt sie sich eine Hand vor den Mund, ich konnte Richard nur fassungslos ansehen. „D-das kann nicht sein! Warum hat er mir das nie gesagt?“ Gut, wir hatten nie über die Prüfung gesprochen, hauptsächlich, weil Frediano und Oriana kurz darauf geheiratet hatten und Landis' Kopf mit anderen Dingen gefüllt gewesen war. Aber wäre es denn wirklich so schwer gewesen, mir zumindest mal nebenbei mitzuteilen, dass er die praktische Prüfung gar nicht erst angetreten war? Immerhin waren wir doch beste Freunde gewesen... „Mir hat er es auch nicht gesagt“, meinte Richard. „Sir Dorugon fragte mich kurz nach Landis' Verschwinden, ob ich etwas darüber wüsste. Ich habe aber vergessen, meinen Sohn danach zu fragen...“ „Nach sieben Jahren kein Wunder“, beruhigte Oriana ihn. Ich war noch zu sehr von dieser Nachricht überrascht und auch davon, dass er Landis als seinen Sohn bezeichnet hatte, was er sonst nie tat, dass ich nichts sagen konnte. Richard seufzte leise. „Ich dachte, ich hätte noch Zeit...“ Das hatte ich auch gedacht. Da waren noch so viele Dinge gewesen, die zwischen mir und Landis offen im Raum gestanden waren und die ich – irgendwann – mit ihm hatte besprechen wollen. Während ich auf das Schwert hinabsah, dessen Ursprung mir absolut unbekannt war und nach dem ich ihn auch gern gefragt hätte, wurde mir erstmals bewusst, dass irgendwann manchmal auch zu spät bedeuten konnte. Zwar hatte ich auch meine Eltern beerdigt, aber bei keinem von beiden hatte ich diesen Knoten im Hals und dieses Bedauern verspürt. Es war als ob Landis mir viel, viel näher gestanden hatte als meine richtige Familie – aber manchmal war es mir auch so vorgekommen, zumindest früher, als wir noch Kinder gewesen waren und ich ihn als Bruder betrachtet hatte. Der für die Zeremonie verantwortliche Priester rief Richard zu sich, um den nächsten Schritt zu besprechen. Ich beneidete ihn nicht darum – aber genauso wenig mich selbst, als ich Kenton auf mich zukommen sah. „Mhm, er hat sich anscheinend von Aurora losgeeist“, bemerkte Oriana leise. Wie üblich lächelte Kenton nicht, eigentlich wirkte er sogar gestresst, wenn man mich fragte. Offenbar gab es viel zu tun für ihn – immerhin musste er auch einen neuen Kommandanten für die Kavallerie suchen, ich stellte mir das äußerst anstrengend vor, da er mir einmal erklärt hatte, dass er Begründungen zu jedem Vorschlag schreiben und diese dann der Königin präsentieren musste. „Was ist mit deiner Verlobten passiert?“, fragte Oriana schmunzelnd. Kenton deutete auf Aurora, die sich lachend mit Bellinda, Orianas Mutter, unterhielt. Offensichtlich hielten Nymphen nicht sonderlich viel vom Tod... er kümmerte sie offenbar nicht einmal. Wie sonst ließ sich ihre gute Laune während einer Beerdigung erklären? Kenton räusperte sich, so dass ich mich wieder auf ihn konzentrierte. „Ich bin mir nicht sicher, wann wir das nächste Mal zum Reden kommen, deswegen nutze ich die Gelegenheit jetzt.“ Bei Landis' Beerdigung... ich fragte mich, ob das wirklich sein musste. „Worum geht es?“ „In Fredianos Unterlagen habe ich Bestimmungen darüber gefunden, was nach seinem Tod mit der Kavallerie geschehen soll. Natürlich können wir uns nicht allein danach richten, aber ich habe mir meine Gedanken darum gemacht...“ Was sollte das werden? Löste er gerade die Kavallerie auf? „Frediano hatte dich als stellvertretenden Kommandanten eingetragen...“ Überrascht hob ich meine Augenbrauen. „Was?“ „Wusstest du das nicht?“, hakte Oriana nach. Ich schüttelte den Kopf. Frediano hatte nie etwas davon gesagt. Sicher, wir führten oft Gespräche über die Kavallerie und seine damit verbundenen Entscheidungen – aber ich war immer davon überzeugt gewesen, dass wir das nur taten, weil wir – so etwas wie – Freunde gewesen waren. „Jedenfalls“, fuhr Kenton fort, „haben die Königin und ich uns entschlossen, dich zum nächsten Kommandanten zu ernennen.“ Mir blieb regelrecht die Luft weg. Ich, der Nichtsnutz, sollte Kommandant der Kavallerie werden? „Das ist ein Scherz, oder?“ „Ich scherze auf Beerdigungen nicht“, erwiderte Kenton kühl. „Nein, es ist mein Ernst.“ Oriana lächelte mir zu. „Das ist doch eine gute Nachricht~“ Da war ich mir gar nicht so sicher. Natürlich war es mit Sicherheit eine interessante Aussicht, einen derart hohen Posten zu bekommen, besonders nachdem mir das nie jemand zugetraut hatte – aber genau deswegen machte es mir auch Angst. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesem Druck gewachsen war. „Ich werde es mir überlegen.“ Kenton nickte mir nur zu und ging wieder davon. Aufgeregt drückte Oriana meinen Arm – wenigstens eine, die an mich glaubte. Mir bereitete der Gedanke bereits erhebliche Kopfschmerzen. Viel Zeit dafür blieb mir allerdings nicht, da die Zeremonie nun endlich weiterging, immerhin würde ich also bald dieser Atmosphäre entfliehen können, die so absolut unpassend war. Der Sarg wurde geschlossen, wie es die Tradition verlangte, während ein Gehilfe des Priesters den Taubenkäfig brachte. Oriana seufzte. „Ich hasse diese Stelle. Ich schwöre dir, dass ich das bei Fredianos Beerdigung nicht machen werde.“ „Aber es ist Tradition“, erwiderte ich. „Willst du, dass seine Seele nicht zu Charon kommt?“ „Ich überlasse das Milly“, kam es wieder von ihr. „Immerhin ist sie seine nächste Verwandte und nicht ich.