An deinem Grab von Alaiya (Ken-Centric) ================================================================================ Kapitel 1: Es ist Weihnachten, Nii-san -------------------------------------- An deinem Grab Ein Ken Ichijouji Tribut Es war ungewöhnlich kalt für Tokyo. Weiße Wolken aus kondensiertem Atem stiegen vor Kens Mund auf und mit einem Blick auf den Himmel fragte der Zwölfjährige sich, ob es dieses Jahr tatsächlich wieder schneien würde. Er sah auf den weißen, gleichmäßig geformten Stein vor ihm, der den Namen seines Bruders trug. Das Grab seines Bruders. „Ken-chan“, flüsterte Wormmon, das wie ein Schal halb um seinen Hals hing, doch er antwortete nicht. Es war Weihnachten, der 24. Dezember 2003 und er wusste, dass die anderen bei den Yagamis auf ihn warteten. Osamu... Nii-san. Es ist seltsam. Es ist kaum mehr als drei Jahre her, dass du gestorben bist, und doch kommt es mir vor, wie eine Ewigkeit. Es gibt Tage, an denen ich mich kaum noch daran erinnern kann, wie es war, als du noch lebtest – als ich noch einen Bruder hatte. Bin ich deswegen ein schlechter Bruder? Ich frage mich oft, was anders wäre, hättest du den Unfall überlebt. Würdest du noch leben. Was wäre dann passiert? „Wollen wir nicht gehen?“, fragte Wormmon erneut leise und schien sich offenbar unwohl auf dem relativ dunklen Friedhof zu fühlen. Vielleicht war es jedoch auch nur, weil es sich Sorgen um ihn, seinen Partner, machte. Doch er schüttelte den Kopf. „Lass mir noch einen Moment.“ Wärst du nicht gestorben, hätte mich Oikawa-san nicht auf deiner Beerdigung sehen können. Wäre ich ohne ihn überhaupt an jenes Meer gekommen? Wäre ich der Digimonkaizer geworden? Wäre wirklich alles anders gewesen, wenn du nicht gestorben wärst? Die Saat der Finsternis hätte mich trotzdem beeinflusst. Doch ohne Oikawa... Was bleibt ist die Frage, ob ohne ihn überhaupt Daisuke und die anderen auserwählt worden wären? Hätte ich sie jemals getroffen? Wäre Belial Vamdemon nicht trotzdem erwacht? „Ken-chan?“, setzte das Digimon auf seinen Schultern erneut an. Er sah es, so gut es ging an. „Was ist, Wormmon?“ „Ich hätte ihn gerne gekannt, deinen Bruder“, meinte das Digimon. „Ich hätte gerne gewusst, was er für ein Mensch war.“ Der Junge lächelte. Vielleicht stellte er sich auch einfach zu viele Fragen. Osamu, Nii-san, es ist Weihnachten. Ich weiß, dass du es nie wirklich mit uns gefeiert hast, hast du doch meistens gelernt oder an irgendwelchen Projekten gearbeitet. Damals habe ich zu dir aufgesehen und dich doch gleichzeitig so sehr beneidet. Was hätte ich dafür gegeben, nur einmal so zu sein, wie du. Ich habe nie erkannt, auf wie viel du verzichtet hast, um den Erwartungen unserer Eltern zu entsprechen. Du warst immer der liebe, intelligente Junge, aber niemals warst du frei. Vielleicht dachte ich deswegen selbst, niemals frei seien zu können? Dieses Mal war es nicht Wormmon, das ihn in seinen Gedanken unterbrach, sondern das Handy, dass in der Brusttasche seiner dunkelblauen Winterjacke steckte. Noch bevor er dran ging, wusste er, dass es Daisuke war. Er drückte auf den Knopf mit den grünen Hörer und hob das kleine Gerät an sein Ohr. „Ken!“, klang ihm Daisukes Stimme aufdringlich entgegen. „Wo bleibst du denn?