Traum vom Tod von Flordelis (Custos Mortis) ================================================================================ Prolog: Prolog: Kommandant -------------------------- Die vertrockneten Blumen auf dem Tresen gaben genau das wieder, was Nolan von diesem Gasthaus dachte: Bloß weg hier. So wie die braunen Blätter, die kraftlos auf der Erde im Blumentopf lagen und langsam zu faulen begannen, schienen sie ebenfalls am Liebsten weglaufen zu wollen und waren deprimiert darüber, dass man sie nicht einfach hinauswarf. Ein stechender, süßlicher Geruch stieg von den Pflanzen empor und kitzelte Nolan in der Nase. Am Liebsten hätte er das verwelkte Etwas selbst weggeworfen. Er musste dem Drang widerstehen, den Topf aus Versehen mit dem Arm vom Tresen zu fegen, damit zumindest einer von ihnen hier wieder herauskam. Irgendwo in diesem dunklen Raum, der nur von einer Petroleumlampe erleuchtet wurde, tickte eine Uhr stetig vor sich hin, aber er konnte sie nicht ausfindig machen, um herauszufinden, wie spät es war und wie lange er bereits wartete. Erkalteter Zigarettenrauch erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Fäulnisgeruch, der von der Pflanze emporstieg, eine übelerregende Mischung für Nolans leeren Magen. Eigentlich hatte er gehofft, hier etwas zu essen zu bekommen, aber offenbar gab es hier nicht einmal eine Küche für die Gäste – und noch dazu würde er nicht einmal etwas Essbares anfassen wollen, wenn der Vorraum schon so... misstrauenserweckend aussah. Also würde er einfach hungrig zu Bett gehen, das wäre immerhin auch nicht das erste Mal in seinem Leben. Inzwischen routiniert betätigte er noch einmal die Klingel, die auf dem Tresen stand. Der helle Ton durchbrach die Stille, verdrängte sogar das Ticken der Uhr und verklang nur langsam wieder. Je länger er hier stand und wartete desto mehr begann er selbst an dieser Sache zu zweifeln. Vielleicht hätte er auf Kenton hören sollen, als dieser ihn gewarnt hatte. Wenn er so darüber nachdachte, kam es ihm selbst für seine eigenen Verhältnisse idiotisch vor. Was erwartete er sich davon? Wollte er sich als Held aufspielen, weil er einen Serienmord aufdecken könnte? War er erpicht darauf, diesem selbst zum Opfer zu fallen? Wollte er nur seiner Verantwortung als neuer Kommandant der Kavallerie aus dem Weg gehen? Oder erwartete er wirklich, Landis auf diesem Weg wiederzusehen, wie auch immer das funktionieren sollte? Ein leises Seufzen entfuhr ihm, als er daran dachte, dass er sich einfach nur umdrehen und wieder die Treppe hinauf in die normale Welt zurückgehen müsste. Noch könnte er einfach wieder verschwinden, sich in ein normales Gasthaus zurückziehen, sich den Bauch vollschlagen und dann beruhigt schlafen. Allerdings behagte ihm der Gedanke, die knarrende Treppe im Dunkeln wieder hinaufzugehen, gar nicht. Möglicherweise würde er oben die Tür nach draußen nicht finden und dann ewig in diesem Gebäude herumirren – vielleicht war dies sogar die Mordmethode. Er rief sich wieder ins Gedächtnis, was er darüber wusste. In den letzten Wochen waren in dieser ansonsten eher ruhigen Stadt mitten in Király immer wieder Leichen aufgetaucht, deren Todesursache niemandem klar war. Ihre Herzen schienen einfach aufgehört haben zu schlagen, obwohl sie zuvor kerngesund gewesen waren. Die einzige Verbindung, die sie alle hatten, war dieses Gasthaus gewesen, in dem sie vor ihrem Verschwinden und dem darauf folgenden Tod übernachtet hatten – warum auch immer. Nolan konnte sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig hierherkam oder dieses Gasthaus überhaupt fand – außer man folgte den schwarzen Krähen auf dem Dach des Gebäudes. Ein wenig hatte ihn aber doch überrascht, dass niemand etwas von diesen