“ Im Gegensatz zu Oriana liebte ich diesen Teil an Beerdigungen. Man band einige Haarsträhnen des Toten um die Füße einer Taube und entließ diese in die Freiheit, damit sie die Seele des Verstorbenen zu Charon tragen würde – symbolisch gesehen verstand sich. Bei Charon angekommen würde dieser der Taube die fremde Seele mit ihrer eigenen entnehmen und sie damit in eine Krähe verwandeln, zumindest war es mir so von meiner Mutter erzählt worden. Das Freilassen der Taube wurde dabei von dem engsten, noch lebenden Verwandten übernommen – bei meinen Eltern war dementsprechend ich dafür verantwortlich gewesen. „Ich habe gehört, es bringt Unglück, wenn du mehrere Tauben innerhalb von sieben Jahren entlässt“, sagte Oriana leise, als Richard sich von dem Priester die Taube reichen ließ. „Möglich wäre es“, erwiderte ich. Immerhin fühlte ich mich in meinem Leben recht unglücklich, aber ich lebte noch, trotz der zwei Tauben innerhalb von fünf Jahren. Vielleicht war dieses Unglück auch eher auf etwas anderes bezogen – wenn man innerhalb von sieben Jahren mehr als eine nahestehende Person verlor, war das doch schon Unglück, oder? Schlagartig verstummten alle Anwesenden und folgten Richard auf eine stille Einigung zu der Tür, die auf den Friedhof führte. Oriana zog mich mit sich, sonst hätte ich mich wohl kein Stück von der Stelle bewegt. Wenige Schritte nach draußen blieb Richard wieder stehen, vorsichtig hielt er die Taube in beiden Händen und führte sie an sein Gesicht. Was er ihr sagte, konnte ich nicht hören, doch ich sah genau, dass er dem Tier etwas zuflüsterte, das mit Sicherheit entweder für Landis oder für Charon gedacht war – oder sogar für beide. Oriana schauderte als Richard die Taube schließlich fliegen ließ und sie hastig davonflatterte. Wäre ich nicht damit beschäftigt gewesen, dem Tier hinterherzusehen, hätte ich Oriana schmunzelnd gefragt, ob sie immer noch Angst vor Vögeln hatte – und sie hätte mir wütend in die Seite geboxt und mir erklärt, dass sie keine Angst hatte, sondern sich nur vor fliegenden Ratten ekelte. Anschließend wären wir beide lachend davongegangen, um beim Leichenschmaus über die Phobien anderer zu sprechen. Aber so blickte ich dieser Taube bedrückt hinterher und erinnerte mich – mit Bedauern – daran, wie Landis fortgegangen war, um uns sieben Jahre allein zu lassen. Und nun war er gegangen, ohne die Aussicht, je wieder zurückzukommen, ohne dass wir je über all das sprechen könnten, was nach diesen Jahren zwischen uns gestanden hatte. Innerlich seufzend schluckte ich die Tränen hinunter – und spürte, wie Oriana aufmunternd meinen Arm drückte. Zumindest war ich in meiner Trauer nicht allein... dieser Gedanke hatte etwas äußerst Tröstliches an sich. Aber dennoch wünschte ich mir, dass es Landis gewesen wäre und nicht Oriana... Wie ich es bis zum Einbruch der Dunkelheit in diesem Restaurant für den Leichenschmaus ausgehalten hatte, war mir selbst unbegreiflich. Als ich endlich aus dem stickigen Raum ins Freie trat, tief einatmen konnte und das Lachen der anderen nur noch gedämpft zu mir kam, fühlte ich mich schon viel, viel besser. Langsam verstand ich, wie Landis sich bei dieser Hochzeit gefühlt haben musste. An diesem Tag hätte ich selbst gern irgendwann ein Glas gegen die Wand geworfen, so wütend war ich auf die ewigen Witze von Aurora gewesen. Zwar waren sie recht passend, da sie alle irgendwelche Anekdoten von Landis zum Inhalt gehabt hatten, doch ich wollte sie nicht hören. Ich wollte nicht lachen, am Allerwenigsten über ihn. Andererseits wollte ich aber auch nicht weinen. Landis hätte das bestimmt auch nicht gewollt. Kümmern musste mich das zwar auch nicht mehr, immerhin war er nun fort, aber für mein Verständnis war er auch noch da... irgendwie. Ich erwartete immer noch, dass er jeden Tag wiederkommen würde, obwohl ich gehofft hatte, dass diese Zeremonie heute das endlich abschließen würde. Langsam, den Blick immer an den sich verfärbenden Himmel gerichtet, wandte ich meine Schritte nach Hause. Dort würde ich endlich meine Ruhe haben können – doch bevor ich dort ankam, hörte ich Schritte hinter mir, gefolgt von einer Stimme, die meinen Namen rief. Ich wusste sofort, wer es war, weswegen ich eigentlich erst gar nicht stehen bleiben wollte, es schließlich aber dennoch tat. Am Ende würde sie mich sonst noch nach Hause verfolgen... Zwar hatte ich den ganzen Tag mit ihr reden wollen, aber nun stand mir doch eher der Sinn danach, nach Hause zu gehen und Landis zu verfluchen. Als ich mich ihr zuwandte, blieb Nadia ebenfalls stehen. Sie lächelte erleichtert – doch zum ersten Mal an diesem Tag entdeckte ich auch in ihrem Blick Trauer und nicht nur Abweisung. „Endlich~ Ich wollte dir das den ganzen Tag noch geben.“ „Was denn?“ Sie griff in ihre Tasche und kramte darin, nebenbei fuhr sie fort: „Ich wollte Landis jeden Tag schlagen, seine Geschichten gingen mir so sehr auf die Nerven...“ Unwillig presste ich die Lippen aufeinander, unterbrach sie aber auch nicht, obwohl ich das Gerede nicht hören wollte. Gedanklich träumte ich mich bereits zu mir nach Hause und fragte mich, ob ich genug Alkohol hätte, um mich für den Rest der Nacht außer Gefecht zu setzen. Doch als sie fortfuhr, hörte ich ihr sofort wieder zu: „Jeden Tag, alles, was er erzählt hat, ging immer nur um Oriana oder Kenton – aber am meisten um dich. Egal, was wir gesehen haben, meist fiel ihm irgendwas ein, was mit dir zu tun hat.“ Sie lachte leise. „Wir kamen zum Beispiel mal an einen Apfelbaum und er erzählte uns, wie ihr von einem Dieb mit Äpfeln beworfen wurdet. Er betonte immer und immer wieder, was für ein besonderer Kerl du gewesen wärst.“ Ich wollte sie fragen, was das sollte und ob sie mir das alles unbedingt erzählen musste – immerhin half es mir im Moment nicht sonderlich, meinen Zorn zu vergessen –, doch da beförderte sie endlich einen Zettel zutage. „Hier ist es~“ Sie reichte mir das Papier, das ich fragend ansah. „Es ist ein Gutschein“, erklärte sie lächelnd. „Für Dipaloma-Äpfel. Landis sagte, du liebst sie, deswegen hat er dir diesen Gutschein gekauft... er wollte ihn dir nach seiner Rückkehr geben, als Entschädigung für die letzten sieben Jahre.“ Mit tauben Bewegungen nahm ich ihr den Zettel ab und blickte ihn an. Die Worte verschwammen vor meinen Augen, aber unter den vorgedruckten Buchstaben konnte ich Landis' Handschrift erkennen. „W-warum hat er ihn mir nicht gegeben?