“ Er musste unwillkürlich lächeln. Geduld würde nie Daisukes Tugend sein. „Ich muss noch etwas erledigen, aber ich komme schon gleich“, erwiderte er und sah wieder auf den Grabstein. Erinnerst du dich noch daran, wie das Digivice vor uns erschienen ist, Nii-san? Du weißt schon, das merkwürdige Gerät, von dem du nie wusstest, welche Tore es öffnet. Es gibt noch eine andere Welt als diese, Nii-san. Eine Welt, in der ich gelernt habe frei zu sein. Ich wollte dir damals schon davon erzählen, in dem Sommer, in dem du gestorben bist. Damals... Damals bin ich zum ersten Mal in jene Welt, die digitale Welt gekommen. Aber als du mir nicht zuhörtest, wurde es zu meinem Geheimnis. Vielleicht... Vielleicht hätten wir irgendwann einmal zusammen dort hingehen können. Jun, Momoe, Chizuru und sogar Shuu, die Geschwister meiner Freunde, haben in diesem Frühling auch Digivices bekommen. Sie haben ihre Partner getroffen. Vielleicht wärst ja auch du irgendwann auserwählt worden. Vielleicht... „Ken? Hey, Ken!“, schrie ihm Daisuke förmlich ins Ohr, als er erkannte, dass er schon wieder in Gedanken versunken war. „Ja, Daisuke“, erwiderte er schnell und bemühte sich sich auf das Handy zu konzentrieren. „Ich komme gleich, okay? Aber ich bin gerade noch in Minato.“ „Aber wir haben gesagt, dass wir uns um sechs Uhr treffen“, nörgelte ihr vermeintlicher Anführer schmollend. „Ich mache mich gleich auf den Weg. Ich brauche nicht länger als zehn Minuten oder vielleicht eine Viertelstunde.“ Ken seufzte leise. „Dann komm jetzt“, forderte Daisuke ungeduldig. „Alle anderen sind schon da. Was machst du überhaupt so lange?“ Für einen Moment schwieg der Junge auf dem Friedhof, der wusste, dass es sich nicht gehörte an einem Ort wie diesem so lange zu telefonieren. „Ich besuche meinen Bruder“, antwortete er dann schließlich. „Aber das...“, setzte Daisuke an, ehe ihm wohl klar wurde, was sein bester Freund meinte. „Oh...“, meinte er etwas betroffen. „Dann... Komm aber wirklich, ja? Bis nachher.“ Damit legte er einfach auf. Osamu. Ich erinnere mich an so wenig, was damals passiert ist. Es sind nicht nur die Erinnerungen an dich, die verschwinden, sondern auch die Erinnerungen an die Zeit, als ich das erste Mal in die Digiwelt gereist bin. Damals war noch ein anderer Junge dort. Ich glaube, du hast ihn sogar gekannt? Ja, ich bin mir fast sicher, dass ihr euch schon getroffen habt. Sein Name war Ryou. Akiyama Ryou. Er war damals ein guter Freund, fast wie ein Bruder. Was ist eigentlich aus ihm geworden? Er ist verschwand in jener Welt. Doch wohin? Ich weiß es nicht mehr. Oder habe ich es je gewusst? Ist er auch gestorben? Ich weiß es wirklich nicht. Ryou. Ich erinnere mich noch an sein Gesicht, doch manchmal glaube ich, dass ich der einzige bin, der sich noch an ihn erinnert. Selbst Wormmon... Aber tief in mir bin ich sicher, dass er real war. Real ist. Irgendwo ist er noch. Irgendwo in jener Welt. Ken merkte, wie seine Gedanken abglitten bei den Fragen, die er sich schon seit vergangenem Jahr stellte. Er hatte diesen Jungen, Ryou, ganz vergessen, ehe er im letzten Winter angefangen hatte sich an ihn zu erinnern. Aber selbst Wormmon glaubte, ihn nicht zu kennen. „Ken-chan?“, fragte das Digimon vorsichtig und er lächelte. „Lass uns gehen, Wormmon“, meinte er. „Die anderen warten schon.