Todesfällen zu wissen schien, außer diese Frau, die ihm überhaupt erst davon erzählt hatte. Andererseits war diese Stadt hier auch nicht sonderlich groß und sie lag äußerst abgelegen in Király, von daher war das möglicherweise auch nicht weiter verwunderlich. Diese Frau... wenn er darüber nachdachte, erinnerte er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht. Aber sie war hübsch gewesen, so viel wusste er noch, deswegen war seine Freude groß gewesen, als er von ihr angesprochen worden war – mindestens genauso groß wie seine Enttäuschung, als sie sich schließlich wieder verabschiedet hatte, ohne ihm ihren Namen zu verraten. Aber nun gut, Nadia wäre bestimmt nicht begeistert gewesen, sie warf ihm ja schon wütende Blicke zu, wenn er eine Frau nur zu lange ansah. „Eine Nacht?“ Die unerwartete Stimme riss ihn sogleich aus seinen Gedanken. Er sah sich um, versuchte, sich wieder daran zu erinnern, wo er war – schauderte, als es ihm wirklich bewusst wurde – und blickte die Person an, die hinter dem Tresen erschienen war. Das schmale Gesicht und das zu einem Pferdeschwanz gebundene dunkelbraune Haar erweckten in Nolan zuerst den Eindruck, dass es sich um eine Frau handelte. Doch die Stimme war eindeutig männlich gewesen. Die Brille des Mannes rutschte ein Stück nach unten, die violetten Augen musterten ihn aber nach wie vor mit einem amüsanten Glitzern. Nolan nickte schließlich. „Ja, eine Nacht.“ „Sie bleiben alle nur eine Nacht~“, flötete der Mann vergnügt, als ob ihm das alles Freude bereiten würde und die Verstorbenen nicht zuvor bei ihm übernachtet hätten. „Wenn Sie dann bitte Ihren Namen eintragen würden...“ Er schob Nolan ein dickes, unhandliches Buch zu, das bereits aufgeschlagen war. Unterschriften anderer Menschen, die nicht mehr lebten, waren auf der Seite zu sehen. Es fiel Nolan schwer, seinen Blick davon abzuwenden und seine eigene Signatur darunter zu setzen. Die lächerlich große Feder, die er in das bereitstehende Tintenfass tauchte, fühlte sich unangenehm schwer an in seiner Hand. Nach dem Beenden seines Vornamens zögerte er ein wenig. Sein Nachname war noch so ungewohnt, so neu, dass er einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielte, ihn einfach wegzulassen, doch schließlich setzte er ihn ebenfalls hinzu. Es war üblich in Király, dass Personen in hohen Positionen einen Nachnamen bekamen, der zu genau diesem Posten oder ihrem Verhalten passte. Bei seiner Beförderung zum Kommandanten der Kavallerie hatte er ebenfalls einen solchen bekommen: Lane. Er gefiel ihm ausgesprochen gut, da er quasi perfekt zu seinem Namen passte, aber manchmal war es ihm noch unangenehm, sich damit vorzustellen. Er fühlte sich wie ein Angeber, besonders wenn er an die ungläubigen Blicke derjenigen dachte, die als erstes von seiner Beförderung erfahren hatten. Jeder schien der festen Überzeugung zu sein, dass er es nicht verdient hatte und ihm dieser Posten nur von seinem Freund Kenton zugeschoben worden war. Immerhin war er dumm, kindisch, unzuverlässig und faul. Er wusste, was über ihn getuschelt wurde, hatte es von verschiedenen Seiten selbst gehört und war inzwischen ebenfalls der Überzeugung, dass er nie hätte Kommandant werden dürfen. Darum auch der Ausflug in dieses Gasthaus. Er wollte Abstand und er wollte beweisen, dass er mehr konnte als nur Witze zu reißen. Wenn er den Serienmörder überführte, würden alle einsehen, dass er zu mehr fähig war und wenn nicht... nun, als Todesopfer würde er mit Sicherheit keine derartigen Probleme mehr haben, möglicherweise würde er dann tatsächlich Landis wiedersehen können, nur um von diesem einen Schlag verpasst zu bekommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken. Er schob das Buch wieder zurück, der Mann musterte die Unterschrift. „Sir Nolan Lane, also~ Darf ich den Grund Eures Hierseins erfahren?