“ Gut, wir hatten uns nach seiner Rückkehr nicht oft miteinander unterhalten. Aber auch nur, weil er sich selbst von mir distanzierte als hätte er Angst vor mir – und in gewisser Weise war das wohl auch wahr gewesen, wenn ich im Nachhinein daran zurückdenke. Ehrlich gesagt war ich mir auch nicht sicher, ob ich ihn während eines Gespräches nicht tatsächlich noch einen Schlag versetzt hätte, stellvertretend für all die Momente in meinem Leben, in denen ich ihn gehasst hatte. „Er sagte, weil er sieben Jahre weggewesen wäre, fürchtete er, dass du ihn nicht mehr mögen würdest, da er sich so sehr verändert hatte – und dass du denken könntest, er würde sich deine Freundschaft zurückkaufen wollen. Deswegen hat er mir den Gutschein gegeben und mir gesagt, ich soll ihn dann an dich weiterreichen, falls ihm etwas geschieht.“ Ich konnte nicht anders als mich über ihn zu ärgern und das verstärkte den Kloß in meinem Hals noch einmal. Ich wollte ihn anschreien und ihm einen Schlag verpassen dafür – aber er hatte sich feigerweise bereits aus der Affäre gezogen und das für immer. Auch dafür wollte ich ihn schlagen, am besten so heftig, dass er den Schmerz noch in einer Woche spüren würde. Ich bedankte mich murrend bei Nadia und steckte den Gutschein ein. Scheinbar verlegen neigte sie den Kopf und legte die Hände hinter ihrem Rücken zusammen. „Mhm, falls du mal was brauchst, kannst du mit mir reden~ Aidan und ich werden in New Kinging bleiben – und ich kenne viele Geschichten, die Landis euch nicht mehr erzählen konnte.“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkte nostalgisch, ich wünschte, ich könnte es ihr nachempfinden, statt wütend zu sein. Allerdings freute ich mich auch ein wenig, dass sie bleiben würde und mir von sich aus anbot, mit mir zu sprechen – ich würde davon Gebrauch machen, aber sicher nicht nur wegen den Geschichten von Landis. „Danke, Nadia... Aber für heute will ich nur noch alleine sein.“ Sie nickte leicht und ging wieder in Richtung des Restaurants davon. Doch ehe sie aus meiner Hörweite verschwand, blieb sie noch einmal stehen und wandte sich mir zu. „Ich glaube, Landis hat dich ernsthaft geliebt... wie einen Bruder. Auch wenn er es euch nicht erzählt hat, ich denke, dich hat er am Allermeisten vermisst.“ Klasse, davon hatte ich nach seiner Rückkehr aber nichts mitbekommen. Und was kümmerte mich das jetzt noch? Da ich nichts mehr sagte, wandte sie sich wieder ab und ging endgültig davon. Seufzend blickte ich ihr hinterher – und entdeckte in dem Moment ein Glühwürmchen, das einsam und verloren durch die Stadt schwirrte als ob es nur darauf wartete, gefangen zu werden. Ich schmunzelte leicht. Zu dumm, dass nicht einmal Wünsche einem einen Toten zurückbringen... Intermezzo #3: Anima -------------------- „Und?“, fragte Orphne, als das blaue Leuchten dieses Mal endgültig erlosch. „Hast du dieses Mal etwas gelernt?“ Sie wirkte ein wenig ungeduldig, weswegen Nolan beschloss, ausnahmsweise erst einmal in sich zu gehen und sich das alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er hatte mehrere Dinge gelernt: Das Entlassen mehrerer Tauben innerhalb von sieben Jahren brachte wirklich Unglück. Wenn er an die vielen Krähen auf dem Dach des Hauses zurückdachte, in dem er übernachtete, musste es der Wahrheit entsprechen, dass Charon die Tauben in solche verwandelte. Landis war in den letzten Jahren ein lausiger bester Freund gewesen. Aber er hatte Nolan in all den Jahren nie vergessen und das wiederum schwemmte all den Zorn fort, der sich während der Erinnerung wieder in ihm aufgebaut hatte. Und dann... „Ja, ich denke, ich habe etwas gelernt.“ Sogleich blickten sowohl Orphne als auch Charon ihn äußerst neugierig und erwartungsvoll an. Würde er etwa wirklich einer der wenigen Besucher sein, der tatsächlich etwas gelernt hatte? Nolan legte eine Hand auf sein Herz und schloss die Augen. „Egal, was ich denke, meine bloße Anwesenheit beeinflusst das Leben aller um mich herum – positiv und negativ. Aber im Gegensatz zu mir erinnern alle anderen sich hauptsächlich an das Positive.“ Er war sich sicher, würde er Oriana fragen, würde sie ihm zwar liebend gern eine Gelegenheit an den Kopf werfen, an der sie ihm gern an die Gurgel gegangen wäre, aber direkt danach würde sie sich lächelnd dafür bedanken, dass er an Fredianos Beerdigung bei ihr gewesen und Milly mit der Taube geholfen hatte und ihn dabei auch daran erinnern, wie oft er ihr oder Frediano oder Milly bereits unter die Arme gegriffen hatte. Während er mit einem warmen Gefühl in seinem Inneren darüber nachdachte, wuchs die Überzeugung, dass auch Kenton und so manch andere Person das genauso machen würde. Und zu sterben ist auch keine Lösung... Als ihm bewusst wurde, wie viele ihm wertvolle Menschen er dabei beinahe zurückgelassen hätte, wurde ihm ganz elend. Besonders wenn er daran dachte, dass mindestens einer von ihnen dann genauso sauer auf ihn sein würde, wie er es auf Landis gewesen war. Wut und Verbitterung und Hilflosigkeit... nein, er wollte nicht Schuld daran sein, dass seine Freunde das fühlen mussten. Orphne klatschte begeistert in die Hände, Charon atmete erleichtert auf. „Ich bin froh, dass du zu dieser Erkenntnis gelangt bist.“ Das Mädchen stand von dem Thron auf und stellte sich vor ihn. In diesem Moment, in dem er nach unten schauen musste, bemerkte er erst wieder, wie klein sie im Vergleich zu ihm war – immerhin reichte sie ihm nur bis an den Ellenbogen. Sie lächelte warm. „Wir sind so stolz auf dich~ Du hast all das hier am Ende doch noch gemeistert. Dafür wollen wir-“ Sie kam nicht dazu, auszusprechen, da eine wütende Frauenstimme sie unterbrach: „Das ist nicht fair!“ Charon verzog sofort sein Gesicht. „Oh, bitte nicht. Ich dachte, sie würde nicht kommen.“ „Sie lädt sich eben gern selbst ein“, seufzte Orphne. „Lebt hier noch jemand?