“ „Ja“, erwiderte sein Partner glücklich. Der Junge bückte sich und legte eine Lilie, die er für seinen Bruder gekauft hatte, auf die begrenzte Fläche vor dem Grabstein. Dann wandte er sich ab und machte ein paar Schritte, ehe er sich noch einmal umsah, dann aber ging. Es ist Weihnachten, Osamu. Ich weiß, dass du nie viel davon gehalten hast, es zu feiern. Tatsächlich habe ich mich oft gefragt, ob du es wahrnimmst, hast du doch meistens gelernt oder an irgendwelchen Projekten gearbeitet. Denn du musstest den Erwartungen entsprechen. Erst jetzt weiß ich, wie alleine du damals warst, habe ich dich doch damals dafür gehasst, dass du gleichzeitig so abweisend warst und dabei die Aufmerksamkeit unserer Eltern bekommen hast. Doch jetzt verstehe ich, wie es dir damals ging, Nii-san. Trotz allem hast du mir noch zugehört. Hast mir geholfen, die Seifenblasen zu machen. Ich habe jetzt Freunde, Osamu, gute Freunde. Und doch vermisse ich dich. Solltest du noch irgendwo sein, hoffe ich, dass du dort nicht so einsam bist, wie du damals warst. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder... „Ken! Ken!“, rief Daisuke bereits, als Yuuko Yagami, die Mutter von Taichi und Hikari, dem Jungen die Tür öffnete und stürmte ihm schon mit V-mon zusammen entgegen. „Da bist du ja endlich!“ „Alles in Ordnung?“, fragte Tailmon, an der Tür von Hikaris Zimmer stand, mit Blick auf das noch etwas betroffene Gesicht Kens. „Ja, alles in Ordnung“, erwiderte der Junge und lächelte, ehe er begann sich die Schuhe auszuziehen und dann in den Filzpantoffeln, die Frau Yagami ihm bereit stellte zu den anderen in das Zimmer des Mädchens ging. „Ken! Ken!“, hörte er es aus allen Richtungen, als er sich auf den ohnehin schon mit Kindern und Digimon überfüllten Boden kniete. „Willst du etwas Kuchen?“, fragte Hikari. „Wir haben dir extra etwas aufgehoben“, ergänzte Patamon. „Leider“, grummelte Agumon. „Der Kuchen ist wirklich lecker!“ Ken nickte. „Ja, gerne“, meinte er lächelnd und wollte schon aufstehen, um sich selbst etwas zu holen, wurde aber von Taichi davon abgehalten. „Lass nur.“ Er grinste ihn schief an. „Heute bist du der Gast.“ „Du bist spät dran“, meinte nun auch Miyako, die ihm ziemlich genau gegenübersaß und sah ihn besorgt an. „Ist alles in Ordnung, Ken?“ Für einen Moment schwieg er und schloss erstaunt, dass Daisuke genug Feingefühl besessen hatte, den anderen nicht zu sagen, wo er war. Doch dann nickte er und lächelte das Mädchen an. „Ja, natürlich“, meinte er. „Es ist alles in Ordnung. Ich...“ Er brach ab. „Es ist alles in Ordnung“, wiederholte er dann. „Ken-chan?“, flüsterte Wormmon, aber der Junge lächelte. Es war alles in Ordnung. Für diesen Moment war alles gut. Es herrschte Frieden und er war hier, zusammen mit seinen Freunden – wirklichen, treuen Freunden. Vielleicht war nicht alles perfekt, doch perfekt musste es nicht sein. Er hatte liebe Eltern, einen Partner und Freunde. Er war nicht allein. Er lebte. Er lebte für sie beide. „Schaut! Schaut!“, rief V-mon mit einem Blick aus dem Fenster auf einmal aus. „Es schneit!“ Und im nächsten Moment drückte sich die Hälfte der Teenager und Digimon die Nasen an der Scheibe platt. Auch Ken stand auf und lächelte. Fröhliche Weihnachten, Osamu. Nii-san. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)