“ Sollte er sagen, dass er nach einem Mörder suchte? Es bestand die Möglichkeit, dass dieser Mann der Gesuchte war, nein, es war sogar mehr als nur wahrscheinlich, außer es gab noch mehr Personen an diesem Ort, also wäre es nicht sonderlich klug, etwas zu sagen, das wurde selbst ihm klar. „Nichts Besonderes“, antwortete Nolan schließlich. „Nur eine Nacht schlafen.“ „Wir freuen uns über Euren Besuch“, sagte der Mann lächelnd. Er kam um den Tresen herum und winkte Nolan mit sich. Dieser folgte ihm nur allzugern, um der Dunkelheit und dem unangenehmen Geruch zu entfliehen. Leider funktionierte nichts von beiden. Der Gang, auf den sie traten, war genauso finster und wurde nur alle fünf Meter von einer düsteren Petroleumlampe erhellt, die alles außerhalb ihres Lichtscheins noch dunkler erscheinen ließen – und der Geruch folgte ihnen. Nolan lauschte, aber außer ihren Schritten war nichts zu hören, nein, genau genommen waren es nur seine und nicht die des anderen. Irritiert sah er auf die Füße des anderen hinunter, doch egal wie oft sie den Boden berührten, kein Ton erklang. Wie ist das möglich? Hätte er seine Kindheit nicht mit seinem Vater und Landis verbracht und nicht dessen Geschichte gehört, wären ihm nun Schauer über den Rücken gelaufen und er hätte eilig die Flucht ergriffen – doch so war ihm dieses Phänomen nur ein Stirnrunzeln wert. Vielleicht war dieser Mann ein Dämon und er ernährte sich von der Lebensenergie seiner Gäste. Er verwarf den Gedanken sofort wieder, egal wie sehr ihn dieser amüsierte. Der Gastwirt öffnete eines der Zimmer. „Hier, bitte sehr~ Hoffentlich habt Ihr eine angenehme Zeit bei uns.“ Sein süffisantes Lächeln verriet, dass er das nicht glaubte, aber Nolan kümmerte sich nicht weiter darum. Er bedankte sich murmelnd und betrat den Raum, hinter ihm wurde die Tür wieder geschlossen. Durch die hochgelegenen Fenster strömte das letzte Licht der untergehenden Sonne ein, so dass es überraschend hell im Zimmer war. Der Geruch, der ihm auf dem Gang so zugesetzt hatte, schien genau an der Tür Halt zu machen, der Duft von Lavendel stieg ihm in die Nase und obwohl er diesen nicht im Mindesten mochte, war er nun geradezu entspannend. Schrank, Tisch, Stühle und Bett bestanden einheitlich aus hellem Holz, das im Lichtschein golden zu leuchten schien und den Raum umso heller erscheinen ließ. Langsam begann ihm diese Sache wirklich zu gefallen. Er stellte seine Reisetasche auf dem frisch gemachten Bett ab. Die schneeweiße Decke verzog sich dabei, so dass er es fast schon wieder bereute, die Tasche überhaupt abgestellt zu haben. Er ging auf die Tür zu, die ins angrenzende Bad führte – und dabei fiel ihm ein Spiegel auf, der in einer dunklen Ecke zwischen Bad und Schrank stand und von der Tür aus nicht zu sehen gewesen war. Etwas daran lenkte sofort seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Ein kunstvoll geschnitzter Rahmen aus dunklem Holz fasste den Spiegel ein, zwei massive Füße dienten ihm als Stütze. Allein durch die Farbe des Rahmens schien er absolut nicht in diesen Raum zu passen, es wirkte als ob er sämtliches Licht aufsaugen würde. Einem Impuls folgend berührte er das kühle Glas. Nichts geschah, aber das hielt ihn nicht davon ab, weiter darüber zu streichen als würde dann etwas passieren. Huh, seltsam... He! Gibt es nicht diese Geschichten, in denen Menschen durch Spiegel in andere Welten kommen? Das wäre doch mal was. Er lachte laut über seinen eigenen Gedanken. Das Geräusch hallte laut von den Wänden wider, was ihm bewusst werden ließ, dass er vollkommen allein war und ihn wieder zum Verstummen brachte. Nachdem er