“, fragte Nolan neugierig. Beide sahen ihn an und seufzten synchron. Ein so schweres und tiefes Seufzen, das er immer neugieriger wurde – auch wenn er gleichzeitig das Gefühl hatte, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn die Antwort ausgeblieben wäre. Doch ehe einer von ihnen antworten konnte, erschien auch schon ein junges Mädchen vor ihnen, das Nolan auf Anhieb sympathisch war. Ihr langes, schwarzes Haar und die grünen Augen, die im Moment vor Wut geradezu Funken sprühten, erinnerten ihn direkt an seine Mutter. Sie war ein wenig größer als Orphne und reichte ihm an die Brust, dennoch musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. „Wer bist du?“ Diese Frage machte sie offenbar noch wütender, weswegen sie mit dem Fuß aufstampfte und die Arme in ihre Hüften stemmte. „Du solltest wissen, wer ich bin!“ Er versuchte wieder, sich an sie zu erinnern, aber er war sich sicher, dass er ein Mädchen, das ihn an seine Mutter erinnerte, mit Sicherheit nicht einfach so wieder vergessen würde. Seine Mutter war sie aber mit Sicherheit nicht – auch wenn er langsam glaubte, in dieser Welt ohnehin mit allem rechnen zu müssen. Da sie offenbar bemerkte, dass er keinerlei Ahnung hatte, seufzte sie genervt. „Ich bin Etaín. Aber wahrscheinlich wird auch das dir nichts sagen, also-“ „Oh doch, das tut es“, unterbrach er sie, worauf sie ihn verdutzt ansah. Mit einem nostalgischen Lächeln erinnerte er sich an seine Nachmittage mit seinen Großeltern, an denen er zahlreiche Plätzchen verspeisen und Familiengeschichten lauschen durfte – bei einer davon war auch dieser Name gefallen. „Aber ich glaube nicht, dass du die Zwillingsschwester meiner Mutter bist.“ Laut seinen Großeltern war Etaín ein Jahr nach seiner Geburt gestorben, weswegen er sie nie hatte kennenlernen können. Dabei hatten sie ihn stets mit diesem mitleidigen Blicken angesehen – aber das war auch an diesem Tag noch etwas, was sich seinem Verständnis entzog. Die Etaín vor ihm rollte mit den Augen. „Na ja, immerhin bist du nicht ganz weit weg. Nein, ich bin nicht diese Etaín. Ich bin eher...“ Sie hielt inne und blickte Orphne und Charon hilfesuchend an. Beide wichen ein wenig zurück als würden sie Angst vor ihr haben, weswegen Nolan ebenfalls zu ihnen hinübersah. Charon überwand sich schließlich. „Etaín ist eine Anima – das ist... quasi die weibliche Seite im Inneren eines Mannes.“ Interessiert blickte er wieder zu Etaín, um sie noch einmal zu mustern. Er kannte den Volksglauben, dass sich im Inneren eines Menschen immer eine männliche und eine weibliche Seite verbarg, von der eine allerdings dominanter war als die andere und damit den Charakter eines Menschen prägte. Wer hätte gedacht, dass mir all diese Bücher mal wirklich weiterhelfen? Ich wusste nicht, dass ich so schlau sein kann. „Da das hier alles meinem Unterbewusstsein entspringt, musst du meine Anima sein“, schlussfolgerte er. Das würde ausgehend von ihrem Aussehen auch Sinn machen – fand er zumindest. Freudig stellte er fest, dass Etaín zu lächeln begann. „Anscheinend bist du ja doch nicht so dumm. Richtig, ich bin deine Anima. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich ziemlich sauer auf dich bin!“ Augenblicklich wurde sie wieder wütend und tippte ihm anklagend mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Er wich nun ebenfalls ein wenig zurück, verwirrt über ihr Verhalten – er wusste ja nicht einmal, was sie so sehr aufregte. Auf seine Nachfrage, was denn mit ihr los wäre, schnaubte sie zornig. „Weißt du, wie es ist, mir jahrelang mitansehen zu müssen, was du für einen Schwachsinn anstellst!? Und immer ignorierst du meine guten Ratschläge...“ Nach ihrem letzten Satz seufzte sie schwer, ihre Wut schwand wieder und machte einer gehörigen Portion Bitterkeit und Trauer Platz. Sie tat Nolan schon regelrecht Leid, aber er verstand nicht so ganz, was sie von ihm wollte. Hatten andere Menschen auch solche Auseinandersetzungen mit ihren inneren... Ichs? „Ich habe keine Ahnung, was du mir sagen willst...“ Noch im selben Moment wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ihre Augen blitzten wieder wütend auf, ihr Blick bohrte sich direkt in seinen Schädel – zumindest kam ihm das so vor. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, wieder deutete sie auf ihn. „Eigentlich hätte das hier so ausgehen sollen, dass du stirbst und ich deinen Platz einnehmen darf! Warum musstest du gerade heute anfangen, etwas zu lernen!?“ „Was?“ Nolan blickte zu Charon und Orphne hinüber, die sich beide unschlüssig ansahen, während seine Ungeduld wuchs. Doch schließlich entschied die Herrscherin sich, ihm zu antworten, worauf der Wächter äußerst erleichtert wirkte. „Nun, wir können nicht einfach Menschen aus diesem Leben reißen, auch wenn sie nicht mehr leben wollen. Sobald sie gestorben sind, tritt ihre Anima oder ihr Animus – im Fall von Frauen – auf den Plan und nimmt ihren Platz im Leben ein, damit keine Lücke entsteht.“ Wieder verstand er nicht so ganz, was das mit dieser Lücke sollte, aber im Moment interessierte es ihn auch nicht weiter. Dafür gab es im Moment eine viel wichtigere Frage: „Aber wie kann es dann sein, dass diese Leichen gefunden wurden?“ „Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten“, sagte Charon. „Wie hast du von den Morden erfahren?“ Zwar kam ihm das wieder wie ein ganz anderes Leben vor, doch es fiel ihm sofort wieder ein: „Ich saß in demselben Restaurant, in das ich immer nach der Arbeit gehe. Und da war diese Reisende und die hat mir davon erzählt.“ Orphne schmunzelte wissend. „Ich verstehe. Das war also ihr Werk. Normalerweise gibt es hier nämlich keine Leichen. Derjenige, der nicht mehr leben will, wird von uns gerufen, er erhält hier seine Läuterung und geht danach wieder nach Hause – oder er wird durch seine Anima ersetzt, die daraufhin für ihn lebt als wäre nie etwas anders gewesen. Du bist der erste, der uns quasi geschickt wurde, wir hätten dich noch lange nicht gerufen. Trotz deiner Situation hatten wir nicht den Eindruck, dass du unserem sonstigen Klientel sehr nahe kommst.“ „Aber wenn ihr mich nicht gerufen habt, wer war dann diese Frau?“ Er versuchte, sie sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, doch seine Erinnerung an ihr Gesicht war nur verschwommen, obwohl der Rest des Abends vollkommen klar war. „Das ist doch jetzt vollkommen egal!“, fauchte Etaín dazwischen. „Ich sollte deine Stelle einnehmen, das wäre nur fair gewesen! Und jetzt nimmst du mir sogar das! Du gönnst mir überhaupt nichts!“ „Oh, ich verstehe... Jetzt bist du natürlich unzufrieden.“ Während Nolan stolz auf sich selbst war, dass er tatsächlich etwas gelernt hatte durch die Erfahrung der heutigen Nacht, war Etaín der gegenseitigen Meinung, da er sie damit um ihre Chance gebracht hatte, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Erneut spürte er Mitleid mit dem Mädchen, allerdings plante er dennoch nicht, auf sein Leben zu verzichten, egal wie Leid sie ihm tat. Nicht nach seiner Erfahrung dieser Nacht. „Tut mir Leid – aber ich hänge wohl doch ein wenig zu sehr an mir selbst. Versteh das doch.“ Erneut blitzten ihre Augen vor Wut, doch dieses Mal konnte er auch eine heftige Welle von Zorn spüren, die sie ihm dabei entgegenschleuderte. „Ich werde das nicht einfach zulassen! Du kommst damit nicht durch!“ Nolan wich augenblicklich einige Schritte zurück, genau wie Charon und Orphne, die sich sogleich direkt weiter entfernten als ob sie wüssten, was als nächstes kommen würde. Und auch Nolan konnte es sich bereits denken, als Etaín plötzlich in einem bedrohlichen roten Leuchten zu glühen begann und sich in die Luft erhob. Innerhalb weniger Sekunden erschien ein Ring, der mit zwölf Klingen besetzt war, hinter ihrem Rücken, der sich kaum merklich im Uhrzeigersinn bewegte. Die blitzenden Klauen an ihren Händen waren da für Nolan im Moment das kleinere Problem. Doch statt zu verzweifeln, erwachte in ihm neuer Ehrgeiz. Würde er diesen Kampf verlieren, könnte er keinen seiner Freunde mehr wiedersehen und keiner von ihnen würde je erfahren, wie dankbar er ihnen war – oder wie sie ihn beerdigen sollten, wenn es mal soweit war. Komischer Gedanke. Er musste schmunzeln, als er das dachte, doch im nächsten Moment zog er bereits sein Schwert, um sich für den Kampf zu wappnen. Egal wie aussichtslos es ihm im Moment schien, er musste dennoch kämpfen – und irgendwie gewinnen. Das war doch nicht so schwer, oder? Die finstere Aura, die Etaín umgab, schien ihm zwar etwas anderes sagen zu wollen, doch seine Entschlossenheit wankte kein Stück. Seit seinem letzten Kampf war eine ganze Weile vergangen, aber er hoffte, nichts verlernt zu haben, als er sich ihr schließlich entgegenstürzte. Sie rührte sich nicht, aber eine der Klingen löste sich von dem Ring und schoss direkt auf ihn zu. Mit einem Hieb wehrte er das Schwert ab, wich einem weiteren aus und nutzte ein drittes als Sprungbrett, um Etaín in ihrer erhöhten Position zu erreichen. Abwehrend hielt sie die Klauen vor sich – und tatsächlich rutschte sein Schwert an ihr ab, ohne ihr auch nur einen Kratzer zu versetzen. Er landete wieder auf dem Boden und begab sich hinter ihren Rücken, den er ungeschützt wähnte. Doch sie sah das natürlich voraus und sandte drei weitere Klingen, um ihn aufzuhalten. Nolan brummelte leicht, während er den Schwertern auswich und gleich im Anschluss die drei von zuvor abwehren musste, die erneut auf ihn zuschossen. Sämtliche Schwerter kehrten auf ihre Ausgangsposition zurück, als Etaín langsam zu ihm herumfuhr, was Nolans Selbstbewusstsein tiefer sinken ließ. Er hatte keinerlei Ahnung, wie er diesen Klingenring überwinden sollte, aber aufgeben kam natürlich auch nicht in Frage. Weiter blind angreifen allerdings auch nicht, das brachte ihn nicht weiter. Während er noch dastand und überlegte, legte Etaín den Kopf in den Nacken, das Glühen um sie herum leuchtete heller auf, der Klingenring löste sich von seinem Platz. Nolan schluckte leicht, als er sich bereits denken konnte, was geschehen würde. Der Ring begann sich zu drehen, so schnell, dass die einzelnen Klingen vor seinen Augen verschwammen und zu einer einzigen scharfen Schneide wurden. Gerade als ihm das bewusst wurde, bewegte sich der Ring erstaunlich schnell auf ihn zu. Ihm blieb nur der Bruchteil einer Sekunde, sich für seine folgende Aktion zu entscheiden, die möglicherweise seine allerletzte Handlung sein könnte. Es schien ihm fast schon zu spät, als er schließlich einen Sprung zur Seite wählte. Der Klingenring bohrte sich tief in die Erde bis die Schwerter alle wieder stillstanden. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft es gewesen wäre, davon zerfetzt zu werden. Dafür blieb ihm auch keine Zeit, denn noch während er diesen Anblick betrachtete, fiel ihm auf, dass Etaín nun schutzlos war. Hastig sprang er auf die höchste Stelle des Ringes, um den Höhenunterschied auszugleichen. Doch Etaín kam ihm zuvor, erschien direkt vor ihm und griff ihn mit ihren Krallen an. Geistesgegenwärtig sprang er zurück, um nicht verletzt zu werden, vergaß dabei allerdings, dass hinter ihm keinerlei Boden war. Er stürzte und landete schmerzhaft mit dem Rücken auf dem Boden. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, panisch schnappte er nach Sauerstoff, ließ sich allerdings nicht sonderlich viel Zeit damit. Einem Impuls folgend rollte er sich einige Meter zur Seite, was ihm das Leben rettete. Etaíns Krallen bohrten sich in die Erde, wo er zuvor gelegen hatte. Während sie versuchte, die festsitzenden Klauen aus dem Boden zu ziehen, richtete er sich wieder auf. Ihr verkniffenes Gesicht verriet ihm, dass ihr dieser Kampf genauso, wenn nicht vielleicht sogar wichtiger war als ihm. Er stellte sich das Leben als anderes Ich nicht sonderlich angenehm vor, aber er trug keine Schuld daran, also musste er sich deswegen auch keine Vorwürfe machen – außerdem hatte sie ja auch versucht, ihn anzugreifen, das hier war also nur Notwehr... oder? Er hob das Schwert – und rammte es neben ihrer Kralle in den Boden. Sie hielt sofort inne, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich und zeigte fortan eher Verwirrung. „W-was tust du da? Gibst du etwa auf?