das kleine Bad inspiziert hatte, setzte er sich auf das Bett. Als sein Magen zu knurren begann, wurde ihm bewusst, dass der Gastwirt ihm nicht mitgeteilt hatte, wie es mit dem Essen aussah, ob es überhaupt etwas gab und an wen er sich wenden sollte, falls es etwas gab. Allerdings fiel ihm auch gleich darauf wieder ein, dass er gar nichts essen wollte, was in diesem Gasthaus zubereitet worden war – wenn die Küche nur entfernt so aussah wie der Empfangsraum, war das Essen mit Sicherheit giftig... oder zumindest übelkeitserregend. Er öffnete seine Tasche, in der Hoffnung, dass er vielleicht geistesgegenwärtig etwas zu essen eingepackt hatte, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte. Er wusste selbst, dass er nicht zu jenen Menschen gehörte, die vorausplanten und organisierten, weswegen er oftmals ungewollt in Schwierigkeiten geriet. Mit Sicherheit hatte er daher nicht die Weitsicht gehabt, etwas zu essen einzupacken, dass er überhaupt suchte, war nur als Ablenkung von seinen tristen Gedanken gedacht – weswegen er umso überraschter war, als er tatsächlich in Wachspapier eingewickelte Brote entdeckte. Wie kommen die da rein? Bevor er New Kinging verlassen hatte, war er noch bei Oriana gewesen, um sich von ihr zu verabschieden – sie musste ihm das Essen heimlich zugesteckt haben, mit Sicherheit wusste sie, dass er nicht daran denken würde. Während er auf den Broten kaute, ließ er seine Gedanken schweifen. Er stellte sich vor, wie er gemeinsam mit Landis auf diesem Bett sitzen, wie sie sich über das Zimmer und den Gastwirt lustig machen würden und wie viel sie lachen würden. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Ecke, in welcher der Spiegel stand. In diesem Winkel konnte er nur einen kleinen Teil davon sehen, als ob dieser sich keck hervorstrecken würde, um ihn zu beobachten. Ein Schauer fuhr über Nolans Rücken, als er das in Betracht zog. Landis würde jetzt lachen und anfangen, mir Schauermärchen zu erzählen, damit ich mich unter der Decke verstecke. Ich frage mich, warum er das so lustig fand. Wenn Nolan ihn erschreckt hatte, war das eher aus Versehen und immer ohne böse Absicht geschehen. Landis dagegen hatte es immer geliebt, ihm Angst einzujagen, indem er ihm derlei Geschichten erzählte. Er würde es wohl aber nie verstehen, dass ihm diese erfundenen Geschichten mehr Angst eingeflößt hatten als die Tatsache, dass sein bester Freund voraussehen konnte, wann jemand sterben würde. Möglicherweise weil die Geschichten wesentlich abstrakter als Landis' Fähigkeit gewesen war – mit seinem Freund hatte er immerhin darüber sprechen können, während die Geschehnisse in den Geschichten nie mit den Betroffenen besprechen werden konnten. Inzwischen fürchtete er sich auch nicht mehr vor Landis' damaliger Fähigkeit. Durch die Erzählung wusste er nun ja, dass es nur ein Erbe von Asterea gewesen war, nichts wovor man sich fürchten müsste. Er wünschte nur, er hätte noch einmal mit Landis reden können, um ihm zu sagen, dass er nicht mehr mit einem flauen Gefühl im Magen an so manchen Tag in ihrer gemeinsamen Vergangenheit zurückdachte. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er kaum merkte, dass die Sonne unterging. Erst als er den Spiegel, zu dem er wieder schielte, nicht mehr sehen konnte, wurde er der Dunkelheit um sich herum bewusst. „Wird wohl Zeit, ins Bett zu gehen~“ Er machte sich keine Mühe, sich umzuziehen oder überhaupt etwas auszuziehen. Er streifte nur die Schuhe ab und legte sich hin. Ob es die Aufregung war oder die Tatsache, dass er in den letzten Wochen kaum geschlafen hatte, wusste er nicht, aber kaum berührte sein Kopf das Kissen, war er bereits tief und fest eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)