“ „Mitnichten“, erwiderte er, leicht schmunzelnd, dass er sich noch an das Wort erinnerte. „Aber dich zu töten, würde auch nicht helfen. Ein Held muss seine Kämpfe auch ohne Gewalt gewinnen können.“ Er lächelte selbstzufrieden und klopfte sich auf den Oberkörper. „In meiner Brust schlägt ein Heldenherz und das verbietet mir, dir etwas anzutun – schon allein, weil du ein Teil von mir bist.“ „Du... du sagst... ich bin ein Teil von dir?“ Ihre Stimme klang überrascht, gerührt und auch noch sehr ungläubig, alles Dinge, die er nicht nachvollziehen konnte. „Warum überrascht dich das so?“ „Normalerweise“, erklang Charons Stimme plötzlich neben ihm, „verleugnen die Leute nur zu gern, dass die Anima oder der Animus ein Teil von ihnen sind – darum kommt es üblicherweise zu einem Kampf, den die normalen Personen natürlich verlieren. Du hast eine Kampfausbildung, deine Chancen standen natürlich besser.“ Etaín leuchtete noch einmal auf, dann stand im nächsten Moment wieder dasselbe, harmlose Mädchen wie zuvor vor ihm. Mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt, blickte sie ihn fast schon schüchtern und verlegen an. „So gefällst du mir schon um einiges besser“, sagte er lächelnd. Immerhin erinnerte er sie ihn so tatsächlich an sich selbst... zumindest in gewisser Weise, er selbst war nie schüchtern oder verlegen gewesen. Er ging ein wenig in die Knie, um auf Augenhöhe mit dir zu sein. „Ich werde nicht aufgeben, aber ich kann dir einen Kompromiss anbieten: Ich werde ein wenig mehr das tun, was du willst.“ „Dann wirst du wieder Schokolade essen?“, fragte sie erfreut. Er verzog ein wenig das Gesicht. „Aber nicht zu oft.“ Nach dem Tod seines Vaters hatte er die Gelegenheit genutzt, ohne jede Kontrolle Schokolade zu vertilgen – und danach war ihm dermaßen übel geworden, dass er seitdem keinerlei Schokolade mehr angerührt hatte, offensichtlich sehr zum Unwillen von Etaín. „Gut, gut~ Und...“ Sie setzte ein schelmisches Lächeln auf, als sie weitersprach: „Wenn du Landis wiedersiehst, wirst du ihm sagen, dass ich ihn liebe~“ „Lieber nicht, sonst versteht er das nur falsch“, erwiderte er lachend, ehe er kurz darauf wieder ernst wurde. „So so, unerfüllte Liebe~ Das ist also ein Grund, warum du so wütend warst, hm?“ Sie nickte bestätigend und kreischte protestierend, als Nolan ihr durch das Haar fuhr. „Lass das!“ Lachend richtete er sich wieder auf. „Gut, nachdem ich mich mit den Wächtern des Todes und meiner Anima angefreundet und mein Leben schätzen gelernt habe... gibt es hier eigentlich nichts mehr zu tun, oder?“ „Oh doch, eine Kleinigkeit noch“, ließ Orphne sich vernehmen und erschien wieder neben ihm. Er seufzte leise. „Was denn noch?“ Langsam machte er sich Sorgen, hier je wieder wegzukommen, doch Orphne lächelte leicht. „Schon gut, es ist nichts Schlimmes. Da gibt es nur jemanden, der dich sehen will – deswegen wurdest du erst hierher gerufen, wenn mich nicht alles täuscht.“ „Aber keine bösen Überraschungen mehr, oder?“, fragte er sicherheitshalber. Charon lachte leise. „Absolut keine mehr, keine Sorge. Das hier wird dir eher gefallen. Aber verabschiede dich lieber vorher von Etaín.“ Nolan nickte sofort und tat, wie ihm geheißen, indem er das Mädchen umarmte – auch wenn sie nicht sonderlich begeistert davon wirkte. „Es ist ja nicht so, dass wir uns nie wiedersehen“, brummte sie leise und verschwand so plötzlich wie sie gekommen war. Allerdings nicht, ohne ihm mit einen Gedankenblitz noch zu verstehen zu geben, dass er sich gefälligst besser um Nadia kümmern sollte – was er ohnehin vorgehabt hatte. Nolan wandte sich wieder Orphne und Charon zu. „Dann lasst uns gehen.“ Er war gespannt, was sie ihm zeigen wollten und folgte ihnen daher sofort enthusiastisch, in der Hoffnung, dass es dieses Mal wirklich eine angenehme Überraschung war. Epilog: Epilog: Freunde ----------------------- Nach einem weiteren hellen Lichtblitz, fand Nolan sich in einer Gegend wieder, die er am Liebsten als seine eigene unterbewusste Welt gehabt hätte. Ein makellos blauer Himmel spannte sich über eine saftige grüne Wiese, die bis in die Unendlichkeit zu reichen schien, lediglich von vereinzelten Bäumen oder einem klaren Fluss unterbrochen. Nolan atmete tief ein, wunderbar klare Luft, würzig angereichert von dem frischen Gras, erfüllte seine Lungen und beruhigte sein aufgeregtes Herz, das von den vergangenen Ereignissen noch ein wenig mitgenommen war. „Das hier ist der Ort, auf den sich drei Verstorbene geeinigt haben“, erklärte Charon. „Möglicherweise wirst du aber nur einen davon treffen.“ Er musste nicht weiter erklären, von wem er sprach, Nolan verstand sofort, sein Herz schlug augenblicklich wieder schneller, als er in freudiger Erwartung den Blick schweifen ließ. Tatsächlich konnte er auf einem Felsen, nahe des Flusses eine Gestalt ausfindig machen und selbst auf diese Entfernung erkannte er die Person. Lächelnd lief Nolan auf ihn zu. Je näher er dem Felsen kam desto klarer wurde die Gestalt und desto sicherer wurde er sich darin, dass es tatsächlich derjenige war, den er die ganze Zeit über hatte sehen wollen. „Landis~“ Die Gestalt drehte sich um, als Nolan diesen Namen aussprach – und da war er sich endgültig sicher, es war wirklich Landis. Er glich die letzten Meter Distanz mit einem kurzen Sprint aus und drückte seinen Freund an sich. Landis lachte leise, als er die Umarmung erwiderte. „Ich dachte, das machen wir nicht mehr.“ „Nur nicht in der Öffentlichkeit“, erwiderte Nolan, ohne ihn wieder loszulassen. „Und davon gibt es hier ziemlich wenig.“ „Das ist natürlich wahr~“ Doch als Landis ihm schließlich auf die Schultern klopfte, ließ Nolan doch wieder von ihm ab und setzte sich stattdessen neben ihn auf den Felsen. Ein Baum spendete dem Flecken ausreichend Schatten für sie beide. „Wie ist es so, tot zu sein?“, fragte Nolan. Landis hob eine Augenbraue. „Wir sehen uns wieder und das ist das erste, was dir einfällt?“ Als der Gefragte nickte, lachte der Braunhaarige amüsiert. „Das sieht dir ähnlich. Aber nun, es ist ganz... in Ordnung.“ „Ist es nicht langweilig, den ganzen Tag nur hier rumzusitzen?“ Nolan machte eine ausholende Bewegung, die alles, was zu sehen war, einschloss. Zwar sah das alles sehr schön aus und es beruhigte mit Sicherheit, aber er konnte sich auch gut vorstellen, dass es mit der Zeit äußerst langweilig wurde. „Ich wünschte, ich würde hier nur die ganze Zeit herumsitzen“, erwiderte Landis murmelnd. Sein Blick ging zu einem anderen Baum in der Entfernung, doch er sah direkt wieder zu Nolan. „Die nette Dame, die dich auf meinen Wunsch hergelockt hat, quält mich jeden Tag mit Unterricht.“ „Du kennst sie?“, hakte Nolan nach. „Natürlich kenne ich sie. Aber du würdest die Erklärung eh wieder vergessen – du weißt nicht mal mehr wie sie aussieht, oder?“ „Woher weißt du das?“ Dieses Mal war es Nolan, der überrascht eine Braue hob, Landis lachte leise. „Du solltest eher fragen, warum ich dich hergerufen habe. Aber bevor du es tust“ – er hob seine Hand – „lass mich dir eine Gegenfrage stellen: Wie fühlst du dich?“ Nolan wollte direkt antworten, dass es ihm wie immer gut ging, doch stattdessen hielt er doch zuerst inne, um darüber nachzudenken. Zwar stimmte es, er fühlte sich gut – aber viel besser als sonst, wenn er das sagte. Normalerweise antwortete er das ja stets nur, um unangenehmen Folgefragen aus dem Weg zu gehen oder seinem Gegenüber keine Sorgen zu machen. Aber im Moment fühlte er sich seltsam befreit, obwohl er kein Ereignis aus seiner Vergangenheit ausblendete, wie er es sonst so gerne tat. Alles schien gut zu sein, so kitschig es auch klingen mochte und so unglaubwürdig er diese Enden in Büchern bislang gefunden hatte. „Im Moment geht es mir wunderbar“, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß. Landis lächelte glücklich. „Ich wusste doch, dass dir das helfen würde. Deine Depressionen waren ja nicht mehr auszuhalten.“ Sein folgendes Lachen entkräftete seine harschen Worte. „Und außerdem hast du mir auch irgendwie gefehlt~ Und ich habe mich nie bei dir entschuldigt.“ Nolan neigte den Kopf. „Wofür?“ „Dass ich dir nie gesagt habe, dass ich die praktische Prüfung hab sausen lassen, dass ich mich sieben Jahre nicht gemeldet habe, dass ich auch danach kaum mit dir gesprochen habe...“ Er zählte die Dinge an seinen Fingern ab und seufzte schließlich leise. „Und ich kann dir das alles nicht einmal vernünftig erklären. Nach der Sache mit Ria und Fredi wollte ich einfach kein Kavallerist mehr werden, sieben Jahre gehen verdammt schnell vorbei und ich hatte ein wenig die Befürchtung, dass du mich hassen würdest...“ „Du musst mir nichts erklären.“ Landis sah Nolan fragend an, doch dieser hatte den Blick bereits wieder in die Entfernung gerichtet. „Ich dachte immer, ich bräuchte Erklärungen oder Entschuldigungen von dir, aber ich denke, alles, was ich wollte war, dass alles wieder so wird wie früher. Natürlich funktioniert das aber nicht so einfach von heute auf morgen.“ Als Landis bereits bedrückt den Blick senken wollte, lächelte Nolan ihm aufmunternd zu. „Aber ich bin überzeugt, dass wir dennoch immer noch Freunde waren – und es auch jetzt noch sind. Deswegen schlage ich dich jetzt auch nicht, selbst wenn du es verdient hättest.“ Landis lachte nervös, was aber sofort wieder abflaute, als Nolan ihn ernst ansah. „Wenn du weiterlachst, schlage ich dich doch noch.“ Der Braunhaarige wich ein wenig zur Seite, sein Gegenüber schmunzelte. „Das funktioniert tatsächlich, Ria hatte recht.“ Gespielt verärgert stieß Landis ihm in die Rippen. „Hör auf, mir so einen Schrecken einzujagen. Als Kommandant der Kavallerie solltest du ein wenig erwachsener sein.“ Nolan kam eine Idee, weswegen er, trotz der geringen Chance auf eine vernünftige Antwort, endlich die Frage stellte, die ihn schon eine ganze Weile interessierte: „Du weißt nicht zufällig, warum Fredi mich als Vize-Kommandant und als seinen Nachfolger bestimmt hat, oder?“ Landis lachte amüsiert. „Ich? Nein, natürlich nicht. Du solltest eher Frediano fragen.“ Nolan wollte ihm antworten, dass das wohl kaum möglich wäre, als er plötzlich eine andere Stimme hinter sich hörte: „Wie oft habe ich dich darum gebeten, mich nicht Fredi zu nennen?“ Überrascht fuhr der neue Kommandant herum und erblickte Frediano, der gelangweilt gegen den Baumstamm lehnte. Allerdings wirkte er keineswegs mehr verkniffen oder unterkühlt, stattdessen war er genauso gelöst wie Landis offenbar. „Was machst du hier?“, fragte Nolan verwirrt. Frediano hob eine seiner schneeweißen Augenbrauen. „Ich bin tot. Wo sollte ich sonst sein?“ Doch ließ er seinem Gegenüber keine Zeit für eine Erwiderung, stattdessen fuhr er direkt fort: „Es wundert mich allerdings, dass du dich immer noch fragst, warum ich dir derart viel Verantwortung eingeräumt habe. Ich dachte immer, es wäre offensichtlich.“ Er seufzte, was dazu führte, dass Nolan einen schuldbewussten Blick zu Landis warf, der die Szene allerdings nur mit einem Schmunzeln betrachtete. „Nachdem selbst Kenton und die Königin dafür waren, dass du der nächste Kommandant wirst, solltest du dich nicht mehr fragen, ob du überhaupt dafür geeignet bist. Du bringst alles dafür mit. Mut, Entschlossenheit, Charisma, Leidenschaft und Durchsetzungskraft – was will man mehr?“ Landis nickte zustimmend und verzog sofort verärgert sein Gesicht, als Frediano spöttisch fortfuhr: „Und im Gegensatz zu einem anderen Anwesenden hast du immerhin auch deine Ausbildung abgeschlossen.“ „Mach mich nur fertig. Meine Güte, ich hatte ohnehin was Besseres zu tun als Kavallerist zu werden.“ „Wusstest du da etwa schon, dass du gehen würdest?“ Nolans Frage unterbrach die kleine Neckerei zwischen Landis und Frediano, beide blickten den Schwarzhaarigen sofort an. Er merkte erst in diesem Moment, dass er offenbar äußerst bedrückt gewirkt haben musste und bemühte sich sofort wieder um ein Lächeln, auch wenn es nicht sonderlich echt wirkte. Doch Landis schüttelte den Kopf. „Nein, wusste ich nicht. Hätte ich was davon gewusst, hätte ich dich mitgenommen, damit wir nicht voneinander getrennt werden.“ Er schmunzelte, als Nolan darauf lachte. „Okay, im Ernst. Ich wusste damals noch nichts davon. Ich war nur nicht sonderlich interessiert daran, ein Kavallerist zu werden – deswegen hatte ich ein Vorstellungsgespräch für den Posten als Page. Damals wäre ich aber nicht genommen worden – nach meiner Rückkehr schon, welch Ironie...“ Landis lächelte bitter, weswegen Nolan ihm sofort aufmunternd auf die Schulter klopfte. „Vielleicht war das ja auch ein Teil des Schicksals... möglicherweise wärst du immerhin nie weggelaufen, wenn das mit dem Posten geklappt hätte.“ „So schlaue Worte von dir“, bemerkte Landis erstaunt, worauf Frediano seufzte. „Er ist nicht dumm, weißt du. Er ist schlauer als du.“ Nolan befürchtete, dass beide sofort wieder zu streiten anfangen würden, doch stattdessen hob Landis nur seufzend die Schultern. „Ja ja, ich bin dumm, ich weiß.“ Frediano schmunzelte darauf nur, statt noch etwas zu sagen. Als die Situation sich derart auflöste, lächelte Nolan mit einer tiefen Zufriedenheit in seinem Inneren. Warum auch immer sich die beiden zusammen in diesem Bereich befanden, offenbar verstanden sie sich nun um einiges besser als früher, was ihn trotz des traurigen Untertons der ganzen Sache doch irgendwie freute. Wenn sie sich früher derart verstanden hätten, wäre es möglicherweise nie so weit gekommen – aber andererseits war da auch dieser Schicksalsgedanke, den Nolan nun nicht mehr los wurde. Alles hatte irgendeinen Grund, so unsichtbar er auch für die Menschen sein mochte, davon war er überzeugt. Ein plötzlicher Windstoß ließ Nolan fragend den Blick heben. „Was ist los?“ „Deine Zeit hier neigt sich dem Ende zu“, antwortete Landis ein wenig bedrückt. „Das heißt, wir müssen uns wieder trennen.“ Frediano lachte leise, als auch Nolans Gesicht sich verfinsterte. „Ihr armen Liebenden~“ Beide schnitten ihm eine Grimasse und wandten sich dann wieder dem jeweils anderen zu. „Aber mach dir keine Sorgen“, sagte Landis. „Wir werden uns mit Sicherheit wiedersehen.“ „Wie das?“, fragte Nolan verwirrt. „Das wirst du noch sehen.“ Spöttisch lachend tätschelte Landis seinen Kopf. „Nun mach dir keine Gedanken, wir werden uns schon wiedersehen, das garantiere ich dir. Wahrscheinlich wirst du mich aber nicht erkennen.“ Während Nolan fragend eine Augenbraue hob, schien Landis diebisches Vergnügen an dieser Sache zu haben, auch als er seinen Freund schließlich umarmte. „Wir werden immer Freunde bleibe“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Immer...“ Lächelnd, die Worte verinnerlichend, schloss Nolan seine Augen. „Danke...“ Als er die Augen wieder aufschlug, bemerkte er sofort, dass er wieder in dem Zimmer lag, in dem er eingeschlafen war. Hastig richtete er sich auf und blickte sich um. Das Sonnenlicht, das hereinfiel, sagte ihm, dass es bereits wieder Tag war, der Spiegel in der Ecke... war fort als hätte es nie einen gegeben. War das alles nur ein Traum? Doch ob es nur einer gewesen war oder nicht, er hatte wirklich etwas gelernt, etwas Wichtiges, wie er sofort feststellte, als er daran dachte, dass er nun wieder nach Hause zurückkehren würde. Er freute sich sogar regelrecht darauf, wieder als Kommandant der Kavallerie aufzutreten – und er freute sich darauf, all seinen Freunden zu sagen, wie dankbar er ihnen war. Beschwingt wie schon lange nicht mehr, erhob er sich von dem Bett und packte hastig seine Tasche wieder beisammen. Er warf noch einen letzten Blick umher und ging dann hinaus, um das Gasthaus zu verlassen. Anders als am Abend zuvor war der Empfangsraum dieses Mal hell erleuchtet, die Pflanze auf dem Tresen blühte lebensfroh und auch der unangenehme Geruch war fort. Nichts erinnerte mehr an den trostlosen Anblick des Vortags. Charon, der hinter dem Tresen stand, lächelte, als er Nolan erblickte. „Guten Morgen, Sir Lane. Ich hoffe, Ihr habt Euren Aufenthalt bei uns genossen.“ Er schmunzelte. „Nun, es war ganz in Ordnung.“ „Dann hoffe ich, dass Ihr uns nie wieder beehrt.“ Der Wächter lächelte nach wie vor und Nolan konnte nicht anders als das zu erwidern. „Keine Sorge, mich seht ihr beide hier so schnell nicht wieder.“ Charon verneigte sich leicht. Der Kommandant fuhr herum und lief die Treppe nach oben. Als er die Tür öffnete und frische Luft und Sonnenlicht ihn empfingen, atmete er tief durch. Hatte er am Tag zuvor noch den Wunsch gehabt, einfach sterben zu können, freute er sich nun über sein Leben und die Tatsache, dieses vollends leben zu können. Und wenn Landis' letzte Worte stimmten und er ihn wiedersehen würde, gab es noch einen Grund mehr, weiterzuleben. Nun würde er aber erst einmal nach Hause zurückkehren – und sich die Geschichten von Nadia und Aurora anhören, um gemeinsam mit ihnen in Erinnerungen zu schwelgen. Mit beschwingten Schritten verließ er das Haus und lief die Straße entlang, ohne sich noch einmal umzublicken. Hätte er das getan, wäre es ihm aber möglich gewesen, zu sehen, wie gerade eine Taube auf dem Dach des Hauses landete und sich augenblicklich in eine Krähe verwandelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)